Dominik Windisch - Der richtige Moment - Sascha Russotti - E-Book

Dominik Windisch - Der richtige Moment E-Book

Sascha Russotti

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Beschreibung

Ein spannendes Buch für alle, die sich allgemein für die Hintergründe eines Massensports interessieren und einen Einblick in die Gedanken- und Erlebniswelt eines Profisportlers gewinnen möchten. Die der Öffentlichkeit bekannten Hard Facts zur Karriere des Profisportlers werden dabei von viel interessanteren Hintergrundgeschichten untermauert und dadurch greifbarer und lebendiger gemacht. Eine Kenntnis des komplizierten Rennregelwerkes des Biathlon-Sports ist dabei nicht nötig. Das Buch spricht vordergründig von dem was vor und nach dem Rennen im Umfeld und im Kopf des Athleten vorgeht. Quasi nach dem Motto „Nach dem Rennen ist vor dem Rennen“ inklusive der totalen Vermischung von privatem und beruflichem Leben.

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Seitenzahl: 281

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Die Drucklegung dieses Buches wurde ermöglicht durch die Südtiroler Landesregierung / Abteilung Deutsche Kultur.

INHALT

Vorwort

Warum dieses Buch?

1989–2003

Meine Kindheit im Biathlon-Mekka Antholzer Tal

2003–2005

Letzter – Vorletzter – Drittletzter

2005–2008

Aufgeber gewinnen nie, Gewinner geben nie auf!

2008

Plötzlich Profi

2008–2014

Meine ersten Jahre im IBU-Cup und Weltcup

2014

Olympische Winterspiele in Sotschi

2016

Julia und mein Durchbruch im Weltcup

2018

Olympische Winterspiele in Pyeongchang

2018

Ich brauche einen Manager

2019

Weltmeister in Östersund

2020

Weltmeisterschaft in Südtirol

2020–2021

Die verflixte Saison

2021–2022

Olympische Winterspiele in Peking

Nachwort

Vorwort

Liebe Leserinnen und Leser,

lange bevor Dominik und ich zu Langlaufskiern und Gewehr griffen und im Training und Team aufeinandertrafen, kannten sich bereits unsere Familien, denn wir sind ja in derselben kleinen Gemeinde im Antholzer Tal aufgewachsen und unsere Eltern nahmen uns Kinder mit zu gemeinsamen Ausflügen in die faszinierende Bergwelt des Naturparks Rieserferner-Ahrn. Unser Heimatort liegt direkt am Naturpark und so waren dessen Wanderwege und der malerische Antholzer See unsere Lieblingsspielplätze, bevor Jahre später das Biathlonzentrum seine unglaubliche Strahlkraft auf uns ausübte.

Dominik stammt aus Oberrasen, ich aus Niederrasen. Beide Ortsteile gehören zwar zur selben Gemeinde, doch sind sie von einem gesunden Lokalpatriotismus geprägt, der schon in unserer Kindheit spürbar war. Er durchdringt die Einwohner und fördert ein sympathisches Wetteifern untereinander.

Wir kennen uns also schon ein ganzes Leben lang …

Vielleicht kann man es nicht von Beginn an eine Karriere nennen, sondern eher ein Abenteuer, das mit einem Kindertraining beim ASV Antholzer Tal begann und mitten im Weltcup-Zirkus endete. Zwischen diesen beiden Lebensabschnitten besuchten wir zusammen die Sportschule in Mals – am anderen Ende Südtirols –, und ich kann mich noch gut daran erinnern, wie ich Dominik während der langen Busfahrten vom Antholzer Tal bis in den Vinschgau Süßigkeiten und Essen abluchste, weil ich nie Lust hatte, selbst etwas mitzunehmen …

Wenn ich an diese Zeit zurückdenke, erinnere ich mich wieder daran, wie Dominik als Jugendlicher bei unendlich vielen Wettkämpfen Letzter und Vorletzter wurde. Viele waren damals der Meinung, dass aus ihm nie ein richtiger Weltcup-Athlet werden könnte – falsch gedacht!

Ich bin überzeugt, dass Dominik ein großes Vorbild für viele junge Sportler sein kann, denn er ist der Beweis dafür, dass viel Training und eine enorme Willenskraft oft mehr ausrichten können als Talent allein.

Gemeinsam wurden wir für das Antholzer Tal und Südtirol zu einer Art Lokalmatadoren und damit auch Botschafter für unsere Region – mit entsprechenden Auftritten und Teilnahmen an lokalen Veranstaltungen und Feierlichkeiten. Bei einer dieser Feierlichkeiten, die unser Tal damals für mich organisierte, hat Dominik dann auch seine Julia kennengelernt. So spielte ich indirekt Glücksfee für meinen lieben Kollegen, der mit mir bei Olympischen Winterspielen und vielen Weltcups unvergessliche Momente teilte. Zwei Mal gewannen wir am selben Tag den Massenstart. An einem dieser Tage wurden wir beide sogar Weltmeister!

Dominik und Dorothea gewannen am selben Tag den Massenstart in Canmore (2016).

An Tagen wie diesen haben wir beide gemeinsam Biathlongeschichte geschrieben. Aus den Kindern, die sich im winterlichen Antholzer Tal – nicht ahnend, was die Zukunft bringen würde – die vielen Anstiege im Biathlonstadion hinaufkämpften und mit fast erfrorenen Händen die Munition nachluden, sind erfolgreiche Biathleten des italienischen Teams geworden. All die gemeinsamen Erinnerungen an die Freuden und Entbehrungen während des Wettstreits mit den besten Biathleten der Welt werden Dominik und mich für immer begleiten!

