Dolomitenrot - Sigrid Neureiter - E-Book

Dolomitenrot E-Book

Sigrid Neureiter

4,9

Beschreibung

PR-Beraterin Jenny Sommer und ihr Freund Lenz Hofer suchen in den Dolomiten nach Spuren der Sagenfigur König Laurin. Bei einer Touristenattraktion im Naturpark Schlern-Rosengarten entdecken sie eine Leiche. Als ein Verwandter von Lenz des Mordes verdächtigt wird, beginnt das Paar zu ermitteln. Zusammen kommen sie der Lösung des Falles Schritt für Schritt näher. Doch immer, wenn sie meinen, den Mörder entlarvt zu haben, eröffnet sich eine neue Perspektive, die ihre jeweilige Theorie ins Wanken bringt.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 317

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,9 (18 Bewertungen)
16
2
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Sigrid Neureiter

Dolomitenrot

Kriminalroman

Zum Buch

Rosengartenfluch Beim Oswald-von-Wolkenstein-Ritt, einem jährlichen Reitturnier im Naturpark Schlern-Rosengarten, kommt eine junge Frau ums Leben. Der Fall wird schnell zu den Akten gelegt, denn alles sieht nach einem Unfall aus. Monate später besuchen die PR-Beraterin Jenny Sommer und Lenz Hofer zu Recherchezwecken die Gegend. Dabei finden sie bei einer alten Säge, einer Touristenattraktion des Naturparks, eine Leiche. Alles deutet auf ein Gewaltverbrechen hin. Für Kommissar Aldo Klotz ist Paul Traminer, der Lebensgefährte von Lenz’ Tante, der Hauptverdächtige. Aber Jenny und Lenz werden Informationen zugetragen, die die Sache in ein anderes Licht rücken. Die Hinweise führen zu einem alten Familienstreit um die Pachtrechte einer Almhütte. Zudem treten Zweifel am Unfalltod der jungen Frau beim Reitturnier auf. Sind Jenny und Lenz einem Doppelmörder auf der Spur? Und sind die Parallelen, die sie zur Sage um König Laurin ziehen können, ein Hinweis?

Sigrid Neureiter, geboren in Salzburg, studierte Germanistik an der dortigen Universität und arbeitete als Journalistin und PR-Managerin. Sie betreibt eine eigene PR-Agentur in Wien. Ihre Mutter ist Innsbruckerin, ihr Vater wurde in Meran in Südtirol geboren. Mit »Dolomitenrot« legt die Autorin bereits ihren dritten Südtirol-Krimi vor.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Die Rosengartenhütte des Romans ist eine Erfindung der Autorin.

Immer informiert

Spannung pur – mit unserem Newsletter informieren wir Sie

regelmäßig über Wissenswertes aus unserer Bücherwelt.

Gefällt mir!

 

Facebook: @Gmeiner.Verlag

Instagram: @gmeinerverlag

Twitter: @GmeinerVerlag

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2015 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Sven Lang

Herstellung: Benjamin Arnold

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von:

© sergioboccardo / shutterstock.com

ISBN 978-3-8392-4636-8

Widmung

Für Uli in dankbarem Gedenken

Intro

Die Organisation der Vereinten Nationen für Bildung, Wissenschaft, Kultur und Kommunikation (UNESCO) ermutigt die Staaten, Natur- und Kulturerbestätten, die für die Menschheit von herausragendem Wert sind, zu identifizieren, zu schützen und zu erhalten. Das Außergewöhnliche am Konzept ›Welterbe‹ ist seine universelle Anwendung. Unabhängig von den Ländern, in denen sie sich befinden, gehören die Welterbegüter allen Völkern dieser Erde.

Aus der Broschüre ›Dolomiten. Unesco Welterbe‹

Am 26. Juli 2009 wurden die Dolomiten von der UNESCO in die Welterbeliste aufgenommen und zum Weltnaturerbe erklärt. Die neun Berggruppen sind nach dem Entdecker ihres Gesteins, Déodat de Dolomieu, benannt und verteilen sich auf die fünf Provinzen Belluno, Bozen, Pordenone, Trient und Udine. Zu einer dieser neun Gruppen gehört der landschaftlich besonders reizvolle Naturpark Schlern-Rosengarten in Südtirol. Spitze Felstürme wechseln sich hier mit mächtigen Hochplateaus ab, bleiche Gesteinswände kontrastieren mit dem Grün der Wälder.

Ein spektakuläres Farbenspiel bietet das Bergmassiv des ›Rosengarten‹. Von einem zarten Rosa bis zu Rot und Violett reichen die Schattierungen der zerklüfteten Felsen. In einem von ihnen befand sich der Sage nach das Reich von König Laurin, der über unermessliche Schätze verfügte. Sein größter Schatz war sein Rosengarten, seine Liebe gehörte der schönen Prinzessin Similde.

Anfang Juni

Eins

Sie war wie eine Königin,

stolz und herausgeputzt,

übertraf sie alle anderen.

Ihre Kleider waren kostbar;

die Krone, reich verziert,

stand ihr gut zu Gesicht.

Frei nach ›Laurin‹

Sylvia Karbon tätschelte den Nacken ihrer Haflingerstute Stella und beugte sich nach vorn. »Bisch a gonz a Brave«, murmelte sie dicht am Ohr des Tieres. »Oamal no, nor homm mir’s gschofft.«

Wie zur Bestätigung hob das Pferd den Kopf, senkte ihn wieder und stieß ein zustimmendes Schnauben aus. Sylvia zog die Zügel straffer. Mit festem Schenkeldruck dirigierte sie das Tier den Weg hinauf zum Schloss Prösels.

Auf der Wiese vor der mächtigen Burganlage war die letzte Station des Oswald-von-Wolkenstein-Ritts. Das Turnierspiel, das alljährlich von den Ortschaften Kastelruth, Seis und Völs im Naturpark Schlern-Rosengarten zu Ehren des Minnesängers ausgerichtet wurde, hatte Reiterinnen und Reiter aus ganz Südtirol herbeigelockt. In Mannschaften zu je vier Teilnehmern kämpften sie um den Sieg.

