Doppelporträt - Agneta Pleijel - E-Book + Hörbuch

Doppelporträt E-Book

Agneta Pleijel

0,0

Beschreibung

London, April 1969. Die Krimikönigin Agatha Christie - wiederverheiratete Mrs Mallowan - hat widerwillig zugestimmt, dass zu ihrem 80. Geburtstag ein Porträt von ihr gemalt wird. Der Künstler ist der berühmte 83-jährige Oskar Kokoschka, dessen Kunst sie nicht kennt und dessen Selbstsicherheit sie persönlich abstoßend findet. In den sechs vereinbarten Sitzungen prallen zwei unterschiedliche Kunstauffassungen und Persönlichkeiten aufeinander. Kunst, Liebe, Ängste, Leidenschaften - und die dunkelsten Winkel ihrer Biografien werden thematisiert. Was entsteht, ist ein faszinierendes Doppelporträt. Agneta Pleijel skizziert die beiden Künstler in fiktiven Dialogen, knapp, pointiert, absolut glaubwürdig und spannungsgeladen. Darüber hinaus lädt die Geschichte dieser Begegnung zu einem unterhaltsamen Nachdenken über das Wesen der Kunst ein.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Agneta Pleijel

Doppelporträt

Ein Roman über Agatha Christieund Oskar Kokoschka

Aus dem Schwedischenvon Gisela Kosubek

Inhalt

AUFWÄRMEN

ERSTE SITZUNG

ZWEITE SITZUNG

DRITTE SITZUNG

VIERTE SITZUNG

FÜNFTE SITZUNG

SECHSTE SITZUNG

VERNISSAGE UND KURZER EPILOG

ÜBER DAS BUCH

London, April 1969. Die Krimikönigin Agatha Christie hat widerwillig zugestimmt, sich anlässlich ihres 80. Geburtstags porträtieren zu lassen. Der Künstler ist der berühmte 85-jährige Oskar Kokoschka, dessen Kunst sie nicht kennt und dessen Selbstsicherheit sie persönlich abstoßend findet. In sechs vereinbarten Sitzungen prallen zwei unterschiedliche Kunstauffassungen und Persönlichkeiten aufeinander. Kunst, Liebe, Ängste, Leidenschaften und die dunkelsten Winkel ihrer Biografien werden thematisiert. Was entsteht, ist ein faszinierendes Doppelporträt.

Agneta Pleijel skizziert die beiden Künstlerpersönlichkeiten in fiktiven Dialogen, knapp, pointiert, absolut glaubwürdig und spannungsgeladen. Darüber hinaus lädt die Geschichte dieser Begegnung zu einem unterhaltsamen Nachdenken über das Wesen der Kunst ein.

AUFWÄRMEN

London 1969, im Monat April. Dauerregen. Wolfgang Fischer lauscht dem Gemurmel seiner letzten Besucher in der Galerie Marlborough Fine Art. Dort zeigt man eine Retrospektive des betagten österreichischen Malers Oskar Kokoschka.

Der Arbeitstag nähert sich dem Ende.

Fischer raucht und sucht die Rechnungen und Korrespondenzen der Woche zusammen, als es an der Tür klopft. Ein jüngerer Mann tritt herein. Er zieht seinen Mantel aus und schüttelt ihn, ein Tropfenschauer fällt zu Boden. Er stellt sich als Mathew Prichard vor.

Er möchte den ungefähren Preis für ein Porträt seiner Großmutter erfahren, gemalt von Kokoschka. Ja, Pi mal Daumen.

Fischer hebt den Kopf angesichts der überraschenden Frage. Er antwortet, der Maler sei alt, schon 85, und nähme wohl kaum noch Bestellungen an. Nach einem langen Leben im Exil wohne er jetzt in der Schweiz. Er reise schon bald dorthin zurück. Im Übrigen male er nicht jeden x-Beliebigen. Er habe Künstler, berühmte Ärzte, Präsidenten und Staatsoberhäupter porträtiert.

Der Besucher lässt sich im Gästestuhl nieder, schlägt in seiner durchnässten Jeans ein Bein über das andere und klingt ein wenig hochnäsig, als er entgegnet, Mrs Mallowan sei nicht irgendwer. Fischer sieht das ein. Sie ist nicht irgendwer.

