Dignity Rising 2: Die Heritage-Prophezeiung - Hedy Loewe - E-Book

Dignity Rising 2: Die Heritage-Prophezeiung E-Book

Hedy Loewe

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Beschreibung

Die Rätin Nilufesh züchtet Kinder, um sie zu Föderationstelepathen abzurichten. Auch der Sohn von Commander Jon Matthews und seiner Frau Shay ist in ihre Hände gelangt. Jons bester Freund Hawk macht sich mit seiner Gefährtin Hanout auf den Weg, um ihr das Kind zu entreißen. Werden sie es schaffen, das Kind zu finden, bevor die Oberste Rätin es endgültig für sich beansprucht? Eine aufregende Suche beginnt. Denn der gefährlichste Bote des Rates, Trystan der Schlächter, ist Hawk und Hanout dicht auf den Fersen und macht mit seiner Grausamkeit die Jagd auf das Kind zu einem Thriller. Lesermeinung: Wieder in einem Rutsch durchgelesen! Eine Steigerung von Spannung, Action und Figuren, hervorragend, wo soll das noch hinführen? Lesermeinung: Dies ist eine großartige Reihe mit Spannung und viel Gefühl. Trotz Weltraum wirkt irgendwie alles realistisch und menschlich.

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Impressum

Dignity Rising – Die Heritage-Prophezeiung

Vorschau Band 3 – Verrat auf Dignity One

Von Hedy Loewe sind bereits erschienen:

Die Autorin

Titel

Dignity Rising

Band 2

Die Heritage-Prophezeiung

Science Fiction/Space Opera

HL UTOPIA EDITION

Impressum

© 2013/2021 Hedy Loewe

3. Auflage 2021

Dieses Buch ist in der ersten und zweiten Auflage unter dem Untertitel „Schwarze Prophezeiung“ erschienen.

Herausgeber: Hedy Loewe, Sabine Schöberl, Veilchenstr. 4, 90587 Veitsbronn

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung, wozu auch die Verbreitung über „Tauschbörsen“ zählt.

Covergestaltung: Ronny Altendorf, Covertraeume.de Bildquelle: Shutterstock.com

Lektorat: Wortlogik.de

Kontakt: [email protected]

Dignity Rising – Die Heritage-Prophezeiung

Raumstation First-Contact-3

»Was sollen wir mit ihm machen, Commander?«

Die respektvolle Frage drang kaum zu Jonathan William Matthews durch. In seinem Inneren tobte ein Aufruhr. Der Commander der Raumstation First-Contact-3 kochte vor Wut auf den Gefangenen, den er über einen Monitor beobachtete. Äußerlich war ihm nichts anzumerken, er hatte sich vor seiner Wachmannschaft perfekt unter Kontrolle.

Den Gefangenen, Thomas Cameron, erkannte er kaum wieder. Die Hälfte seines Hinterkopfes und das halbe Gesicht waren verbrannt und von schwarzem, narbigem Gewebe überzogen. Die andere Hälfte seiner unverletzten Haut bedeckten grüne und blaue Tätowierungen, feine, in sich verschlungene Linien. Seine Augen, von einem strahlenden Blau, leuchteten aus diesem gezeichneten Gesicht und starrten zornig an die Decke. Die blonden, langen Haare auf der gesunden Kopfhälfte waren zu dünnen Strähnen gedreht, wiederum zu einem Zopf zusammengeflochten. Wild war gar kein Ausdruck für das Aussehen dieses Mannes. Und obwohl es im Weltraum die abstrusesten Erscheinungen gab: Dämonisch war ein gutes Wort für die Beschreibung seines Gesichts.

Jon wollte jetzt nicht mit dem Mann reden, dem lange verschollenen Bruder seiner Frau Shay. Nicht ohne sie. Doch Shay, die er erst vor wenigen Tagen nach einer langen und bitteren Trennung wiedergefunden hatte, war nicht in der Verfassung ihrem Bruder gegenüberzutreten. Was tun? Jon hatte eine Idee.

»Versetzt ihn in den Transportschlaf«, befahl er der Wache. »Dann sind wir vor ihm sicher. Ich melde mich, wie wir weiter mit ihm verfahren.«

Der Sicherheitsoffizier bestätigte den Befehl, des großen, gut aussehenden Mannes mit den auffälligen, silberfarbenen Augen.

Jon verließ den Sicherheitstrakt. Es gab noch mehr Menschen, die nach den letzten ereignisreichen Tagen seine Aufmerksamkeit benötigten.

***

Doktor Mikaela Kresten machte sich Sorgen, und zwar richtig. Sie war Ärztin auf der Raumstation und hatte das Drama um den Commander und seine Frau Shay hautnahmiterlebt. Um Hanout, die schöne Kriegerin und Shays beschützendem Schatten, die vor wenigen Stunden durch einen E-Shocker einen Herzstillstand erlitten hatte, aber die sie wieder ins Leben zurückholen konnte, sorgte sie sich nicht. Hanout war jung und durchtrainiert. Ihr ging es schon wieder sehr gut. Nein, Mikaela, oder Mik, wie alle sie hier nannten, machte sich Sorgen um Shay.

Die hochrangige Telepathin hatte in den letzten Tagen und Wochen eine Menge durchgemacht. Bereits als sie auf der Raumstation angekommen war, war sie körperlich am Ende gewesen. Kaum ein bisschen aufgepäppelt, musste Mik ihrem Kollegen Philip assistieren und Shays Herz anhalten, um vor dem Obersten Rat ihren Tod vorzutäuschen. Nur mit Mühe konnte Shay wieder ins Leben zurückgeholt werden.

Und nun hatte ein Schockerlebnis ihre verloren geglaubten Erinnerungen zurückgebracht. Was ja im Grunde etwas Positives war. Doch wie ging man damit um, wenn einem acht Jahre seines Lebens gestohlen worden waren? Und nicht nur das. Der Rat hatte Shays Erinnerungen an ihre gesamte Familie und die Zeit, bevor sie Botin geworden war, gelöscht. Weder an Jonathan Matthews, ihren Mann, noch an ihre Eltern oder an das Kind, das sie damals im Leib getragen hatte, als der Rat Jon und Shay auf der Flucht erwischte, hatte sie irgendeine Erinnerung gehabt.

Die starken Medikamente der letzten Tage, die Shay die übermäßigen Schmerzen der häufiger werdenden Erinnerungsflashs hatten ertragen lassen, taten ihr Übriges, um ihren körperlichen Zustand zu verschlimmern. Nun weigerte sich Shay, Miks Medikamente weiter zu nehmen und die Entzugserscheinungen hatten eingesetzt. Entweder lag sie apathisch im Bett und war nicht ansprechbar, oder sie wand sich in schlimmen Krämpfen.

Seltsamerweise hatte Shay immer noch genug Kraft, um Miks Versuche, ihr irgendein Beruhigungsmittel zu geben, abzuwehren. Dazu brauchte sie ihren Körper nicht. Durch ihre telepathischen Fähigkeiten konnte sie sich jeden vom Hals halten, der nicht zu den Unlesbaren gehörte. Und zu allem Überfluss drehte Commander Jon am Rad, weil Mik »so untätig« war.

Verdammt. Mik war eigentlich nie hilflos. Diesmal schon. Doch eine Idee hatte sie noch.

Vorsichtig bewegte sich Mik auf das Bett im Quartier des Commanders zu, in dem Shay zusammengekauert lag.

»Shay, hörst du mich?«, fragte sie leise. Eigentlich konnte sie ganz auf das Sprechen verzichten. Vielleicht wäre Shay zugänglicher, wenn sie nur ihre Gedanken lesen musste? Mik konzentrierte sich darauf und sendete ihre Worte lautlos.

»Shay, kannst du mich verstehen? Bitte greif mich nicht wieder an. Ich will dir nichts einflößen. Ich will nur mit dir reden.«

In respektvollem Abstand blieb Mik vor dem Bett stehen und wartete auf eine Reaktion. Shay lag mit dem Gesicht zu ihr. Sie schlug die Augen auf und sah Mik an.

»Shay, ich habe eine Idee.«

Shay hob nur kurz eine Hand und flüsterte kaum hörbar: »Interessiert mich nicht. Wie geht es Hanout?«

»Es geht ihr wieder gut. Sie hat das Drama ganz gut weggesteckt. Hawk weicht nicht von ihrer Seite. Sie will wissen, wie es dir geht. Sie will zu dir.«

Mühsam versuchte Shay, sich aufzurichten, was ihr nicht gelingen wollte. Mik half diesmal nicht. Das hatte sie beim letzten Mal mit einem bösen Schmerz im Gehirn bezahlt.

»Sag ihr, wie es ist. Ich bin am Ende. Ich will niemanden sehen. Und jetzt geh wieder.« Diese paar Worte hatten Shays gesamte Energie gekostet.

Wenn sie so fertig ist, würde sie mich doch auch nicht mehr attackieren können? Jetzt musste Mik die einzige Botschaft riskieren, die vielleicht noch helfen konnte. Sie konzentrierte sich darauf, Shay die Gedanken klar und deutlich zu übersenden.

»Denk an das Wasser auf dem Grünen Planeten. Wenn du mich hier nicht helfen lässt, dann versuchen wir es dort. Bitte, Shay. Denk an Jon. Und an Hanout. Die beiden sind am Verzweifeln.«

Mik sah, dass Shay erschöpft die Augen schloss. »Geh jetzt«, hörte sie leise.

Verzweifelt und mit Tränen in den Augen drehte sich Mik um und verließ den Raum. Sie musste den Commander finden. Sie konnten nicht zulassen, dass sich Shay einfach aufgab. Nicht jetzt! Nicht, nachdem sie so viel überstanden hat! Lautlos schloss sich die automatische Tür hinter ihr, als sie das Commanderquartier verließ.

