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Oskar Canow scheint als Schriftsteller ein Leben auf der Sonnenseite zu führen: Bücher, die sich gut verkaufen, Kolumnen in Hochglanzmagazinen, Freunde aus den besten Kreisen, eine bezaubernde, verständnisvolle Ehefrau aus England und ein Zuhause, das für Stilbeilagen fotografiert wird. Das alles ist ihm nicht zugeflogen, vielmehr aus Pflicht und Leistung geboren. Er glaubt an den lieben Gott und an die gute Form. Deswegen bietet er Käsebällchen an, als unversehens der Teufel an der Tür klingelt, um ihm ein Geschäft vorzuschlagen. Oskar lässt sich auf einen Pakt auf Probe ein. Und schon bricht die Hölle los. Von Unterwäschemodenschauen und wilden Autofahrten über einen Hosenkauf mit dem Herrn der Finsternis bis zur Herzattacke auf der Bühne des Zürcher Schauspielhauses.
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Seitenzahl: 407
INHALT
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ÜBER DEN AUTOR
Philipp Tingler wurde 1970 in Berlin (West) geboren. Studium der Wirtschaftswissenschaften und Philosophie in St. Gallen, London und Zürich. Hochbegabten-Stipendium, Doktorarbeit über Thomas Mann und den transzendentalen Idealismus Immanuel Kants. Diverse Beiträge für Anthologien sowie für Zeitungen, Zeitschriften, Rundfunk und Fernsehen, u. a. für den Westdeutschen Rundfunk, Schweizer Radio DRS, Vogue, Stern, Neon und NZZ am Sonntag. Kolumnen u. a. in GQ und Welt am Sonntag. 2001 Ehrengabe des Kantons Zürich für Literatur, 2008 Kasseler Literaturpreis für komische Literatur.
Weitere Titel von Philipp Tingler bei Kein & Aber: Juwelen des Schicksals (2005), Leute von Welt (2006), Fischtal (2007), Stil zeigen! (2008), und Leichter Reisen (2011) sowie die CD Das Abc des guten Benehmens (2008).
Der Autor lebt in Zürich.
www.philipptingler.com
ÜBER DAS BUCH
Oskar Canow ist Schriftsteller und scheint ein Leben auf der Sonnenseite zu führen: Bücher, die sich verkaufen, Kolumnen in Hochglanzmagazinen, attraktive Freunde aus den besten Kreisen, eine bezaubernde, verständnisvolle Ehefrau aus England und ein Zuhause, das für Stilbeilagen fotografiert wird. Das alles ist Oskar nicht zugeflogen, vielmehr glaubt er fest an Pflicht und Leistung. Ferner glaubt er an den lieben Gott und an die gute Form. Deswegen offeriert er auch Käsebällchen, als unversehens der Teufel an der Tür klingelt, um ihm ein Geschäft vorzuschlagen. Oskar lässt sich auf einen Pakt auf Probe ein. Und schon bricht die Hölle los. Von Unterwäsche-Modenschauen und wilden Autofahrten über einen Hosenkauf mit dem Herrn der Finsternis bis zur Herzattacke auf der Bühne des Zürcher Schauspielhauses – dieser Roman ist temporeich, opulent, dramatisch und bisweilen umwerfend komisch.
»Ein sehr kluger und sehr komischer Gesellschaftsroman.«
Uwe Wittstock, Die Welt
Für den besten Ehemann von allen.
Seelenleiden sind reinlich und wundervoll.
1. KAPITEL
Jeder kennt jeden
»Das darf doch nicht wahr sein!«, sagte Oskar gepresst. Und bei diesen Worten schien unsere kaum vierzigjährige Hauptfigur mit einem Mal ganz alt geworden zu sein; sogar Oskars Stimme hatte sich verwandelt, und zwar zu ihrem Nachteil, nämlich in eine Art hysterisches Krächzen. Obendrein sah er geradezu gebeugt aus.
