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Auf Heritage glauben Jon und Shay ihre Kinder in Sicherheit. Doch Devenja, die gefangene Botenkriegerin, versucht alles, Shays Kinder in ihre Gewalt zu bringen. Als Jon und Shay auf den Rebellenstützpunkt Dignity One zurückkehren, ist die Crew ist zerstritten und droht auseinanderzubrechen. Noch dazu ist der Erste Bote des Rates, Sorren Wentworth, auf Jons Spur. Er jagt ihn für die Rätin Nilufesh und deren dunkles Geheimnis. Sorren findet einen Verräter und Shay ahnt, dass sich für sie und die Crew eine Katastrophe anbahnt … Lesermeinung: Facettenreiche Charaktere und allerhand Unvorhergesehenes sorgen für den besonderen Kick und lassen mich das Finale der Reihe herbeisehnen. Lesermeinung: Bis zum Ende hin bleibt es spannend und ich bin wirklich schon gespannt auf das garantiert fulminante Finale.
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Impressum
Dignity Rising 3 – Verrat auf Dignity One
Vorschau Band 4 – Tödliche Rebellion
Von Hedy Loewe sind bereits erschienen:
Die Autorin
Dignity Rising
Band 3
Verrat auf Dignity One
Science Fiction/Space Opera
HL UTOPIA EDITION
© 2015/2021 Hedy Loewe
3. Auflage 2021
Dieses Buch ist in der ersten Auflage unter dem Untertitel „Gezeichnete Krieger“ erschienen.
Herausgeber: Hedy Loewe, Sabine Schöberl, Veilchenstr. 4, 90587 Veitsbronn
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung, wozu auch die Verbreitung über „Tauschbörsen“ zählt.
Covergestaltung: Ronny Altendorf, covertraeume.de Bildquelle: Shutterstock.com
Lektorat: Wortlogik.de
Kontakt: [email protected]
Planet Balance, Anflug auf die Basisstation Dignity One
»Was zum Teufel ist da unten los?«
Jon Matthews, ehemaliger Commander der Raumstation First-Contact-3, fluchte. Er war unter den höchstmöglichen Sicherheitsvorkehrungen an die Basisstation Dignity One herangeflogen. Die eindringliche Warnung von Derek, seines Nachfolgers als Commander der Raumstation und Verbündeter der Rebellen, hatte die Starflyer, eines der schnellsten und kampftauglichsten Schiffe im All, gerade noch rechtzeitig erreicht. Jon war gar nicht erst in die Nähe der Raumstation geflogen, die permanent überwacht wurde, sondern peilte den Rebellenstützpunkt Dignity One in einem großen Umweg von der Rückseite des Planeten an.
Seine Frau Shay, die Ex-Botin und wie Jon Abtrünnige aus dem offiziellen System, war nicht weniger besorgt als er.
Der Flug vom Planeten Heritage, wo sie ihren Sohn in der Obhut von Freunden zurückgelassen hatten, hatte ein paar Tage länger gedauert als geplant. Ihre Passagiere bekamen von all dem nichts mit und schliefen erschöpft.
»Die Funkstation sollte rund um die Uhr besetzt sein.« Mit einem zunehmend unguten Gefühl rief Jon die Basis bereits zum dritten Mal an, doch niemand meldete sich.
Plötzlich ein Rauschen auf dem geheimen Funkkanal. »Commander Jon, bist du das?«
»Hier Starflyer, Commander Matthews. Wer spricht da?«
»Ich bin´s, Harry! Oh Mann, bin ich froh, euch zu hören. Seid ihr bald da?«
Harry gehörte weder zu den Soldaten noch zum Funk- oder Wachpersonal. Was machte der kleine Mann in der Schaltzentrale der Basisstation?
»Was ist bei euch los, Harry? Werdet ihr angegriffen? Sind Föderationstruppen in der Nähe? Warum hat Patrick den Leitstand nicht besetzt?«
»Patrick ist draußen. Er hat alle zusammengerufen und vollzieht eine Strafmaßnahme. Nein, keine Föderationstruppen. Es ist gut, dass du endlich kommst, Commander. Hier geht´s drunter und drüber.«
Jon gab dem kleinen Harry die errechnete Ankunftszeit durch.
Sie hörten nur noch: »Oh, das sag ich gleich den anderen. Patrick muss mit der Strafe warten!«
Dann brach der Funkkontakt ab.
Jon und Shay tauschten einen alarmierten Blick. Eine Strafmaßnahme? Innerhalb des kleinen Teams? Patrick hatte als stellvertretender Commander durchaus das Recht dazu. Doch er war ein ruhiger und umsichtiger Mann. Für welches Vergehen sollte er eine Strafmaßnahme aussprechen müssen? Jon und seine Frau waren über einen Monat fort gewesen. Was war in ihrer Abwesenheit auf Dignity One nur geschehen?
Planet Balance
Vier Wochen früher
Nachdem er die Wache überrumpelt und niedergeschlagen hatte, schnappte sich Cam das Essen, das ihm der Wächter bringen wollte, und floh so schnell er konnte in den Wald. Dickicht und Unterholz waren bald so verwoben, dass es für Verfolger ziemlich unmöglich sein würde eine Spur zu finden.
Cam, der in seinem früheren Leben einmal Thomas Cameron genannt worden war, war ein zäher und ausdauernder Läufer. Um in den Strafminen zu überleben, hatte er sich in seinen fünf Jahren Haft auf Explorator 4 zusätzlich zur enormen Kondition die notwendige Ruhe und Umsicht antrainiert, die in gefährlichen Situationen das Überleben garantierten. Er würde weiter kommen, wenn er in einem gemäßigten und gleichmäßigen Tempo vorwärts trabte, weiter, als wenn er wild davonstürmte, bis die Lungen brannten und er dann eine längere Pause brauchte.
Als die Dunkelheit hereinbrach, hatten sie ihn noch immer nicht gefunden. Nicht einmal ihre Rufe hatte er mehr gehört, schon nach wenigen Metern schluckte der Wald jedes Geräusch. Cam hatte keine Ahnung, was sie mit ihm als Gefangenen angestellt hätten. Er wollte es auch nicht herausfinden. Er wusste nur, dass er niemals wieder in seinem Leben eingesperrt sein wollte. Lieber würde er hier draußen in Freiheit umkommen.
Der Planet, auf den Jon ihn gebracht hatte, stellte sich als lebensfreundlich heraus. Wasser gab es genug, genauso zahlreiche Früchte, die Cam Stück für Stück probierte, um herauszufinden, ob sie giftig waren. Doch nichts geschah. Er merkte sich die Pflanzen, deren Früchte schmeckten, bastelte sich aus Gräsern und Blättern eine Transporttasche für seine Tagesverpflegung und wanderte weiter. Tageszeit und Sonnenstand zum Zeitpunkt seiner Flucht zeigten ihm die Richtung - fort von der Landebasis.
Nach zwei Tagen schimmerte helles Licht durch die hohen Bäume, deren dichtes Grün sonst nur wenige Sonnenstrahlen bis zum bemoosten Boden durchließ. Cam hielt auf die Helligkeit zu und erreichte eine Absturzkante, die zum ersten Mal einen gigantischen Ausblick auf eine scheinbar unendliche, grüne Weite freigab. Mehrere hundert Meter stürzte eine Felswand unter ihm in die Tiefe, begleitet von zahlreichen Wasserfällen, die sich gischtend und schäumend in einen Dschungelwald ergossen. Geradeaus ging es nicht weiter, dafür hätte er Flügel gebraucht. Bis zum Horizont erstreckten sich bewaldete Hügel, ab und zu von schroffen Felsenformationen oder einem Flusslauf unterbrochen. Bis zum Horizont gab es keinerlei Hinweis auf eine Siedlung. Cam wurde heiß, als ihm die Bedeutung dieser Weite klar wurde.
Den ganzen nächsten Tag beobachtete er von seinem Aussichtspunkt aus den Himmel. Flugverkehr könnte ihm einen Hinweis geben, in welcher Richtung sich die nächste Siedlung befand. Doch Fehlanzeige. Außer ein paar Vögeln und Flugechsen zeigte sich nichts. Kein Rauch, keine Flugzeuge, keine Kondensatspuren von Raumtransportern, keine Schneisen für Straßen oder andere Verkehrswege. Cam saß hier mutterseelenallein auf einem fremden Planeten fest und bekam langsam eine Ahnung von dessen Größe. Aufgrund der geringen, kaum wahrnehmbaren Horizontkrümmung musste dieser Planet weitaus größer sein als der Alte Planet, Cams Heimat. Das hieß wohl, dass er von nun an als Einsiedler leben würde. Dies war, verglichen mit seinem bisherigen Leben, nicht die schlechteste Option. Cam sah sich an der Felskante entlang ein wenig um und überlegte, ob er sich so etwas wie ein festes Lager einrichten sollte. Er suchte sich einen Weg abwärts, bis das Gelände weniger schroff verlief. An einem friedlichen Flusslauf machte er halt.
Auch wenn er die einzige menschliche Seele weit und breit war, die wenigen Klamotten, die er trug, waren dreckig und verschwitzt. Mitsamt seiner Kleidung stieg Cam an einer seichten Stelle in den kleinen Fluss. Im Wasser zog er sich aus, wusch die Kleidungsstücke so gut es ging und legte sie am Ufer zum Trocknen aus. Dann schwamm Cam nackt ein wenig auf und ab. Das Wasser hatte eine sanfte Strömung, die ihn nicht abtrieb, es war warm und angenehm. Scheinbar waren Wärme, Wasser und Früchte hier der einzige Luxus.