Die Kontaktanfrage der Ärztin erreichte Jon auf der Brücke. Er unterbrach sofort seine Besprechung. »Wir treffen uns vor meinem Quartier.«

Jon war in wenigen Minuten bei Mik. Sie wartete vor dem Eingang zu seinen Privaträumen auf ihn und hatte nervös die Hände ineinander verschränkt.

»Was ist los? Wie geht es ihr?« Der Commander sah, wie blass Mik war. Eine eiserne Faust umklammerte sein Herz. »Ist es schlimmer geworden?«

Mik schluckte und nickte. »Sie lässt mich nicht mal mehr in ihre Nähe. Ich glaube, sie hat sich aufgegeben.«

Jon packte sie an den Oberarmen und schüttelte sie. »Mik, du bist die Ärztin. Was müssen wir tun? Ich gebe sie nicht auf.«

»Ich bin mit meiner Weisheit am Ende. Sie weigert sich irgendetwas zu nehmen. Ich kann ihr nichts gegen ihren Willen einflößen. Sie wehrt mich telepathisch ab und damit nimmt sie sich die letzte Energie, die sie noch hat. Ich kann nichts tun. Und wenn du mich totschüttelst.«

Jon hielt erschrocken inne und ließ Mik los. Der jungen Ärztin, die normal nicht so zartbesaitet war, standen Tränen in den Augen.

Ihm wurde abwechselnd heiß und kalt, als ihm klar wurde, was Miks Worte bedeuteten. Shay wollte sterben. Und diesmal würde sie für immer gehen. Sein Herz schlug hart gegen seine Brust. Alles in ihm schrie »Nein, nein, nein!«. Wenn doch nur Welda, seine telepathische Beraterin und mütterliche Freundin, hier wäre. Vielleicht wüsste sie einen Rat.

Mik schien die Verzweiflung in Jons Gesicht zu sehen. »Jon, einen Vorschlag hätte ich noch.«

»Verdammt, raus damit. Was glaubst du, worauf ich warte?«

»Bringen wir sie nach Dignity One. Auch wenn ich das nicht beweisen kann, das Wasser dort hat ihr schon einmal geholfen. Und Welda kann uns unterstützen. Wir müssen sie von hier fortbringen. Hier wird sie sterben.« Vorsichtig fügte sie hinzu: »Es kann sein, dass sie dort auch stirbt. Aber vielleicht etwas friedlicher.«

Für Jon waren Miks ehrliche Worte unerträglich. Wütend antwortete er: »Dann lass uns keine Zeit verlieren. Pack, was du brauchst. Wir treffen uns auf dem Hangardeck 29. Ich lasse die Starflyer fertigmachen und hole Shay dann ab. Los jetzt!«

Jon ging, um sich von seinem besten Freund Hawk Windsong zu verabschieden. Er war sein Stellvertreter und erster Sicherheitsoffizier auf der Raumstation First-Contact-3. Hawk musste hierbleiben und die Stellung halten. Außerdem würde er seine Gefährtin Hanout, die ja auch noch nicht völlig auf dem Damm war, nicht verlassen. Auf der Krankenstation war alles ruhig. Hanout saß wach im Bett, Hawk war an ihrer Seite. Lissey, die Assistentin von Doktor Landman, überprüfte gerade ihre Vitalfunktionen.

Jon musste sich zusammenreißen oder die Telepathin Hanout würde sofort spüren, was mit ihm los war. Sie war immerhin Botin dritten Grades, bevor sie sich gemeinsam mit Shay aus dem Dienst des Rates verabschiedet hatte. Hanout war Shays Kriegerin, das hieß, ihre persönliche Leibwache und Begleiterin bei der Ausübung des Dienstes. Sie konnte Gedanken lesen und Empfindungen aufspüren. Bei Jon höchstens dessen Empfindungen. Denn er gehörte zu den Unlesbaren. Er war gegen die mentalen Attacken von Telepathen immun.

»Was ist passiert? Wie geht es Shay?«, fragte sie Jon alarmiert.

Hawk drehte sich zu Jon um und hob nur fragend die Augenbrauen. Jon wollte den beiden keinen unnötigen Kummer machen, Hanout würde es sich sonst nicht nehmen lassen Shay zu begleiten. Die beiden hatten jedoch einen wichtigen Auftrag, sobald Hanout wieder einsatzfähig war.

Kurz und knapp schilderte er deshalb sein Vorhaben. »Ich werde Shay nach Dignity One bringen. Welda kann ihr dort besser helfen als Mik hier. Shay hat starke Entzugserscheinungen auf die Medikamente und ist, um es mal vorsichtig auszudrücken, ein bisschen bockig, was Miks weitere Behandlungsvorschläge angeht.«

Jon wusste, dass er Shays Kriegerin nicht viel vormachen konnte. Sie spürte, wie ernst es ihm trotz seiner flapsigen Bemerkung war.

»Soll ich mitkommen?«

»Nein, Hanout. Ich brauche euch beide hier oben. Werde erst mal wieder gesund. Mik und ich werden uns mit Welda um Shay kümmern. Hawk, hast du einen Moment für mich?« Jons Gesicht glich einer steinernen Maske.

Hawk, der muskulöse Mann mit der schwarzen Mähne und der bronzefarbenen Haut, stand sofort auf. Er gab Hanout ein Küsschen auf die Wange. »Süße, ruh dich aus. Ich bin gleich zurück.«

Hanout nickte nur und seufzte leise. »Jon?«, rief sie dem Commander nach.

»Ja, Hanout?«

Sie holte hörbar Luft. »Pass mir gut auf Shay auf!«

Jon musste all seine Selbstbeherrschung aufbringen, um nicht loszuheulen wie ein kleiner Junge. Mit kratzender Stimme antwortete er: »Werd ich, Hanout. Ich tue mein Bestes.«

Jon sah, wie Hanout ihn ernst musterte. Bevor sie noch etwas sagen konnte und ihn damit endgültig aus der Fassung brachte, grüßte er kurz und verließ mit Hawk die Krankenstation.

»Hanout geht es besser?«, fragte Jon seinen besten Freund.

»Ja. Sie hat das gut weggesteckt. Lenk nicht ab. Was ist mit Shay?«

Jons Stimme versagte. Er musste sich abwenden.

»So ernst?« Hawk legte seinem Freund die Hand auf die Schulter.

Jons Nicken sagte Hawk alles, was er wissen musste.

»Geh, Jon. Meine Gebete sind mit dir. Wir sehen uns in ein paar Tagen. Ich regle alles hier oben, mach dir keine Gedanken. Und ich will nur gute Nachrichten hören, wenn du dich meldest. Hast du mich verstanden, Commander?«

Sie umarmten sich wie Brüder. Mit einem leisen »Passt auf euch auf!«, drehte sich Jon um und ging schweren Herzens davon.

Keiner der beiden ahnte, dass dies ein Abschied für eine lange Zeit sein sollte.

***

Cam konnte nicht recht glauben, dass er noch lebte. Warum haben sie mich nicht einfach gleich erschossen? Was haben sie jetzt mit mir vor?

An ihrer Stelle hätte er nicht lange gefackelt. Die Situation war zu eindeutig. Nutzung eines falschen Namens. Umgehung der üblichen Registrierung des Identchips. Diebstahl einer tödlichen Waffe auf neutralem Territorium. Tätlicher Angriff auf den Commander einer Raumstation. Mord an dem jungen Piloten Graham, einem nachweislich Unschuldigen. Eine getötete Kriegerin. Und überführt von einer Telepathin.

Dem Gesetz nach war Cam erledigt. Erst Recht so weit draußen im Weltraum. Kein Hahn würde danach krähen, ob Cam ordnungsgemäß verurteilt werden oder einfach von der Bildfläche verschwinden würde. Und dieser Commander hätte jegliches Recht gehabt ihn sofort zu eliminieren. Doch warum tat er es nicht?

Noch im Nachhinein erschrak Cam bei der Vorstellung, wen er da vor zwei Tagen fast erschossen hätte. Diese große Kriegerin hatte den Shockstrahl abgefangen, den er auf die Botin abgefeuert hatte. Erst im letzten Moment hatte er seine Schwester erkannt.

Shay ist am Leben! Cam zerbrach sich darüber den Kopf, seit er aus der Betäubung aufgewacht war. Er hatte doch selbst die Nachricht von ihrem Tod im Uni-News-Net gehört! Nun saß, oder vielmehr lag er hier am Arsch des Universums in einer Arrestzelle, fixiert und isoliert, und wartete. Auf Erklärungen, die er sich selbst nicht geben konnte.

Sie durfte nicht mehr am Leben sein! Der Rat hat sie für tot erklärt. Der Rat macht keine Fehler. Niemand entkommt ihnen. Niemand täuscht den Rat. Sie hatten ihre Augen und Ohren - oder vielmehr ihre Spionagegehirne - überall.

Und doch war Shay, seine Schwester, am Leben.

Cam wusste längst, dass er einen schweren Fehler begangen hatte, als er Shay damals an die Headhunter des Rates verraten hatte. Sie wollte die Laufbahn der Boten, zu der sie mehr als qualifiziert gewesen war und die der Familie Ruhm und Ansehen beschert hätte, nicht einschlagen. Er hatte ihrer Entscheidung doch nur ein bisschen nachhelfen wollen. Sie von dem Mann trennen, in den sie so albern und hoffnungslos verliebt gewesen war. Doch das war gründlich schiefgegangen.