»Es tut mir wirklich leid. Ich habs im Kühlschrank vergessen … in unserer Praxis am Flughafen«, erklärte Doktor Feingarten. Worauf eine Pause eintrat. Doktor Feingarten lächelte ein Arztlächeln. »Das ist überhaupt kein Problem«, stellte er fest und nahm einen Schluck Roederer Cristal, »ich kenne quasi den Botox-Oberverteiler von ganz Deutschland, es ist überhaupt kein Problem, morgen schnell die Dosis zu organisieren, und dann machen wir die Sitzung einfach bei Kitty zu Hause. Ich nehme an, alles andere käme Ihnen ungelegen?«
Die froissierte Miene Oskars machte eine Antwort überflüssig. Und Botox-Injektionen im Grunde ebenfalls. Allerdings konnte Oskar auch deswegen nicht mehr antworten, weil sich in diesem Moment jemand einmischte und nach seinem Befinden erkundigte. Es war eine Dame schwer bestimmbaren Alters mit teuer frisiertem, falschblondem Haar, einer Stumpfnase und einem selbstbräunerimprägnierten Silikondekolleté, das an zwei schlecht gewordene (und obendrein schlecht verpackte) Apfelsinen erinnerte. Oskar hatte nicht die geringste Ahnung, um wen es sich handelte, nicht zuletzt, weil es um ihn herum aussah, als wäre eine mit solchen Damen gefüllte Bombe explodiert: Die Gesellschaft, die ihn umgab, bestand augenblicklich zu einem überwiegenden Teil aus mageren, aschblonden, kunstbraunen, stupsnäsigen und kurzsichtigen Frauen in Chanel-Kostümen. Denn Oskar stand auf einem Stehempfang zur Feier des fünfzigsten Geburtstages des Bicolor-Schuhs bei Chanel am Kurfürstendamm in Berlin – ein Anlass, der, obschon er offenbar für gewisse Kreise eine gewisse Tragweite hatte, unserem Protagonisten bis vor kurzem noch unbekannt gewesen war. Er begleitete seine Tante Kitty, die wiederum ihre alte Freundin, Botschaftsrätin Bittenhumpler, begleitete.
Die blonde Dame sprach sehr leise. Wahrscheinlich drückte das Gewicht der Silikon-Kissen auf ihre Lungen. Oskar führte mit ihr fünf Minuten lang ein Gespräch von hoher Allgemeinheit über die faltenreduzierenden Vorzüge einer Tiefkühltherapie in der Slowakei (im Vergleich zu Kohlendioxid-Injektionen), und während er dieses Gespräch um des Gespräches willen unterhielt, betrachtete er mit seitwärts geneigtem Kopf die maskenhafte Starrheit des Gesichts der blonden Dame, das von Kälte und Fühllosigkeit wie von einer Kruste überzogen und von Weichheit, Träumerei und ähnlichen überholten Empfindungen nichts zu wissen schien.
»Jesus«, dachte Oskar, »ich bete, dass dieser Botox-Termin morgen zustande kommt.«
»Ich muss unbedingt mal ein Buch von Ihnen lesen, Herr Canow«, beabsichtigte die Dame, »alle hier sprechen über Ihren Essay in der letzten Ausgabe von Mode.«
»Ich bezweifle, dass sie irgendwas Längeres als eine Einladung lesen kann«, dachte Oskar, während er gleichzeitig sagte: »Das ist sehr freundlich von Ihnen, vielen Dank. Ich bin normalerweise nur von weitem beliebt.«
»Sie sind zu bescheiden«, sprach die Dame.
»Das«, erwiderte Oskar, »ist ein Vorwurf, den ich selten höre.«
»Ich dagegen habe viel Gutes über Sie gehört«, fuhr die Dame etwas unlogisch fort und vollführte dazu eine leicht ungebärdige Bewegung, die Oskar vermutlich Wohlwollen bedeuten sollte. Dabei verbreitete sie alle Wohlgerüche Arabiens um sich.