Dorothea Wierer

Warum dieses Buch?

Bis vor wenigen Jahren wusste ich über Biathlon kaum etwas, um ehrlich zu sein, fast gar nichts. Außer dass einmal im Jahr im Biathlonstadion in Antholz so richtig die Hölle los war. Eines Tages kam dann dieser liebenswürdige Kerl namens Dominik Windisch zu mir, im Gepäck eine Sponsoringanfrage an meinen damaligen Arbeitgeber. Ich war von seinen Ausführungen überzeugt, doch schaffte ich es nicht, die Sache bei meinen Vorgesetzten durchzusetzen. Ich war genauso enttäuscht wie er. Seine Augen hatten bei der Beschreibung seines Sports förmlich geglüht. Ein paar Jahre später wurden Dominiks Prophezeiungen wahr, denn triumphierend kehrte er mit zwei olympischen Bronzemedaillen aus Pyeongchang zurück. Ich gratulierte ihm per WhatsApp … danach nahmen die Dinge ihren Lauf und ich wurde sein „Sekretär“ – einige Jahre lang.

Dazu gehörte beispielsweise, dass ich Dominik im Mannschaftshotel in Hochfilzen besuchte, sein Rennen auf der slowenischen Pokljuka-Hochebene live mitverfolgte und ihm etwas von seiner kostbaren Zeit beim Auslaufen auf der legendären Huber Alm in Antholz stahl. Den Großteil meines Informationsbedarfes für diesen Job deckte Dominik per Voicemail. So war ich plötzlich mittendrin im Biathlon, doch lernte ich Dominik in dieser Zeit nur sehr oberflächlich und rein beruflich kennen. Ich sah ihn nur mit den Augen des Fans, der will, ja quasi fordert, dass er bei jedem Rennen aufs Podium laufen soll. Enttäuscht, ja fast verärgert war ich dann, wenn das nicht der Fall war. Ich verfolgte Dominiks Einsatz nur an den Rennwochenenden, wenn er im Fernsehen zu sehen war. Die Tage zuvor, an denen er in der Vorbereitung mit Opferbereitschaft an der Optimierung seines Profisportler-Daseins arbeitete, erlebte ich nicht mit und sie interessierten mich wohl auch nicht sonderlich.

Nach den Olympischen Spielen in Peking 2022 und seinem Karriereende stimmte die Chemie zwischen uns nach wie vor. Doch was nun? Gab es noch einen Grund, weiterhin zusammenzuarbeiten? Bei einem gemeinsamen Pizzaessen begann ich endlich, auch den Menschen hinter dem Sportler kennenzulernen. Daraus wurde schon bald die Idee zu diesem Buch geboren. Endlich erfuhr ich dabei die spannenden Geschichten, die ihn zu seinen märchenhaften Erfolgen geführt hatten.

Dominik hatte mich nebenberuflich zu seinem „Sportmanager“ bestimmt. Nun machte er mich sogar zum Buchautor. So ist Dominik – er spornt sich selbst und auch andere zu immer Neuem und zu Bestleistungen an. Wir tauchten tief in seine Erinnerungen ein und tobten uns darin aus. So kam viel Stoff für dieses lesenswerte Buch zusammen. Die Inhalte verdeutlichen Dominiks großartige Fähigkeit, sich konstant weiterzuentwickeln. Seine Ziele waren immer klar definiert und detailliert geplant. Wie kaum ein anderer hat er stets unermüdlich daran getüftelt und dafür gekämpft, seine Träume zu verwirklichen.

Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen beim Lesen und hoffe, dass Sie interessante Einblicke in die Welt des Profisportlers und des Menschen Dominik Windisch nehmen können. Im besten Fall inspiriert Dominiks experimentierfreudiges und beständiges Streben nach Perfektion auch Sie, so wie es mich inspiriert hat. Und noch etwas könnte passieren … dass er auch Sie zu Bestleistungen animiert!

Mit sportlichen GrüßenSascha Russotti

1989–2003

Meine Kindheit im Biathlon-Mekka Antholzer Tal

Schuss. Schuss. Schuss. Schuss. Schuss. Ich lag auf dem Boden, als mein Großvater mich fand. Sein Gewehr in meiner Hand, den Finger noch am Abzug. Es war mitten in der Nacht, mein Großvater hatte Geräusche gehört, ein regelmäßiges „Tsch – Tsch – Tsch“, und die Laute, die jemand macht, wenn er Schüsse nachahmt.

Mit meinen rutschigen Hausschuhen war ich im Skating-Schritt vom Keller meines Elternhauses zwei Stockwerke hochgelaufen, dann wieder eines hinunter ins Wohnzimmer meiner Großeltern. Dort hatte ich mich auf den Bauch gelegt, das hölzerne Gewehr, das mein Opa für mich gebastelt hatte, von meiner Schulter gezogen und durch eine Kabelklammer, welche als Visier diente, mein Ziel angepeilt: den Wandschrank meiner Oma, der ein gepunktetes Muster hatte (beim Stehendschießen zielte ich auf fünf Blumenvasen). Dann hatte ich meinen Finger auf eine Schraube gedrückt – das war mein Abzug – und den Ton imitiert, den ein Projektil verursacht, wenn es auf die Scheibe trifft. Da ich sogar in meiner Fantasie nicht immer ins Schwarze traf, musste ich so manches Mal in eine Strafrunde, die mich um den Wohnzimmertisch führte. Zumindest machte ich das normalerweise so. Ich erinnere mich nicht, wie gut ich bei jener Gelegenheit geschossen habe, da ich schlafwandelte. Und dabei wohl von Tausenden applaudierenden Zuschauern träumte, von Konkurrenten, die mir dicht auf den Fersen waren, von einem fehlerfreien Schießen und einem schnellen Lauf. Von einem echten Biathlonrennen. Bis mein Großvater mich wieder ins Bett brachte.