Sie ist oft in den Klatschspalten der Zeitungen zu sehen, gern die Tortenschaufel schwingend oder mit einem Glas in der Hand, nachdem sie die eine oder andere Benefizveranstaltung eröffnet hat. Warum sich diese alte Unterhaltungsschriftstellerin aber von einem der gefeiertsten expressionistischen Maler der Gegenwart porträtieren lassen sollte, ist nicht ebenso selbstverständlich.

Entschuldigung, aber versteht Ihre Großmutter etwas von Malerei?

Was spielt das für eine Rolle?, erwidert Prichard. Auch ihr Gatte, Sir Max, wünscht, dass sie angesichts ihres bevorstehenden achtzigsten Geburtstages gemalt werden soll, am liebsten von Kokoschka. Sie haben beide die Ausstellung gesehen. Ziemlich crazy, sagt Prichard, aber wundervoll. Kann ich mir eine Zigarette nehmen? Sie müssen wissen, meine Großmutter ist der unkonventionellste Mensch, den man sich nur vorstellen kann.

Er lächelt und greift nach einer Zigarette aus dem Kästchen auf Fischers Schreibtisch. Fischer steht auf, gibt ihm Feuer und ist im Nachhinein etwas irritiert über sich selbst.

Warum aber gerade Kokoschka, will er wissen?

Kunst ist doch wohl eine gute Investition?

Ich verstehe, Sie sehen darin also hauptsächlich eine ökonomische Investition.

Prichard kommt auf die Füße und stellt sich an das vom Regen streifige Fenster. Geld ist nicht das Wichtige daran. Geld ist vorhanden, wenn Herr Fischer es wissen will. Im Ausstellungskatalog habe er gelesen, dass der Maler mit Gottes Auge blickt. Und dass es ihm weniger um äußere Ähnlichkeit als um geistige Übereinstimmung geht.

Sie wollen Kokoschka, weil sie Agatha unbeschreiblich gernhaben. Sie ist scheu und schweigsam. Doch ist sie ein Mensch, den man nur lieben und achten kann, und ein Dutzendporträt darf es nicht werden.

Fischer wird ein wenig ungeduldig, und es fällt ihm schwer, es zu verbergen. Ihre Großmutter, scheu und schweigsam? Ist sie nicht ständig in den Klatschspalten unterwegs? Und hat diese flinke Großmutter seit Anfang der 1920er-Jahre nicht jährlich ein Buch, manchmal sogar zwei, produziert? Inzwischen mussten es mindestens sechzig, vermutlich sogar noch mehr Kriminalromane sein. An den Mittagstischen ist ihr jüngster Mord stets unumgängliches Gesprächsthema.

Deutet das nicht auf eine unglaubliche Redseligkeit hin?

Prichard schüttelt den Kopf.

Man kann schreiben, um nicht reden zu müssen, bemerkt er. Soweit er verstanden habe, arbeite der Maler ungewöhnlich schnell. Wenn er kurz davor stand, London zu verlassen, würden drei Sitzungen vermutlich ausreichen, es wäre also kein großer Zeitverlust für ihn.

Vergessen Sie diese Idee, antwortet Fischer.

Er nimmt seinen Mantel vom Haken und hält die Tür zum Treppenhaus auf. Hinter Prichard schließt er ab und eilt dann zwischen den Fußgängern davon, wobei er sich bemüht, von Bussen und Autos nicht gänzlich vollgespritzt zu werden. An der U-Bahn spürt er Prichards Hand zögernd auf seinem Arm. Sie könnten doch wohl versprechen zu fragen? Ja, ja. Ich werde fragen. Prichards Gestalt löst sich zwischen den Regentropfen auf und ist verschwunden.

Ein typischer Aprilregen in London, anhaltend, fantasielos und wenig inspirierend.

Mathew Prichard ist 26 Jahre alt und ein etwas unsteter Student. Er nimmt den Zug und anschließend den Bus nach Torquay.