»Wie«, erwiderte Oskar etwas zu schnell, »– von den Leuten hier?«
»Verzeihung«, sagte er anschließend in die darauf entstandene kleine Pause hinein, »das sind die Entzugserscheinungen. Ich bin dem Alkohol verfallen, und es dauert hier so lange, bis die Gläser nachgefüllt werden. Da habe ich mich mit irgendeiner Tablette beruhigt, die ich auf dem Boden gefunden habe, in der Nähe der Handtaschen dort hinten.«
Und Oskar hob wie zum Beweis sein fast leeres Glas in die Höhe. Das Glas wurde sofort von einem der livrierten Kellner wieder aufgefüllt.
»Entschuldigen Sie!«, verlangte die Dame und verschwand.
Nunmehr erschien Oskars Tante Kitty. Kitty war Nervenärztin und hatte für Umständlichkeiten gar kein Organ. In der Hand trug sie auf einem winzigen Teller ein noch winzigeres Amuse-Gueule in der Form einer kleinen Palme. Mit Kokosnüssen.
»Kitty«, sagte Oskar leise, »du wirst nicht glauben, was ich eben gehört habe.«
»Es wird wohl kaum unglaublicher sein als die Geschichte mit dem Nierenstein, die mir dieser Werbefritze da hinten gerade erzählt hat!«, erwiderte seine Tante. Worauf sie das Amuse-Gueule inspizierend in die Höhe hob und sagte: »Das hier soll Schwarzbrot sein. Ist das nicht zum Totlachen?«
»Feingarten hat das Botox vergessen«, flüsterte Oskar, »am Flughafen!«
»Ach du liebe Zeit«, zischelte Kitty, indem sie die kleine Palme verschlang, »ich denke, er nimmt das Zeug immer mit ins Handgepäck?«
»Wo ist eigentlich Lauren?«, erkundigte sich an dieser Stelle höflich die ebenfalls in der Nähe stehende Botschaftsrätin Bittenhumpler, denn in ihren Kreisen machte man Konversation auf Partys und flüsterte nicht. Die Botschaftsrätin war nicht nur eine treue Freundin von Kitty, sondern auch eine nicht weniger treue Kundin bei Chanel. Im Moment trug sie ein rahmfarbenes Kostüm mit abgesetzten Kragensäumen, das ihren sportlich ertüchtigten, ebengewachsenen Leib vorteilhaft umschloss.
»In Zürich geblieben«, antwortete Oskar. »Genauer gesagt: Sie ist nach Lech gegangen, zum Skifahren.«
Dabei dachte er daran, wie er mit Lauren über diese Einladung verhandelt hatte. Das war nichts Ungewöhnliches, denn Oskar und seine Ehefrau pflegten eine pragmatische Einstellung zu gesellschaftlichen Verpflichtungen und taten also das, was die meisten Paare in ihrer Sphäre taten: Sie handelten sie aus. Zum Beispiel sagte Oskar: »Ich habe hier eine Einladung zu einer Schiffstaufe, und die Tochter des Eigners war damals meine Tischdame bei dieser Gartenparty in Küsnacht, you know, bei diesen Leuten, die wir auf diesem Hochzeitsempfang im Palace in Gstaad kennengelernt haben, du weißt schon, Kleines, diese Hochzeit von Dings, so, anyhow, would you please come?«, worauf seine Gattin erwiderte: »No way!« Manchmal fügte Lauren auch noch etwas hinzu wie: »Lieber stelle ich mich in den Garten und starre mit offenen Augen in die Sonne!«
Es verhielt sich nämlich, wie der Leser an dieser Antwort wohl schon ablesen kann, so, dass Oskars Ehefrau eine eher desinteressierte, um nicht zu sagen: streng distanzierte Haltung einnahm zu all den Modenschauen, Geschäftseröffnungen, Botschaftsempfängen, Filmpremieren, Wohltätigkeitsauktionen und ähnlichen Veranstaltungen, die auf der Agenda ihres Ehemannes standen und deren Publikum Lauren mit der ihr eigenen Prägnanz üblicherweise charakterisierte als »die perfekte Kombination aus nervtötend und langweilig«. Tatsächlich war Laurens Abneigung gegen derartige gesellschaftliche Termine von verbietender Ausgesprochenheit, und Oskar kannte genau das verächtlich angewiderte und abwehrende Sichverziehen ihres Gesichts, wenn eine Verhandlung über dergleichen Pflichten auch nur im Anzuge war, begleitet von einem leisen, aber deutlich hörbaren Ausstoßen der Luft durch Mund und Nase bei gleichzeitigem Zurückwerfen des Kopfes, knapp, kühl und geringschätzig.