Auch tagsüber war das Wohnzimmer meiner Großeltern meine Biathlonarena, die einen Schießstand einschloss. Das Treppenhaus war meine Loipe, auf der ich unzählige Runden auf- und abwärts lief. Die Eckbank um den Wohnzimmertisch war meine Strafrunde, egal ob mein Opa dort gerade beim Zeitunglesen saß oder nicht. Wenn mich etwas interessierte, kannte meine Fantasie generell beim Spielen keine Grenzen. Beispielsweise befassten wir uns zur Vorbereitung auf die Erstkommunion im Religionsunterricht mit dem Leidensweg Christi, und wieder einmal war das Basteltalent meines Opas gefragt, der diesmal ein großes Holzkreuz für mich anfertigen musste. Dann wurde meine Loipe im Treppenhaus zum Ölberg, und ich schleppte das Kreuz bis in den obersten Stock. Dabei ließ ich mich getreu der biblischen Geschichte drei Mal zu Boden fallen, meine Schwester Sylvia hatte die weinenden Frauen zu mimen und mein Bruder Markus musste mich ans Kreuz fesseln.

Ich im Alter von sechs Jahren

Ich war schon immer ein Träumer. Als Kind liebte ich Fußball, Nintendo-Spiele, Basketball, mein Skateboard, und ich liebte es, mich zu verkleiden. So schlüpfte ich in die Kostüme meiner Vorbilder und spielte mit viel Fantasie ihre Heldentaten nach: Ich war Batman und Spiderman, ich ging Langlaufen im Power Ranger-Kostüm, das mir meine Eltern zu Weihnachten geschenkt hatten. In meiner Fantasie gewann ich imaginäre Rennen und prägte mir das Gefühl des Siegens ein. Ich war immer der Kleinste und wollte doch immer schon zu den ganz Großen gehören.

Meine Großeltern väterlicherseits hatten großen Spaß mit uns drei Kindern. Mein Bruder Markus ist fünf Jahre älter als ich, meine Schwester Sylvia drei Jahre. Alle drei verbrachten wir viel Zeit bei unseren Großeltern, während unser Vater in der Arbeit war und unsere Mutter in der Residence Alpenrose ihrer Eltern aushelfen musste. Im daran anschließenden Wald schnitzte mein Opa aus Ästen Flöten, und meine Oma half uns, am Bach kleine Dämme zu bauen. Dort setzten wir selbstgebastelte Schiffchen aus Baumrinden und Tannenzapfen ein. Wir Kinder vertrugen uns gut. Wenn es doch einmal Reibereien gab, war Sylvia meistens die Leidtragende, da sich Markus als mein Beschützer fühlte und mich verteidigte. An den Wochenenden unternahmen meine Eltern viele Ausflüge mit uns. Wir besuchten Burgen und Schlösser in Südtirol, Freizeitparks und unternahmen Ausflüge in die nahen Berge.

Ich bin in Rasen aufgewachsen, von wo aus sich das Antholzer Tal bis zum Staller Sattel hinaufschlängelt. Fast am Ende des Tales liegt das Biathlonstadion, wo der Weltcup jedes Jahr Station macht. Hier haben auch einige großartige Antholzer Biathleten mit dem Sport angefangen: Johann Passler, Wilfried Pallhuber und Andreas Zingerle hatten hier das Langlaufen und Schießen trainiert und gewannen nun WM-Gold und olympische Medaillen. Ihre Siege beflügelten mich, ich wollte so stark sein wie sie. Doch auch Biathleten aus anderen Ländern eiferte ich nach: Seit seinem Durchbruch bei den Olympischen Spielen in Nagano 1998 war ich ein Fan des Norwegers Ole Einar Bjørndalen; ein Poster von ihm hing an meiner Zimmertür.

Einmal, als meine Eltern mich und meinen älteren Bruder Markus zum Langlaufen mit zum Antholzer Stadion nahmen, sah ich Willi Pallhuber beim Training und gab mein Bestes, ihn nachzuahmen. Vor dem Schießstand ließ ich mich in den Schnee fallen, imitierte seine Bewegungen und auch eventuelle Schießfehler. Bei diesen ersten Langlaufversuchen stand ich noch auf meinen roten Alpinskiern, erst später würde ich die alten Langlaufskier von Markus bekommen – eigene besaß ich nicht. Also lief ich eben auf diesen Alpinskiern Ellipsen in der Strafrunde, die mir ewig lang zu sein schien, dabei waren es bloß 150 Meter. Hier unten zu stehen, wo sonst meine Vorbilder liefen, fühlte sich großartig an – selbst wenn die Tribüne leer war. Ich stellte mir vor, wie es wohl wäre, wenn Zuschauer schrien und applaudierten, während ich hier lief.