In Greenway, der Sommerresidenz seiner Großmutter am River Dart, ist er oft gewesen. Dort, an dem steilen Hang mit der überwältigenden Aussicht auf den Fluss hinab, verbrachte die Familie zahllose Urlaube und Feiertage. Ebenso im Haus Winterbrook an der Themse in Oxfordshire. Seine Großmutter hat ein Faible für Häuser.

Sie kauft eins nach dem anderen. Möbliert sie und stattet sie aus.

Ersinnt neue Milieus für Morde.

Nun ist er das erste Mal in Torquay, wo Großmutter geboren wurde. An der Bushaltestelle am Hafen sieht er sich um. Als er klein war, hatte er eine Großmutter wie jede andere Großmutter, weiche Arme, eine unaufhörliche Flut von Märchen.

Als er, erwachsen geworden, entdeckte, dass er die Großmutter mit einer Welt von Lesern teilte, wollte er mehr über sie erfahren. Er weiß, dass sie ein wildes Mädchen war. Er möchte sich gern vorstellen, dass sie gleichaltrig wären und Freunde. Er will ebenso eigensinnig sein wie sie.

Als sie 1890 geboren wurde, hieß sie Agatha Miller. Von den hoch gelegenen Hängen über dem Hafen in Torquay, Englands eigener Riviera, blickte sie auf die steilen Klippen hinab und die zahllosen Segelboote im Englischen Kanal.

Ashfield heißt die Villa, in der sie mit ihrer Familie wohnt. Wohnt? Der Besitz ist seit Langem verkauft und das Haus obendrein abgerissen und dem Erdboden gleichgemacht.

Doch wenn man auf der Jagd nach Erinnerungen ist, hält man sich im Präsenz auf.

Mathew hat die Fotoalben gründlich studiert. Ashfield war einst ein imposantes mehrstöckiges Gebäude mit hohen Fenstern. Drei Gärten gehörten zu dem Besitz. Der Rosengarten, dessen stachlige Rosen böse Augen hatten. Der freundliche Gemüsegarten, aus dem man Zwiebeln, Salat und Petersilie holte und wo Himbeersträucher wuchsen. Und schließlich der geheime Außengarten.

Er fiel sanft zum Meer hin ab, und dort wuchsen Ahorn und Eschen. Sie bogen ihre Kronen eng zueinander und tauschten flüsternd Geheimnisse. Ein magischer Ort. Dorthin durfte sie nicht alleine gehen. Mathew klettert zu der Stelle hinauf, wo sich Ashfield einst befunden hatte.

Nichts mehr zu sehen, bis auf moderne, triste Reihenhäuser, seine Fantasie aber errichtet den Besitz aufs Neue, Stein um Stein. Er streift in der Umgebung umher. Als es dämmert, kehrt er über moosbewachsene Treppen zum Hafen zurück und lauscht dem Tosen des Meeres.

Es ist vielleicht nicht ganz üblich, dass sich junge Männer für ihre Großmütter interessieren. Seine aber ist entweder verrückt oder ungeheuer klug. Als Kind verbrachte er zahllose Stunden in ihrer Gesellschaft. Mit regelmäßigen Theaterbesuchen. Häufig waren sie gemeinsam im Kino, noch immer haben sie den gleichen Geschmack.

Fahrten nach Bayreuth, nur sie und er, um Musik zu hören. Ihr mächtiger Körper im Sessel neben ihm. Im Laufe der Jahre hat er viele ihrer Bücher gelesen. War verblüfft, wie viel sie von seinem und dem Leben seiner Freunde verstand; es scheint keinen Altersunterschied zu geben.

Inzwischen ist die Hauptstadt Swinging London. Seine Freundinnen beschäftigt die Women’s liberation. Er sympathisiert mit ihnen, meint jedoch mehr zu wissen als sie.

Dank Großmutter. Ohne Vater aufgewachsen zu sein, doch mit einer aufmerksamen Großmutter wie der seinen, kann von Vorteil sein. Er hat die Absicht, einen Film über sie zu drehen. Als er seine kippers in der Hafenschänke gegessen und den letzten Schluck Bier ausgetrunken hat, bleibt ihm noch Zeit für einen Spaziergang auf dem langen Pier. Hier ist sie Rollschuh gelaufen.

Hier hat ihr Freund sie geküsst.