Zum ersten Mal seit vielen Jahren begann Thomas Cameron so etwas wie Spaß zu empfinden. Er genoss das sanfte Streicheln des Wassers auf seiner Haut. Sogar an den verbrannten Stellen vermeinte er, es zu spüren. Das ist sicher nur Einbildung. Dort hatte er noch niemals nach den Schmerzen des Unfalls in der Mine etwas empfunden. Und doch …
Nach einer Weile war Cam zur Ruhe gekommen. Am Flussufer ließ er seinen Körper in der Sonne trocknen und dachte nach. So wie es aussah, würde er sobald keine Siedlung finden. Er wäre wochen-, wenn nicht gar monatelang unterwegs. Das wäre reine Glückssache. Einfach so aufs Geratewohl loszumarschieren hielt er für keine gute Idee.
Immer wieder wanderten seine Gedanken zu seiner Schwester. Shay, die er vor Jahren verraten und vor Kurzem fast aus Versehen erschossen hätte. Schließlich fasste Cam einen Entschluss. Er würde fürs Erste allein bleiben. Aber er würde zurückgehen und in der Nähe dieser Landebasis leben, in der sich Shay aufhielt. Egal, was geschah, er musste einfach in ihrer Nähe sein. Und sollte sie ihn eines Tages brauchen, wäre er da. So einfach war das.
Mit diesen Gedanken machte sich Cam auf den Rückweg und hoffte, dass die grobe Peilung, die er sich gemerkt hatte, reichen würde, um ihn in die Nähe der kleinen Landebasis zurückzubringen. Sonst werde ich wohl die nächsten Jahre auf diesem grünen Planeten umherirren.
Wann immer er konnte, nutzte Cam die kleinen Fluss- und Bachläufe für ein Bad. Seine verbrannte Haut veränderte sich. Sie war nicht mehr so schwarz und schuppig, sondern wurde heller und das narbige Gewebe entspannte sich deutlich. Wie gut ihm das tat!
Als er nach eigener Schätzung wieder in der Nähe der Landebasis hätte sein müssen, verlangsamte er sein Gehtempo. Bestimmte Bäume markierte er mit kleinen Zeichen, um eine Orientierung zu haben. Er hatte keine Eile.
Eines Tages sah er über sich einen kleinen Gleiter fliegen. Geschafft! Ich muss ganz in der Nähe der Basis sein. Vorsichtig schlich er sich in die Richtung, aus der der Gleiter gekommen war. Unentdeckt stieß er an die Außenmauer der Landebasis und zog sich vorsichtig wieder zurück. Nicht weit vom nächsten Wasserlauf und nur knapp eine halbe Stunde von der Landebasis entfernt richtete sich Cam einen Schlafplatz in einem Baum ein. Frühmorgens suchte er sich Früchte, dann verdöste er den Tag, um die Nacht über zu wachen und um die Basis herumzustreifen. Wie die beiden Zwillingssonnen hatte der Planet auch zwei Monde, die den Wald in vielen Nächten in ein gespenstisches Licht tauchten. Noch hatte er nichts für ihn Gefährliches an diesem Ort aufgespürt, aber sicher sein konnte er noch lange nicht.
Von den Bewohnern der Station hatte Cam ein Stück oberhalb seines Lagers schon einige zu Gesicht bekommen. Sie nutzten einen kleinen Teich als Badesee. Einen kleinwüchsigen Menschen, eine hübsche, junge Frau mit schweren, rotbraunen Zöpfen, einmal kurz vor der Dunkelheit einen Soldaten. Nicht den, den er niedergeschlagen hatte, sondern einen von Tätowierungen überzogenen, großen, durchtrainierten Mann. Kurz darauf folgte ihm die hübsche Rotbraune ins Wasser und sie boten Cam eine tolle Show mit ihrem ausgelassenen Liebesspiel. Niemand hatte ihn bisher bemerkt - er war auch gar nicht scharf darauf. Er zog sich zurück und schlief gut versteckt im Licht- und Schattenspiel des Laubes in einer Baumkrone. Vom Knacken einiger Zweige alarmiert, war er sofort hellwach.
Planet Academia, Ratshauptquartier Artenaya-Solis
Der mächtigste Mann der Föderation und Oberster Rat Arragos verlor fast die Fassung. In einer dreidimensionalen Projektion stiegen einige Gegenstände vor ihm auf. Verrußte Metallteile, die einmal Langschwerter gewesen sein konnten. Zwei angeschmolzene Identchips. Ein Siegelring, ebenfalls halb geschmolzen. Die Aufnahme eines Unfallszenarios, auf der man nicht wirklich viel erkennen konnte außer einem schwarzen Krater und einigen verbeulten Metallteilen. Die Nachricht dazu war in trockenen Worten gehalten:
Bei einem Zusammenstoß zweier Bodengleiter aufgrund eines Schadens der Magnetbahn sind bei einer Explosion im Randbezirk 9 der Südlichen Hauptstadt des Planeten Heritage mehrere Menschen getötet worden. Die Explosion wurde durch die Zündung mindestens einer Sprenggranate des Typs Z11 verstärkt. Zwei Menschen waren Einwohner des Planeten Heritage, Südliche Hauptstadt, zwei weitere menschliche Individuen wurden als Trystan, Bote ersten Grades, und Devenja, Botenkriegerin des Trystan, durch die mitgeführten Gegenstände und Identchips identifiziert. Den Leichen wurden zum endgültigen Nachweis der Identität Genproben entnommen. Eine visuelle Identifizierung war aufgrund des Verbrennungsgrades nicht möglich.
Der Abgleich der Genproben mit der Datenbank der Föderationsangestellten, die die Boten ja waren, hatte Arragos umgehend in Auftrag gegeben, die Ergebnisse lagen bereits vor. Tatsächlich handelte es sich um die Leichen von Trystan, seines besten Bluthundes, und dessen Kriegerin Devenja. Verdammter Mist!
Arragos schlug mit der Faust auf den Tisch. Ausgerechnet Trystan - bei einem ganz gewöhnlichen Unfall ums Leben gekommen? Verstärkt durch Sprenggranaten des Typs, wie sie nur dem Militär und eben den hochrangigen Boten zur Verfügung standen. Ironie des Schicksals?
Nicht dass Arragos um Trystan getrauert hätte. Schon gar nicht um dessen Kriegerin. Es war einfach mehr als ärgerlich, dass ihm ausgerechnet jetzt, in dieser heiklen Phase, eines seiner besten und zuverlässigsten Teams wegbrach.
Er rief nach Silas, seinem persönlichen Adjutanten. Silas war sofort zur Stelle.
»Hol mir die Oberste Rätin hierher. Sofort. Es ist mir völlig egal, welche Ausrede sie diesmal vorgibt. Wenn sie keine Lust hat, schleif sie an ihren Haaren her. Geh!«, bellte er wütend.
***
Ich sollte doch mal den Dienstherren wechseln, bevor ich hier endgültig unter die Räder komme. Silas, ein blasser Mensch mit ausdruckslosem Gesicht, war sich klar darüber, dass dieser Auftrag einem Himmelfahrtskommando glich, wenn er der Obersten Rätin Nilufesh, der einzigen Frau im Rat der Fünf, einen derartigen Befehl übermitteln sollte. Aber es half nichts.
Er begab sich schnellstmöglich in den Wohntrakt der Rätin und meldete sich an. Nilufeshs Dienerin öffnete. Silas kannte sie, das alte Weib sprach nicht viel. »Ist die Oberste Rätin anwesend?«
»Wer will das wissen?«
Silas verdrehte die Augen. Als ob sie nicht genau weiß, wer ich bin. Wahrscheinlich will sie ihrer Herrin nur Zeit verschaffen.
»Übermittle ihr die dringende Bitte«, er verzichtete bewusst auf die Worte Aufforderung oder Befehl, »sich ohne weitere Verzögerung zu Arragos zu begeben. Es ist dringend. Ich werde warten.«
Bevor die Dienerin ihm die Tür vor der Nase schließen konnte, schob er sich halb hinein. »Du weißt, dass ich nur komme, wenn es ernst ist. So ernst wie jetzt war es noch nie.« Seine Stimme war leise, aber schneidend und eindringlich. »Zwing mich bitte nicht unhöflich zu werden.«
Insgeheim wurden seine Hände feucht. Wie sollte er es nur anstellen Nilufesh gegen ihren Willen zu Arragos zu schleppen? Wenn sie nicht mitkam, würde das für ihn ernste Konsequenzen haben, da war sich Silas sicher. Er kannte die Wutanfälle seines Herrn leider besser als jeder andere hier im Ratshauptquartier.
Die Tür schwang auf. Nilufesh, die Oberste Rätin, stand persönlich vor ihm, wunderschön zurechtgemacht in einer bordeauxfarbenen Robe, die ihren hellen Teint und die schwarzen Haare mit den Silberstreifen herrlich zur Geltung brachten. Hat sie schon auf mich gewartet?
»Wenn der ehrenwerte Arragos meine Hilfe benötigt, dann sollten wir ihn nicht warten lassen«, hörte Silas sie sagen.
Vor Überraschung klappte sein Kinn einen Moment nach unten. Als er sich umdrehte, um die Herrin zu führen, konnte er einen Seufzer der Erleichterung nicht unterdrücken. Warum nur ging das so leicht? Wusste sie schon, dass Arragos sie sehen will? Sicher hat auch sie ihre Spitzel. Silas wunderte sich nicht wirklich darüber.
Vor dem großen Saal angekommen, in dem Arragos auf die Rätin wartete, öffnete er ihr formvollendet die Tür und ließ sie majestätisch an sich vorbeirauschen. Er blieb besser draußen.