Als ich acht Jahre alt war, lief ich mit meinem Vater einen Hang unweit meines Elternhauses hoch. Ich hatte die viel zu langen Langlaufskier meines Bruders an den Füßen, seine Metallstöcke in den Händen und schuftete mich aufwärts. Oben angekommen lobte mein Vater: „Das hast du prima gemacht! Aber wenn du zu den Guten gehören willst, dann machst du das noch mal.“ Also fuhr ich den Hang hinunter und lief noch mal hoch. Und wieder lobte mein Vater: „Das hast du prima gemacht! Aber wenn du zu den Besten gehören willst, machst du das noch mal.“ Erneut fuhr ich langsam hinunter und kämpfte mich wieder nach oben. Dieses Mal wartete ich nicht mehr auf das Lob meines Vaters. Bevor er irgendetwas sagen konnte, drehte ich mich um, fuhr bergab und keuchte zum vierten Mal den Hang hinauf. Meine Brille war angelaufen, darum erkannte ich nur die Umrisse meines Vaters. Doch ich spürte seine Umarmung.

Manchmal forderten Markus und ich meinen Vater zu kleinen Rennen auf. Er gab vor, dabei unsere Zeiten zu messen. Damals wusste ich nicht, dass er einfach Zeiten erfand, sodass er die ersten Rennen immer gewann, und bei den folgenden so tat, als würden wir uns seiner eigenen Zeit immer weiter annähern. Bei den letzten Rennen ließ er uns schließlich gewinnen. Wir kamen nicht auf die Idee, die Echtheit seiner Messungen anzuzweifeln und freuten uns, dass wir immer besser wurden. So motivierten meine Eltern mich und meine beiden Geschwister Markus und Sylvia. Sie drängten uns nie, es gab nie ein „Muss“, sondern immer nur ein „du kannst“. Meine Schwester Sylvia hatte nie viel für Sport übrig, während Markus schon sehr früh das Talent zum Profisportler erkennen ließ. Mit zehn Jahren bestritt er sein erstes Langlaufrennen, den Gsieser-Tal-Lauf. Er siegte. Bei seinen späteren Rennen bezwang er sogar ältere Läufer. Nur selten stand er nicht ganz oben auf dem Podium.

Seit meinen frühesten Kindheitserinnerungen war Markus immer Mitglied im Antholzer Amateursportverein. Was er dort lernte, gab er an mich weiter; er half mir, meine noch unkoordinierten Bewegungen auf Langlaufskiern zu verbessern, und ich saugte alles auf, was mir der ältere Bruder beibrachte. Damals gab es im Biathlon noch nicht so viele Disziplinen wie heute. Es gab das Einzelrennen, den Sprint und den Staffelwettbewerb. Die vielen Regeln kannte ich noch nicht, doch um meine großen Helden nachzuahmen, genügte ohnehin das Wissen, dass ich schnell beim Skaten und möglichst fehlerfrei beim Schießen sein musste. Wer falsch schoss, ging in die Strafrunde, und manchmal war Nachladen erlaubt.

Biathlon war für mich ein Spiel. Mit meinem Freund Michael ahmte ich Biathlonrennen im Garten meiner Eltern nach. Mit unseren Skiern liefen wir so lange durch den Schnee rund ums Haus, bis wir eine gut befahrbare Loipe plattgetreten hatten. Diese Loipe war unser ganz privates Biathlonstadion – hier traten wir gegen imaginäre Gegner zum Rennen an. Am Ende siegten wir immer und überreichten uns gegenseitig die alten Rodelpokale meiner Tante Albina, die früher Profi-Naturbahnrodlerin war. Michael war mindestens um einen Kopf größer und wesentlich kräftiger als ich, dazu sehr selbstbewusst und aufgeweckt, ich hingegen eher schüchtern – und zu ängstlich, um mich mit ihm im Wettkampf zu messen. Das traute ich mich höchstens in meiner Fantasie. Bei unseren Spielen traten wir zum Glück immer gemeinsam in „Staffelwettkämpfen“ an und gewannen imaginäre Weltcups. Es entsprach einfach nicht meinem zurückhaltenden Charakter, mich mit anderen zu messen.

Das Holzgewehr, das mir Opa Florian gebastelt hatte und mit dem ich sogar noch im Schlafwandeln spielte …

Als mich meine Eltern eines Tages zum ersten Mal für ein Vereinsrennen einschrieben, hatte ich gemischte Gefühle. Einerseits freute ich mich, andererseits war mir am Vortag mulmig zumute und ich konnte kaum schlafen. Aufgeregt ging ich mit einer Handvoll Kindern an den Start. Nachdem wir über die Hälfte der Rennstrecke gelaufen waren, kämpften wir uns einen Hügel hinauf. Plötzlich stürzte vor mir ein Junge. Während er noch im Schnee lag, überholte ich ihn – nun ja, fast. Denn als er mich vorbeiziehen sah, packte er mich am Fuß, riss mich zu Boden und nahm mir meinen ersten Erfolg: Zum ersten Mal in meinem Leben hätte ich damals auf dem Podium gestanden. So reichte es nur für den vierten Platz. Noch nie zuvor war ich so enttäuscht gewesen. Die unfaire Geste provozierte in mir noch größere Abneigung gegenüber Wettkämpfen.

Mit Schlafanzug, Bademantel und Skibrille als Superheld

Um mich zu trösten, kauften mir meine Eltern einen Pokal – ich hatte ihn mir auch wirklich verdient. Es würde noch Jahre dauern, bis ich einen echten Pokal gewinnen würde.