Er selbst hatte das mit fünf Jahren Zwangsarbeit in den Minen gebüßt. Thomas Cameron, wie sein richtiger Name lautete, konnte sich lebhaft ausmalen, was er Shay und seiner Familie mit seinem Verrat angetan hatte. Jetzt lag er hier und hatte überlebt. Und sie war ebenfalls lebendig. Das Schlimmste aber war, dass Shay scheinbar wieder mit dem Mann zusammen war, der damals Cams eifersüchtiges Handeln ausgelöst hatte.

Cam war bis zur absoluten Bewegungsunfähigkeit gefesselt und allein. Er konnte keinen Muskel bewegen und hatte Zeit nachzudenken. Vor dem Tod hatte er keine Angst. Er war eine akzeptable Alternative in seinem verunglückten Dasein. Schmerzen hatte Cam in den Minenjahren genug ertragen, die reichten für ein ganzes Leben und konnten ihn nicht schrecken. Schlimmeres als das, was ihm schon passiert war, konnten sie ihm nicht antun. Oder doch?

Seine eigentlichen Ängste kamen aus einer ganz anderen Ecke seines Bewusstseins. Shay lebte. Er hatte seine große Schwester immer geliebt. Ihren Freund hatte er damals gehasst, verzogenes Brüderchen, das er gewesen war. Heute war ihm klar, wie kindisch dieses Verhalten gewesen war. Und wie gefährlich. Cam spürte eine Träne auf seiner Wange. Verdammt, er konnte sie nicht einmal wegwischen. Es machte ihn glücklich Shay lebendig zu wissen. Und es schmerzte ihn unendlich, dass sie ihn für den Rest ihres Lebens hassen würde. Nur davor hatte er Angst.

Planet Heritage, Siedlung Beaver Creek

In der Siedlung Beaver Creek ging das Leben seinen gewohnten Gang. Nur der alte Wakhan Blue Cloud war unruhig. Er war der Älteste, Weiser des Alten Volkes, einer ethnischen Gruppe, bestehend aus Familienstämmen der überlebenden Naturvölker aus dem früheren Nordamerika des Planeten Erde.

Die mageren Knochen des alten Mannes taten ihm schon eine ganze Weile weh und die Schmerzen wurden nicht weniger. Dass er seit einigen Jahren blind war, machte ihm nichts aus. Er hatte die Gabe der Telepathie, was als das zweite Gesicht schon seit Generationen in seinem Volk gar nicht selten war, und er fand sich auch ohne Augenlicht sehr gut zurecht, besonders in den Köpfen seiner Gesprächspartner.

Die zunehmende Gebrechlichkeit allerdings sagte ihm, dass sich seine Lebensspanne langsam aber unaufhaltsam ihrem Ende zuneigte. In den letzten Tagen waren die Träume, die er früher nur ab und zu in dieser Heftigkeit gekannt hatte, häufiger gekommen. Er wusste, es gab noch etwas Wichtiges für ihn zu tun, bevor er gehen konnte. Sein Volk sagte noch immer »in die ewigen Jagdgründe«. Eigenartig. Vor fünfhundert Jahren war ihre Welt noch verständlich gewesen. Heute lebten sie zwischen den Planeten und hielten weiterhin an den ewigen Jagdgründen fest.

Wakhan Blue Cloud hatte einen hohen Stand innerhalb des Stammes, dem er angehörte. Früher war er der Heiler gewesen, dann Geistheiler. Heute war er auch noch der Älteste, der Weise, dessen Rat immer gehört werden musste, wenn es um die Belange der Familien des Stammes ging. Der Blinde, der mehr sah als alle anderen. Er durfte nicht länger warten. Er musste dem Stammesrat etwas Wichtiges ankündigen. Und zwar bald.

Als seine Tochter das Pueblo betrat, in dem er wohnte, schickte er sie mit einem dringenden Auftrag fort.

***

Schon zum nächsten Abend wurde der Stammesrat einberufen. Ihm gehörten fünf Männer und drei Frauen an.

Der Chief des Stammes befand sich wie immer vor allen anderen im großen Versammlungssaal. Gray Eagle Windsong war ein großer, breitschultriger Mann, der mit seinen über sechzig Lebensjahren drahtig und durchtrainiert war. Seine ergrauten Haare hingen ihm noch immer dicht und lang über die Schultern, wie es in seinem Volk üblich war. Nur die linke Schläfe zierte ein dünn geflochtener Zopf. Aus seinem Gesicht, kantig und scharf geschnitten, leuchteten stahlgraue Augen, die einschüchternd wirkten, wenn sie ihr Gegenüber intensiv musterten.

Die Familie von Gray Eagle Windsong führte den Stamm seit zwei Generationen und so, wie es aussah, würde sein ältester Sohn Ethan der nächste Stammesführer sein.

Grays Augen blieben an einem der Fotos der Stammesangehörigen hängen, die eine ganze Wand des Versammlungsraumes schmückten und an die lange Geschichte und die Traditionen des Alten Volkes erinnerten. Die Bilder schlugen einen weiten Bogen von den Höhlenmalereien zu Beginn ihrer Kultur bis in die neue Zeit, in der die Menschen des Alten Volkes die Errungenschaften der Technik nutzten, um zu überleben. Diese eine, spezielle Aufnahme zeigte Grays drei Söhne, das Bild musste so zehn Jahre alt sein.

Ethan, der Älteste, war jetzt Mitte dreißig und ein ernster Mann, der die Anliegen des Stammes mit der notwendigen Durchsetzungskraft vorantrieb. Er würde einmal ein guter Chief sein, die besten Anlagen dazu hatte er, und er war schon jetzt Grays wichtigste Stütze für alle Belange der Familien.

Seine beiden anderen Jungs - Gray spürte einen Stich in seinem Herzen. Er war ein strenger Mann, schon immer gewesen. Sein Ziel, diese neue Heimat für seinen Stamm und die anderen Familien, die hoffnungsvoll mit nach Heritage gekommen waren, auf lange Sicht zu erhalten, setzte er häufig mit aller Härte durch. Einer Härte, die manchem nicht immer angemessen erschien, doch sie alle ordneten sich seiner Autorität unter. Schließlich gab er ihnen Schutz und Rückhalt und hatte es noch immer geschafft, die Interessen des Alten Volkes im Regierungsrat von Heritage durchzusetzen.

Nur einer hatte sich ihm nicht untergeordnet, da hatte alle Strenge nichts genützt. Und nun war er schon seit Jahren fort, sein mittlerer Sohn, den alle nur Hawk nannten. Woher hat er das bloß? Dieses Wilde, Unkontrollierbare. Gray hatte die Erinnerung an Hawk schon eine halbe Ewigkeit aus seinen Gedanken verdrängt. Nun suchten seine Augen unwillkürlich nach Hawks Gesicht. Warum muss ich gerade jetzt an ihn denken?

Die Stimmen der eintreffenden Angehörigen des Stammesrates lenkten den Chief von seinen dunklen Gedanken ab. Sie setzten sich nach der alten Tradition auf bunten Decken in angestammter Reihenfolge in einem weiten Kreis. Alle trugen zu den Sitzungen die wichtigsten Stammesattribute an ihrer Kleidung. Sie waren Abkömmlinge verschiedener Völker, die sich zusammengeschlossen hatten, um auf Heritage wenigstens einen Teil ihrer Kultur zu bewahren.

Es war notwendig gewesen, neue Strukturen zu bilden, damit die kleine Gemeinschaft überhaupt eine Chance hatte, als ethnische Gruppe zu überleben. Die alten Stammesnamen wurden in den Überlieferungen gepflegt, doch in der jetzigen Welt waren stammesübergreifende Familien entstanden, die sich jeweils ein Krafttier als Leitsymbol gewählt hatten. Bis auf wenige, heilige Zeremonien war das Leben der Stammesangehörigen nüchterner, um nicht zu sagen moderner geworden.

Doch gewisse Grundregeln und Traditionen bei den Zusammenkünften wurden von allen eingehalten. Besonders die Frauen ließen es sich nicht nehmen in der jeweiligen Tracht zu erscheinen.

Das Räucherwerk, getrocknetes Zedernholz, zerriebene Pinienzapfen und Salbeiblätter in einer großen, irdenen Schale in der Mitte des Kreises entzündet, half Gedanken zu öffnen und sich auf das Wesentliche zu konzentrieren, und war ebenfalls fester Bestandteil der jahrhundertealten Zeremonien.

Als es in dem Kreis ruhig geworden war, führte seine Tochter den alten Wakhan Blue Cloud auf den angestammten Platz des Ältesten, genau gegenüber von dem des Chiefs. Alle blickten erstaunt auf. Diesmal hatte der Älteste den gesamten Schmuck und die Tracht des Geistheilers angelegt, was sonst nur zu den höchsten Zeremonien erforderlich war. Seine blinden Augen hielt er geschlossen, als er sich mithilfe seiner Tochter auf dem freien Platz niederließ und den Kreis der Neun damit schloss.

Chief Gray Eagle wunderte sich, doch er ließ sich nichts anmerken. Er war ein nüchterner Mann, der zwar viel auf Traditionen achtete, aber zugunsten der Zweckmäßigkeit auch gut auf das Brimborium verzichten konnte. Ein kurzfristig einberufener Stammesrat konnte auch ohne Zeremonie stattfinden. Aber diesmal wollte es der Alte wohl nach den traditionellen Regeln. Gray war gespannt, was Wakhan Blue Cloud zu sagen hatte.

Konzentriert versuchte er, seine Gedanken zu leeren und sich für die Zeremonie zu öffnen. Tat er das nicht, würde gleich ein Rüffel von Wakhan Blue Cloud kommen, der mit seinen telepathischen Fähigkeiten die Gedanken aller Teilnehmer sehen konnte und nie eine Unkonzentriertheit während einer feierlichen Zeremonie duldete.