Es weht ein scharfer Wind, und tausend Meerestropfen bedecken schon bald sein Gesicht und überzeugen ihn davon, dass die Zeit eine Chimäre ist. Seine Großmutter ist zwar in die Jahre gekommen und bewegt sich wie eine alte Bulldogge, dennoch ist sie jung. Ebenso wie Oskar Kokoschka. Er glaubt nicht, dass sich einer von ihnen älter als fünfzehn fühlt. Oder dreiundvierzig. Allerhöchstens fünfzig.

Sie tragen beide die Jugend bei sich wie in einem Korb. Als käme man von den Himbeersträuchern. Man verhält den Schritt, wählt eine Beere aus und stopft sie in den Mund. Süße am Gaumen. Im Baum sitzt ein Vogel, lauthals singend. Dann aber muss er eilen, um den Bus nicht zu verpassen.

Es ist Olda, die aufmacht, und hinter ihr ist Kokoschka zu sehen, den Gelenkschmerzen plagen. Willkommen Wolfie, immer herein!

Verflixte Kälte! Auf mageren Storchenbeinen stakst Kokoschka ins Wohnzimmer voran, mit seiner faltigen warmen Unterhose und einer Schaffelljacke militärischen Schnitts bekleidet. Schon bald sitzt Fischer auf dem Sofa und erzählt von der Woche in der Galerie, auch Mathew Prichards Besuch bleibt nicht unerwähnt.

Offen gesagt, ein ziemlich unausstehlicher junger Mann. Selbstsicher und arrogant. Verfügt aber gewiss über Geld.

Kokoschka hört zu und bricht in schallendes Gelächter aus. Die Königin des Kriminalromans malen? Haha. Das könnte man meinen lange hinausgezögerten Durchbruch in England nennen.

Olda, hast du das gehört?

Er ruft es seiner Frau zu, die in der Küche Tee bereitet. Dann schüttelt er den Kopf. Nein, nein. Undenkbar. Sie sehnen sich nach Hause. Dort, in Montreux, hat er jede Menge zu tun. Jeden Tag malen. Den Rasen wässern. Ins Dorf hinuntergehen, um Milch zu holen. Und seine Erinnerungen schreiben.

Ja doch, er hat einige ihrer Detektivgeschichten gelesen. Ihr Blutdurst und ihre intrikaten Morde sind erfrischend. Schreibt sie noch immer? Bewundernswert. Man darf nicht aufgeben. Er selbst hat nicht vor, das zu tun.

Besonders erinnert er sich an einen ihrer Krimis, in dem sich der Erzähler als Mörder erweist, wie hieß der noch gleich, Olda?

Eine bemerkenswerte Auflösung des Buches. Die Frau hat vollkommen recht; jeder x-Beliebige kann zum Mörder werden.

Ihre Bücher, diejenigen, die er gelesen hat, sind voll von überraschenden Schnitten und komplizierten Kehrtwenden, die sie gut über die Bühne bringt. Das Einzige, was ihn locken könnte, sie zum Modell zu nehmen, ist, dass sie ungefähr in seinem Alter ist.

Nun aber möchte er einen Whisky.

Olda, die mit Teetassen erschienen ist, stellt die Flasche auf den Tisch. Fischer staunt wie stets darüber, wie gut sie aussieht. Einen Kopf größer als ihr Mann und sicher dreißig Jahre jünger. Gekleidet in schwarze Hosen und einen grauen Pullover mit eingestrickten silbrig glitzernden Fäden. Das kurz geschnittene Haar lockt sich weich um die Schläfen. Sie ist von starker Wesensart und ungemein schön.

Das kann man von ihrem Gatten kaum behaupten. Er scheint bereits knorrig geboren; das Gesicht könnte aus der Maserknolle eines Birkenstamms geschnitzt worden sein. Als der Whisky ihn erwärmt, lösen sich seine Züge zu freundlichen Runzeln. Aus diesem Ungehobelten, Rauen und Schroffen leuchtet der scharfe blaue Blick, einem Laserstrahl gleich.

Sie sind ein auffälliges Paar.

Wir könnten das Geld gebrauchen, wirft Olda ein.

Kokoschka stellt das Glas krachend auf den Tisch. Es stimmt, sie brauchen das Geld, doch die Heimreise aufschieben?