***
Nilufesh war angespannt. Sie machte gute Miene zum bösen Spiel. Ihre Spitzel hatten ihr zwar verraten können, dass eine wichtige Neuigkeit angekommen war, aber was genau, davon musste sie sich persönlich bei Arragos überzeugen.
Kalt, stolz und unnahbar wie immer ging sie auf ihn zu und blieb mit einigem Abstand stehen. Er drehte sich zu ihr um und starrte ihr mit einer steilen Zornesfalte zwischen den Augen entgegen. Wenn er sich derart gehen lässt, muss er sehr wütend sein. Oder sehr verzweifelt.
Er wartete ihre Begrüßung gar nicht ab. »Heritage!«, warf er ihr an den Kopf. »Was zum Teufel hatte mein Botenteam auf dem Hinterwäldlerplaneten zu tun? Trystan und seine Kriegerin sind dort umgekommen. Los, raus mit der Sprache! Was weißt du davon? Hast du sie dorthin geschickt?«
Arragos war nahe an Nilufesh herangetreten. So nahe, dass sie, da sie einen halben Kopf größer war als er, mit halb gesenkten Augenlidern arrogant auf ihn herabsehen konnte. Das ist es also. Arragos hat seinen Bluthund verloren.
»Du kanntest Trystans Auftrag besser als ich«, entgegnete sie kalt. »Er sollte den Sohn von Commander Jonathan Matthews finden. Ich habe keine Ahnung, ob ihn eine konkrete Spur nach Heritage geführt hat oder ob er sich da vergnügen wollte. Tote können nun mal keine Berichte senden. Ich habe keinerlei Botschaft von Trystan erhalten. Du vielleicht?«
Erbost wendete sich Arragos ab. Nilufesh wusste, wie sehr er es hasste, nur von mittelgroßer Statur zu sein. »Devenja ist auch tot. Sie haben keine Aufzeichnungen hinterlassen«, zischte er.
Nilufesh nickte bedächtig. Beide wussten, Devenja war Trystans Kriegerin, die im Normalfall zuverlässig für Trystan Meldung machte, da er sich um so etwas nie selbst kümmerte. »Ich nehme nicht an, dass das ein Trick ist. Trystan inszeniert keinen Unfall, um sich den Rebellen anzuschließen. Gibt es ausreichend Beweise, dass es sich um ihn handelt?«
Arragos musste nicken. »DNA, Identchip, die Schwerter und vor allem der Siegelring.«
»War es wirklich ein Unfall?«
»Genau darüber zerbreche ich mir die ganze Zeit den Kopf!«, schrie Arragos sie an. »Sauber ausradiert und die Leichen vernichtet. Nichts außer ein paar DNA-Spuren, nicht einmal die Schädel, um sie anhand des Zahnschemas zu identifizieren! Es ist mindestens eine Z11-Granate bei diesem angeblichen Unfall mit hochgegangen, und wir wissen, dass Trystan so was immer als Spielzeug in der Tasche hatte. Es KÖNNTE ein Unfall gewesen sein. Oder eben auch nicht!«
Blitzschnell dachte Nilufesh nach. Heritage. Sie wusste nur, dass Unbekannte den Jungen Matthew Cameron und ein EXU-Mädchen aus ihrer Schule entführt hatten. Diese beiden Kinder waren ihre wertvollsten Zuchtergebnisse, was die gezielte künstliche Erzeugung von Telepathen anging. Trystan und Devenja hatten unter dem Kommando des Ersten Boten Sorren Wentworth den Auftrag gehabt, nach ihnen zu suchen. Wurden die Kinder nach Heritage gebracht? Wenn ja, warum ausgerechnet dorthin? Nilufesh musste dringend mit Sorren reden. Doch zunächst galt es, Arragos für ihre Zwecke einzusetzen.
»Willst du jemanden hinschicken, um den Unfall zu untersuchen?«, fragte sie ihn und versuchte dabei möglichst gelangweilt zu wirken.
»Ja was denkst du denn? Deine unheimliche Contenance regt mich auf!« Arragos war rot angelaufen und zeterte. »Du warst doch diejenige, die wie wild hinter diesem Jungen her war! Uns gehen langsam die Botenteams aus. Die, die noch im Einsatz sind, kommen gar nicht hinterher, die Minidelikte zu verfolgen, die deine Armee der Hazardscanner zutage fördert! Ein paar Teams haben sich ausgeklinkt und warten irgendwo im Untergrund darauf, dass sie sich gegen uns wenden können! Es war Trystan zu verdanken, dass wir wenigstens Carrion geschnappt und hingerichtet haben! Er fehlt! Und Devenjas Reflexe hätten einen derartigen Gleiterunfall niemals zugelassen! Natürlich werden wir das untersuchen!«
Fast musste Nilufesh lachen. Wie eines dieser kleinen Kinderspielzeuge sprang Arragos im Saal herum, wedelte wild mit den Armen und regte sich immer mehr auf. Früher war das undenkbar, ging es ihr durch den Kopf. Der Oberste Rat der Fünf stand über den Dingen. Sie waren Berater der Föderation. Hüter des Gesetzes und Finder der Wahrheit. So stand es zumindest geschrieben. Doch niemand war unfehlbar. Der Rat fiel auseinander und Arragos beanspruchte die Macht.
So sanft sie konnte schlug Nilufesh vor: »Soll Sorren persönlich nachsehen?« Wenn Trystan und Devenja tatsächlich eine Spur von Matt gefunden haben sollten, musste Sorren, der Erste Bote des Rates, das erfahren. Er hatte von ihr den dringenden Auftrag bekommen Matt und vor allem seinen Vater, Commander Jonathan Matthews, zu finden.
»Sorren? Ich weiß, dass er eher dein als mein Mann ist, Nilufesh. Halte mich nicht für so naiv. Aber im Gegensatz zu dir werde ich ihm nicht über den Weg trauen. Ich hatte eher an Captain Hanson gedacht.«
Nilufesh zog eine Augenbraue hoch. Nun hatte Arragos sie doch überrascht. »Er ist kein Telepath«, antwortete sie kritisch. »Seine Gedanken sind vor uns verschlossen.«
»Ist mir klar, dass er ein Unlesbarer ist. Aber er ist ein ausgezeichneter Spürhund. Er ist der Föderation treu ergeben. Und ich muss ihn dringend eine Weile aus der Gefahrenzone auf Treasure raus haben, damit er dort nicht unter die Räder kommt.«
Aha, so ist das also. Das gibt der Lage eine neue Wendung, überlegte Nilufesh. Captain Charles D. Hanson erfüllte seinen Auftrag im Rebellennetz von Treasure bisher ausgezeichnet. Doch bei aller Kaltschnäuzigkeit war klar, dass er dort irgendwann auffliegen und umgebracht werden würde. Arragos brauchte Männer wie ihn, die die Drecksarbeit machten und keine Skrupel kannten, und zwar lebendig.
Die Oberste Rätin dachte nach. Captain Hanson war Angehöriger der Elitetruppe JSOC und darüber hinaus denjenigen treu ergeben, die die höchste Gage bezahlten. »Wenn du Captain Hanson herbringst, werde ich ihm alle Informationen geben, die Sorren und ich über den eventuellen Verbleib der gesuchten Kinder haben. Vielleicht hat Trystan auf Heritage tatsächlich eine Spur gefunden. Dafür musst du garantieren, dass dieser Hanson den Kindern kein Haar krümmt. Ist das klar?«, meinte sie fordernd.
»Nimm dir nicht zu viel raus, Rätin. Du solltest dir wieder angewöhnen mir Respekt zu erweisen. Ich lasse dich rufen, wenn Hanson hier ist.« Arragos drehte sich grußlos um und verließ den Saal.
Nilufesh stand bewegungslos da. Captain Charles D. Hanson. Was heißt eigentlich das D.? Der Mann hatte sich aus ärmlichen Verhältnissen auf dem Alten Planeten von den P-Squads hochgearbeitet. Wurde ein ranghoher Offizier des JSOC und genialer Koordinator innerhalb der geheimen Abteilung der Hazardscanner. Und war sich nie zu schade sein Leben für Rat und Föderation zu riskieren. Warum auch immer. Für gefährliche Jobs gab es jedes Mal einen Batzen Geld extra. Dieser Mann könnte tatsächlich für die Suche nach den Kindern geeignet sein.
Eigentlich hatte Nilufesh damit Sorren, den Ersten Boten des Rates, beauftragt. Die aktuellen Entwicklungen hatten die Rätin jedoch dazu gezwungen Sorren von diesem Auftrag abzuziehen, denn die Rebellen hatten sich in Gestalt zweier Unbekannter, eines Mannes und einer Frau, in die Öffentlichkeit gewagt. So ein bisschen Licht- und Schwertzauber und die Massen spielen verrückt, dachte sie verächtlich. Nun war Sorren dran diese Rebellen aufzuspüren. Und schließlich hatte er noch einen anderen wichtigen Auftrag.
Nilufesh war mehr als ungeduldig. Schon längst hätte Sorren sich bei ihr melden müssen. Noch dazu hatte er keinerlei Hinweis hinterlassen, wo er gerade unterwegs war. Sie würde umgehend in der Admiralität nachfragen, wo sich der Raumgleiter gerade befand, der Sorren zur Verfügung stand. Ich habe jetzt lange genug gewartet. Sorren muss mir endlich Jonathan Matthews bringen.
Planet Balance, Basisstation Dignity One
Welda machte sich gut gelaunt auf den Weg, um Shays Bitte zu erfüllen und Kontakt zu ihrem Bruder aufzunehmen. Ausgestattet mit einem Behälter mit Verpflegung, einer Decke und einer kleinen Lampe ging sie eines Nachmittags in den Dschungel. Sie wusste, wonach sie suchen musste.