Mit seiner tiefen, sonoren Stimme begann Gray Eagle mit der Zeremonie und sprach die Begrüßungsworte. Nachdem er geendet hatte, blickte er von einem zum anderen in die Runde und sprach die Namen der Familien aus. Dann richteten sich seine Augen auf den alten Wakhan Blue Cloud, der im gleichen Moment die bis dahin geschlossenen Augenlider öffnete. Ein kurzer Schrecken durchfuhr Gray, denn die weißen, blinden Augen schienen direkt in seine Seele zu blicken. »Ehrwürdiger Ältester, du hast uns gerufen. Der Stammesrat hört und achtet dich. Sage uns nun dein Begehr.«

Wakhan Blue Cloud erhob sich mühsam, auf seinen langen Zeremonienstab gestützt. Er wendete seine blinden Augen von Gray auf das Räuchergefäß in der Mitte des Kreises. Mit einer klaren, kräftigen Stimme, die so gar nicht zu seinem gebrechlichen Körper passen wollte, begann er zu sprechen.

»Ich grüße den Stammesrat des Alten Volkes. Es ist gut, dass ihr vollzählig seid. Hört, welche Botschaft mir die Ahnen gesendet haben.« Kurz schwenkte er seinen mit Knochen und Amuletten geschmückten Stab, um die Ahnen zur Unterstützung zu rufen. Er holte noch einmal tief Luft und richtete sich hoch auf. Seine Worte hallten in die gespannte Stille. »Zwei ungeborene Sonnen werden zu uns kommen. Sie bedeuten große Gefahr, doch auch große Hoffnung. Gefahr für das Alte Volk. Hoffnung für alle Unfreien.«

Dann blickten die toten Augen wieder auf Gray und schienen allein ihn zu fixieren. »Die tote Tochter des Alten Volkes bringt den Verlorenen zurück. Sie kann uns retten. Weise sie zurück und du wirst alles verlieren.«

Kein Laut war von den Mitgliedern des Stammesrates zu hören. Erschrocken und erstarrt ließen sie die Botschaft auf sich wirken. Niemand von ihnen war darauf gefasst gewesen, dass es sich bei dieser Ratsrunde um mehr handeln würde als um ein Alltagsproblem. Schon seit vielen Jahren hatte es keine Prophezeiung mehr gegeben. Genau genommen war dies die erste, seit Gray Eagle Stammesoberhaupt geworden war.

Seine Nackenhaare stellten sich auf, als Wakhan Blue Cloud wieder rasselnd seinen Stab schüttelte. Noch durfte Gray Eagle seine Stimme nicht erheben. Erst wenn der Älteste es gestattete. Und noch war Wakhan Blue Cloud nicht am Ende angelangt.

»Der Stamm wird ein Opfer bringen, auf das wir stolz sein werden, wie in den alten Tagen. Heißt die zwei Sonnen willkommen, denn sie bedeuten Zukunft.« Seine Lider schlossen sich über den weißen Augäpfeln, der Älteste schnaufte angestrengt. »Ich spüre die Sorge in euch. Beginnt, euch vorzubereiten. Angst wird euch lähmen. Lasst sie nicht zu. Veränderungen kommen über uns. Gestaltet sie mit der Unterstützung unserer Ahnen. Handelt in der Tradition unserer Ahnen, aber seid bereit für das Neue. Ich habe gesprochen.«

Wakhan Blue Cloud sank wie ein leerer Sack in sich zusammen. Die beiden Ratsmitglieder, die links und rechts von ihm saßen, fingen ihn auf.

Gray Eagle schüttelte seine Erstarrung ab, erhob sich und senkte seinen Kopf vor dem Ältesten. »Der Stammesrat dankt dem Ältesten für seine Worte. Wir werden darüber beraten und erbitten die Weisheit der Ahnen für unsere Entscheidungen.«

Auf sein Zeichen holten sie Wakhan Blue Clouds Tochter herein, um den Ältesten nach Hause zu begleiten, doch er war zu schwach, um zu gehen. Zwei Männer des Stammesrates trugen ihn hinaus. »Kommt bald zurück, damit wir uns beraten!«, rief Gray ihnen noch nach, als sie mit dem Ältesten den Raum verließen.

Nita Smiling Snake, eine Schwägerin Grays, Familienoberhaupt des Schlangenclans und dadurch Mitglied des Stammesrates, fand als Erste ihre Sprache wieder. »Lasst es uns aufschreiben. Sofort. Damit wir seine Worte richtig in Erinnerung behalten.« Nita war praktisch veranlagt und nutzte die Vorteile der modernen Zeit. Sie diktierte die Worte des Ältesten in ihren Communicator und ließ sie von den anderen Stammesräten abgleichen. Schnell hatten sie sich auf den richtigen Wortlaut geeinigt.

Die beiden Männer, die Wakhan Blue Cloud nach Hause getragen hatten, waren nach wenigen Minuten zurück.

Nita fragte Gray: »Was schlägst du vor?«

Gray hatte an einem der Fenster gestanden und bewegungslos nach draußen geblickt. »Lies uns noch einmal vor, was er gesagt hat«, bat er Nita.

Sie wiederholte Wakhan Blue Clouds Worte. »Noch kryptischer ging´s wohl nicht. Was meint er mit den zwei ungeborenen Sonnen? Unser Planet hat nur eine Sonne. Und wenn die auf uns runter kommt, ist es sowieso aus mit uns«, fügte sie an.

Running Wolf Black, ein großer, schlanker Mann mit hellgrünen Augen, die in starkem Kontrast zu seinen schwarzen Haaren standen, und Familienoberhaupt der Wölfe, fuhr sich mit der Hand nachdenklich über das Kinn. »Dein Sohn ist doch fit in Astrophysik, Gray. Frag ihn, ob er Infos über eine Supernova, einen Kometen oder irgendetwas hat, das mit uns und zwei Sonnen zu tun haben könnte.«

Gray nickte. »Werde ich tun.« Und zu den anderen fuhr er fort: »Ich schlage Folgendes vor: Heute und morgen wird unsere Welt nicht untergehen. Würde eine Naturkatastrophe anstehen, hätten wir bereits davon gehört. Lasst uns die Nachricht mitnehmen und eine Nacht darüber schlafen. Ich werde Wakhan Blue Cloud morgen aufsuchen. Vielleicht kann er noch etwas dazu sagen. Wir treffen uns am Abend und reden darüber.«

In bedrückter Stimmung gingen sie auseinander.

Planet Academia, Institut 19

Matthew Shawn Cameron hatte sich in der neuen Schule auf dem Planeten Academia recht gut eingelebt. Seine Instruktoren nannten die Schule in der Stadt Philomeia Institut 19. Noch immer vermisste der achtjährige, blonde Junge mit dem feinen Gesicht Tess, seine Aya, bei der er aufgewachsen war und die ihn so liebevoll umsorgt hatte. Sie war ihn noch nicht besuchen gekommen. Damit hatte er auch nicht wirklich gerechnet, denn er war ja weit weg von zu Hause. Aber bisher hatte er noch nicht einmal eine kleine Nachricht erhalten.

Sein Onkel Sorren, der ihn vor Kurzem von daheim weggeholt und hierher in diese Eliteschule - er konnte sich noch nicht so recht vorstellen, was das bedeuten sollte - gebracht hatte, hatte ihn auch noch nicht wieder besucht. Dabei hätte er ihn so dringend gebraucht. Denn seine Aya hatte Matt eindringlich davor gewarnt, irgendjemandem etwas davon zu sagen, dass er in die Köpfe der anderen sehen konnte und hörte, was sie dachten. Obwohl hier in dieser Schule scheinbar alle Betreuer und Instruktoren darauf lauerten, ob sich bei einem der Kinder eine »Begabung« - wie sie das nannten - zeigte.

Matt hatte seiner Aya versprechen müssen, es für sich zu behalten. Bei den meisten jedenfalls ging das recht gut. Das war manchmal ganz schön lustig und Matt musste sich richtig anstrengen, um sich nicht zu verraten. Er hatte zum Beispiel einmal laut losgelacht, als sein Banknachbar beim Unterricht anstatt zu lesen davon träumte, wie er es anstellen konnte, der hübschen Instruktorin im Fach Mathematik unter den engen Rock zu sehen.

Dann wieder hatte Matt den Eindruck, die Instruktoren merkten es, wenn er sich in ihrem Kopf umsah. Es waren allerdings keine Telepathen darunter. Die Telepathen-Instruktoren unterrichteten nur die höheren Klassen. Schnell hatte Matt die Warnsignale bemerkt und er unterließ es, sich ungefragt in anderen Köpfen umzusehen.

Nur Onkel Sorren war ein Vertrauter. Mit ihm würde Matt darüber reden können, ob das gut oder schlecht war, was er da machte. Denn Matt hatte festgestellt, dass er noch mehr konnte, als nur die Gedanken der anderen lesen. Es war ihm möglich andere zu beeinflussen.

Matt fiel das kleine Mädchen in einer der Pausen auf. Sie sah ihm irgendwie ähnlich, aber sie war jünger, fünf oder sechs Jahre alt vielleicht. Sie hatte die gleichen silberfarbenen Augen wie er und auch seine Haarfarbe, ein sehr helles Blond. Ihr zartes Gesichtchen mit den großen Augen war wunderschön, aber sie lachte nie und sie stand abseits von allen anderen. Einer der Jungs aus Matts Klasse rempelte sie von hinten an, sodass ihr Essen vom Tablett auf den Boden fiel. Sie sah ihn nur regungslos an, als er sie auslachte.