Jahre später – da konnte ich schon recht gut Langlaufen – erblickte ich einmal Ole Einar Bjørndalen im Antholzer Stadion: Er hatte gerade ein Training hinter sich und lief noch langsam ein paar Runden; da verfolgte ich ihn etwa 2,5 Kilometer weit auf den alten Langlaufskiern meines Bruders. Voller Stolz erzählte ich danach meiner Mutter, wie ich im Windschatten eines Olympiasiegers gelaufen war. Damals hätte ich nicht gedacht, dass ich in der Zukunft einmal gegen ihn antreten würde. Doch schon als Kind motivierte mich der Gedanke, immer besser zu werden.

Erstes Langlauf-Vereinsrennen in Antholz, bei dem ich auf unfaire Weise zu Sturz gebracht wurde

Mit zehn Jahren war ich endlich alt genug, in die Fußstapfen meines Bruders zu treten und Mitglied im Biathlonverein zu werden. Mein erster Trainer, Willi Messner, übte mit mir die ersten Schüsse im Antholzer Stadion. Mit einem Luftdruckgewehr zielte ich auf die zehn Meter entfernten Zielscheiben des Schießstandes. Jeden Schuss musste ich einzeln von Hand laden: Verschluss öffnen, Patrone einlegen, Verschluss zuklappen, anlegen, zielen und Schuss! Das Luftdruckgewehr fühlte sich völlig anders an als das Holzgewehr meines Opas. Ich erinnere mich nicht, wie viele Scheiben ich traf, doch ich bin sicher, es waren nicht viele. Aber ich weiß noch, dass ich nach meinem ersten Versuch am Schießstand meinen Trainer fragte, ob ich nicht endlich loslaufen dürfe. Ich wollte sofort Schießen und Langlaufen gleichzeitig trainieren. Die Kombination gefiel mir.

Monate später stand ich am Start meines ersten Biathlonrennens in Antholz. In meiner Kategorie traten fünf Kinder an. Ich weiß noch genau, dass ich in der Nacht zuvor kaum geschlafen und am Morgen kein Frühstück hinunterbekommen hatte. Am Start erfroren mir fast die Finger, obwohl die Sonne schien. Beim ersten Schießen musste ich den rechten Handschuh ausziehen, weil ich nur so genug Feingefühl hatte, um die erste Patrone zu laden. Leider wurde so der Finger vom Frost nur noch steifer, und als ich ihn gerade an den Abzug legen wollte, löste sich sofort der erste Schuss. Ich rief den Trainer zu Hilfe. Er setzte sich neben mich und lud für mich jede weitere der neun noch einzulegenden Patronen.

Leider lief meine Brille beim Ausatmen an, nahm mir jegliche Sicht, und deshalb warf ich sie weg … Bis auf eine Scheibe verfehlte ich alle. Ich musste in neun Strafrunden, die sich nicht nur ewig lang anfühlten, sie waren es auch. Wenn man bedenkt, dass eine Runde 400 Meter lang war und die Strafrunde etwa 100 Meter, hatte ich am Ende mehr als zwei Runden mehr zurückgelegt als die Gesamtlänge der eigentlichen Strecke.

Eiskalte Finger, eine angelaufene Brille und kein Gespür für den Abzug – auch in den nächsten Rennen hatte ich mit diesen Schwierigkeiten zu kämpfen. Ich war kleiner und schwächer als die anderen, ich schoss schlampig, aber auf der Loipe war ich dank der Technik, die Markus mir beigebracht hatte, gar nicht so schlecht. Bei Wettkämpfen erreichte ich höchstens einmal den dritten Platz. Und obwohl ich nie gewann, liebte ich den Sport: Ich freute mich, wann immer ich in meine Langlaufschuhe schlüpfte und über die Loipe skatete.

Mein erstes Biathlonrennen. An der rechten Hand fehlt der Handschuh, um mehr Gefühl beim Schießen und Nachladen zu haben. Die angelaufene Brille hatte ich weggeworfen.

2003–2005

Letzter – Vorletzter – Drittletzter

Mit 13 Jahren war ich alt genug, um das Gewehr von Luftdruck zu Kleinkaliber zu wechseln. Mit dem Gewehr änderte sich auch die Entfernung, aus der es nun die Zielscheibe zu treffen galt: von zehn Metern auf 50 Meter. Bei dieser Distanz wogen Ungenauigkeiten beim Zielen noch schwerer – selbst millimeterkleine Bewegungen beeinflussten die Flugbahn des Projektils. Außerdem hat das Kleinkaliber – verglichen mit dem Luftdruckgewehr – einen relativ starken Rückstoß. Darunter litten meine Schießergebnisse. Die Umstellung auf das Kleinkaliber bedeutete aber auch zusätzliches Gewicht auf meinem Rücken: Bisher hatten wir Kinder das Luftdruckgewehr immer direkt am Schießstand vorgefunden, nun musste ich das schwere Kleinkalibergewehr auf der Loipe mitschleppen; mit seiner Länge machte es bei meiner schmächtigen Statur zwei Drittel meiner Körpergröße aus. In jener Zeit waren Gleichaltrige in der Regel immer viel größer als ich.