Die Wesenheit Wasser, der Shay und sie den Namen Balance gegeben hatten, würde ihr bei der Suche nach Thomas Cameron helfen. Schon seit einiger Zeit hatte Welda immer wieder das Wasser nach Tom befragt. Nun endlich hatte ihr Balance, mitgeteilt, Shays Bruder wäre ganz in der Nähe. Welda war gespannt und aufgeregt. Es war Zeit, mit Thomas Cameron Kontakt aufzunehmen.
Shays Bruder hatte ein bewegtes Leben hinter sich. Mord und Gewalt gehörten dazu. Darüber hinaus musste er noch furchtbar aussehen. Halb verbrannt und mit grausamen Tätowierungen. Das hatte jedenfalls Theo behauptet, der Soldat, den dieser Mann bei seiner Flucht aus dem Bunker der Basisstation fast erschlagen hätte.
Doch Welda hatte keine Angst, sie war zuversichtlich. Der Flüchtige war Shays Bruder, Shay nannte ihn Tom. Sie würde mithilfe ihrer telepathischen Fähigkeiten schon mit ihm klarkommen. Vielleicht kann ich ihm ja sogar helfen. Ihre Gabe, den Menschen durch bloße Berührung eine seelische Last abzunehmen, gab ihr Sicherheit. Wer soll einer Frau wie mir, bewaffnet nur mit einem herzlichen Lächeln, schon etwas Böses wollen?
Der Bachlauf entwickelte sich zu einem kleinen Fluss. Welda hielt immer wieder die Hand ins Wasser und hatte Spaß am Austausch der Informationen mit der ungewöhnlichen Wesenheit dieses Planeten. Alle Telepathen konnten mit diesem Wesen überall auf dem Planeten kommunizieren. Das Wasser war freundlich, besonnen, hilfsbereit. Und es hatte die Fähigkeit zu heilen.
Als sie Toms Rast- und Badestelle erreicht hatte, gab ihr das Wasser ein deutliches, sprudelndes Signal. Welda lachte auf vor Freude. Sie stellte den Behälter ab und setzte sich in das weiche Gras am Ufer.
Dieser Planet ist etwas ganz Besonderes. Sie ließ ihre Hand durch die weichen Grashalme gleiten. Durch seine ungewöhnliche Schönheit allein konnte er schon beruhigend auf Menschen einwirken. Die Kraft dieser Wesenheit Wasser ließ Welda auf eine bessere Zukunft hoffen. Sie gönnte sich ein paar verträumte Minuten. Welda hatte nicht Shays ausgeprägte telepathische Antennen. Deshalb konnte sie nicht spüren, dass sie schon eine ganze Weile von einem stahlblauen Augenpaar beobachtet wurde.
Cam sah die Frau sofort. Sie machte sich keine Mühe vorsichtig zu sein oder sich zu verstecken. Ihre bunten Kleider hätten dies ohnehin verhindert. Wie ein Paradiesvogel, dachte er.
Die Frau stellte einen Behälter in der Nähe des Flusslaufes ab, dann tauchte sie ihre Hände in das Wasser und lachte kehlig auf. Das Geräusch ließ Cam erstarren. Wann hatte er das letzte Mal eine Frau so natürlich und glücklich lachen hören?
Sie war dunkelhäutig und deutlich älter als er. Ziemlich füllig. Schwarze, dicke Zöpfe waren kunstvoll um ihren Kopf geschlungen. Ihre Augen strahlten, die Bewegungen waren rund und flüssig. Sie schien in diese Welt zu gehören wie die Bäume und Vögel. Eine Weile setzte sie sich ans Ufer des Flusslaufes und ruhte sich aus, dabei summte sie eine kleine Melodie vor sich hin. Dann ging sie fort.
Cam war wie elektrisiert. Den Behälter hatte sie stehen lassen. Genau an der Stelle, die er jeden Abend als Einstiegsstelle in den Fluss verwendete.
***
Bei Einbruch der Dunkelheit stieg Cam vorsichtig von seinem Baum. Stundenlang, seit die Frau seinen Platz wieder verlassen hatte, hatte er auf jedes ungewohnte Geräusch gelauscht. Das kann doch nur eine Falle sein. Doch außer den natürlichen Geräuschen des Windes in den Baumkronen und dem Vogelgezwitscher hatte Cam keine weiteren Laute ausgemacht, die eine Bedrohung für ihn hätten darstellen können.
Seine Nerven waren gespannt. Was genau der Behälter war, den die Frau dort abgestellt hatte, konnte er aus dieser Entfernung nicht ausmachen. Wenn er es wissen wollte, musste er das letzte Tageslicht ausnutzen und nachsehen.
Langsam schlich er sich an das Gefäß heran. Er hatte die Frau kommen und gehen sehen. Sie hatte keine Fallen, Stolperdrähte oder Bewegungsmelder montiert. Es kann doch nicht sein, dass sie den Behälter hier draußen einfach vergessen hat?
Cam war auf ein paar Schritte herangekommen. Es konnte immer noch eine Sprengfalle sein. Im nahen Wald knackte ein Zweig. In seiner Anspannung zuckte Cam erschrocken zusammen. Das ist es! Sie haben einen Scharfschützen platziert, der mich abknallen soll! Cam verschwand so schnell er konnte in den Schutz der Bäume.
Es fiel kein Schuss. Trotzdem schloss Cam die ganze Nacht kein Auge. Doch nichts rührte sich. Cam hörte keinerlei ungewohnte Geräusche. Einmal lauschte er nach einem Rascheln und Schmatzen sowie dem Klimpern von aneinanderschlagendem Geschirr. Er schob das auf seine Übermüdung.
Bis er im ersten Sonnenlicht sah, dass sich eine Waldkatze an dem Behälter zu schaffen machte. Das Tier hatte den Inhalt des kleinen Kastens herausgezogen. Eine Sprengfalle war es also nicht gewesen, sonst wäre die Katze jetzt in ihre Einzelteile zerlegt. Ganz im Gegenteil! So wie es aussah, tat sich das Tier an den essbaren Inhalten gütlich! Soll ich es wagen, die Kiste bei Tageslicht zu untersuchen? Ich wäre eine fantastische Zielscheibe. Aber was habe ich schon zu verlieren, außer mein bisschen Leben in der Wildnis?
So abgebrüht Thomas Cameron auch war, das Herz schlug ihm bis zum Hals, als er sich auf die kleine Lichtung wagte und sich der Katze und dem Behälter näherte.
Das Tier hatte den Eindringling, der ihm seine Beute abspenstig machen wollte, bemerkt. Es duckte sich über seinem Futter und begann tief und grollend zu knurren. Dabei stellte es das Fell auf, sodass es doppelt so groß erschien wie vorher. Doch davon ließ sich Cam nicht beeindrucken. Er nahm einen Ast, wedelte damit heftig herum und stieß einen durchdringenden Pfiff aus. Das war der Katze zu viel. Mit schnellen Sprüngen war sie im Wald verschwunden.
Den Geruch nahm Cam zuerst wahr. Die Wildkatze hatte ganze Arbeit geleistet, aber der Duft des Eintopfs hing noch immer in den Resten, die über dem Boden verteilt waren. Essen! Die Frau weiß, dass jemand hier war, und hat etwas zu essen gebracht!
Vorsichtig spähte Cam in den umgekippten Behälter. Außer dem Eintopf, dessen Duft die Katze angelockt hatte, fand er noch zwei Energieriegel, wie sie im Weltraum als Mahlzeit üblich waren, und einen Getränkebehälter. Vergiftet? Die Katze hatte nicht so ausgesehen, als ob sie Magenschmerzen bekommen hätte. Cam rührte nichts an und zog sich in den Wald zurück. Er brauchte Zeit zum Nachdenken.
Planet Treasure, Rubinia Sub 6
Der große, schlanke, fast schon hagere Mann mit der gezackten Narbe im Mundwinkel, die seinem Gesicht ein dauerhaftes grausames Grinsen verpasste, war genauso zerlumpt wie die anderen Personen in dem schwer einsehbaren, dreckigen Hinterhof, in dem sich ein paar Leute versammelt hatten und Kisten auf einen Transporter verstauten.
Er war schon immer wortkarg gewesen, heute war er auch noch verärgert. Würde er mit dem Schmugglertransport erst einmal vom Planeten Treasure fortgebracht, kam er voraussichtlich auf Monate nicht mehr vom Eismond des Hereus weg. Er hatte keine Lust, sich dort den Arsch abzufrieren.
Selbst wenn er seine Zielperson auf dem Eismond endlich treffen und eliminieren konnte, wäre er dort gefangen. Er selbst konnte nur einfache Shuttles fliegen, Helijets oder Transportflugzeuge innerhalb der Planetenatmosphären, aber keinen der wenigen Hochgeschwindigkeitsgleiter, mit denen der Anführer der Rebellen von Treasure zwischen den Planeten unterwegs war.
Der Mann mit der gezackten Narbe steckte in einer Zwickmühle. Von seinem Auftraggeber hatte er schon viel zu lange nichts mehr gehört. Vielleicht war dem Verbindungsmann etwas zugestoßen. Vor der Abreise musste er das überprüfen. Fieberhaft dachte er darüber nach, wie er die Gruppe unauffällig für ein paar Stunden verlassen konnte.