Da griff Matt ein. Allein durch seine Gedanken brachte er den Jungen dazu, schlagartig mit dem Lachen aufzuhören. Matt ließ den Missetäter, der überhaupt nicht wusste, was er da gerade tat, niederknien, die Kleine ansehen und zu ihr sagen: »Es tut mir leid, Prinzessin.«

Matt sah zum ersten Mal ein Lächeln auf ihrem niedlichen Gesicht. Sie beugte sich zu dem anderen Jungen hin und berührte mit ihrer kleinen Hand seine Schläfe. Mit einer glockenhellen Stimme sagte sie zu ihm: »Es ist schon gut. Du hast es nicht mit Absicht getan. Steh wieder auf und geh zu deinen Freunden.« Der Junge tat es, ohne zu zögern.

Statt ihre Sachen aufzuheben, drehte sich die Kleine in die Richtung, in der Matt stand. Deutlich hörte er sie in seinem Kopf sagen: »Danke für Deine Hilfe.«

»Woher weißt du, dass ich es war?«, fragte Matt genauso lautlos zurück.

»Ich kann dich ohne Worte hören, so wie du mich«, antwortete sie ohne ein gesprochenes Wort.

Da rief sie der Summton zurück in den Unterricht.

In der nächsten freien Unterrichtseinheit ging Matt wieder zu der Stelle im Hof, wo er sie das letzte Mal gesehen hatte. Die Kleine war da.

»Hallo, ich bin Matt. Wie heißt du?«, fragte er sie ohne Hilfe seiner Fähigkeiten, nachdem er sich umgesehen hatte und die Aufsichts-Instruktoren weit genug von ihnen entfernt waren. Das Mädchen hatte keine Namenskennung auf ihrer Uniformjacke.

»Warum sprichst du laut? Ich finde es schön, wenn wir uns ohne Worte unterhalten«, antwortete sie.

»Weiß jemand, dass du das kannst?«, fragte er leise.

»Nein. Ich kann das noch nicht lange. Hier ist niemand, dem ich das gerne erzählen möchte.«

Matt lächelte sie an. »Mir hast du es erzählt. Willst du mir nicht doch verraten, wie man dich nennt?«

Sie schob den linken Ärmel ihrer Uniformjacke ein Stück nach oben. An der Innenseite ihres Handgelenks wurde eine winzige Markierung sichtbar.

FαIIIαΠ∆RA

Matt konnte diese Zeichen nicht genau identifizieren. »Was bedeutet das?« Er beugte sich neugierig vor, um sie besser zu sehen.

»Sie sagen F-alpha-3 zu mir, das ist meine Kennung. Aber ich glaube, mein richtiger Name ist Fayandra.«

»Ich werde dich Fay nennen. Das geht schneller. Und es ist hübsch.«

Die Kleine lächelte. »Du bist nett. Wo ist dein Zeichen? In meiner Gruppe haben alle Kinder eines.«

»Ich glaube, ich trage den Namen meiner Familie. Ich hab kein Zeichen auf dem Arm. Mein Name steht hier.« Er tippte auf den eingestickten Namen seiner Uniformjacke.

Sie zuckte bedauernd mit den Schultern. »Diese Schrift kann ich nicht lesen. Aber sag, warum sollen wir uns nicht ohne Worte unterhalten? Es ist doch gut, wenn die anderen uns nicht hören können.«

»Wir dürfen uns nicht verraten. Meine Aya hat mich gewarnt. Ich weiß noch nicht wieso, aber es war ihr sehr wichtig. Irgendwann kommt mein Onkel Sorren mich besuchen. Der kann uns helfen und wird uns sagen, was richtig ist. So lange bleibt es unser Geheimnis. Versprochen?«

Treuherzig lächelte Fay ihn an. »Versprochen. Ich muss jetzt zurück. Wollen wir uns öfter treffen?«

Auch Matt grinste über das ganze Gesicht. Jetzt hatte er wohl eine kleine Freundin. »Klar. In den Pausen, so oft es geht. Aber denk dran: Nichts verraten!«

***

Die Kinder sahen sich nun jeden Tag mindestens einmal. Fay wurde ganz lebhaft, wenn Matt bei ihr war, und fragte ihn über sein Zuhause aus. Sie erzählte ihm vom Kinderinstitut, den Instruktoren, die dort mit ihnen lernten, und den Betreuerinnen, die die Kinder außerhalb der Erziehungszeiten beaufsichtigten. Besonders gerne hörte Fayandra aber Matts Geschichten von den Freunden aus dem grünen Garten und von Matts ehemaligem Zuhause.

»Ich habe noch nie solche Bäume gesehen wie in deinem Garten. Kannst du mir einen zeigen?«

»Außerhalb unserer Schule gibt es einen Wald. Dort wachsen Bäume, die sind noch viel größer als meine daheim. Aber da dürfen wir allein nicht hin.« Matt dachte einen Augenblick nach.

»Au ja! Das wäre so schön!« Fay klatschte vor Begeisterung in die kleinen Hände.

Nur kurz hatte Matt überlegt, ob sie sich nicht mal für eine Stunde raus schleichen könnten. Sofort hatten Fays telepathische Antennen diese Idee aufgeschnappt.

»Nein, es geht nicht. Sie passen so gut auf. Und wenn wir es doch schaffen und sie erwischen uns, dann kriegen wir bestimmt eine ordentliche Strafe.«

Fays Augen wurden so traurig, dass Matt sie einfach an sich heranzog und sie umarmte. »Hey, ich denk noch mal nach. Wenn ich einen guten Weg finde, dann gehen wir. Aber wenn ich keinen finde, darfst du nicht traurig sein. Eines Tages werden wir schon hier rauskommen.«

Dicht an Matt gepresst nickte die Kleine. Es ist schön, wenn du mich so festhältst. Das hat noch niemand getan.

Matt ging das Herz auf und er hätte sie am liebsten nie wieder losgelassen. Nur widerwillig gingen die beiden zurück in ihren Unterricht.

***

Matt wollte Fay so gerne lachen sehen. Mit Feuereifer machte er sich daran die Umgebung der Schule und ihre Ausgänge zu erkunden. Ersteres war leicht. Die Lerncomputer hatten Informationen ohne Ende über die Beschaffenheit des Planeten Academia und sogar Karten und Satellitenfotos der Schule.

Es war tatsächlich so: Direkt an eine der Außenmauern grenzte eine Freifläche und nur durch einen breiten Weg getrennt begann ein Wald. Man konnte vom Innengelände nur nirgends nach draußen sehen. Die Wohngebäude lagen alle ebenerdig und die das Gelände umgebende Mauer war hoch. Die mehrstöckigen Verwaltungstürme, von denen aus man einen Blick nach draußen hätte riskieren können, durften die Schüler nicht betreten.

Wenn er mit Fay durch eines der hinteren Tore hinauskäme, wäre es nicht weit bis zu den Bäumen. Sie könnten ein bisschen draußen bleiben und in weniger als einer Stunde zurück sein. Nur, wie würden sie wieder hereinkommen, ohne erwischt zu werden?

An diesem Abend spazierte Matt in der Freistunde vor dem Schlafengehen in der Außenanlage an der hinteren Begrenzungsmauer entlang. Hier gab es nur wenige Sträucher und gar keine Bäume, die einen Sichtschutz bieten konnten. Außerdem ging einer der Betreuer ständig im Garten spazieren, solange noch Kinder im Hof waren.

Was soll's, dachte sich Matt. Ich kann ihn ja einfach mal fragen.

Als der Betreuer scheinbar zufällig in seine Nähe kam, ging Matt auf ihn zu und sah auf sein Namensschild. »Guten Abend, Betreuer Jonah. Kannst du mir sagen, ob es in dem Wald da draußen wilde Tiere gibt?«

Jonah war noch nicht lange Betreuer an der Schule und erstaunt, dass einer der Schüler überhaupt mit ihm sprach. Man hatte ihm bei Antritt dieser Arbeit eingebläut, möglichst wenig Kontakt zu den Kindern zu haben, und jede Auffälligkeit musste dem diensthabenden Instruktor umgehend gemeldet werden. Dieser kleine Kerl aber machte einen aufgeweckten Eindruck und sehr höflich war er auch. Warum sollte er also nicht mit ihm reden?

»Guten Abend auch dir«, er sah auf den Namenszug an Matts Jacke, »Schüler Matthew. Nein, in diesem Teil von Academia gibt es keine wilden Tiere mehr. Nur friedliche. Eine Hirschart, Äffchen und eine Menge Vögel und Hornkaninchen. Warum fragst du?«

»In den Lerncomputern steht nur etwas über den Wald, aber ich habe nichts über Tiere gefunden. Zu Hause war ich oft im Wald. Ich würde diesen hier so gern mal sehen. Aber leider«, er zuckte resigniert mit den Schultern, »dürfen wir ja nicht raus.«

Jonah nickte bedächtig. Sie hielten die Kinder wirklich wie in einer Kaserne. Er selbst hatte das Glück gehabt in einer Familie aufzuwachsen, was heutzutage eher eine Seltenheit war.

»Du würdest wohl gern mal über die Mauer sehen, oder?«, fragte er Matt. Der lächelte traurig und nickte. Jonah sah sich um. Außer ihnen beiden war niemand mehr im Außenbereich. »Wenn du mir versprichst, es niemandem zu verraten, dann lass ich dich mal kurz durch die hintere Pforte schauen. Was meinst du, kannst du dichthalten?«

Matt strahlte jetzt und nickte erneut.

»Na, dann komm mal mit.«

Matt folgte Jonah ein Stück bis zum hinteren Tor. Sie passierten eine große Toreinfahrt, breit genug für Fahrzeuge, mit denen die Gartenpflege erledigt wurde. Daneben gab es noch eine normale Tür.