Nach Abschluss der Mittelschule in Olang musste die Entscheidung getroffen werden, ob ich meinem Bruder Markus nach Mals im Vinschgau folgen sollte oder nicht. Markus besuchte dort das Sportgymnasium – eine renommierte Schule für talentierte Nachwuchsathleten. Wer sonst hätte dort hingehört, wenn nicht er? Wäre diese Schule auch für mich passend? Ich hatte bisher kaum einen Gedanken daran verschwendet, Profisportler zu werden. Ich wusste nur, dass mich Biathlon absolut faszinierte. Ich liebte den Sport mit seiner aufregenden Abwechslung zwischen Laufeinheiten und Schießen. Aufregend daran war vor allem das Streben nach Perfektion im gleichzeitigen Wissen, dass man diese nie zur Gänze erreichen würde. Fehler machen gehört zum Sport dazu, und Perfektion ist nur ein momentanes Glückserlebnis nach einer erfolgreichen Schießeinlage.

Ich mochte nie den Wettstreit mit anderen und den direkten Vergleich mit Kameraden. Ich musste nicht zwingend besser sein als der andere, sondern nur heute besser sein, als ich es gestern gewesen war, und morgen besser als heute.

Meine Eltern waren immer sehr einfühlsam, vor allem wenn es darum ging, wichtige Entscheidungen zu treffen wie in diesem Sommer 2003, als es zu entscheiden galt, ob die Sportschule in Mals auch für mich die richtige Schule wäre. Für meine Eltern war dies ein wichtiger Moment – nicht nur, weil dann auch ihr zweiter Sohn die nächsten fünf Jahre über 150 Kilometer entfernt von ihnen verbringen und nur am Wochenende heimkommen würde, sondern auch, weil sie sich Sorgen machten. War ich schon selbstständig genug? War ich schon ambitioniert genug?

Mit meinem Teamkollegen Felix Messner (li) in Antholz. Wir waren beide gleich alt, man sieht deutlich den Größenunterschied.

Es fiel folgerichtig die Entscheidung, dass ich das normale Gymnasium – die Handelsoberschule im nahen Bruneck – besuchen sollte. Die Schule war somit knappe 15 Kilometer von zu Hause entfernt, ich konnte weiterhin bei meinen Eltern bleiben und wie gewohnt im Biathlonverein trainieren. Es schien damals der richtige Weg für mich zu sein. Das Gymnasium würde mir den weiteren Lebensweg schon aufzeigen. Für meine sportlichen Resultate sollte sich diese Entscheidung allerdings nicht als förderlich erweisen. Die tägliche Fahrt im Bus von Oberrasen nach Bruneck dauerte mit den vielen Haltestellen etwa eine Stunde. Die Rückfahrt sogar noch etwas länger. So kam ich meistens sehr müde nach Hause. Meine Müdigkeit wirkte sich auch auf mein Training im Verein aus. Mit Lorenz Leitgeb und Gabriel Steinkasserer hatte ich beim Kleinkaliber zwar gute Trainer und ein gutes Trainingsprogramm, aber mein Kopf war nicht richtig fokussiert. Es war nicht Faulheit, jedoch die falsche Einstellung, die sich zu meiner langsamen körperlichen Entwicklung hinzugesellte.

Unbewusst passte ich das Trainingsprogramm meinen Bedürfnissen an und redete mir ein, alles richtig zu machen. So bestritt ich zum Beispiel eine Trainingseinheit von einer Stunde auf Skirollern ausschließlich auf einem recht ebenen Radweg in Oberrasen, der ein Teilstück von circa 400 asphaltierten Metern hatte. Ich lief dieses kurze Stück eine Stunde lang hin und her, während meine Vereinskameraden die echten Aufstiege entlang der Hauptstraße erkämpft en. Das war kein richtiges Training, mir fehlte das Feuer. Zudem hatte ich in dieser Zeit noch viele andere Interessen und einen großen Freundeskreis außerhalb des Sports. Im Sommer hatte ich meinen ersten zweimonatigen Ferienjob als Erdbeerpfl ücker im Pragser Tal, der mich auch im folgenden Sommer beschäft igte. Zur Arbeit fuhr ich jeweils eine Stunde mit dem Fahrrad hin und wieder zurück. Dafür war ich mir nicht zu schade, doch es war nicht das ideale Training für einen Biathleten. Die negativen Auswirkungen eines solchen Trainings schlugen sich direkt auf die Resultate in den Wettkämpfen nieder.

Ergebnislisten meiner Jahre als Letzter und Vorletzter – unten links die Ergebnisliste des Rennens, bei dem ich zum ersten Mal „Drittletzter“ wurde

Bei meinem allerersten Rennen mit Kleinkaliber, bei dem ich endlose sechs Minuten hinter der ersten Platzierung lag und Letzter wurde, fragte mich mein Trainer, ob ich am Verfolgungsrennen am Tag darauf überhaupt noch an den Start gehen wolle. Es war uns beiden klar, dass ich am nächsten Tag mit dem Rückstand vom Vortag starten müsste. So würde ich, noch bevor das Rennen begann, bereits überrundet sein. Ohne zu zögern antwortete ich ihm: „Natürlich! Warum nicht?“ Willi schmunzelte anerkennend. Auch die folgenden Rennen verliefen ähnlich: Letzter, Vorletzter, Letzter, Vorletzter. Mein Bruder Markus hingegen schaffte den Durchbruch bei internationalen Wettkämpfen, gewann im Europacup und gab sogar sein Debüt im Weltcup. Bei den Wettkämpfen um den Italienpokal erhielt ich regelmäßig im Wechsel mit einem anderen Mitstreiter die Trostmedaille. Wir kannten uns mittlerweile recht gut und wussten, wir würden uns bald wieder fernab vom „Stockerl“1 wiedersehen.