Ein Mann trat auf ihn zu. »Hast du den Proviant gepackt?«
Er nickte und deutete auf die neunzehn luftdicht verschlossenen Behälter. Es wäre ein Leichtes für ihn gewesen die Lebensmittel zu vergiften. Dann wäre es mit dem ganzen Rebellenhaufen ruck, zuck vorbei. Aber sein oberster Boss wollte an den Drahtzieher heran. Einfach umbringen konnte er seine Zielperson diesmal im Übrigen ohnehin nicht. Er hatte den klaren Auftrag, den Mann zu verhaften und dem Rat lebend zu übergeben. Öffentliche Hinrichtungen waren die Leidenschaft des ehrenwerten Arragos. Er meinte, nur dadurch konnte man die Massen im Zaum halten. Außerdem, wenn es blöd lief, musste er doch mit auf den Eismond. Nun ja. Er wollte noch eine Weile leben.
»Wenigstens erwischen uns die Bakterien auf dem Eismond nicht«, sagte der andere Mann.
Er nickte nur zustimmend. Das waren wirklich perfide Mittel, die der Oberste Rat mittlerweile anwendete. Trinkwasser verseuchen. Krankheiten ausbrechen lassen. Gedanken an Rebellion durch Erkrankungen und Tod verdrängen. Auf diesem Planeten - sein Name Treasure klang mittlerweile wie ein Hohn - waren Tausende gestorben. Wenigstens waren es Bakterien und keine Virenstämme gewesen. Bakterien waren immer noch mit den richtigen Medikamenten wieder in den Griff zu bekommen. Doch an diese Medikamente musste man erst einmal herankommen. Aber er hatte auch schon von Tests mit Virenstämmen gehört - absolut gegen jeglichen Einfluss resistente Überlebenskünstler und Todbringer. Sollte so etwas auf Treasure ausprobiert werden, musste er vorher von hier verschwunden sein.
Ein schriller Pfiff alarmierte jeden der anwesenden Männer. Wie der Blitz suchten alle Deckung, warfen sich in die dunklen Schatten der Mauern, in den nächsten Kellereingang. Motorengeräusch kam durch die Straße, Scheinwerferlichter zuckten über den Hof, eine grelle Sirene jaulte. Der Mann mit der Narbe wollte aufstehen.
»Bleib liegen! Wenn sie dich sehen, bist du geliefert!«
Er schüttelte die Hand ab, die sich in seinen lumpigen Umhang gekrallt hatte. »Da vorne liegt die Waffenkiste. Die dürfen sie nicht bekommen.«
Er stand auf und lief in gebückter Haltung über den Hof. Schaffte es bis zur Waffenkiste und schob sie in den Schatten einer Mauer. Da erfasste ihn der Scheinwerferkegel des Militärfahrzeugs. Das Heulen des Alarmtons ging durch Mark und Bein. Vier bewaffnete Soldaten sprangen aus dem Fahrzeug, zwei liefen in den Hof und feuerten sofort in die Schatten. Zwei andere stürzten auf den Mann mit der Narbe zu, verhandelten nicht, knüppelten ihn nieder, schleiften ihn zum Wagen. Auf einen Befehl aus dem Lautsprecher des Fahrzeugs hin kamen die beiden Soldaten zurück, die den Hof mit Feuer belegt hatten. Sie sprangen in den Transporter, er raste mit seiner Beute davon.
Ein paar Minuten herrschte Stille in dem heruntergekommenen Hinterhof. Dann regten sich ein paar Gestalten. Einer stöhnte, getroffen von einem Geschoss. Ein anderer stand nicht mehr auf. Drei hatten unversehrt überlebt. Einer war gefangen genommen worden. Die Waffenkiste stand noch da, wo sie der Hagere mit der gezackten Narbe hingeschoben hatte.
***
Der Mann mit der Narbe stand mit wütender Miene vor dem Spiegel in einem schmutzigen Verhörraum. Seine Schläfe pochte, da wo ihn einer der Knüppelhiebe getroffen hatte. Er ließ Wasser in das kleine, verdreckte Waschbecken laufen und spritzte sich etwas davon ins Gesicht.
Ein Captain der P-Squads, die ihn geschnappt hatten, polterte herein und schlug ihm jovial mit der flachen Hand auf den Rücken. »Dice, gut dass wir dich endlich gefunden haben.« Er lachte dreckig. »Sorry, wenn du was abgekriegt hast. Ich konnte meine Einheit nicht einweihen.«
Unwirsch schüttelte der Mann, den der andere Dice genannt hatte, die Hand ab. »Für dich bin ich immer noch Captain Hanson. Was sollte dieser Überfall? Mein Auftrag ist noch nicht erledigt.« Er drehte sich um und starrte den P-Squad aus eisigen blaugrauen Augen an.
Der Mann hob entschuldigend die Hände und nahm respektvoll Haltung an. »Schon gut, regen Sie sich ab, werter Captain. Wir hatten Befehl vom Obersten Rat Sie aufzuspüren. Sie sind nach Artenaya-Solis abkommandiert. Die haben extra einen Raumgleiter geschickt, um Sie zu holen. Deshalb haben wir Sie über Ihr Suchsignal aufgespürt und abgeholt. Der Befehl lautete sofort. Mehr weiß ich nicht.«
Es war müßig, diesen Captain zu fragen, wer jetzt hier seinen Job zu Ende bringen sollte. Die letzten Wochen der mühsamen Bespitzelung der Rebellen waren zum Teufel. Von heute auf morgen ließ sich da niemand einschleusen, dazu waren die Rebellen viel zu vorsichtig.
Um ein Haar wäre er schon aufgeflogen, als vor ein paar Wochen die Botin Shay und ihre Kriegerin Hanout hier auftauchten. Dice hatte sich mit Mühe vor ihnen verborgen. Dieser Shay war es auch zu verdanken, dass der Anführer der Rebellen jetzt irgendwo in Sicherheit auf dem Eismond hockte, anstatt in einem Ratsgefängnis auf seine Hinrichtung zu warten. Ich war so nahe dran! Dice konnte vielleicht nach dem nächsten Auftrag hierher zurückkommen. Er würde sehen, was sich dann noch machen ließ.
Der Oberste Rat zitiert mich also in das Hauptquartier nach Artenaya-Solis. Er war gespannt, welcher Auftrag wichtiger sein konnte, als den Anführer der Rebellen von Treasure zu finden. Nun ja, solange Arragos oder die Föderation seinen Kontostand immer weiter anwachsen ließen, war es ihm egal, welchen Job er machte.
Planet Balance, Basisstation Dignity One
Welda kam an Toms Badestelle zurück. Sie hatte diesmal außer der Essensration eine Taschenlampe und einen Miniscriptor in den Behälter gepackt. Der Scriptor hatte eine Aufnahme-, Abspiel- und Schreibfunktion auf der Seleniumoberfläche. Jedes Kind wusste, wie man damit umging und wie man Nachrichten damit aufzeichnen und abspielen konnte.
Als sie die Stelle erreicht hatte, sah sie sich enttäuscht um. Das muss ein Tier gewesen sein. Das Wasser sagte ihr, was sie schon vermutete. Shays Bruder war nicht im Wasser gewesen und hatte damit den Behälter wohl auch nicht gesehen. Von den verpackten Lebensmitteln, die für die Waldtiere uninteressant waren, war nichts angerührt, der Eintopfbehälter war zerkratzt und geleert, die Reste über den Boden verteilt.
Welda richtete den Behälter her, wusch die Essensreste weg und legte die frischen Lebensmittel und die anderen Gegenstände in den Behälter. Verschließen wollte sie ihn nicht. Shay meinte, ein offener Behälter wäre besser. Das glaube ich auch. Tom würde sonst nur eine Falle vermuten.
Unentschlossen starrte Welda auf die Kiste und überlegte gerade, wie sie die Waldbewohner davon abhalten konnte das Essen zu klauen, als keine zehn Schritte von ihr entfernt ein Mensch aus einer Baumkrone sprang und geduckt, wie ein Raubtier, vor ihr landete.
Vor Schreck über den Lärm und den unerwarteten Anblick stolperte Welda zwei Schritte rückwärts und fiel mit einem kleinen Aufschrei auf den Hintern.
Cam hatte sich entschieden, zum Angriff überzugehen. Nein, er wollte die Frau nicht körperlich angreifen, aber er hatte auch keine Lust mehr, sich zu verstecken. Bei Gefahr konnte er immer noch abhauen. Seine Überlegungen in der Nacht hatten ihn viel zu neugierig gemacht.
Cam wollte mit der dunkelhäutigen Frau reden. Er hatte ein so dringendes Bedürfnis danach, dass es ihm egal war, ob er später wieder in die Wälder würde fliehen müssen. Wer wusste, dass er hier war? Wer war noch auf diesem Planeten? Er musste das herausfinden und diese Frau war seine einzige Chance. Wer konnte denn wissen, ob sie noch einmal wiederkommen würde?
Er kauerte nach dem Sprung aus dem Baum vor ihr auf dem Boden und hörte sie schimpfen.
»Aua, verflucht! Ich bin zwar gut gepolstert, aber musstest du mich jetzt so erschrecken?«
Verwundert lauschte er ihrer Schimpftirade. Er kannte die Wirkung seines Anblicks auf unvorbereitete Menschen genau. Die meisten wendeten sich sofort entsetzt ab. Diese Frau hier nicht. Sie sah ihn an und schimpfte weiter. Zum ersten Mal seit vielen Jahren verzog sich sein gezeichnetes Gesicht zu einem Lächeln.