Einem dieser Teams, der Mannschaft ›Prösels König Laurin‹, gehörte Sylvia an. Es war nicht das erste Mal, dass sie und ihre Reiterkollegen an dem Turnier teilnahmen. Aber so gut wie in diesem Jahr hatten ihre Siegeschancen nach den ersten drei der vier Stationen noch nie gestanden. Um sieben Uhr waren sie unten im Eisacktal in Waidbruck bei der Trostburg aufgebrochen. Schon da hatte Sylvia ein gutes Gefühl gehabt. Heute oder nie, hatte sie beim Anblick ihrer drei Mitreiter gedacht, die mit ihren roten Gilets, den schwarzen Hosen und der blauen Tiroler Schürze darüber diesmal besonders schneidig wirkten.

Sylvia trug die gleiche Tracht. Ein frühmorgendlicher Blick in den Spiegel hatte sie davon überzeugt, dass ihr die den sportlichen Anforderungen entsprechende maskuline Kleidung ebenso gut stand wie das Dirndl mit dem buntgeblümten Rock und dem tannengrünen Mieder, das sie am Vortag beim großen Festumzug angehabt hatte. Die lange blonde Mähne trug sie zu Zöpfen geflochten hochgesteckt. Das sah gut aus und verhinderte, dass ihr die Haare während des Ritts ins Gesicht flogen und sie genierten.

Während sie mit Stella das letzte Wegstück über den steil ansteigenden Hang zum Turnierplatz ritt, ließ sie die bisherigen drei Stationen gedanklich Revue passieren: Beim Ringstechen auf dem Kastelruther Kofel1 waren sie sofort in Führung gegangen. Im schnellen Galopp hatten sie ihre zweieinhalb Meter langen Bannerstangen durch die hoch über ihnen hängenden Ringe geworfen und sie anschließend wieder aufgefangen. In der Bestzeit von 54,48 Sekunden hatten sie die erste Station bewältigt.

Beim zweiten Tournierspiel, dem Labyrinth in Seis, unterliefen ihnen Fehler, die mit empfindlichen Strafsekunden geahndet wurden. Sie hatten die Führung abgeben müssen und waren auf den vierten Platz zurückgefallen. Beim Hindernis-Galopp am Völser Weiher, bei dem im Ritt Kanonenkugeln aufgenommen und anschließend in einen Bottich geworfen werden mussten, ging zunächst alles gut. Alle vier Reiter lenkten die Pferde über die Cavaletti, ohne einen einzigen Balken zu berühren. Beim Abwurf der Kugel unterlief Sylvia ein Missgeschick: Das Geschoss prallte am Rand des Behälters ab und landete knapp daneben. Dafür erhielt das Team fünf Strafsekunden.

Anschließend weigerte sich Orlando, der Araberhengst ihres Verlobten und Mannschaftskollegen, den Zieleinlauf wie gefordert im Rückwärtsgang zu passieren. Bis sein Reiter das eigenwillige Tier zur Räson gebracht hatte, war wertvolle Zeit verstrichen. Ihre schärfsten Konkurrenten hatten jedoch ebenfalls gepatzt, sodass Sylvias Mannschaft den vorläufigen vierten Gesamtrang hatte verteidigen können. Ihre Chancen auf den Sieg waren intakt geblieben.

Die letzte Herausforderung lag vor ihnen: der Tor-Ritt vor der eindrucksvollen Kulisse des Renaissance-Baus, der mit seiner weiß gekalkten Fassade, den Türmchen und Erkern den ursprünglichen mittelalterlichen Kern ummantelte. Auf der Schlosswiese war eine Tribüne errichtet worden, von der aus die Zuschauer das Geschehen auf dem Parcours mitverfolgen konnten. Es galt, mit dem Stecken in der Hand zwischen den mit rot-weißen Südtiroler Fähnchen beflaggten Stangen hindurchzureiten, ohne sie zu berühren. Gelang dies nicht, ertönte ein Glöckchen und der Reiter erhielt pro Fehler drei Strafsekunden.

Obwohl diese Station besonders große Geschicklichkeit erforderte, war Sylvia überzeugt, dass sie sie glänzend meistern würde. Denn keiner der vier Turnierplätze war ihr so vertraut wie der vor dem Schloss. Hier hatte sie schon als Kind mit ihren Kameraden gespielt und auf dem Rücken von Ponys ihre ersten Reitversuche unternommen. Die Burg auf einem Hang nahe der Ortschaft Völs am Schlern war bis heute Sylvias Wegbegleiterin geblieben. Bald würde dort das wichtigste Ereignis in ihrem bisherigen Leben stattfinden: ihre Hochzeit.

Sylvia betrachtete dies als gutes Omen. Hinzu kam, dass Stella sich beim Probetraining vor zwei Tagen in Bestform gezeigt hatte. Sie hatte die Stute zunächst am Zügel zwischen den Slalomstangen durchgeführt, um ihr ein Gefühl für den Parcours zu geben. Das Tier war aufmerksam und willig gewesen, den anschließenden Ritt hatten sie in persönlicher Rekordzeit und fehlerlos bewältigt. Sylvia war voller Zuversicht, dass ihnen dies auch heute gelingen würde.

Zufrieden betrachtete sie die Schlossmauern, deren Inneres für sie wie eine zweite Heimat war. Ihr Blick wanderte zur Menge, die sich hinter den Absperrungen drängte. Der Platzsprecher verkündete das Ergebnis der vorhergehenden Mannschaft und verabschiedete sie. Sylvia machte sich bereit. Sie war die Erste ihrer Staffel. Gefolgt von den drei Teamkollegen ritt sie an den Start, die Zügel in der linken und die Bannerstange in der rechten Hand.

»Wir begrüßen jetzt die Mannschaft ›Prösels König Laurin‹«, tönte es aus dem Lautsprecher. Sylvia vernahm ihren eigenen Namen sowie den jeweiligen ihrer drei Teamkollegen. Anschließend wurde ihre bisherige Platzierung bekannt gegeben und die Zeit genannt, in der ihre Staffel diese Station bewältigen musste, um die begehrte Trophäe mit dem Konterfei des einäugigen Ritters Oswald von Wolkenstein sowie die Siegesprämie zu ergattern: Eine Minute und sieben Sekunden. Das war zu schaffen, wie Sylvia vom Training her wusste.