In dieser Zeit lernte ich, Niederlagen wegzustecken und mir dadurch nicht die Laune verderben zu lassen. Meine Ergebnisse betrachtete ich nüchtern als das, was sie waren, verlor aber nie den Willen, mich zu verbessern. Markus wollte mir dabei helfen. Über seine Kontakte bot sich mir die Möglichkeit, einen sogenannten Laktattest zu machen. Auf einem besonderen stationären Fahrrad wurde der Schwierigkeitsgrad alle drei Minuten erhöht, bis ich an meine körperlichen Grenzen kam. Zugleich wurden Puls, Sauerstoffaufnahme und die Laktatproduktion gemessen. Laktate sind die Salze der Milchsäure, die der Körper bei Müdigkeit produziert und die man als Muskelbrennen wahrnimmt. Die Auswertung dieses Tests sollte mir helfen, einen optimalen Trainingsbereich zu definieren. So würde ich mich beim Training an Pulswerten orientieren können, die für lange Ausdauereinheiten oder aber intensive Einheiten im Rennmodus ideal wären. Diese wissenschaftliche Vorgehensweise war für mich der erste Schritt Richtung Profisport. Zum ersten Mal wurden mir Fachbegriffe wie Lento (Langsam), Medio (Mittel), Veloce (Renntempo) und Anaerob (ohne Sauerstoff) erklärt. Gleichzeitig schenkten mir meine Eltern zu Weihnachten eine Pulsuhr, die mir beim Einhalten dieser Bereiche half. Mit großer Neugier wartete ich auf die Auswertung des Tests. Eine Woche später war ich schlauer. Mein Lento-Bereich wurde mit 125 bis 135 Pulsschlägen definiert. In den folgenden Monaten vertraute ich dem Test blind und hielt mich beim Training konsequent daran. Um die Werte einzuhalten, musste ich ein sehr langsames Tempo gehen, während mir meine Kameraden davonliefen. Bewusst ließ ich beim Training jede Spritzigkeit weg. Die Pulsuhr und der Test unterstützten meine lässig-gemütliche Einstellung und lieferten mir ein Alibi für die Wahrung meiner Komfortzone. Auch bei intensiven Trainings lief ich immer mit gezogener Handbremse, weil es die Pulsuhr so verlangte. Meine Leistungen im Wettkampf verbesserten sich nicht. Ich wurde weiterhin Letzter oder Vorletzter. Erst viele Jahre später begriff ich die langfristig positive Auswirkung dieser Art des Trainings auf meine körperliche Entwicklung. Ich baute knappe zwei Jahre lang eine sehr gute Ausdauerbasis auf, die als Fundament für die weiteren Jahre diente. Auf jeden Fall machte ich nicht denselben Fehler wie viele andere Teamkameraden meines Alters, im Training viel zu schnell zu laufen, weil sie im Gruppenzwang den Stärkeren nacheiferten und ihre Müdigkeit nicht zugeben wollten. Sie bauten so keine stabile Basis auf. Ich hingegen kapselte mich ab und begann, mich nur auf mich und meinen Körper zu konzentrieren. Je länger ich so trainierte, desto sensibler wurde mein Gefühl für die einzelnen Pulsbereiche. Ohne ständig auf die Pulsuhr schauen zu müssen, spürte ich von allein, in welchem Bereich ich gerade lief.

Im Frühjahr 2005 gab es einen einschneidenden Moment in meinem jungen Sportlerleben, der für mich alles veränderte. Wir waren im Antholzer Biathlonstadion in geselliger Runde unter Vereinskollegen und unsere Trainer nicht anwesend. Einer von uns kam auf die Idee, ein Staffelrennen ohne Schießen zu veranstalten, wozu zwei Teams gebildet werden mussten. Ich kann mich noch an die wenig schmeichelhaften Worte eines Jungen erinnern, der wie viele andere damals deutlich besser war als ich. „Den Dommi könnt ihr haben, der ist eh der Schlechtere“, sagte er, als beim Zusammenstellen der Teams nur noch ich und ein anderer übriggeblieben waren. Er hatte recht, aber trotzdem tat es weh. Der Zufall wollte es, dass wir beide jeweils als Startläufer der konkurrierenden Teams antreten mussten. Wir beide liefen los, ich fiel sofort zurück, konnte ihm allerdings bis außerhalb des Stadions und bis tief in den Wald hinein auf den Fersen bleiben. Damals überquerte die Loipe ein kurzes Straßenstück, das man mit etwas Schnee bedeckte, um die Loipe nicht zu unterbrechen. Heute existiert dieser Teil nicht mehr, weil man ihn aus Sicherheitsgründen verlegt hat. Mein Gegner scheute sich davor, das kurze steinige Straßenstück mit seinen neuen Skiern mit vollem Schwung zu nehmen. Er bremste ab. Ich hingegen traf mit voller Wucht auf besagte Stelle, meine alten Skibretter waren mir für nichts zu schade! Zum ersten Mal spürte ich richtigen Biss und Wetteifer in mir, so als ob eine brennende Zündschnur endlich die Ladung Dynamit erreicht hätte und zur Explosion brächte. Ich überholte meinen Gegner, und ein Kampfgeist war in mir erwacht, den ich bisher nie gespürt hatte. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich dieses Gefühl hatte, und es fühlte sich phantastisch an. Das gebe ich nicht mehr her, ich werde das jetzt durchziehen!, wiederholte ich mehrmals. Gleichzeitig verwandelte sich mein Gesichtsausdruck in den eines gefährlich wirkenden „Beißers“ – durch den nach vorn geschobenen Unterkiefer. Das gab mir einen ungewohnten Motivationsschub, den ich mit auf die Piste nahm und der mich bis zurück ins Stadion begleitete. Alle waren verblüfft und sprachlos. Niemand hatte erwartet, dass ich vor meinem Mitstreiter im Stadion ankommen und den Staffelstab vor ihm übergeben würde. Dieser Moment fühlte sich wie in Zeitlupe an. Ich hatte es geschafft!