Die Kundschaft bei Chanel hatte Lauren in ebendieser Art schlankweg als »blondiertes Kobold-Universum« bezeichnet, und als Oskar trotzdem versucht war, seiner Gattin einen Fünfzehn-Minuten-Auftritt schmackhaft zu machen, hatte diese erwidert: »Sweetness, die Minuten werden mir dort wie Stunden vorkommen! Hours of boredom. Interrupted by moments of unbelievable horror. Nein, danke.«
Dergestalt war also Laurens Erwiderung ausgefallen, wobei sie, wie es besonders bei Erregung ihrer Art entsprach, gelegentlich in ihre Muttersprache zurückfiel. Lauren war Engländerin, doch darüber werden wir später mehr erfahren. Jetzt wenden wir uns erst einmal wieder Oskar zu, der sich seinerseits Doktor Feingarten zuwandte, um eine weitere Frage bezüglich des Botox-Vorfalls an ihn zu richten – aber Feingarten wurde just in diesem Moment von einer Dame mit französisch manikürten Fingernägeln in Beschlag genommen. Die Dame, die sich mit den Worten »Herr Doktor, verzeihen Sie die Störung!« in die Runde warf, hatte ihren Pelzmantel anbehalten.
»Als Schönheitschirurg ist man hier unglaublich gefragt«, stellte Oskar fest.
»Ja«, erwiderte Kitty, »früher waren Dermatologen auf Partys populär. Aber Hautärzte rangieren offenbar heutzutage nur noch eine unmerkliche Stufe über dem Clinique-Stand. Es ist überhaupt fürchterlich, wie wenig Ärzte heute gelten. Früher waren wir Götter – oder wenigstens Abgötter. Und heute sind wir rezeptschreibende, wandelnde Kunstfehlerprozesse, die insgesamt wesentlich schlechter Bescheid wissen als jedes Mobiltelefon mit Internetzugang.«
»Andererseits«, gab Oskar zu bedenken, »sollten wir der plastischen Chirurgie dankbar sein. Immerhin werden wir dank der Errungenschaften in dieser Profession nicht länger durch den Anblick natürlich alternder Frauen terrorisiert. Das verdanken wir den Fortschritten in der Schönheitsmedizin und einigen Pionierinnen unter ihren Patienten, die sich für ebendiesen Fortschritt geopfert haben, wie zum Beispiel die Figur da hinten mit dem Gesicht wie aus dem Windkanal.«
»Wer?«
»Da drüben. Auf neun Uhr.«
»Wo?«
»Jetzt ist sie zwischen den Sonnenbrillen. Auf zwölf Uhr.«
»Oskar«, seufzte Kitty und atmete hörbar aus, »kannst du mit diesen Uhrzeiten aufhören? Wir stehen hier nicht auf der Kommandobrücke irgendeiner Panzerfregatte.«
»Okay«, sagte ihr Neffe, »ich meine die Person da hinten in dem schwarzen Kleid mit weißem Umlegekragen und Manschetten, zwischen dem fürchterlich lauten Wesen links mit der riesigen Handtasche und der Frau von diesem netten griechischen Waffenhändler … da hinter den blondierten Damen, die vor den rahmfarbenen Kostümen stehen und rauchen und geräuschvoller kreischen als eine Wagenladung chinesischer Affen.«
»Jesus!«, machte Kitty. »Jetzt sehe ich sie! Vierzig Prozent ihres Gesichtes sind hinter ihren Ohren versteckt!«
»Da wir von Ohren reden«, erwiderte Oskar, »wenn ich noch eine weitere Geschichte über die sogenannte Berliner Fashion Week hören muss oder über irgendein Ferienanwesen in Antibes, werde ich wohl anfangen, aus den Ohren zu bluten. Wie lange willst du noch hier bleiben?«
»Oh«, antwortete seine Tante nach einem kontrollierenden Blick auf ihre Tank Watch von Cartier, die sie von ihrer Mutter geerbt hatte, »wir können so lange bleiben, wie wir wollen. Ich habe meine Medikamente alle schon eingeworfen.«
»Ich sage Ihnen, einen echten Blasenstein auszuscheiden, ist das männliche Äquivalent des Gebärens!«, erklärte in diesem Moment ein Herr schwer bestimmbaren Alters, der über ein wenig glotzende Augen verfügte sowie über ein erfolglos auf Flottheit aspirierendes Schnurrbärtchen, das gestutzt war wie eine Hecke. Der Mensch hatte sich vor Kitty geschoben und fixierte sie begeistert. Das war der Werbefritze.