Als das Gespräch weiterläuft, packt ihn Zorn. Meinen die etwa, ich könnte das Porträt in drei Sitzungen fertigbringen?

Wolfie, bitte teile ihnen mit, dass es unmöglich ist, in so kurzer Zeit ein gutes Porträt zu schaffen. Der königliche Laffe, Lord Snowdon, behauptet sogar drei Tage zu brauchen, nur um eine Fotografie hinzubekommen!

Und Konrad Adenauer — Fischer erinnert sich, dass Kokoschka den ersten deutschen Bundeskanzler vor dessen Tod porträtierte — hatte darüber geklagt, dass es heutzutage üblich geworden war, dass die Maler beladen mit Kameras anrückten oder in Begleitung jeder Menge Fotografen.

Eine Degradierung der Kunst des Malens. Um zu malen, muss man ausreichend Zeit haben.

Richte ihnen das aus.

Könnten wir den Aufenthalt in London nicht ein wenig verlängern?, wirft Olda ein. Kokoschka nimmt einen weiteren Schluck Whisky und zündet sich eine Zigarette an. Richte ihnen aus, Wolfie, dass ich sehr teuer bin. Fischer erwidert, er wisse das, also wie viel wolle er haben? Der Maler bekommt einen erneuten Wutanfall. Weißt du, was dieser Aufschneider Picasso heute nimmt? Vier rasch hingeworfene Picassos kosten nach dem Tageskurs ebenso viel wie ein besserer Rembrandt! Henry Moore lässt sich für seine Skulpturen nicht weniger bezahlen. Warum, zum Teufel, sollte ich billiger sein? Ich bin teuer, dafür schäme ich mich nicht. Aber ich produziere keinen Scheißdreck. Richte ihnen das aus.

Das wissen sie, nach allem zu urteilen, erwidert Fischer.

Ich würde gern ein Foto der Frau sehen, fährt Kokoschka fort, also ein Kindheitsbild. Wie die Dame heute aussieht, bekäme er ja mit eigenen Augen zu sehen, falls sie sich wider Erwarten begegnen sollten. Doch könne man ihm gern ein Foto von ihr als Kind bringen. Am liebsten so viel Kind wie möglich. Alles beginnt bereits beim Kind.

Das hat Fischer ihn häufig sagen hören.

Kokoschka blättert, die Zigarette im Mundwinkel, in den Kunstbüchern auf dem Sofatisch, er wirkt wie ein Lausbub und Filou. Zu seiner Zeit ein großer Frauenheld, hatte es geheißen.

Als Mathew Prichard später in der Galerie anruft, erhält er von Fischer die Antwort, dass es vielleicht nicht gänzlich unmöglich wäre.

Ließe sich vielleicht ein Kindheitsfoto auftreiben?

Als sie den geheimen Garten betraten, hielt Nursie ihre Hand mit festem Griff. Großmutter sträubte sich. Ich will alleine gehen, lass mich los!

Wollen kannst du viel, Darling.

Und du bist eine alte Hexe, Nursie!

Das hat sie Mathew erzählt. Sie war drei Jahre alt, und ihre großen Zehen zeigten direkt zueinander. Ununterbrochen stolperte sie darüber. Sie lebte in ihren Fantasien, unter Küchlein, Hexen und Prinzessinnen. Dann wurde sie vier und verliebte sich zum ersten Mal und gleich über beide Ohren. In einen Freund ihres Bruders Monty.

Nursie hatte sie an der Tür zur Bibliothek abgegeben, wo die Erwachsenen saßen. Sie brauchte nur einen Blick auf ihn zu werfen, auf seine goldfarbenen Locken und seine schmalen weißen Hände — ein Prinz —, und die Verliebtheit schlug ein wie ein Blitz. Und ließ sie sich ihrer selbst quälend bewusst werden.

Sie musste aufpassen, am Esstisch nicht neben ihm zu landen. Wenn sie ihn am Hausgiebel erblickte, ergriff sie die Flucht. Bei den Himbeersträuchern machte sie halt und wandte sich zurück, um ihn in Ruhe betrachten zu können. Als er abfahren sollte und erschien, um sich zu verabschieden, war sie nicht da.