Jonah bemerkte, wie aufmerksam der Junge Tür und Zahlenschloss musterte. »Komm nicht auf die Idee, da alleine rauszugehen.« Er zwinkerte Matt zu und drehte sich so, dass der Junge die Zahlenkombination nicht sehen konnte. Jonah gab seinen Code ein und die Tür sprang auf. »Komm mit, wir gehen ganz kurz hinaus, damit wir zu den Bäumen hinüber kommen. Wir müssen aber schnell zurück, denn die Freistunde ist gleich zu Ende.« Jonah zwinkerte Matt verschwörerisch zu.

Matt hüpfte aufgeregt hinter ihm her. Sie gingen gemeinsam über den breiten Fahrweg hinein in den Wald. Der Wald duftete nach Pilzen und Moos.

»Es ist wie zu Hause!« Matt wurde mit einem Mal ganz still. Er berührte andächtig einen dicken Baumstamm und Tränen liefen ihm über die Wangen.

»Heimweh?« Jonah wurde das Herz schwer, als er den Kleinen so leiden sah.

Matt nickte.

»Du vermisst dein Zuhause sehr, nicht wahr?«, fragte ihn Jonah leise.

Matt schluckte und konnte nur ein weiteres Mal nicken.

Jonah war sehr betroffen. »Ich riskiere zwar meinen Job, aber vielleicht können wir beide ja mal irgendwann einen kleinen Ausflug machen. Jetzt müssen wir aber zurück! Komm, lass uns gehen.« Der Betreuer wendete sich um.

»Warte noch, nur eine Minute!«

Matt ging zu einem der Bäume mit niedrigen Ästen, riss einen kleinen Zweig mit hellgrünen Blättern ab und steckte ihn in seine Uniformjacke. Dann folgte er Jonah zurück. Er passte genau auf, ob sich die Tür von außen genauso öffnen ließ wie von innen.

Dann verabschiedete er sich von Jonah. »Betreuer Jonah, ich danke dir sehr für deine Freundlichkeit. Es war schön mal wieder einen Wald zu sehen. Gute Nacht!«

»Gute Nacht, Schüler Matthew.« Der Kleine tat Jonah leid. Kleine Jungs sollten noch nicht so förmlich sein. Dieses Gespräch und den kleinen Ausflug werde ich ganz bestimmt niemandem melden.

Matt sauste glücklich in sein Quartier. Jetzt hatte er einen Plan. Denn in Jonahs Kopf hatte er die Zahlenkombination für das Türschloss gesehen.

***

Am nächsten Morgen bei Dienstantritt wurde Jonah zur Leitstelle des Personals beordert. Der Leiter des Instituts, Direktor Hubbard, ein unscheinbarer, kleiner Mann mittleren Alters mit kahlem Kopf, wartete bereits neben einem Monitor auf ihn.

»Betreuer Jonah, Sie haben gestern gegen eine unserer wichtigsten Dienstvorschriften verstoßen. Sie haben zusammen mit einem Schüler das Gelände verlassen. Was haben Sie dazu zu sagen?«

Jonah wurde abwechselnd heiß und kalt. Er hatte nicht gewusst, dass es Überwachungskameras an den Ein- und Ausgängen gab. Blöd, das hätte ich mir doch denken können. Obwohl es hier ja außer dem Personal weit und breit keine große Siedlung gab. Warum war das Institut so gesichert? Verdammt, hoffentlich war er diesen Job jetzt nicht los. Er schluckte.

»Der Junge hat mich nach dem Wald gefragt. Er hatte Heimweh. Ich habe ihn nur kurz hinüberschauen lassen und ihn nicht aus den Augen gelassen.«

Die kleine, farblose Person verzog böse das Gesicht. »Ich erteile Ihnen hiermit einen Eintrag dritter Klasse in die Personalakte. Sie fliegen nur deshalb nicht sofort, weil Sie sich in den ersten Monaten bei uns nichts zuschulden kommen ließen.«

Das kleine Männchen haute unvermittelt zornig mit der Hand auf den Tisch. Jonah zuckte zusammen.

»Ich sage es Ihnen noch einmal in aller Deutlichkeit. Die Kinder dürfen das Gelände nicht verlassen. Diese Bestimmung ist zu ihrem Schutz. Sie sind Eigentum der Föderation und allein diese bestimmt, was die Kinder tun dürfen und was nicht. Haben Sie mich verstanden?«

Bin ja nicht taub, dachte Jonah und wollte schon gehorsam antworten, da rastete das Männchen völlig aus.

»Und wagen Sie ja nicht noch einmal, unverschämt zu werden! Das ist ja wohl das Allerletzte. Raus jetzt mit Ihnen und nehmen Sie gefälligst Ihren Dienst auf!«

Jonah machte, dass er rauskam. Verdammt, das war ein Telepath! Er zwang sich, den Gedanken widerlicher Blödmann! aufzuheben, bis er draußen war.

Der kleine Ausflug mit Matt zog ein paar Stunden später noch etwas Unangenehmes nach sich: Jonah hatte drei zusätzliche Nachtschichten mehr.

Planet Balance, Basisstation Dignity One

Die Tür zu Jons Quartier öffnete sich. Shay spürte, es war Jon, der an ihr Bett trat. Sie hatte sich nicht bewegt, seit er sie verlassen hatte. Zusammengekrümmt auf der Seite liegend und mit geschlossenen Augen. Auch wenn sie seine Gedanken nicht lesen konnte, seine Traurigkeit konnte sie spüren.

»Liebes, bist du wach?«, hörte sie ihn sagen.

Shay sah ihn an. Nicht mal ein kleines Lächeln schaffte sie.

»Wir fliegen nach Dignity One. Dort kannst du dich besser erholen als hier. Welda wird dir helfen. Einverstanden?« Seine Stimme klang bemüht hoffnungsvoll.

Shay hasste sich dafür, dass sie ihm diese Traurigkeit antat. Doch sie hatte einfach keine Kraft mehr. Sie schloss einfach die Augen. Sie konnte nichts tun, sich nicht mehr gegen diesen Sog der Trauer um ihr verlorenes Leben wehren.

Shay war sogar zu müde, um zu reden. Der Schmerz in ihrem Kopf und diese eigenartigen Krämpfe ließen sie nicht mehr klar denken. Nur noch die unsägliche Trauer und der unglaubliche Zorn über die verlorenen Jahre bestimmten ihre Gedanken. Dass sie dem Rat, der sie gewaltsam zur Botin gemacht und ihr die Erinnerungen an ihre Familie genommen hatte, so absolut ausgeliefert gewesen war und selbst keinerlei Kontrolle über ihr Leben gehabt hatte, ließ sie verzweifeln.

Außerdem machte sie sich selbst für das Leid verantwortlich, welches andere Menschen wie ihre Eltern und natürlich Jon erfahren hatten, weil der Rat sich Shays Fähigkeiten zunutze machen wollte. Das löste in ihr Schuldgefühle aus, die sich wie ein tonnenschweres Gewicht auf ihrer Brust anfühlten.

Aber das Schlimmste war die Erkenntnis, dass sie ihr Kind nicht hatte gebären dürfen. Es zerriss ihr das Herz. Eine Decke aus Blei hatte sich über sie gelegt, lähmte jede Bewegung und drohte sie zu ersticken.

Shay spürte zwar, wie liebevoll Jon mit ihr umging, doch sie fühlte sich nur wie eine Bedrohung für ihn und den Rest ihrer Welt. Wie sollte sie mit ihrer Verzweiflung umgehen? Am einfachsten wäre es einzuschlafen und sich nicht mehr mit Trauer, Wut, Zorn und Schuld herumplagen zu müssen. Im Moment war ihr sogar egal, ob das für immer wäre.

»Komm, ich trag dich zur Starflyer. Bald wird es dir besser gehen.«

In Jons Stimme konnte sie, neben ihrer eigenen Verzweiflung, auch seine heraushören. Und ein kleiner Gedanke setzte sich bei ihr fest, an den sie sich klammerte. Er hat das nicht verdient. Jon sollte nicht so leiden! Er kann doch nichts dafür.

Shay bekam durchaus mit, wie vorsichtig, als wäre sie aus Papier, und unsagbar zärtlich Jon sie auf seine Arme hob, als würde sie nichts wiegen. »Wenn es dir dadurch besser ginge, würde ich dich mein Leben lang so tragen«, flüsterte er ihr zu. »Aber vorher müssen wir ein kurzes Stück fliegen.«

In seinem Raumschiff legte er Shay in eine vorbereitete Schlafkoje. Mik war auch da, doch sie hielt zunächst Abstand zu ihr. Ich hab auch ihr wehgetan. Shay fühlte sich noch schlechter und ließ es deshalb sogar zu, dass Mik während des Fluges bei ihr blieb, damit Jon beruhigt war und sich auf den Flug konzentrieren konnte.

Sie konnte aus der Schlafkoje heraus hören, wie der Commander die Basisstation anrief. Dignity One war ihre der Föderation unbekannte Zuflucht. Auf dem riesigen Planeten Earth 6 - dem Grünen Planeten - hatte die Besiedelung erst vor Kurzem begonnen, und es war unwahrscheinlich, dass irgendjemand die kleine Gruppe Individualisten entdeckte, die sich hier geschickt und mit hohem technischen Aufwand ein kleines Refugium geschaffen hatte.