Auf das ›Start frei‹ des Sprechers gab sie Stella die Sporen; sie preschten los. Geschmeidig bewegten sie sich zwischen den Slalomstangen, eine nach der anderen umkurvten sie in hohem Tempo, ohne dass das Glöckchen, das einen Kontakt anzeigte, erklang. Jetzt kam die scharfe Kehre und es ging auf dem gleichen Weg zurück, um an dessen Ende den Stab dem nächsten Reiter zu übergeben. Beinah wie im Flug erreichte sie das Ziel fehlerfrei.

»Karbon, Sylvia, super Ritt!«, lobte der Sprecher. Nun kam es auf ihre Teamkollegen an. Gebannt verfolgte Sylvia, wie jeder der drei Männer die Strecke meisterte, ohne die Torstangen zu berühren. Pferde und Reiter wirkten so elegant und harmonisch wie Profitanzpaare auf dem Parkett.

Geschafft! Sie waren ohne eine Strafsekunde durchgekommen. Die Zeit, die sie benötigt hatten, war allein für das Ergebnis ausschlaggebend. Sylvia übergab den Staffelstab an eine der Ordonanzen und erhielt dafür die Stange mit dem Banner ihres Teams. Es zeigte Schloss Prösels und die Silhouette des Sagenkönigs Laurin mit seinem langen Bart und seiner Krone. Stolz schwang Sylvia es an der Spitze ihrer Mannschaft, die begleitet von kräftigem Applaus die Ehrenrunde drehte.

»1 : 05, 30«, verkündete der Sprecher. Sylvia und die drei Reiter brachen in Jubel aus. Sie wussten, dass sie dieses Spiel gewonnen und den ersten Platz in der Gesamtwertung zurückerobert hatten, noch ehe das Endergebnis durchgesagt wurde. Es war ihnen gelungen, ihre schärfsten Konkurrenten zu überholen. Die Mannschaften, die nach ihnen folgten, lagen zu weit abgeschlagen, um ihnen den Sieg noch streitig machen zu können. Das Team ›Prösels König Laurin‹ stand als Gewinner des diesjährigen Turniers fest.

Sylvia hatte ihre Stute abgesattelt und schickte sich an, sie an dem dafür vorgesehenen Holzgeländer festzubinden. Einige Pferde standen schon dort und frasen friedlich das Heu, das ihre Reiter von einem nahe gelegenen Versorgungswagen für die Tiere geholt hatten. Auch Stella machte sich über ihr Futter her, kaum dass Sylvia es gebracht hatte. Liebevoll betrachtete sie die kauende Stute. Sie war ein freundliches, gutmütiges Pferd. Sylvia würde sie bis nach der Siegerehrung hier lassen und anschließend für den Transport verladen.

Sie sah zu den Anhängern, die am Parkplatz bereitstanden. Der Araberhengst Orlando befand sich bereits in seiner Box. Er war äußerst temperamentvoll und wurde leicht nervös. Ihr Verlobter hatte es daher zu riskant gefunden, ihn im Freien zu lassen, wo Kinder spielten und den Pferden nahe kamen.

Von ihrem Standort aus hatte Sylvia das Pferd genau im Blickfeld. Der Anhänger, in dem sich Orlando befand, war auf der Rückseite geöffnet. Ihm näherte sich ein als mittelalterlicher Gaukler verkleideter Händler, der während des Reiterfestes verschiedene Waren feilbot, und gab dem Tier einen Klaps auf das Hinterteil. Selbst auf die Entfernung bemerkte Sylvia, dass Orlando diese Geste nicht goutierte. Er begann, seine Kehrseite unruhig hin und her zu schwenken. Mit der Hinterhand trat er nach der Gestalt, die rasch zur Seite sprang und hinter dem daneben stehenden Wagen Zuflucht suchte, bevor sie im Gebüsch verschwand.

»A so a Totsch2«, sagte Sylvia zu sich. Jeder, der sich mit Pferden halbwegs auskannte, wusste, dass man sich ihnen nicht von hinten nähern sollte. Das Verhalten des Händlers war demnach äußerst unklug gewesen. Sie fragte sich, was er am Abstellplatz zu suchen hatte. Wollte er neue Ware holen?

Je länger Sylvia über den Vorfall nachdachte, desto seltsamer fand sie ihn. Sie bemerkte, dass Orlando erregt in seiner Box stampfte, und hielt nach ihrem Verlobten Ausschau. Da sie ihn nirgends entdecken konnte, beschloss sie, selbst zum Wagen zu gehen und nach dem Tier zu sehen.

Als sie sich näherte, bemerkte sie, dass der Hengst immer unruhiger wurde. Er keilte nach allen Seiten aus und warf den Kopf so weit in die Höhe, wie es das Seil, an dem er angebunden war, zuließ. Sylvia konnte sich nicht erklären, was das Pferd so erregt hatte. Ihr war klar, dass sie es in diesem Zustand nicht sich selbst überlassen konnte, ohne Gefahr zu laufen, dass es sich verletzte. Zugleich war ihr bewusst, dass es riskant war, sich dem Tier allein zu nähern.

Sie hielt nach Hilfe Ausschau, konnte aber niemanden entdecken.

Orlando gebärdete sich wie der Leibhaftige. Da seine Versuche, das Seil loszuwerden, nicht gelangen, stellte er sich auf die Hinterbeine, ließ die Vorderhufe durch die Luft sausen und preschte, kaum wieder mit allen vieren auf dem Boden, zur vorderen Boxentür. Seine Bemühung, aus dem Anhänger zu entkommen, wurde durch die Querstange vereitelt.

Sylvia trat nahe an Orlando heran, sprach ein paar besänftigende Worte und wollte ihm die Hand auf die Nüstern legen. Das Pferd schnappte nach ihren Fingern und machte Anstalten, sie zu beißen. Wieder rammte es die Stange vor sich, ganz so, als wolle es sie durchbrechen. Sylvia wusste, dass ihm das nicht gelingen würde. Doch es konnte sich selbst Verletzungen zufügen. Das wollte sie verhindern und sann nach einer Lösung. Sie wusste, dass keine Zeit mehr blieb, um zum Turnierplatz zurückzugehen und ihren Verlobten zu suchen. Die einzige Möglichkeit, Orlando zu beruhigen, sah sie darin, ihn aus seinem engen Quartier zu holen und ihn herumzuführen. Sie vermutete, dass ihm das lange Stehen in der Box nicht bekommen hatte und ein wenig Bewegung Abhilfe schaffen würde.