»Ahh-ha-ha-hah!«, machte Kitty.
»Du musst dein falsches Lachen trainieren«, wisperte Oskar, »das klingt ja grauenvoll.«
Dazu stellte er sein Glas auf der nächstbesten Fläche ab. Es war, wie immer, nicht ganz ausgetrunken.
Laut sagte er: »Wir müssen nun leider gehen. Wir haben Karten für die Vagina-Monologe.«
Der pelzverbrämten Dame, die sehr lieb dastand, kam ein klagendes Ach aus dem Munde.
Und so verließen Oskar und seine Tante Kitty den Anlass und traten hinaus in die winterliche Kühle auf den Kurfürstendamm (es war frisch draußen, obschon der Frühling vor der Tür stand), und dort trennten sie sich. Kitty fuhr zurück Richtung Westend, und Oskar war mit Gitta Blankenburg verabredet, der Kulturredakteurin der Morgenzeitung, die er neulich bei der Ausstellungseröffnung mit Herrn Lagerfeld in der Turnhalle des ehemaligen Postfuhramtes in Mitte getroffen hatte, wo sie in Begleitung von Julius Porz aufgetaucht war, dem Chefredakteur der Kunstzeitschrift Monoman, mit dem Oskar wiederum kurz zuvor im Restaurant Borchardt (oder, wie man neuerdings sagte: im Borchi) zu Mittag gegessen hatte, und zwar in Gesellschaft von Oskars alter Freundin Dagmar Freiin von Raute, der Chefreporterin der Zeit am Sonntag. Jeder kannte jeden. Die Welt war entsetzlich klein. Bei jenem Lunch hatte Julius Porz ausführlich über eine Literaturbeilage zur Frankfurter Buchmesse erzählt, in der die soundso viel wichtigsten Leute im deutschsprachigen Literaturbetrieb aufgelistet wurden und bei der es einen Eklat gegeben hatte, weil eine Autorin dort mit dem Satz »Ich schlafe mich durchs Alphabet« vorgestellt worden war (so lautete offenbar der erste Satz ihres letzten Buches), worauf ihr Ehemann, selbst Herausgeber einer anderen Zeitung, verlangte, dass für diese Apostrophierung jemand gefeuert würde. Während Oskar sich fragte: »Wieso bin ich eigentlich nicht auf der Liste der soundso viel wichtigsten Leute im deutschsprachigen Literaturbetrieb?«, und Dagmar von Raute den Maître d’ heranwinkte und sich erkundigte: »Kann ich etwas Eis mitnehmen? Ich bin heute Abend eingeladen und muss das Dessert mitbringen.«
Ursprünglich hatte Oskar verabredet, mit Frau Blankenburg einen vom Hochganzmagazin Architectural Finest veranstalteten Cocktailempfang in der Villa Harteneck in Grunewald zu besuchen. Aber das schien ihm jetzt nach Chanel doch etwas viel zu sein. Deshalb rief er Frau Blankenburg an.