»Starflyer an Dignity One. Commander Jon Matthews. Bitte meldet euch.«

»Dignity One hört. Wolf in der Kommandozentrale. Was gibt es, Commander?«

Wolf war einer der Männer, die sich mit dem Commander und dem Sicherheitsoffizier Hawk entschieden hatten, zukünftig nicht mehr für die Föderation zu arbeiten, erinnerte sich Shay dunkel. Wie ihr Dasein als Abtrünnige allerdings aussehen würde, das stand noch in den Sternen.

»Hallo Wolf. Die Starflyer wird in fünfzehn Minuten bei euch landen. Hol mir Welda und Patrick zur Landefläche. Ich brauche Welda für Shay. Es ist dringend.«

Wolf horchte auf. Der Commander klang besorgt. Es stand ihm nicht zu nachzufragen, was los war. Er selbst hatte sich einige Zeit um Shay gekümmert, als sie hierher gekommen waren und Shay wegen einer Fußverletzung nicht hatte laufen können. Dabei hatte er entdeckt, wie viel Shay ihm bedeutete. Und das nicht nur in ihrer Eigenschaft als stellvertretender Commander, der sie war, so lange Jon Matthews abwesend war.

»Aye, Commander. Welda wird da sein«, antwortete er deshalb nur knapp und sorgte dafür, dass Welda die Nachricht sofort erhielt. Glücklicherweise war sie nicht weit von der Basisstation entfernt.

»Was ist mit Shay?«, fragte sie Wolf, der den Befehl genauso dringlich machte, wie Jon ihn gegeben hatte.

»Er hat nichts gesagt. Er klang besorgt. In zehn Minuten sind sie da. Dann werden wir es hoffentlich erfahren.«

»Was ist mit den anderen? Sind Mik, Hawk und Hanout auch dabei?«

Wolf zuckte nur bedauernd mit den Schultern. Sie würden es gleich wissen.

Die Starflyer landete pünktlich wie angekündigt. Wolf hatte Dienst in der Kommandozentrale und durfte seinen Platz eigentlich nicht verlassen. Doch er musste wissen, was mit Shay los war. Er ging hinaus, wo Patrick, der Teamkommandant der Soldaten, und Welda schon bereitstanden.

Patrick zog eine Augenbraue hoch. »Was tust du hier?«

»Ich empfange den Commander und will sehen, was ich für den stellvertretenden Commander Shay tun kann. Ich habe ordnungsgemäß an Wally übergeben.« Bei dieser Lüge verzog Wolf keine Miene.

Die Ausstiegsluke der Starflyer öffnete sich. Was sie sahen, ließ alle drei erstarren. Jon hielt eine winzig wirkende Shay in den Armen, die scheinbar nicht bei Bewusstsein war. Wolf vergaß Rang und Aufgabe und ging auf Jon los. »Was ist mir ihr? Was ist mit ihr passiert?«

Jon schloss für einen Augenblick mit sichtlich genervtem Gesichtsausdruck die Augen. Er winkte Patrick und Welda mit einer Kopfbewegung zu sich. »Patrick, wir haben einen Gefangenen mitgebracht. Er wird sich noch ein paar Stunden im Transportschlaf befinden. Er ist gefährlich. In der hinteren Wand des letzten Hangars ist ein kleiner Bunker eingelassen, der kann als Arrestzelle dienen, bis wir wissen, was wir mit ihm machen. Schafft ihn dorthin.«

Wolf kochte vor Zorn, weil Jon ihn so ignorierte, und starrte ihn mit geballten Fäusten an. Am liebsten hätte er Jon die Frau aus den Armen gerissen. Bevor Wolf sich vergaß, trat Welda an seine Seite. Sie war wie Shay Telepathin, zwar mit weniger stark entwickelten mentalen Fähigkeiten, jedoch mit einer ausgesprochen nützlichen Gabe. Sie konnte Empfindungen spüren und anderen Menschen ihre emotionale Last tragen helfen. Die dunkelhäutige Frau berührte sanft Shays Arm. Mit einem Schmerzenslaut ging Welda in die Knie, so stark war wohl die Empfindung, die von Shay auf sie überging. Wolf griff sofort zu und stützte Welda, damit sie wieder auf die Beine kam.

»Was zum Teufel fehlt ihr?«, fuhr Wolf Jon wieder an. »Warum bringst du sie hierher, anstatt zu einer vernünftigen medizinischen Versorgungsstation?« Und dann gingen alle Gäule vollends mit ihm durch. Er spuckte Jon wütend entgegen: »Und warum entscheidest du überhaupt, was mit ihr geschieht?«

Bevor Patrick, der die Männer auf Dignity One befehligte, solange weder der Commander noch Shay hier gewesen waren, einschreiten und Wolf Einhalt gebieten konnte, drehte Jon sich mit Shay in den Armen in Wolfs Richtung. Mit vor Zorn bebender Stimme antwortete er: »Das hier ist die Botin Shay Cameron Matthews. Sie ist meine Frau, seit fast zehn Jahren. Und sie wird das bleiben bis in alle Ewigkeit. Und so lange sie es selbst nicht kann, entscheide ich, was mit ihr geschieht, und sonst niemand.« Mit einem heiseren Flüstern setzte er hinzu: »Welda und ich werden uns um sie kümmern.« Seine Stimme senkte sich zu einem gefährlichen Knurren. »Und jetzt geh mir aus dem Weg.«

Wolf war rot angelaufen. Verdammt, das habe ich nicht gewusst. Betroffen senkte den Kopf und gab Jon endlich den Weg frei.

Innerlich schnaubte Jon noch vor Wut auf Wolf. Hätte ich eine Hand frei, ich hätte ihm mindestens die Nase gebrochen. Doch Shay war wichtiger. Er brachte sie in ihren Schlafraum in der Basisstation und legte sie aufs Bett.

»Was ist bloß geschehen? Jon, rede schon!« Welda, die langjährige Vertraute des Commanders, war außer sich.

»Shays Bruder ist aufgetaucht. Er ist der Gefangene, den wir mitgebracht haben. Er wollte mich töten. Shay und Hanout sind dazwischengegangen. Durch den Schock seiner Waffe und Hanouts Tod hat Shay ihre Erinnerung wieder.«

Welda keuchte auf. »Hanout ist tot?« Sie sank in sich zusammen. Hanout, die ungestüme Kriegerin, war ihr zu einer lieben Freundin geworden. Jon konnte Welda gerade noch auffangen.

»Alles in Ordnung, Welda! Mik konnte Hanout retten. Es geht ihr gut und sie ist mit Hawk oben auf der Station. Sie hat sich schon wieder einigermaßen erholt. Aber Shay nicht! Sie hat mich wiedererkannt und seitdem quält sie sich in diesen Krämpfen. Sie lässt Mik nicht an sich heran und reagiert mittlerweile auf gar nichts mehr.«

Welda wendete sich um und blickte auf das Bett, auf das sie Shay gelegt hatten. Dann sah sie zu Mik, die den kleinen Raum ebenfalls betreten hatte. »Mik, Shay hat dir doch vertraut. Was ist passiert? Warum lässt sie dich nicht helfen?«

»Ich weiß es nicht.« Ein ängstlicher Seitenblick Miks auf den Commander folgte. »Einerseits sind es die Entzugserscheinungen, die ihre Krämpfe verursachen. Ihr wisst doch, die Medikamente, die wir ihr gegeben haben, um die Schmerzen der aufkommenden Erinnerungsflashs zu lindern. Ich hoffe, das Wasser hier unten wird die Schmerzen lindern. Es hat ihr ja schon einmal geholfen.«

Welda nickte. »Und andererseits?«, fragte sie ungeduldig, als Mik nicht weitersprach.

Mik holte tief Luft. »Sie hat sich aufgegeben. Ich denke, sie ist in einer tiefen Depression und findet nicht heraus. Deshalb wehrt sie sich gegen meine Hilfe. Shay will nicht mehr leben.«

Jons Verzweiflung wuchs ins Unendliche. Wie kann das sein? Gerade jetzt, wo ein neuer Anfang vor uns liegt?

Welda konnte zwar seine Gedanken nicht lesen, doch sie spürte seine Empfindung wie ihre eigene. »Jon, du weißt doch am besten, was ihr zugestoßen ist. Es ist Shay nicht möglich einfach zur Tagesordnung überzugehen. Sie muss das irgendwie verarbeiten. Und wir werden versuchen, ihr dabei zu helfen. Ich werde sie jedenfalls nicht einfach so aufgeben.«

»Ja glaubst du etwa, ich will das?«, entfuhr es Jon aufgebracht.

Welda schüttelte sanft den Kopf. »Natürlich nicht. Vielleicht wird ihr dadurch leichter. Und du wirst mir dabei helfen. Gib mir deine Hand und bereite dich auf ihre Energie vor. Du hast beim letzten Mal gesehen, was passieren kann.«

Jon nickte. Ihm stand das noch genau vor Augen, als Welda und Hanout Shay in einem solchen Zustand berührten. Ein Energiestoß hatte beide Frauen von Shay weggeschleudert.

»Ich halte dich, Welda. Nur bitte«, ihm stockte die Stimme, »bitte hilf ihr.«

Welda kniete sich neben Shays Bett und konzentrierte sich. Sie wusste, dass ein großer Schmerz auf sie zukam. Doch diesmal war sie besser gewappnet. Zuerst nahm sie Jons Hand. Sie würde nicht einfach nur Shays Gefühle aufnehmen. Nein, sie musste versuchen, Shay auch etwas zurückzugeben. Und dieses Etwas hieß Hoffnung.

»Schließ die Augen, Jon, und denk an etwas Schönes aus eurer Vergangenheit.«

Einen tiefen Atemzug später ergriff Welda Shays Hand und drückte sie fest. Ein flirrendes Beben lief durch den Raum. Die Luft vibrierte. Welda war zwar auf den heftigen Energiestoß gefasst gewesen, der nun von Shay ausging, doch es kostete sie alle Kraft, dagegen zu halten. Der emotionale Schmerz raubte ihr den Atem!