Die Frau hatte sich wieder gefasst, kam aber nicht so schnell vom Boden auf, wie sie es sich gewünscht hätte. Da sind wohl ein paar Pfunde im Weg, grinste Cam in sich hinein. Während sie noch vor sich hin murmelte, war Cam aufgestanden und hielt ihr seine sehnige Hand hin, um ihr aufzuhelfen. Die Frau sah ihn mit ihren rehbraunen, großen Augen an und nahm beherzt seine Hand. Jetzt war es Cam, der erschrak, als er ihren Energiefluss spürte. Er ließ sie umgehend los und sprang zwei Schritte zurück. »Was zur Hölle …«
»Was fällt dir ein, mich loszulassen?« Die Frau hatte sich nicht halten können und war wieder zurückgeplumpst. Sie starrten sich einen Moment lang an.
»Was war das? Wolltest du mich manipulieren? Du bist eine Telepathin! Du bist eine von ihnen!« Sprungbereit und mit zusammengekniffenen Augen sah Cam auf Welda herab.
»Ja, ich bin Telepathin, wie deine Schwester«, antwortete sie schnell. »Allerdings lange nicht so stark wie sie. Du hast von mir nichts zu befürchten. Oder fürchtest du dich vor einem alten Weib, das auf dem Waldboden sitzt und allein nicht auf die Füße kommt?«
Cam entspannte seine Körperhaltung etwas, war aber weiter auf der Hut. »Du solltest mich fürchten«, knurrte er. »Haben sie dir nichts über mich erzählt? Warum bist du hier?«
»Ich kenne deinen Namen. Sie haben dich beschrieben. Es ist ja offensichtlich nicht schwer dich zu identifizieren. Und ich kenne Shay. Ich bin hier, um mir selbst ein Bild von dir zu machen.«
Cam kniff misstrauisch die Augen zusammen. Vorsichtig ging er auf sie zu, doch dann platzte die Frage aus ihm heraus, die ihn quälte, seit er aus dem Transportschlaf erwacht war. »Was ist mit Shay? Lebt sie? Geht es ihr gut?«
Die Frau hatte es aufgegeben sich elegant erheben zu wollen und sich einfach bequem hingesetzt. Sie deutete auf den Grasboden vor sich. »Sie lebt. Es geht ihr gut. Warum setzt du dich nicht einen Moment zu mir? Mein Name ist Welda.«
Cam setzte sich in eine federnde und sprungbereite Hocke ihr gegenüber. »Du wusstest, dass ich hier bin. Woher? Ist Shay in der Nähe? Hat sie gespürt, dass ich da bin?«
Der seelenvolle Ausdruck ihrer Augen sagte ihm, dass sie seine unterdrückte Angst, die in dieser Frage mitschwang, durchaus erkannte.
»Shay ist im Moment nicht auf diesem Planeten. Sie hat mich gebeten dich zu suchen. Wir Telepathen haben mit der Wesenheit Wasser auf Balance einen mächtigen Verbündeten. Es bleibt uns wenig verborgen, Thomas Cameron.«
Cam zuckte ein wenig zusammen, als sie seinen Namen aussprach. Thomas Cameron. Wie sehr wollte ich diesen Namen vergessen.
»Thomas Cameron gibt es längst nicht mehr. Nenne mich Cam«, fuhr er sie unwirsch an.
Doch diese Welda ließ sich nicht von seiner Unhöflichkeit beeindrucken und wartete einfach ab. Schließlich war Cam zu neugierig das Gespräch fortzusetzen.
»Wo sind wir hier?«, fragte er sie. »Zuletzt war ich auf der Raumstation First-Contact-3. Wohin hat mich Jon bringen lassen?«
»Du befindest dich auf Earth 6. Die ersten Siedler haben den Planeten vor Kurzem Balance getauft. Auch die Wesenheit Wasser nennen wir so. Warum bist du von unserer Basis geflohen?«
Cam zögerte mit der Antwort und musterte sie, das Kinn nachdenklich auf eine Hand gestützt. »Wer bleibt schon freiwillig in Gefangenschaft, wenn sich die Möglichkeit zur Flucht ergibt? Was hätte ich von Jonathan Matthews denn zu erwarten? Ich lasse mich nicht mehr einsperren. Ganz einfach. Hätte er mich doch gleich hingerichtet.«
»Du hast Shay nicht getötet und Hanout hat den Shockstrahl überlebt, den sie für Shay abgefangen hat. Warum hätte Jon dich hinrichten lassen sollen?«
»Weißt du es nicht? Ich bin ein Killer. Der Pilot des überführten Raumgleiters ist tot. Und das war nicht der erste Mensch, den ich umgebracht habe.« Thomas Cameron sagte das ohne jegliche Gefühlsregung.
Nachdenklich legte sie ihren Kopf schräg. »Ich weiß, dass du kein Waisenknabe bist. Aber ein Mörder? Hier kommst du mir nicht gefährlich vor. Ich habe für gewöhnlich für Verbrechergene sehr feine Antennen. Und du bist Shays Bruder. Ich vertraue ihr und sie war sicher, dass ich von dir nichts zu befürchten habe. Ich habe ihr vorgeschlagen, dass ich zu dir Kontakt aufnehme. Denn sie möchte dich bald sehen.«
»Aber ich will sie nicht sehen!« Seine ungläubig geweiteten Augen straften diese spontane und hastig hingeworfene Antwort Lügen.
Welda beugte sich vor. Cam war fasziniert von ihren fesselnden Augen. »Genau das denkt sie auch. Deshalb bin ja ich gekommen. Ich weiß, dass du vor dieser Begegnung Angst hast, Thomas Cameron. Auch wenn es das Einzige ist, wovor du dich fürchtest. Gib mir nur ein einziges Mal deine Hand und du wirst spüren, dass du keinen Grund dazu hast. Shay hat mir eine Nachricht für dich mitgegeben.«
»Halte mich nicht für naiv«, knurrte er sie an. »Du bist Telepathin. Was stellst du mit mir an, wenn du mich anfasst?«
»Was kann dir denn Schlimmeres passieren, als mir die Gedanken mitzuteilen, die du ohnehin so schwer mit dir rumträgst? Ich bin nur ein zweiter Grad. Ich kann in deinen Gedanken nichts verändern.« Vielleicht aber in deinen Gefühlen, dachte sie bei sich.
Cam überlegte nicht mehr lange, seine Emotionen ließen sich auf einmal nicht mehr deckeln. Er sehnte sich, seit er sie zum ersten Mal gesehen hatte, so sehr nach einer menschlichen Berührung. Er wünschte sich ebenso sehr, Shay wiederzusehen. Er wollte dieser Frau glauben. Welda war ihr Name? Er wollte EINMAL nicht misstrauisch sein.
Sie hatte sich vorgebeugt und bot ihm ihre Hand. Zögerlich beugte er sich gerade so weit vor, dass er seine Fingerspitzen auf ihre Handfläche legen konnte.
Die kleine Berührung löste Unglaubliches in ihm aus. In einer bedrohlichen, sich windenden und rasend schnell anschwellenden schwarzen Sturmwolke ballten sich seine Gefühle zusammen und drängten mit aller Macht und unaufhaltsam aus seinem tiefsten Inneren. Wie ein Tornado schossen sie aus ihm heraus. Tom schrie! Die Frau namens Welda wirkte wie ein Sog für all die Ängste, die sich jahrelang in seinem Herzen und seinem Gehirn eingenistet hatten, und zog alles aus ihm heraus. Mit großen Augen nahm diese ungewöhnliche Frau den Sturm der Empfindungen ohne ein Wort - ja ohne eine Regung, auch ohne jegliche Ablehnung oder Widerwillen - entgegen.
Cam zog seine Hand zurück, er war aufgesprungen und wollte weglaufen.
»Spür dem Gefühl nach, Tom.« Weldas sanfte Stimme holte ihn ein. »Überlege, was gerade geschehen ist. Fühlst du dich bedroht?«
Cam blieb stehen und drehte sich zögernd zu ihr um.
Schnell redete sie weiter. »Ich möchte dich weiter Tom nennen. Was du gespürt hast, war meine Gabe. Ich kann Menschen helfen ihre Last zu tragen.«
»Niemand kann mir helfen!« Verwirrt knurrte er sie an. »Wem sollte das nützen?« Er drehte sich um und war mit wenigen Sprüngen im Wald verschwunden. Lange dachte er über die ungewöhnliche Begegnung mit Welda nach.
***
Welda freute sich über die Fortschritte mit Tom. Schon am nächsten Abend war er wiedergekommen und er kam nun jeden Abend zu der Stelle an dem kleinen Fluss, bei der sie ihm unermüdlich etwas zu essen hinstellte. Tom revanchierte sich mit ein paar Früchten oder mal einem erlegten Vogel.
Bewusst sprach Welda die ersten Abende keinen Ton mit ihm, wenn sie ihn sah. Sie nickte ihm nur zu und lächelte, stellte ihren Behälter ab, nahm seine Früchte und ging.
Am dritten Abend, als sie sich bereits einige Schritte von ihrem Treffpunkt entfernt hatte, hörte sie aus seinem Mund ein raues »Bleib doch. Bitte!«.
Langsam drehte sie sich um. Noch immer sagte sie nichts. Sie ließ einfach die Zeit vergehen. Welda war sicher, Tom würde ihr schon mitteilen, wozu er bereit war.
Sie setzten sich in das weiche Gras am Ufer des Flüsschens und Tom begann zu erzählen. An diesem Abend sprach er von seiner Zeit in den Minen. Nach einigen Tagen konnte er dann auch über seine Zeit zu Hause und über die Jahre in der Kneipe sprechen, aus der er sich aus Furcht vor dem Urteil der Welt nicht mehr herausgetraut hatte.