Entschlossen ergriff sie das Seil und löste den Knoten. Orlando hielt in seinem Treiben inne und beobachtete sie. »Brav, brav, passiert nix«, murmelte sie, klappte die Rampe herunter und öffnete die Sperrvorrichtung. In dem Augenblick riss der Hengst den Kopf erneut in die Höhe. Sylvia umklammerte mit einer Hand den Strick, mit der anderen versuchte sie, die Stange wieder in ihre Verankerung zu bringen. Doch es war zu spät. Orlando bäumte sich auf. Drohend sah Sylvia seine stahlgefassten Hufe über sich. Sie ließ das Seil los und wandte sich von dem Tier ab, um davonzulaufen. Ein harter Schlag traf sie am Rücken, sie stürzte zu Boden. Schützend legte sie die Hände über den Kopf, während das Pferd über sie hinwegtrampelte.

 

 

1 Kalvarienberg

2 dummer, ungeschickter Mensch

Ende August

Zwei

In der Gaststube des Turmhotels in Völs am Schlern umklammerte Paul Traminer sein volles Bierglas mit beiden Händen. Er wünschte sich, dass die Kühle der goldgelben Flüssigkeit sich auf seine Hautoberfläche übertragen, seinen Körper durchströmen und mit Ruhe erfüllen möge. Oder dass seine Hände durch einen wundersamen chemischen Prozess an dem Glas haften blieben, sich nie wieder davon lösten und er selbst zur Salzsäule erstarrte – zumindest für die nächsten paar Minuten, so lange bis sein Gegenüber angesichts von Pauls Zustand die Sinnlosigkeit seines Tuns einsehen und den Raum verlassen würde.

Doch nichts von alldem geschah. Ungeachtet von Pauls innerlicher Anspannung, die sich mangels Alternativen gerade in Form von Schweißperlen auf seiner Stirn ein Ventil bahnte, redete Konrad Saltner weiter auf ihn ein.

»Die Hütte und den Stall reißen mir ab und bauen ein Hotel hin. Und da vorne auf die Wiese kimp a Schwimming­pool. Des wert überdacht und beheizt, damit die Gäscht a im Winter eppes hobn, wo sie relaxen kennen.« Mit der flachen Hand schlug er auf eine Stelle des Bauplans, den er auf dem Tisch ausgebreitet hatte.

Paul mahnte sich zu Besonnenheit. Er würde das Vorhaben nicht gutheißen und alles tun, um es zu verhindern. Doch dazu war es wichtig zu wissen, was sein Gegenüber vorhatte.

Konrad Saltner war ein mächtiger Mann. Im Nachbarort Tiers, der – wie Völs und Kastelruth – zu den drei Naturparkgemeinden gehörte, besaß er ein gut gehendes Hotel. Zudem verfügte er über ausreichend Grundbesitz, der ihm Einfluss verschaffte. Auch die Rosengartenhütte, um die es in den Plänen ging, war Saltners Eigentum.

Traminer löste die Hände von seinem Bierglas und beugte sich über die Zeichnung. Mit einem Blick erkannte er, dass der Architekt ganze Arbeit geleistet hatte. Jeder Quadratmeter des Grundstücks, auf dem die Almhütte stand, war zweckmäßig in die Planung einbezogen worden. Etwas abseits vom Hotel sollte eine Unterkunft für das Personal entstehen. Zugleich würde das Gebäude die Liegewiese vom Parkplatz abschirmen.

In Traminers Hirn schrillten sämtliche Alarmglocken. Hatte er tatsächlich ›Parkplatz‹ gelesen? So musste es wohl sein, denn Saltner fuhr fort: »Die Privatstraße öffnen wir natürlich für die Hotelgäschte. Und wenn mir sie ausgebaut hobn, nor lossen mir auch Reisebusse passieren. Des isch guat fürs Togesgschäft.« Mit einem Zug leerte er sein Bierglas, wischte sich den Schaum vom Mund und blinzelte Traminer verschwörerisch zu. »Der Bürgermoaschter hot mir schon sein Sanktus gebn, und der Landeshauptmann a. Jetzt kimps lei drauf on, dass du mit deine Leit von der Umweltgruppe redescht, dass se koan Wirbel mochn. Dann isch die Sache geritzt. Dein Schodn wearts net sein.«

Das war zu viel für Traminer. Er konnte sich nicht länger beherrschen. »Ja bischt denn du wahnsinnig geworden?«, fuhr er sein Gegenüber an. »Reichts net, dass du im Ort dein riesigen Hotelkoschtn hingebaut hosch? Willsch jetz a no obm auf dar Olm olls verschandeln, du gieriger Hund du?« Traminer wurde sich bewusst, dass er den anderen angebrüllt hatte. Verstohlen sah er sich in der Gaststube um und stellte erleichtert fest, dass sie die einzigen Gäste waren. Was Saltner vorhatte, war ohne jeden Zweifel unrecht, und er, Paul, würde alles in seiner Macht Stehende tun, um seine Pläne zu durchkreuzen. Doch er wusste, wie einflussreich der Hotelier war. Es war nicht klug, ihn zu provozieren – schon gar nicht vor Zeugen. Die gab’s wenigstens nicht, abgesehen vom Wirt, der unbemerkt hereingekommen war und sich nun erkundigte, ob sie noch einen Wunsch hätten. Wie viel er wohl von der Auseinandersetzung mitbekommen hatte?

»Bring mir no oar Holbe, damit i mitn Paul onstoßen konn. Und du«, wandte Konrad sich an Traminer, »trinksch jetzt dei Bier und tuasch, wie i dir gsogt hun.«

»Des tet dir so passn. Du moansch woll, du konsch dir mit Geld alles kaufn. Aber mi net, des sog i dir.« Traminer sprang auf, nahm seinen Bierkrug und knallte ihn mit voller Wucht auf den Bauplan, sodass die Flüssigkeit über das Papier schwappte. Aus dem Augenwinkel sah er den Wirt, der von der Schank aus die Szene beobachtete. Er war das männliche Pendant zu einer Ratschkattl3. Traminer war das inzwischen egal, er polterte weiter: »Moansch du, mir wissen net, dass des domols net mit rechten Dingen zuogongen isch, wie du dir die Rosengartenhüttn untern Nagel grissn hosch? Loss sie jetzt wenigschtens wie sie isch, sonsch passiert no eppes. Oar Unglick isch scho g’schegn. Und wenn du so weitertuasch, nor kimp bald des nekschte.«