Die Augen fest geschlossen nahm sie Jons Lebensenergie auf und verstärkte sie in Shays Richtung.

Mik schlug die Hand auf den Mund, um einen Aufschrei zu unterdrücken. Sie hatte so etwas noch nie gesehen. Jon, Welda und Shay waren durch ein rötliches Lichtband verbunden. Es schien, als würden Funken aus den offenen Enden schlagen. Mik spürte es. Hier läuft etwas falsch! Das ist eine gefährliche, zerstörerische und brennende Energie! Sie würde großen Schaden anrichten, wenn dieses unheimliche Lichtband auch nur kurze Zeit länger leuchten würde.

Shay riss plötzlich die Augen auf und stieß einen gequälten, klagenden Laut aus. Die drei verbundenen Menschen bebten vor Energie. Nur Mik, die die Szene von außen beobachtete, konnte sehen, was notwendig war.

»Jon, nimm Shays andere Hand! Schließt den Kreis! Sonst verliert ihr Shays Lebensenergie! Jon!« Mik schrie ihn an. Sie wusste, sie durfte ihn jetzt nicht berühren, die aufgebaute Spannung war zu stark. »Jon! Schließt den Kreis! Jetzt! Ihr tötet Shay sonst!« So laut sie konnte schrie sie noch einmal seinen Namen.

Unendlich langsam öffnete er die Augen und nickte, dass er sie verstanden hatte. Er bewegte sich in Zeitlupe, als müsste er sich gegen einen starken Widerstand stemmen, trat zu Shay hin und berührte sie mit seiner freien Hand.

Ein lautes, unheimliches Fauchen fuhr durch den Raum und aus dem rötlichen, Funken schlagenden Lichtband wurde ein sanftes, blaues Licht, das die drei verbundenen Menschen von Kopf bis Fuß erfasste.

Mik konnte sehen, wie Shay sich etwas entspannte und die Augen wieder schloss. Welda kniete noch immer, hatte ihren Oberkörper aber hoch aufgerichtet und ihre Arme weit geöffnet, Shay an der einen und Jon an der anderen Hand. Sie war das Medium, durch das sich die tiefen Empfindungen der beiden trafen und austauschten.

Welda atmete tief. Das blaue Leuchten schimmerte sanft und friedlich. Mit einer tiefen, unwirklichen Stimme sagte sie: »Wir werden den Kreis nun lösen. Es ist gut. Wir bleiben bei dir, Shay. Bleib du auch bei uns! Gib uns ein Zeichen! Versuch es und bleib bei uns!«

Jons Augen hingen wie gebannt auf dem schönen Gesicht seiner Frau. Er hoffte wie auch Mik auf ein winziges Lebenszeichen, ein Nicken oder Blinzeln. Doch da war nichts.

Welda löste die Verbindung mit ihnen, der Lichtkreis verschwand.

Shay schien zu schlafen.

Mik trat auf Welda zu und half ihr auf einen Stuhl. Ihr Gesicht war unter der dunklen Haut ganz grau. »Geht es dir gut, Welda?«, fragte Mik besorgt.

Welda nickte müde.

Jon deckte Shay gerade liebevoll zu und strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht.

»Du hast es gespürt, nicht wahr, Jon?«, fragte Welda ihn.

Jon nickte und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. »Schuld. Schwer wie Blei. Sie gibt sich selbst die Schuld an allem. Das macht sie so fertig. Warum, Welda? Ihr Bruder, dieses verdammte Aas, hat dies alles ausgelöst! Ich möchte jetzt hinübergehen und dieses Arschloch zu Brei schlagen. Dann würde wenigstens ich mich besser fühlen!«

Dieser Gefangene, den Jon mitgebracht hatte, war Shays Bruder? Mik verstand den Zusammenhang nicht. »Warum wollte er dich oben auf der Raumstation töten?«, fragte sie Jon.

»Er hat das Unglück damals ausgelöst und Shay an den Rat verraten. Seinetwegen waren wir auf der Flucht. Seinetwegen musste Shay ohne Erinnerung leben und für den Rat arbeiten. Keine Ahnung, warum er jetzt auf der Bildfläche auftaucht und mich angreift. Sicherheitshalber habe ich ihn mitgenommen. Er darf auf der Station keinen Schaden anrichten. Oder die Aufmerksamkeit des Rats auf uns lenken.«

Welda hatte sich ein bisschen erholt. »Zuerst musst du dich um Shay kümmern. Mik hatte die richtige Idee. Wir bringen Shay ins Wasser. Und du«, sie sah Jon fest in die Augen, »wirst sie ins Leben zurückholen. Von uns wird das niemand schaffen. Nimm sie und komm mit. Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren. Ich zeige dir den richtigen Ort.«

Mik blieb traurig zurück. Sie berührte Shay ganz vorsichtig mit einem kleinen Streicheln und wünschte ihr, sie würde sich erholen. Es kam keine Abwehr.

Als sie Jon ein letztes Mal in die Augen sah, hatte sie nur noch Angst um die beiden.

Raumstation First-Contact-3

Auf der Raumstation First-Contact-3 betrachtete Hawk nachdenklich die Mikrochips vor sich auf der gläsernen Arbeitsfläche. Es handelte sich um 48 Identchips. Diese Datenträger bekam jedes menschliche Wesen direkt nach der Geburt in den linken Arm implantiert, das war Gesetz in der gesamten Föderation. Gespeichert waren Geburtsort, Geburtsdatum, Geschlecht, Name, spezifische Kennzeichen - sofern beim Säugling erkennbar - genetischer Abdruck mit Blutgruppe, und, falls vorhanden und bekannt, Elternpaarung. Über eine Codierung entstand so die lebenslange Identifikationsnummer jedes Menschen.

Identchips wiesen eine Person überall aus. Das hatte seine Vorteile, da Papierdokumente längst der Vergangenheit angehörten. Nachteile brachte es denen, die es als Verletzung ihrer persönlichen Freiheitsrechte empfanden, dass über alle Bewegungen der Menschen Aufzeichnungen geführt wurden.

Bereits seit Jahren gab es diese Freiheitsrechte nur noch in Dokumenten der Vergangenheit, im realen Leben waren sie längst verschwunden. Die Exekutive der Föderation hatte das Recht, alle Individuen zu überwachen und die Bewegungsfreiheit in dem Ermessen einzuschränken, in dem es für den Erhalt der Sicherheit und des Friedens der anderen Individuen erforderlich war.

Im Namen der Friedenserhaltung war jedes Mittel erlaubt. Auf allen Raumbahnhöfen war die Registrierung bei Abreise und Ankunft Pflicht. In Krankenhäusern, Schulen und allen öffentlichen Einrichtungen war es unabdingbar, Personendatenbanken zu führen und die Menschen zu registrieren. Angestellte der Föderation, die sich häufig im Weltraum bewegten, wurden ebenfalls in einem Zentralregister geführt.

Die Populationsdateien konnten den Zugangsberechtigten jederzeit Auskunft geben, wo sich ein gesuchter Mensch zuletzt registriert hatte. Oder wo er ohne sein Wissen registriert worden war. So gab es von allen Menschen Aufzeichnungen. Lückenhaft bei denen, die große Ansammlungen vermieden, nicht reisten und wenige Kommunikationskanäle nutzten. Fast minutiös waren die Aufzeichnungen dagegen von denen, die sich munter über die Kommunikationsnetze austauschten, öffentliche Veranstaltungen besuchten und gerne reisten.

Normalerweise wurden die Identchips mit dem Tod ihres Trägers gelöscht und die Chips regeneriert und wiederverwendet. Doch die illegalen Geschäftemacher waren findig; es gab einen lebhaften Schwarzmarkthandel mit gebrauchten Identchips, wie es ihn vor ein paar hundert Jahren mit gefälschten Reisedokumenten gegeben hatte.

Hawk hätte diese 48 Chips von verstorbenen Männern, Frauen und Kindern nicht haben dürfen. Er hatte sie sich bei seinem letzten Aufenthalt im medizinischen Versorgungszentrum auf dem Planeten Gaia beschafft. Sie würden eine wertvolle Tarnung auf ihrem Weg in das Leben im Untergrund sein, das ihn und seine Freunde erwartete, wenn er diese Raumstation das nächste Mal verließ.

Hawk war seit Jahren erster Sicherheitsoffizier auf der Raumstation First-Contact-3 und damit Angestellter – oder Leibeigener, wie man es nahm – der Föderation. Die von der Regierung betriebenen Raumstationen waren nicht nur die Aushängeschilder der Föderation, sie mussten auch auf waffentechnischer Seite bestausgerüstet sein, um in gefährlichen Begegnungen mit fremden Lebensformen standhalten zu können.

Auf diese Weise bekam Hawk Zugang zu allen technischen Neuerungen und den aktuellsten, effizientesten Waffensystemen. Für den Rest der Bevölkerung, auch der Privatwirtschaft, waren Neuheiten verboten und unzugänglich. So hatte die Föderation immer einen Kontroll- und Wissensvorsprung und brauchte sich um lästige Konkurrenz nicht zu sorgen.

Zum Wohl und zur Weiterentwicklung der Technik der Föderationseinheiten kam Hawk in seiner Position deshalb an alle Informationen zu den neuesten technischen Entwicklungen heran und durfte sie zum Schutz der Raumstation nutzen. Und zum eigenen Wohl hatte er es zu seinem Hobby gemacht immer wieder Wege zu finden, die ausgeklügelte Technik der Föderation auszutricksen.