Welda ließ ihn gewähren, unterbrach ihn kaum. Sachte, nach und nach, lockte sie mit kleinen Fragen mehr Informationen aus ihm heraus. Sie erfuhr alles über Toms Meinung über sich selbst. Er war in einer tiefen Depression gefangen, die ihn fest im Griff hatte. Verrat an seiner Schwester, Zerstörung des Elternhauses, die grausamen Erlebnisse in den Minen, Gewalt, Sex und Totschlag. Tom traute sich selbst nicht mehr.
Einmal fragte er Welda: »Warum darf ich eigentlich hier sein? Dieser Planet tut mir so gut.«
»Nimm es doch einfach als Geschenk. Ich sehe das so: Manchmal müssen wir einen schweren Weg gehen. Doch wir sollten die Augen offenhalten. Wir bekommen Angebote im Leben, aus denen wir etwas Positives machen können. Wir haben immer selbst die Möglichkeit zu wählen.«
»In den Minen? Wo hatte ich da die Möglichkeit zu wählen?« Bissiger Sarkasmus tropfte aus Toms Stimme.
»Du hast das Leben gewählt. Und du hast einen Weg gefunden dein Leben zu verteidigen. Andere hätten sich vielleicht in den Tod geflüchtet. Manchmal hattest du trotzdem die Alternative zwischen mehreren Handlungsoptionen. Die Frage ist immer, welche Konsequenzen diese Optionen mit sich bringen. Meistens ist es doch so, dass wir zu wissen glauben, was passiert, wenn wir uns für eine Handlung entscheiden. Doch das tun wir nicht. Keine Konsequenz ist wirklich vorhersehbar.«
Tom betrachtete sie mit einem eigenartigen Blick. Welda hatte eigentlich vorgehabt ihm das Vertrauen zu schenken und nicht in seinen Gedanken nach Antworten zu suchen. Dieser Blick verunsicherte sie sehr. Sie war gut zwanzig Jahre älter als dieser an Jahren noch junge Mann, dessen Seele die eines Greises war. Sie fühlte sich unter seinem Blick fett und unansehnlich. Alt eben. Was sieht er in mir? Ist das Begehren in seinen Augen?
»Egal, woran du gerade denkst, Tom. Bist du wirklich sicher, dass du die Konsequenz aus dem, was du gerne tun würdest, hundertprozentig vorhersehen kannst?« Trotz all seiner tragischen Geschichten fürchtete Welda sich nicht vor ihm. Offen hielt sie seinem Blick stand.
»Ja«, sagte er mit einem heiseren Flüstern.
Sie sah, wie er seine Augen senkte und sich mit der Zunge über die rauen Lippen leckte.
»Zerstörung und Hass sehe ich voraus«, fuhr er gepresst fort. »Das ist es, was zurückbliebe.« Ohne ein weiteres Wort stand er auf und ging fort.
Nachdenklich blickte ihm Welda hinterher. Was war das, was ich gerade gespürt habe? Was glaubt er zu wissen?
Sie seufzte verwirrt, fühlte sich schwerfällig und alt. Diesmal ging Welda müde und enttäuscht zurück.
Planet Academia, Ratshauptquartier Artenaya-Solis
Arragos stand in seinem privaten Salon und keuchte vor Zorn. Sie hatte ihn wieder erniedrigt. Wie sie ihn schon ansah. So von oben herab. Niemals hätte ich sie zur Rätin machen dürfen. Eines Tages wird sie vor mir auf den Knien liegen. Fast bemerkte er nicht, wie er einen dünnen Seidenschal in seinen Händen zerriss. Das hellgrüne Tuch war um seine Fäuste gewickelt und zwischen seinen Händen gespannt, schnitt tief in seine Fäuste. Ja, das ist es. Der Schatten muss mir wieder zu Diensten sein. Ich brauche den nächsten Tod.
Eine Gestalt, so grau und farblos wie die schmale Wand, vor der sie gestanden hatte, schien aus einem Schlaf zu erwachen und bewegte sich wie in Trance auf Arragos zu. Der schmächtige Mann trug die Kleidung eines Servant, wie alle Bediensteten hier im Ratshauptquartier. Er ging auf Arragos zu, fiel vor ihm zu Boden und berührte mit der Stirn den weißen, feinen Stiefel des Obersten Rates.
Arragos’ Gesicht verzog sich zu einer bösen Grimasse. »Steh auf«, befahl er der Gestalt und nahm in einem bequemen Sessel Platz. »Steh auf und gib mir deine Augen.«
Der graue Mensch krümmte sich für einen Moment, als hätte er große Schmerzen. Dann stand er wieder aufrecht und neigte den Kopf vor dem Obersten Rat.
Arragos empfing seine Gedanken mit Befriedigung.
»Meister, ich diene Euch. Befehlt.« Sprechen konnte der Schatten nur, wenn Arragos seine mentale Umklammerung aufgab und den Mann zurück an seine zugewiesene Aufgabe schickte.
Der Oberste Rat genoss seine Macht über den Menschen. Was vor vielen Jahren als Spiel begonnen hatte, war nun Meisterschaft: Arragos sah durch die Augen der von ihm bezwungenen Menschen. Erst kürzlich hatte er sich diesen neuen Schatten auserkoren. Leider hielten sie nicht ewig. Wenn der Wahnsinn einmal das Gehirn übernommen hatte, waren sie nichts mehr wert. Arragos hatte schon eine ganze Reihe von abgenutzten Werkzeugen, wie er sie nannte, im Laufe der Jahre entsorgen müssen.
Der neue Mann war nett und naiv - einfach ideal. Arragos konnte so tief in dessen Bewusstsein eindringen, dass er seinen Körper und seine Handlungen steuern konnte. Einen arglosen Menschen zum Werkzeug des ultimativen Bösen zu machen, setzte seinen Untaten noch ein besonderes Krönchen auf. Anfangs hatte sich dieser Schatten gewehrt wie die meisten anderen. Seine schwache Persönlichkeit kämpfte erstaunlich lange, am Ende hatte das kleine Stück Schmerzgehirn aber nur mehr gewimmert und gelernt nachzugeben. Aufbegehren hatte keinen Sinn. Bei jedwedem Widerstand, und war er noch so gering, bekam der Schatten Arragos´ Grausamkeit durch unglaubliche Schmerzen zu spüren. Nun tat er längst, was ihm aufgetragen wurde.
Und auch Nilufesh werde ich eines Tages endgültig unterwerfen!
Arragos lehnte sich voller gespannter Erwartung in seinem Sessel zurück, schloss die Augen und ließ den Schatten den Weg zu seinem Opfer gehen.
Das Mädchen arbeitete spät nachts noch in der Küche. Sie sang ein munteres Lied vor sich hin. Eines wie gestern, in dem sie den Ratsherrn Arragos vor allen anderen Bediensteten verspottet hatte. Jetzt war sie allein in der großen Küche und sah den grauen Schatten nicht kommen. Eine rasche Bewegung und schon lag das Tuch um ihren Hals und drückte ihr die Kehle zu. Instinktiv fasste sie an das grauenhafte Ding, das ihr die Luft nahm, doch es gelang ihr nicht, den furchtbaren Druck zu lockern. Alle ihre Poren verströmten Todesangst. Sie konnte nicht schreien, nur noch gurgelnde Geräusche von sich geben. In weniger als einer Minute war es vorbei.
Der Schatten zog die Tote auf eine stahlglänzende Ablagefläche der Küche und wartete auf die weiteren Befehle seines Meisters, der die Tat durch seine Augen genüsslich beobachtet, den Duft der Todesangst durch dessen Nase aufgesogen hatte. Der Schatten verneigte sich nicht vor der jungen Frau, deren Leben er soeben beendet hatte, sondern vor seinem Meister, der ihm befahl, sich ein großes Küchenmesser zu suchen.
Tief im Gehirn des Schattens begehrte der ehrliche Mann, der er einmal gewesen war, auf.
Dem Wahnsinn nahe, angewidert von seiner eigenen Schwäche und voller Abscheu vor dem Mann, der ihn unterworfen und zu seinem willenlosen Werkzeug gemacht hatte, versuchte er das scharfe Messer gegen sich selbst zu richten. Seine Hand begann zu zittern, als die Messerspitze nach großer Anstrengung endlich an seiner Pulsader anlag.
In einer dieser fürchterlichen Rückkopplungen hörte er Arragos höhnisch lachen. »Du weißt, was es bedeutet sich zu wehren!«, tönte es in seinem Kopf. Die Worte hallten wie ein Echo in der Kathedrale seiner Schädeldecke und ließen ihn vor Grauen erzittern. Ja, er wusste, dass es nur noch schlimmer werden würde. Es ging immer noch ein bisschen schlimmer. Gelähmt und unfähig das Messer über die Innenseite seines Handgelenks zu ziehen, vernahm er die Stimme seines Meisters, die ihm nun befahl unaussprechliche Grausamkeiten mit der Leiche des Mädchens anzustellen.
Arragos war hochgradig erregt. Er schmeckte durch die Sinnesorgane des Schattens das Blut der Frau auf seinen Lippen, roch Angst und Tod des Mädchens durch dessen Nase. Ja, so muss es sein. Tot und willenlos will ich euch haben. Er umfasste sein erigiertes Glied und rieb es brutal, bis er kam. Stöhnend kam er zur Ruhe und kappte die Verbindung zu dem Schatten.
Es war bedeutungslos, ob der Schatten noch etwas empfand. Oder ob er heute geschnappt werden würde. Alle Verbrecher im Hauptquartier wurden sofort ihm, dem Ersten der Räte, vorgeführt. Noch im gleichen Moment konnte Arragos den Schatten auslöschen. Niemand würde in dessen Gehirn irgendeinen brauchbaren Gedanken finden.