Mein Bruder Markus und ich sind startklar für einen Italienpokal-Wettkampf.

Dieser Tag war prägend, veränderte mein komplettes Auftreten und verlieh mir ein völlig neues Selbstwertgefühl. Das neue Selbstbewusstsein war da, um zu bleiben. Mit diesem Lauf hatte ich einen großen Teil meiner Schüchternheit im Wald zurückgelassen. Die Verschlossenheit, die bis dahin für mich charakteristisch war, war plötzlich weg. Eine Woche später traute ich mich auf der Fahrt zum Italienpokal ins Aostatal sogar, zum ersten Mal mit einem Mädchen zu flirten. Dieses saß wie immer hinter mir und war überrascht, als ich sie direkt ansprach. Noch nie hatte ich bewusst das charmante Gespräch mit ihr gesucht. Auch mit meinem Trainer Gabriel ließ ich mich plötzlich auf spaßige Bemerkungen ein, die er nicht von mir kannte. Es war wie ein abruptes Erwachen nach einer langen Schlummerzeit. Vom stillen „Bui“ zum lustigen, aufgeweckten Jungen. Im Bus erlaubte mir Gabriel, die Musik zu bestimmen, und förderte so mein neues Ich. Das war ein pädagogisch richtiger Schachzug.

Am selben Wochenende gab es einen weiteren Grund zur Freude. Ich wurde zum ersten Mal Drittletzter und verabschiedete mich endgültig vom festen Platz der letzten oder vorletzten Position. Nach dem Rennen lief ich voller Freude zu Armin Auchentaller, der als Trainer des Südtiroler Landeskaders auch anwesend war: „Hast du gesehen? Heute war ich besser als sonst! Ich bin Drittletzter geworden! Genial!“ Armin war zu jener Zeit auch Trainer am Sportgymnasium in Mals, wo mein Bruder erfolgreich sein Abitur absolviert hatte. Armin erkannte etwas in mir, was ich selbst noch gar nicht sah. „Willst du nicht zu uns in die Sportschule kommen und dort unter ständiger Aufsicht trainieren?“, fragte er mich. So nahmen die Dinge ihren Lauf.

1 Umgangssprachlich für Podium

2005–2008

Aufgeber gewinnen nie, Gewinner geben nie auf!

„Armin, ich weiß nicht, ob ich gut genug für die Sportschule bin. Auch meine Eltern sind sich nicht sicher“, sagte ich zu ihm. Armin aber war sich sicher. Ohne mich und meine Eltern einzuweihen, besorgte er beim Sportgymnasium in Mals alle notwendigen Formulare für meine Einschreibung und füllte sie aus. Eines Abends erschien er unangemeldet bei uns zu Hause und brachte die Formulare mit. „Martin, Marlene, ihr braucht nur noch zu unterschreiben, der Rest ist schon erledigt. Der Junge möchte in die Sportschule und ich sehe Potenzial in ihm. Wenn ihr ihn zu mir schickt, kann er in Mals gut trainieren“, versicherte er meinen Eltern. Meine Eltern hörten aufmerksam zu. Sie wollten realistisch bleiben, aber mir die Sache auch nicht ausreden. Sie wollten sicher sein, dass mir bewusst war, was das alles für mich bedeutete. Sport würde nun nicht mehr ein Spiel für mich sein, sondern an erster Stelle stehen. Nur nebenbei Sportler zu sein, würde auf keinen Fall funktionieren. So ein Entschluss musste ernst genommen werden, und meine Eltern wollten sichergehen, dass ich die Tragweite der Entscheidung begriff. Ich nahm die Sache sehr ernst und war meinen Eltern sehr dankbar, dass sie mir diese Möglichkeit bieten wollten. Um mich nicht unnötigem Druck auszusetzen, meinte meine Mutter: „Wenn du zur Sportschule gehst, dann verlangt niemand von dir, dass du gewinnst. Versprich uns aber, dass du dein Bestes gibst, das ist alles.“ Sie wünschten sich keine Goldmedaille, aber vollen Einsatz. So waren meine Eltern. Sie wollten keine Träume zerstören, aber ihr Kind auch nicht einer Illusion ausliefern. Sie wollten auch einen Plan B für mich. Die Sportschule in Mals hatte landesweit einen sehr guten Ruf. Wenn es mit dem Profisport nichts würde, wäre immerhin das Abitur geschafft und das wäre dann schon einmal ein guter Start ins Berufsleben. „Sei ein Realist, der träumen kann!“, gab mir meine Mutter Marlene mit auf den Weg. Armins Worte hatten meine Eltern in ihrer Entscheidung bestärkt. Auch für sie war Sport die beste Schule des Lebens. Außerdem würde mich der Auszug von zu Hause selbstständiger machen. Ich war noch immer recht schüchtern, aber nicht mehr so verschlossen wie noch wenige Jahre zuvor.

Ich war dabei – auf nach Mals! Armin Auchentaller und Andreas Kuppelwieser hatten sich an allen Fronten für mich stark gemacht. Nicht nur