Man musste nach ihr suchen und rufen. Vergeblich. Sie versteckte sich im Gras, weit weg von den Augen der Rosen. Was unterschied Jungen von Mädchen? Die Kleidung natürlich. Was befand sich unter den Kleidern des Liebsten? Das beschäftigte sie, wie auch die Gedanken darüber, was ein Mädchen ist, obgleich sie noch nichts von dem weiß, was, wie sich später herausstellen soll, zu betörenden Schauern führt. Als sie das sagt, zwinkert Großmutter Mathew vielsagend zu, doch da ist er bereits erwachsen.

Er hat die Geschichte dieser Verliebtheit oft gehört.

Sie hatte die Rufe sehr wohl vernommen, blieb jedoch reglos und still rücklings im Gras liegen. Wo in aller Welt hast du nur gesteckt, wollte Nursie später wissen. Man muss nicht auf alle Fragen antworten. Sie zuckte mit den Schultern und schwieg.

Als sie fünf Jahre alt wurde, bekam sie zum Geburtstag einen Welpen geschenkt. Wie hatte sie sich nach einem Hund gesehnt! Mit weichem Fell. Rauer Zunge. Mit Gekläff und flinken Pfoten. Ihr Vater stand auf der Schwelle des Zimmers, das sie sich mit Nursie teilte, und hielt das Hündchen an der Leine. Ein Yorkshireterrier!

Wieder das Gleiche, ein Blitz durchfuhr sie von der Haarschleife bis zu den Fußsohlen. Diese schwindelerregende Verliebtheit. Die Freude ist viel zu groß. Sie überwältigt sie, und sie ist den Tränen nahe. Voller Panik muss sie aus dem Zimmer stürzen, sich auf die Hintertreppe des Hauses setzen und die Schürze über den Kopf ziehen.

Ihr Vater mit dem Hund an der Leine hinterher.

Agatha, wir dachten, du solltest einen Spielkameraden haben. Willst du ihn denn nicht?

Schweigen.

Antworte, Agatha.

Klar will ich ihn haben (dumpf durch den Schürzenstoff).

Wie soll er denn heißen?

Langes Schweigen.

Er heißt Tony.

Aha, alright. Willst du dich dann nicht mit Tony bekanntmachen?

Sie umkreiste den Hund auf dem Kies vor der Treppe. So hat sie es in Erinnerung und erzählt es. Wie heftig ihr das Herz klopfte! Sie schluchzte, Papa hielt ihr die Leine hin, und Tony hüpfte an ihr hoch. Erst nach vielen Sprüngen wagte sie, sich hinzuhocken und ihn in die Arme zu schließen. Man muss sich langsam gewöhnen, um vor so viel Freude nicht tot umzufallen. Das Hündchen bekommt schon bald einen prächtigeren Namen: George Washington. Im Alltag aber bleibt er Tony.

Großmutter und er werden unzertrennlich. Nachdem das Hündchen bei ihr eingezogen ist, muss Nursie ausziehen. Da ist Großmutter fast sieben. Es stimmt, dass sie keine Spielkameraden hat, und deshalb bekommt sie einen Hund.

Sie war ein einsames Kind, obgleich sie zwei ältere Geschwister hatte.

Doch Madge ging, außer zu Bällen, mit anderen großen Mädchen in London zur Schule. Monty war ungefähr ebenso alt und ging in eine Schule für Jungen, danach sollte er zum Militär. Zu Weihnachten und in den Sommerferien kamen beide heim und foppten ihre kleine Schwester, bevor sie losstürmten, um ihre Freunde in Torquay zu treffen und Tee zu trinken, Tennis zu spielen, zu tanzen und zu flirten. Fühlte sie sich einsam?

Aber nein, niemals. Sie hat einen ganz eigenen Sinn; sie schließt die Augen und öffnet eine kleine Luke im Kopf, und aus dieser treten ganze Gefolge heraus. Katzenmütter und Katzenjunge. Mädchen, manche reich und hochnäsig, andere arm und in Lumpen gekleidet. Sie redet ununterbrochen mit der Katzenfamilie, mit der Mädchenkolonie und all den anderen Geschöpfen. Sie war nicht allein.