Kaum hatte er zu Ende gesprochen, war es mit Saltners eben noch zur Schau gestellter Leutseligkeit vorbei. »Wie konsch du so bled sein? I hätt dir die Bauaufsicht fir do obm gebn. Aber des konsch dir in die Hor schmirn. Und mitm Bürgermoaschter red i a. Wearsch scho segn, wosd von deiner Sturheit hosch.«

Traminer spürte, wie ihm erneut der Schweiß ausbrach. Er wusste, dass sein Widersacher die Drohung wahrmachen würde. Paul war selbständiger Bauingenieur. Seine Firma ging gut, nicht zuletzt dank regelmäßiger Aufträge von der Gemeinde. Die Bauaufsicht für Saltners Projekt wollte er nicht übernehmen, darauf verzichtete er gern. Doch wenn der Hotelier den Bürgermeister gegen ihn aufhetzte, konnte das den Gang seiner Geschäfte empfindlich beeinträchtigen. Trotz dieser unerfreulichen Aussichten brachte er es nicht fertig, sich zu beherrschen. »I loss mir net drohn, und i loss mi net von dir bestechen«, stieß er hervor, fasste Saltner am Hemdkragen und zog ihn nahe zu sich heran. Die Angst in den Augen seines Widersachers verlieh ihm ein Gefühl der Überlegenheit. Er würde es diesem Falott heimzahlen, koste es, was es wolle.

Die Stimme des Wirts holte ihn in die Wirklichkeit zurück: »Aufhearn, wos follt denn dir ein? Bisch verruckt worn?« Traminer ließ von Saltner ab, der, kaum hatte er seine Fassung wiedergewonnen, losdonnerte: »Fir heint reichts, du hosch di gnua blamiert. Und jetzt verschwint und tua, wos i dir gsogt hon. Sonsch zoag i di un wegn Körperverletzung.«

Traminer erkannte, dass er zu weit gegangen war. Er hätte sich nicht dazu hinreißen lassen dürfen, handgreiflich zu werden, und beschloss, ohne weitere Widerworte, zu gehen. Die Sache musste mit den Leuten von der Umweltgruppe, deren Obmann er war, besprochen und eine Strategie gegen Saltners Vorhaben entwickelt werden. Wieder ermahnte Paul sich innerlich zur Ruhe. Seine Empörung siegte jedoch über seine Vernunft. An der Tür der Gaststube drehte er sich um.

Saltner grinste ihn an. »Hosch es dir iberlegt?«

Traminer schüttelte den Kopf, hob die Faust in die Höhe und stieß hervor: »Verflucht sollts es sein, du und dei Bua, es werdets nie und nimmer a Freud hobn mit der Rosengartenhütte. Dafür wear i sorgn!«

*

Lisi Kirchler saß in ihrem Büro auf Schloss Prösels. Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete sie den Bildschirm des PC. Darauf befand sich der Dienstplan für die nächsten Wochen.

Einer der Studenten, die den Sommer über für die Führungen eingeteilt waren, hatte sich krank gemeldet. Für die meisten seiner Schichten hatte Lisi schon Ersatz gefunden. Aber in der Spalte für die morgige Vormittagsführung herrschte gähnende Leere. Mit einem Seufzer trug Lisi ihren eigenen Namen in das Kästchen ein. Sie schloss die Datei, schaltete den Computer aus und erhob sich.

Der Gedanke daran, am nächsten Tag Dienst machen zu müssen, missfiel ihr. Sie liebte das Schloss, keine Frage. Immerhin hatte sie zu jener Gruppe von Leuten gehört, die vor über 30 Jahren verhindert hatten, dass das Anwesen, nach vielen über die Jahrhunderte wechselnden Besitzern, neuerlich verkauft wurde. Lisi und ihren Mitstreitern war es gelungen, Schloss Prösels in eine Stiftung einzubringen. Seither wurde es von dieser verwaltet und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Von Mai bis Oktober konnten die Besucher das Schloss und dessen Interieur, so etwa die Waffensammlung, die Bildergalerie, verschiedene mit historischem Mobiliar ausgestattete Räumlichkeiten sowie Wappensteine und Fresken, besichtigen. Lisi hatte die ehrenamtliche Tätigkeit der Verwalterin inne, des »Schlossfräuleins«, wie sie allseits genannt wurde.

Trotz ihrer Leidenschaft und des Engagements, mit dem sie sich dieser Aufgabe widmete, kam ihr die Erkrankung des Studenten höchst ungelegen. Sie hatte für den nächsten Tag eine Bergtour geplant. In aller Früh hatte sie aufbrechen wollen, um übers Tschamintal auf den Schlern zu steigen. Es wäre eine anstrengende Tour geworden, aber Lisi hätte sie – wie schon öfter in der Vergangenheit – sicher problemlos bewältigt. Trotz ihrer 63 Jahre hatte sie eine gute Kondition. Solange sie sich dieser erfreute, wollte sie die schneelosen Monate ausnutzen, um ihrer Wanderlust zu frönen.

Lisi ging zum Fenster, um es zu schließen. Dabei warf sie einen Blick auf die Wiese vor dem Schloss, über die sich die Dämmerung herabsenkte. Sylvia Karbon fiel ihr ein, die dort nach dem Turnier ums Leben gekommen war. Die junge Frau fehlte Lisi. Sie war für den Betrieb des Schlosses nahezu unentbehrlich geworden. Sylvia war die Tochter des ehemaligen Stiftungspräsidenten und hatte schon als Kind viel Zeit in der Burganlage verbracht. Später hatte sie Führungen und nach und nach Restaurierungsarbeiten übernommen. Eigens dafür hatte sie in Bozen eine Ausbildung absolviert und sich ein kleines Atelier auf dem Schloss eingerichtet. Ihr war es zu verdanken, dass zahlreiche Bücher, Bilder und Ziergegenstände auf dem Schloss repariert worden waren und wieder ausgestellt werden konnten. Unermüdlich hatte sie nach Dingen gesucht, um sie mit viel Liebe und Sachverstand wieder in ihren ursprünglichen Zustand zu versetzen. Inzwischen hatte sich einiges angesammelt, was Sylvias geschickter Hände bedurft hätte. Eine Fachkraft, die mit dem gleichen Eifer und quasi für ein Taschengeld die Tätigkeit übernommen hätte, war bisher nicht gefunden worden.