»Ich will nicht behaupten, dass ich irgendwelchen Tiefgang hätte«, sagte er, »aber mein Bedarf an Menschen, die, wo andere ein Herz haben, bloß ein verstärktes Dekolleté tragen, ist für heute erschöpft. Ganz zu schweigen von Personen, deren gebleichte Zähne im Dunkeln leuchten und die so viel Make-up auflegen, wie die Schwerkraft erlaubt. Und ich spreche hier von Männern. Ich würde gern einmal wieder ein paar normale Leute sehen. Vielleicht könnten wir irgendwo anders hingehen.«
»Das ist eine ganz fabelhafte Idee«, erwiderte Frau Blankenburg, »wir treffen uns in der Green Door Bar am Winterfeldtplatz!«
Als Oskar in Schöneberg aus dem Taxi stieg, winkte ihm Frau Blankenburg bereits zu. Genauer gesagt: Sie winkte ihn zu sich heran. Und zwar saß sie rauchend und telefonierend in einem flaschengrünen Mercedes, aus dem laute türkische Musik drang. Sie war bekleidet mit einer riesigen Sonnenbrille und einem nicht weniger riesigen Nerzmantel – was wenigstens Oskar immerhin etwas ungewöhnlich schien für die Redakteurin eines klassenkämpferischen Blattes wie der Morgenzeitung. »Aber vielleicht«, dachte Oskar, »ist die Morgenzeitung auch nur noch in meiner Welt klassenkämpferisch. Ich bin womöglich ein bisschen von gestern.«
»Sie sehen wunderbar aus«, sagte er zur Begrüßung.
»Danke«, erwiderte Frau Blankenburg, »das sag ich mir auch schon den ganzen Abend.«
»Der Nerz und der Merz sind Erbstücke«, erklärte Gitta Blankenburg einen Moment später, nachdem sie das Auto abgestellt, den Pelzmantel abgeworfen und sich an der Bar platziert hatte, »sie sind mir in den Schoß gefallen. Was trinken Sie?«
»Wodka Martini«, erwiderte Oskar.
»Das darf doch nicht wahr sein!«, krächzte eine heisere Stimme hinter ihm. Oskar drehte sich um – und sah in die Augen von Martin Krügchen. Er erkannte ihn augenblicklich, obschon er ihn Jahre nicht mehr gesehen hatte: die leicht gedrungene Statur, das ovale Gesicht mit den etwas fleischigen, apoplektisch bläulichen Wangen (wiewohl Krügchen für Apoplexie viel zu jung war), die kleinen Augen unter der niedrigen Stirn, die etwas Drohendes hatte, was gar nicht zu Krügchen passte, denn dieser war durch und durch jovial. Oskar hatte ihn an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich kennengelernt, wo sie beide die Wirtschaftswissenschaften studiert hatten. Dann jedoch war Oskar nach England gegangen, und Krügchen hatte die Examen nicht bestanden und dies seiner Familie verheimlicht, auch als er die Schweiz verlassen musste und nach Berlin zog und dort vom Brötchenbacken und Zeitungsaustragen lebte. Er tat immer so, als würde er weiterhin studieren, worauf ihm seine armen Eltern auch noch ein Auto kauften – oder so ungefähr ging die Fama. »Verkracht« jedenfalls war das Prädikat, das mit Krügchen zu assoziieren war, wenigstens in Oskars Welt. Denn obwohl Oskar Canow sein Geld als Schriftsteller verdiente und damit eigentlich nicht weit von den Zigeunern im grünen Wagen entfernt war, so hatte er mit den Jahren doch zu jener Auffassung zurückgefunden, die ihm in der Kühle seines preußischen Elternhauses gepredigt worden war: Es gehört zu den wichtigsten Dingen im Leben, einen festen, achtunggebietenden Boden unter die Füße zu bekommen. Und aus dieser Überzeugung, aus einer gewissen bürgerlichen Rückständigkeit seines Lebensgefühls und etwas pathetischen Vorstellungen von Ordentlichkeit und So-hat-es-zu-sein, erklärten sich Oskars Vorbehalte gegenüber allem, was ihm leichtlebig, unseriös, tändelnd und zukunftslos vorkam. Oskar Canow hielt fest an seinen bürgerlichen Reservationen aus dem Bewusstsein heraus, dass das Aktive, Beherrschende und Ordentliche auch das Lebensnützliche war, um das er sich übrigens selbst, einer gewissen entgegengerichteten Neigung und Veranlagung zum Trotz, permanent zu bemühen hatte; und so achtete er auf einen aufgeräumten Schreibtisch und artige Umgangsformen, mit denen er es im Übrigen ganz wunderbar in Einklang zu bringen verstand, mitunter bis zum frühen Morgen in mehr oder weniger zweifelhaften Lokalen in mehr oder weniger dubioser Gesellschaft zu verkehren – solange man ihm dabei nicht zu nahe kam.