Das war gut. Den Tod sehen, spüren, schmecken. Immer wieder waren junge Mädchen und Frauen, die im Ratshauptquartier gearbeitet hatten, spurlos verschwunden. Lange Zeit hatte er sich die Mühe gemacht, die Toten sorgfältig verschwinden zu lassen. Doch nach und nach war das bedeutungslos geworden. Jetzt, auf dem Gipfel seiner Macht, bestrafte er die, die sich ihm widersetzten, sofort.
Arragos liebte die unterschwellige Angst der Dienerschaft etwas falsch zu machen und der Nächste zu sein. Sollen sie Angst haben. Wer Angst hat, funktioniert. Er ließ sogar manchmal die Leichen liegen. Sollte alle Welt sehen, dass er die Macht hatte zu tun und zu lassen, was immer er wollte.
Das nächste Mal wollte Arragos wieder Angst sehen. Angst in den Augen des Opfers.
Planet Balance, Basisstation Dignity One
Die Frau namens Welda war einige Tage nicht gekommen. Tom machte sich Vorwürfe. Warum war er so grob zu ihr gewesen? Er hatte genug Zeit gehabt darüber nachzudenken. Sie war der erste Mensch seit vielen Jahren, zu dem er Vertrauen gefasst hatte. Die erste Frau, die er mit anderen Augen sah als mit denen des Ex-Sträflings. Eine wunderbare Frau. Braun wie die Erde, weich wie ein Ruhekissen. Ihr glucksendes Lachen und ihre strahlenden Augen gaben ihm Energie. Augen, die sich nicht ein einziges Mal von seiner verbrannten Hässlichkeit abgewandt hatten. Ja, die ihn noch kein einziges Mal zurückgewiesen hatten.
Tom wurde klar, dass er diese Frau begehrte. Nachts auf seinem Schlafbaum träumte er davon zwischen ihren warmen Schenkeln zu liegen und sein Gesicht zwischen ihren großen, weichen Brüsten zu vergraben. Morgens dann quälte ihn der Gedanke. Sie würde ihn zurückweisen. Wer wollte schon Sex mit einem verbrannten Monster wie ihm?
In seine Kneipe auf dem Minenplaneten Explorator 4 waren immer mal wieder Huren gekommen, um die Belegschaft zu bedienen. Einmal hatte er es mit einer von ihnen treiben wollen. Sie war zwar einverstanden gewesen, aber dann doch erschrocken vor seinem Anblick zurückgewichen. Danach hatte er eine gefunden, der er es ab und zu von hinten besorgte. Damit er nicht wieder diese Abscheu in ihren Augen sehen musste. Befriedigung war etwas anderes. Liebe? Das Wort hatte er längst aus seinem Wortschatz gestrichen.
Und nun? Tom lauerte darauf, dass Welda endlich wiederkam. Er dachte sogar fieberhaft darüber nach, ob er sich den Leuten der Landebasis ergeben sollte, nur um ihr nahe zu sein.
Nun schlich er sich auch tagsüber näher an das Basislager heran. Mittlerweile wusste er, dass sie es Dignity One getauft hatten. Und er kannte seine Bewohner aus Weldas Erzählungen.
Evya, das junge Mädchen vom Planeten Treasure und dessen Beschützer Peter, einen ehemaligen Sicherheitsoffizier der Raumstation First-Contact-3. Die Soldaten Wolf, Wally und Theo mit Patrick, der stellvertretender Commander war, so lange Jon und Shay nicht da waren. Die kleine Küchencrew, die aus dem Koch Stevan, Melli und dem kleinwüchsigen Harry bestand. Einen jungen, schlaksigen Kerl namens Paul, der ihr Funkoffizier war.
Und schließlich Mik, die Bordärztin der Raumstation, die sich den Abtrünnigen angeschlossen hatte und mittlerweile mit dem Soldaten Wally ein verliebtes Pärchen bildete. Die beiden hatte Tom wieder in der Dämmerung beobachtet, als sie sich wild und hemmungslos in der Nähe des Badeteichs geliebt hatten.
Und er war nicht der Einzige gewesen. Auch einer der Soldaten hatte das Paar beobachtet und das eine oder andere Mal einen bösen Fluch ausgestoßen. Der war so damit beschäftigt gewesen, zu fluchen und sich einen runterzuholen, dass er Tom nicht bemerkt hatte, der nur wenige Meter von ihm entfernt stand.
Es wurde Abend. Wird Welda heute zu unserem Treffpunkt kommen? Tom hatte eine Blumenkette aus dem Wald mitgebracht und sie unter dem Baum abgelegt, unter dem sie sich nun schon so häufig unterhalten hatten. Gerade hob er sie wieder auf und zerriss sie. Wie konnte er nur so albern sein?
»Tom! Ich habe Nachricht von Shay! Tom, bist du da?«
Mit dem Rest der Blumen noch in den Händen drehte Tom sich zu ihr um. Welda kam atemlos aus dem Wald zu ihrer kleinen Lichtung gelaufen. Sie schleppte wieder einen Vorratsbehälter mit. Für ihn. Ein warmes Gefühl breitete sich in seiner Magengegend aus. Er würde diese Frau gut behandeln. Sie sollte nicht mehr unter seinen Komplexen leiden müssen. Lächelnd trat er auf sie zu.
Welda sah Tom bei ihrem Gesprächsbaum stehen. Er hat also auf mich gewartet. Sie sah sein warmes Lächeln und ein paar geknickte Blumen in seiner Hand. Außer Atem blieb sie vor ihm stehen. Er fasste paar der abgebrochenen Blumen zu einem Gebinde zusammen und hielt sie ihr entgegen.
»Es ist schön, dass du wiedergekommen bist«, brachte er heiser über die Lippen.
Welda hatte ihren kleinen Disput und ihre Unsicherheit nicht vergessen. Doch sie war ein positiver Mensch. Sie tat die Möglichkeit, dass Tom sie als Frau begehrte, ganz einfach als völlig unmöglich ab und schrieb sein Verhalten seiner Verbitterung über das Leben zu.
Munter strahlte sie ihn an. »Du wirst es nicht glauben, Shay hat telepathisch Kontakt mit mir aufgenommen! Es geht ihr gut.« Sie wurde ernst. Toms Augen lagen wie gebannt auf ihrem Gesicht. Hat er mich überhaupt gehört? »Tom, ich muss dir erzählen, was sie mir gesagt hat. Komm, wir setzen uns.«
Tom half ihr, es sich im weichen Gras bequem zu machen. Bei der Berührung ihrer Hände spürten Weldas empathische Antennen heute weder Verbitterung noch Wut, sondern eine echte Freude sie zu sehen. Sie versuchte, sich ihre Verwunderung über diese Wandlung nicht anmerken zu lassen.
»Es war ganz erstaunlich! Shay und Jon können über eine Art Projektion, die nichts mit Technik zu tun hat, über Planeten hinweg mit mir Verbindung aufnehmen. Sie waren in deiner Heimat.«
Heimat? Tom horchte auf. Er hatte keine Heimat. Oder doch? Standen ihm seine Heimat, sein Geburtsort und die schönen Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend nach all dem, was er getan hatte, noch zu? »Shay ist auf dem Alten Planeten?«
Welda nickte und wartete ab. Sie sah, dass es hinter Toms Stirn arbeitete. Was würde er zuerst wissen wollen?
»Was ist …?«
Der Satz brach krächzend ab. Welda wusste auch so, was er fragen wollte. Leise antwortete sie ihm. »Eure Eltern sind nicht mehr am Leben.«
Toms Miene wurde undurchdringlich. Welda berührte sanft seinen Arm. Sie fühlte, wie sich die Gefühle in ihm stauten, die er nicht zulassen wollte. »Shay wird dir alles erzählen, wenn sie wieder hier ist. Sie hat gesagt, sie bringt dir etwas Wichtiges mit. Was glaubst du, war ihre wichtigste Botschaft an dich?«
Tom schloss für einen Moment die Augen. »Ich schätze mal: Sie sind deinetwegen tot. Verrecke, du Aas.« Tief deprimiert wollte Tom aufstehen.
Diesmal war Welda schnell auf den Beinen und hielt ihn fest, zog ihn dicht an sich heran. »Tom! So ein Unsinn! Meine Frage war dumm. Ich hätte wissen müssen, dass du mir so was antwortest. Die Botschaft lautet: Sie liebten dich von ganzem Herzen, bis zum Ende ihres Lebens. Sie haben dir längst verziehen! Und Shay sowieso. Sie freut sich so darauf dich bald zu sehen.«
Impulsiv brach es aus ihm hervor: »Sie haben mir verziehen? Mir, der seine Schwester an den Obersten Rat verraten hat und dafür verantwortlich ist, dass die Familie zerrissen wurde? Mir, aus dem ein Gewaltverbrecher geworden ist? Verziehen? Ich stehe hier auf diesem wunderbaren Planeten, lebend und frei, und meine Eltern sind tot?«
Eine unbändige Sehnsucht nach einer anders verlaufenen Vergangenheit sprach aus seinen Worten und doch spürte Welda auch einen Hoffnungsschimmer auf eine glücklichere Zukunft. Sie sah, wie sich Tränen auf seinen Wangen eine Bahn suchten, und legte ihre Hände um sein zerstörtes Gesicht. Voll Mitleid streichelte sie seine Wangen, kam ihm ganz nah.
Zu nah. Er konnte ihren Duft wahrnehmen. Mutter Erde. Trost. Aufrichtigkeit. Liebe. Toms Denken setzte aus. Er zog sie an sich heran und presste seine Lippen auf ihren Mund.