Nachdem Lisi das Licht gelöscht und das Büro versperrt hatte, ging sie in den Schlosshof. Vor der Tür zu Sylvias Atelier hielt sie inne. Ihr wurde bewusst, dass sie es seit dem Tod der jungen Frau nicht mehr betreten hatte. Lisi hatte alle Hände voll zu tun, Ersatz für Sylvia zu suchen, wenigstens was die Führungen betraf. Diese hatten im Sommer, der Hauptsaison im Schloss, Priorität. Jetzt allerdings, wo ihr der Gedanke an die Restaurierungsarbeiten gekommen war, behagte es Lisi gar nicht, dass sie Sylvias Atelier so lange vernachlässigt hatte.

Sie schloss die schwere Holztür auf, trat ein und betätigte den Lichtschalter. In einer Ecke standen Farbtöpfe, auf dem Tisch stapelten sich Bücher mit ramponierten Einbänden, daneben befand sich eine Tasse aus feinem Porzellan mit abgebrochenem Henkel, ein paar Bilderrahmen lehnten an der Wand. Alles wirkte so, als würde Sylvia jeden Moment hereinkommen und ihre Arbeit fortsetzen.

Lisis Blick fiel auf einen Karton, der in einer Ecke stand. Darin befanden sich die Reisenotizen ihres verstorbenen Mannes. Er hatte alles fein säuberlich dokumentiert und aufgelistet. Nach seinem Tod hatte Lisi ihr gemeinsames Haus verkauft und eine Wohnung gemietet. Vieles hatte sie weggegeben, die Erinnerungsstücke an die gemeinsamen Urlaube jedoch behalten. Aus Platzmangel hatte sie alles in dem Karton verstaut und in den damals noch für Abstellzwecke genutzten Raum gebracht. Nachdem Sylvia ihn zu ihrer Arbeitsstätte umfunktioniert hatte, war die Kiste dort geblieben.

Sie störe nicht, hatte die junge Frau versichert. Nun würde Lisi sich darum kümmern müssen. Ewig konnte sie die Sachen nicht hier lagern.

Ob sie völlig unsentimental einfach alles wegwerfen sollte? Allerdings gehörten die gemeinsamen Reisen mit ihrem verstorbenen Mann zu ihren schönsten Erinnerungen. Lisi beschloss, die Entscheidung aufzuschieben. So rasch würde der Raum nicht benötigt werden, sie konnte in Ruhe darüber nachdenken, wie sie weiter verfahren wollte.

Beim Verlassen des Ateliers fiel ihr die Narrenkappe auf, die auf Sylvias Arbeitstisch lag. Sie gehörte zu den nachgebildeten mittelalterlichen Kostümen, die auf dem Schloss ausgestellt waren und die die Besucher anprobieren durften. Lisi erkannte, dass an einem der herabhängenden Zipfel eine Schelle fehlte. Sylvia hatte die Kopfbedeckung offenbar hierhergebracht, um sie zu reparieren. Doch dazu war sie nicht mehr gekommen.

Lisi beschloss, das Bekleidungsstück mitzunehmen. Es konnte nicht schaden, im Bedarfsfall eine Ersatzrequisite im Kostümfundus zu haben. Sie griff nach der Narrenkappe und hob sie hoch. Darunter lag ein Notizbuch, das denen ihres Mannes zum Verwechseln ähnlich sah. Ein Blick auf die Handschrift bestätigte ihr, dass es von ihm stammte. Sylvia musste es aus der Kiste genommen und hier liegen gelassen haben. Warum hatte sie das wohl getan?

Vermutlich hatte sie aus Neugierde darin geblättert und es auf dem Tisch vergessen, beantwortete Lisi sich die Frage. Sie wollte es in den Karton zurücklegen, besann sich und steckte es in die Tasche ihres Kittels. Lisi wusste noch nicht, wie sie mit den restlichen Notizbüchern verfahren würde. Dieses eine wollte sie in jedem Fall zum Andenken an ihren Mann behalten.

Nachdem sie das Atelier wieder verschlossen hatte, verließ sie die Burganlage. Ihr Handy klingelte. Auf dem Display erschien der Name ›Paul Traminer‹. Lisi zögerte, das Gespräch entgegenzunehmen. Sie war müde und wollte ihre Ruhe haben. Andererseits kannte sie den Obmann der Umweltgruppe gut genug, um zu wissen, dass er nur anrief, wenn es wichtig war.

*

Reinhold Gamper, Wirt des Turmhotels in Völs, stand hinter seiner Schank und genehmigte sich einen Schlummertrunk. Die meisten Gäste waren bereits gegangen, sodass er der Bedienung für den Abend freigegeben hatte. Bald würde auch er Schluss machen.

Die Tür zur Gaststube wurde aufgestoßen und ein gut aussehender junger Mann kam herein. An seinem Arm hing eine herausgeputzte Blondine, die sich kichernd an ihren Begleiter kuschelte. Bei der Frau handelte es sich zweifellos um eine Touristin. Der Mann war aus dem Nachbarort Tiers: Peter Bonell.

»Hosch no eppes zum Trinken fir ins zwoa«, fragte der Neuankömmling. Gamper bejahte. Die beiden setzten sich in eine entlegene Ecke der Gaststube. Er nahm die Bestellung entgegen, füllte die Gläser und servierte das Gewünschte. Anschließend machte er sich daran, die Schank zu säubern und alles für die baldige Sperrstunde vorzubereiten.

Sein Tun wurde von einem leisen Murmeln, mit dem sein später Gast auf die Frau einredete, und von einem gelegentlichen Glucksen begleitet, mit dem sie ihre Zustimmung bekundete.

Dem sein Glück bei den Frauen müsste man haben, ging es Gamper durch den kahlrasierten Kopf. Seit Peter Bonell nach einer erfolgreichen Sportlerkarriere wieder in die Gegend zurückgekehrt war, hatte er nichts anbrennen lassen. Ernste Absichten schien er jedoch – sehr zum Leidwesen seiner zahlreichen Verehrerinnen – bei keiner zu haben. Obwohl, wenn Gamper es recht bedachte, eine Ausnahme hatte es gegeben …

»Gipsch mir no a Schluckele von dem Weißen?« Peter Bonell war an die Bar getreten und hielt Gamper sein leeres Glas hin. Während er einschenkte, blickte Peter sich in der Gaststube um.