»Wir haben uns ewig nicht gesehen!«, krächzte Krügchen.
»Allerdings«, erwiderte Oskar, »wie geht es dir?«
»Danke«, erklärte Krügchen und schien ein wenig blau zu werden, »ich habe inzwischen eine Tochter. Wir wohnen jetzt in Zehlendorf. Ich bin Unternehmensberater. Unter anderem berate ich diese Bar hier.«
»Das ist ja auch ein Unternehmen«, konstatierte Frau Blankenburg und zündete sich eine Zigarette an.
»Ich habe neulich was von dir in Park Avenue gelesen«, fuhr Krügchen fort und klopfte Oskar jovial auf die Schulter, »es wäre mir ein Vergnügen, die Dame und dich einzuladen. Alle Drinks aufs Haus!«
»Das ist ja süß«, erwiderte Oskar, »danke sehr.«
»Einen Doppelten, Smitty!«, rief Frau Blankenburg, an den Barmann gewandt. »– Und streuen Sie ein bisschen Muskat drüber!«
»Ich heiße nicht Smitty«, antwortete der Barmann.
»Wir sehen uns«, sagte Oskar zum Abschied zu Krügchen, der sich entschuldigte, womöglich, um ein anderes Unternehmen zu beraten. Und dabei dachte unser Held ungefähr das Folgende: »Nun bezahlt also jemand, der nach allen bürgerlichen Kategorien verkracht und gescheitert ist und dessen geplatzte Kapillaren auf der Nasenspitze ein wenig seinen Behauptungen vom Glück widersprechen, meine Wodka Martinis. Was mir im Übrigen gelegen kommt, denn ich glaube nicht, dass noch besonders viel auf der American-Express-Karte ist. Schließlich haben wir die gesamte neue Küche für die Wohnung in Barcelona damit bezahlt. Hoffentlich hat Lauren ihren Vater nach den zweihunderttausend gefragt.«
Gitta Blankenburg war blond und braunäugig, sehr schlank, hochgewachsen und agil. Sie rauchte unentwegt und hatte die Angewohnheit, beim Zuhören manchmal ein wenig das Kinn zu heben und ihr Gegenüber aus halb geschlossenen Lidern zu fixieren, als prüfe sie den Wert der an sie gerichteten Worte.
»Wir machen gerade so eine Art Gruppentherapie mit dem Redaktionskollektiv von der Morgenzeitung«, erklärte sie und blies den Rauch ihrer Zigarette in die Luft, »dabei lernen wir, miteinander zu reden.«
»Oho«, erwiderte Oskar, »das ist mal was anderes.«
»Allerdings«, seufzte Frau Blankenburg, »ich bin auch gar nicht mehr daran gewöhnt. Sämtliche meiner Freunde und Bekanntschaften sind entweder tot oder schlafen ein, wenn wir uns unterhalten. Das gilt auch für meinen Therapeuten.«
»Ja«, sagte Oskar, »ich hatte auch mal einen Therapeuten. Was soll man machen? Man kann ja nicht dauernd seine Freunde mit diesem ganzen Schrott behelligen. Zuerst versuchte er ständig, mich zu verbessern, dann ist irgendwas in ihm gestorben, und der Rest der Therapie verlief völlig problemlos. Wobei ich immer noch – oder besser gesagt: wieder – der Auffassung bin, dass einem eine Flasche Gin und eine Packung Taschentücher genauso weiterhelfen können. Ich meine, Sie wissen schon, all diese Leute, die immer sofort irgendjemanden konsultieren müssen, das ist doch albern. All diese Leute, die plötzlich feststellen: Mein Gott, ich habe verlernt, wie man aufrichtig und loyal eine Beziehung zu anderen Menschen aufbaut, also brauche ich sofort einen Therapeuten, Medizinmann, Sherpa, Swami oder wenigstens einen vernarbten Schamanen mit Tellern in den Ohrläppchen. Als müsste man sein Seelenheil nach allen Richtungen absichern. Ein bisschen Buddhismus mit Kabbala und Beruhigung von Indianergeistern, ein kleiner Ausflug in die Welt der katholischen Ikonen, so vorsichtshalber, falls von oben wirklich jemand zusieht. Oder von sonst wo. Als ob der Himmel eine Party wäre und man unbedingt auf die Gästeliste wolle. Das endet dann mit einem einzigen makropsychotischen Karmadesaster. So viel steht wohl fest.«
»Genau!«, rief Frau Blankenburg, vielleicht eine Spur zu laut. »Man kommt Gott sowieso nicht näher mit diesem Esoterik-Mist!«
»Gott?«, sagte Oskar erschrocken. »Wieso Gott?«
»Vielmehr: der Erleuchtung«, verbesserte sich Frau Blankenburg unter Zuhilfenahme einer etwas fahrigen Geste, »oder – irgendeinem Ziel. Sie wissen schon. Irgendwas. Man könnte es ja auch erst mal mit Tabletten probieren. Ich bin ja völlig unbescholten auf diesem Gebiet. Früher hieß das auch nicht Drogen. Soweit ich mich erinnere, hieß das Hausapotheke. Tranquilisan, Captagon, Repressitol, für jede Gelegenheit die passende Pille. Runtergespült mit Wodka Martini. Das ist Ihr Stichwort, Smitty – und ich pass auf, dass Sie nichts Billiges reinschütten!«
Mit diesen letzteren Worten präsentierte Frau Blankenburg dem Barmann ihr leeres Martini-Glas.
»Mein Name ist nicht Smitty«, erwiderte dieser.
2. KAPITEL
Schtze und Hasen
Oskar durchquerte den Flughafen in Berlin mit einem Iced Triple Venti Latte von Starbucks in der Hand. Er war auf dem Weg zu seinem Flugsteig und fhlte sich frisch und zuversichtlich, was einerseits daran lag, dass er froh war, wieder nach Zrich, also nach Hause zu kommen, zu Lauren, die er immer vermisste, wenn er sie lnger als drei Tage nicht sah. Und andererseits ging es Oskar stets ganz hervorragend nach Botox-Injektionen. Dieses Gift war famos, denn es schien die Zeit aufzuhalten. Jedenfalls machte es deren Spuren ungeschehen. Ein bisschen wie ein Handel mit dem Teufel, dachte Oskar, blo ohne Preis. Abgesehen von ein paar hundert Euro und einer eventuellen Gesichtslhmung, aber nur, wenn Feingarten den falschen Nerv traf, und Feingarten traf selbstverstndlich nie den falschen Nerv. Und so ein winziges, vernachlssigbares Risiko war wohl berhaupt kein zu hoher Tarif dafr, dass vergangene Snden ausradiert wurden.
Andererseits, so dachte Oskar weiter, andererseits: Was fr Snden? Ich mache doch eigentlich nur noch harmlose Sachen. Oder habe ich im Grunde immer nur harmlose Sachen gemacht?
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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