»Isch nit vil los heint«, stellte er fest.

»Um die Zeit nimmer.« Gamper wischte mit einem feuchten Schwamm über den Tresen.

»In der Dorfschenke hun i welche hockn gsegn: in Traminer Paul, die Kirchler Lisi und no a por von der Umweltgruppe«, informierte ihn Bonell.

Gamper begann, Gläser zu polieren. »Bei mir wor der Traminer heint a schon. Zusammen mit’m Saltner Konrad. Der Paul isch ihm an die Gurgel g’hupft, koa Spass.« Er wartete ab, ob Peter zu seiner Begleitung zurückkehren würde.

Der schien es jedoch nicht eilig zu haben. »Bisch du gscheit«, kommentierte er. Der Wirt betrachtete das als Einladung, seinem Gast über den Anlass der Handgreiflichkeit zu berichten.

*

Ein Geräusch weckte Ilona. Einen Moment lang war sie versucht, es einfach zu ignorieren und weiterzuschlafen. Doch das Stöhnen aus nächster Nähe wurde lauter, verzweifelter. Ilona öffnete die Augen und setzte sich im Bett auf.

»Jesszusmària«, flüsterte sie.

Ob sie den Schlafenden an ihrer Seite wecken sollte? Sie hörte, wie das Stöhnen leiser wurde und schließlich aufhörte. Der Albtraum war vorbei.

Obwohl es stockfinster war, stieg sie aus ihrem Bett und tastete sich zum Fenster. Sie zog die Vorhänge zur Seite und öffnete es. Kühle Nachtluft drang herein. Der Mond tauchte den niedrigen Raum in ein fahles Licht.

Ilona ging zu ihrem Bett zurück und schlüpfte unter die Decke. Sie lauschte den Atemzügen, die nun sanft und regelmäßig zu ihr drangen. Erleichtert schloss sie die Augen. Doch der Schlaf wollte nicht wiederkehren. Erneut richtete sie sich auf und betrachtete den Mann neben ihr. Eine dunkle Strähne hatte sich aus seinem straff nach hinten gekämmten, bereits schütter werdenden Haar gelöst und fiel ihm in die Stirn. Sie gab seinem Gesicht etwas Kindliches, Unschuldiges – wiewohl dieser Eindruck durch die dichten Brauen, die fleischige Nase und die Bartstoppeln, die auf seinen Wangen sprießten, Lügen gestraft wurde.

Florian Saltner war kein attraktiver Mann. Ilona hatte das mit einem Blick erfasst, kaum dass sie ihm das erste Mal begegnet war. Sie hatte in der Zeitung gelesen, dass auf der Almhütte eine Bedienung gesucht wurde, und sich umgehend beworben. In Meran, wo sie, die gebürtige Ungarin, zuvor auf Saison gewesen war, hatte sie sich mit einem Kurgast eingelassen. Seine Frau war dahintergekommen und hatte bewirkt, dass Ilona ihren Arbeitsplatz verlassen musste. Es war ihr sehr gelegen gekommen, dass genau zu diesem Zeitpunkt auf der Rosengartenhütte am Fuße der Laurinswand in den Dolomiten eine Servierkraft gesucht wurde. Mit dem Hüttenwirt Florian Saltner war sie sich rasch einig geworden; sie hatte die Stelle angetreten.

Ilona bereute ihre Entscheidung, den quirligen Kurort gegen die raue Berggegend eingetauscht zu haben, nicht. Florian war ein angenehmer Chef. Zudem hatte sie rasch festgestellt, dass, wenn es ihm auch äußerlich an Qualitäten mangelte, er einen guten Charakter hatte. Er erschloss sich all denjenigen, die sich die Mühe machten, hinter die meist schroff und abweisend wirkende Fassade zu blicken.

Es hatte nicht lange gedauert und Ilona war sich dessen bewusst geworden, dass sie in Florian weit mehr als einen netten Chef sah. Er hatte allerdings, ganz im Gegensatz zu dem verliebten Kurgast in Meran, keinerlei Ambitionen gezeigt, sich Ilona anders denn in kollegialer Weise zu nähern. Doch sie verstand es, Männer zu umgarnen. Schließlich war er ihren Reizen erlegen. Seit Kurzem teilten sie das Bett. Sie wünschte sich so sehr, dass mehr daraus wurde. Florians Vater machte ihr aber Sorgen. Er würde toben, wenn er von dem Verhältnis seines Sohnes erfuhr, und nie und nimmer zulassen, dass er eine – noch dazu ausländische – Bedienung heiratete.

Ein Wimmern, das zu einem Klagelaut anschwoll, ließ Ilona aufschrecken. Es ging wieder los. Ein neuer Albtraum quälte Florian. Ilona rückte näher an ihren Geliebten heran, umschlang ihn mit beiden Armen und flüsterte ihm in ihrer Muttersprache Koseworte ins Ohr.

3geschwätzige weibliche Person

Drei

Ich weiß von einem kleinen Mann,

der über ein großes Reich herrscht.

Im Wald in Tirol

hat er liebevoll

einen Rosengarten angelegt.

Statt Mauern

umspannt ihn ein seidener Faden.

Wer den zerreißt,

bekommt Laurins Rache zu spüren.

Frei nach ›Laurin‹

Jenny Sommer lief das Wasser im Mund zusammen. Auf dem Tisch vor ihr stand ein Holzteller mit zentimeterdicken Wurstscheiben, einem zartgelben Almkäse, Kren, Essiggurkerl und Streifen eingelegter roter Paprika. Die farbenfrohe Komposition umkränzte ein Stück Speck, das beinahe so groß wie ein Steak und, wie die feinfaserige, weiße Marmoring vermuten ließ, ebenso saftig war. In der Mitte des Räucherfleisches steckte ein Messer.

Das also war eine Brettljause – beziehungsweise, was die Betreiber der ›Rosengartenhütte‹, einer Almwirtschaft auf beinahe 2.000 Meter Seehöhe, unter dieser Bezeichnung verstanden. Jenny, eher an Wiener Heurige denn an Tiroler Berghütten gewöhnt, hatte sich die Speise etwas weniger deftig vorgestellt, ließ sich jedoch den Appetit nicht verderben. Was ihr allerdings Sorgen bereitete, war das Fehlen einer Gabel. Wurde etwa erwartet, dass sie ein Stück Speck absäbelte und mit der Hand zum Mund führte?

Genau das tat Jennys Begleiter Lenz Hofer. Er zog das Messer aus dem Fleisch, schnitt eine Scheibe ab – und hielt sie Jenny hin. »Kost einmal«, ermunterte er sie.

Sie beugte sich vor, umfasste sein Handgelenk und machte Anstalten, mit dem Mund nach dem Speckstück zu schnappen. Bevor sie es mit den Zähnen berührte, hielt sie inne und nahm es zwischen zwei Finger. Mit dem Messer entfernte sie feinsäuberlich den weißen Rand aus purem Fett, bevor sie den Happen verzehrte. Er schmeckte köstlich. Anschließend probierte sie den Käse und ließ die cremig-milde Substanz auf ihrer Zunge zergehen. Sie schnitt eine weitere Scheibe Speck ab, entfernte abermals die Schwarte und tunkte den Rest in den Kren.

»Vorsicht, der ist scharf«, warnte Lenz. Er reichte ihr ein Stück Brot. Skeptisch beäugte Jenny den Fladen. »Ist ein Schüttelbrot. Der Teig wird vor dem Backen gelockert, damit das Brot knusprig wird. Aber gib auf deine Zähne Acht.«

Jenny befolgte den Rat. Lenz stammte aus Südtirol und wusste um die heimischen Spezialitäten Bescheid. Zaghaft biss sie von dem Brot ab. Es war ziemlich hart, aber ausgesprochen schmackhaft. Während sie sich ihrer Mahlzeit widmete, ließ sie die zurückgelegte Strecke in Gedanken Revue passieren.

Sie hatten vom Nigerpass kommend den sogenannten ›Sagenwanderweg‹ genommen. Er führte entlang der mächtigen Laurinswand, in der angeblich einst ein Zwergenvolk gehaust hatte, das über Gold, Edelsteine und allerlei Zauberkünste verfügte. Die Wanderung hatte beeindruckende Ausblicke auf zerklüftete Felsformationen, bunte Blumenwiesen und auf die schneebedeckten Berggipfel geboten, die an der gegenüberliegenden Talseite aufragten. Das Panorama hatte Jenny für die Mühen des Aufstiegs entschädigt, der entgegen den Angaben im Reiseführer alles andere als ›leicht‹ gewesen war.

Ein wenig erschöpft, aber gesättigt ließ sie die Aussicht von ihrem Platz im Gastgarten der Almhütte auf sich wirken. Vor ihr ragten die Zacken der Vajolettürme und daneben die Laurinswand auf, die sie schon auf dem Weg begleitet hatte. Beide gehörten zur ›Rosengartengruppe‹. Der Gebirgsstock und die sich darum rankende Sage von König Laurin waren der Grund für ihr Hiersein: Lenz Hofer war Assistent am Germanistikinstitut in Salzburg und arbeitete gemeinsam mit seinem Vorgesetzten, Professor Arthur Kammelbach, an einem Handbuch über den Zwergenkönig. Ein Kapitel des geplanten Werkes sollte der Laurin-Rezeption in Südtirols touristischen Einrichtungen gewidmet sein. Jenny hatte den Vorschlag gemacht, wusste sie doch aus bisherigen Besuchen in der Provinz jenseits des Brenners, dass sich Hotels, Gaststätten, ja sogar Liftanlagen und eine Skiarena mit dem Namen der Sagengestalt schmückten.

Kammelbach, bei dem Jenny ihr Germanistikstudium absolviert hatte, gefiel die Idee so gut, dass er sie und Lenz beauftragt hatte, den Beitrag gemeinsam zu verfassen. Dafür sollten sie an Ort und Stelle recherchieren und ihre Entdeckungen möglichst auch fotografisch festhalten. »Ich plane einen Bildteil in dem Buch und kann sicher etwas von dem Material, das ihr mitbringt, veröffentlichen«, hatte der Professor erklärt.

Lenz war begeistert gewesen, Jenny hatte ebenfalls gerne zugestimmt. Seit einem Kriminalfall, in den sie und Lenz in Meran verwickelt gewesen waren und zu dessen Lösung sie beigetragen hatten, waren sie ein Paar. Sie trennte allerdings eine Distanz von 300 Kilometern: Während Lenz in Salzburg mit seinem Assistenzposten sein Doktoratsstudium finanzierte, betrieb Jenny in Wien ihre eigene PR-Agentur. Diese Konstellation bedingte, dass sie sich nur selten sahen. Der Auftrag von Lenz’ Vorgesetztem und Jennys früherem Mentor Kammelbach bot daher eine willkommene Gelegenheit, einige zusätzliche Tage miteinander zu verbringen.

»Tach, ist hier noch frei?« Jenny blickte auf. Vor ihr stand ein Mann, dessen eindrucksvolle Größe durch ein kleines Mädchen, das auf seinen Schultern saß, verstärkt wurde. Die Frau an seiner Seite war zierlich und wirkte leicht verlegen.

Jenny betrachtete die Neuankömmlinge ohne Begeisterung. Sie hätte den Aufenthalt im Gastgarten lieber in trauter Zweisamkeit mit Lenz verbracht. Ein Blick auf die umliegenden Tische zeigte ihr, dass sie sämtlich besetzt waren. Sie nickte ihrem Partner zu, der sie fragend ansah.

»Nehmt’s Platz«, forderte er die Familie auf.

Der Hüne ging in die Knie, half dem Kind herunter und setzte sich. Seine Begleiterin tat es ihm gleich und nahm das Mädchen auf den Schoß.

»Nett hier«, sagte der Gast, nachdem er die Bestellung aufgegeben hatte. Jenny rang sich ein knappes »Ja« ab. Sie hatte wenig Lust auf eine Unterhaltung mit Fremden. Der Tischgenosse, der seiner zackigen Sprechweise nach zu urteilen aus Norddeutschland kam, ließ sich nicht beirren.

»Ich bin der Jürgen aus Bielefeld. Das ist meine Frau Anja und die Kleine heißt Vivian. Von wo kommt ihr?«

»Bin ich aus Südtirol, kommt meine Freundin aus Wien.«

Jürgen sah Lenz an. »Ah, ein Einheimischer, hört man gleich.«