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Im 23. Jahrhundert stößt das Raumschiff Unit Eleven mit 3000 Männern und Frauen an Bord in die Tiefen des Weltalls vor. Ihre Mission: das Finden eines erdähnlichen Planeten, um der Menschheit außerhalb ihres Sonnensystems eine Zukunft zu ermöglichen. Und tatsächlich stößt man schon bald auf einen Planeten, auf dem Leben existiert. Aber auch auf zwei Völker, die seit Millionen von Jahren in einen tödlichen Kampf verwickelt sind ... "Drake" ist nach "Googol", "Phainomenom" und Googolplex"der vierte Science-Fiction-Roman von H. D. Klein.
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Seitenzahl: 881
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Drake
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Epilog
Weitere Atlantis Titel
H. D. Klein
Drake
Eine Veröffentlichung des
Atlantis-Verlages, Stolberg
April 2013
Alle Rechte vorbehalten.
Dieses eBook ist auch als Hardcover direkt beim Verlag erhältlich und
als Paperback überall im Handel (ISBN 978-3-8640-063-6).
Titelbild und Umschlaggestaltung: Timo Kümmel
Lektorat und Satz: André Piotrowski
eBook-Erstellung: www.ihrhelferlein.de
ISBN der eBook-Ausgabe: 978-3-86402-093-3
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Ich trage viel in mir. Vergangenheit früherer Leben, Verschüttete Gegenden, Mit leichten Spuren von Sternenstrahlen. Oft bin ich nicht an der Oberfläche, Hinabgetaucht in fremdeigene Gegenden bin ich. Ich habe Heimweh. O Reste, Überbleibsel, o vergangene Vergangenheit!
Gedicht von Franz Werfel Der Weltfreund Jugendgedicht
Die Green-Bank-Gleichung:
1
Caitlyn Mulholland glitt scheinbar schwerelos durch die Gänge der Verwaltungseinheit. Mit weit ausholenden und bedächtigen Schwüngen pendelten ihre Arme im Takt gleich einer Eisschnellläuferin vor und zurück.
Sie wusste, sie durfte keinen Fehler machen, denn ein Sturz konnte sehr schmerzhaft an einer Wand enden.
Sie wusste aber auch, sie würde keinen Fehler begehen. Selbstbewusst legte sie die Strecke jeden Tag von den Wohnblocks hierher in die Verwaltung auf ihren Grafitschuhen zurück und bisher war noch immer alles gut gegangen.
Sie wusste weiterhin, dass es nicht gerne gesehen wurde, wenn Mitarbeiter ihren Weg zur Arbeit auf diese sportliche Art und Weise bewältigten, aber direkt verboten war es auch nicht.
Die meisten ließen sich in gepolsterten Druckkabinen zu ihrem Arbeitsplatz schießen. Eine bequeme, wenn auch ziemliche langweilige Art, den Tag zu beginnen.
Caitlyn schauerte bei dem Gedanken, in einer der engen Röhren zu stecken und sich den für sie unangenehmen Beschleunigungskräften auszusetzen, auch wenn ihr Nelly Cortez, ihre Zimmernachbarin, immer wieder versicherte, die Kabinen seien absolut sicher.
Trotzdem, für Caitlyn war ihre sportliche Übung der optimale Beginn eines langen Arbeitstages.
Wie jeden Morgen begegnete sie keiner Menschenseele. Zum einen aus der bereits erwähnten Tatsache, dass niemand die Gänge benutzte, und zum anderen, weil in diesem Moment alle vor den Frames saßen und Caitlyns Dahingleiten aufmerksam verfolgten.
Wie jeden Morgen.
Für die knapp sieben Minuten, die sie für die Strecke benötigte, ruhte alle Arbeit in den Einheiten. Caitlyn wusste, dass Wetten abgeschlossen wurden. Darauf, wie schnell sie den Weg zurücklegen oder ob sie vielleicht sogar stürzen würde.
Lächerlich! Sie war noch nie zu Fall gekommen.
Genau aus diesem Grund war ein Sturz auch der höchst dotierte Wetteinsatz. Er lag zurzeit bei etwa 1:1000.
Aber die Wetten waren nicht der einzige Grund für das voyeuristische Verhalten ihrer Kollegen.
Caitlyn war so ziemlich die schönste Frau von allen Einheiten. Nicht nur ziemlich – sie war einfach umwerfend schön. Das alleine jedoch wäre kein Anlass dafür gewesen, die gesamte Belegschaft jeden Morgen für zehn Minuten vor die Frames zu locken. Jede Frau konnte heutzutage mithilfe von speziellen Favorite-Programmen das Beste an die Oberfläche bringen oder problemlos Änderungen an sich vornehmen. Nein, es war die einzigartige Anmut, mit der sich Caitlyn durch die Gänge bewegte. Das natürliche Fließen ihrer Fortbewegung, gepaart mit einer eigenen, ganz seltenen und beinahe unnahbaren Arroganz. Und die beiden Wörter beinahe unnahbar machten den Reiz an Caitlyn aus. Trotz dieses Reizes war sie doch eine von ihnen, eine aus der Gemeinschaft. Ihre Distanz ergab sich aus ihrer unkomplizierten Art, scheinbar jeden und alles zu kennen, aus ihrem komplexen Wissen über Vorgänge in der Gesellschaft und über den Ablauf in den Einheiten. Es schien niemanden in der Belegschaft zu geben, mit dem sie nicht schon irgendwann einmal gesprochen hatte, oder nichts, mit dem sie sich nicht schon einmal beschäftigt hatte. Caitlyn war für alle ein Phänomen, eine Frau für jeden Fall.
Caitlyn war sich all dessen bewusst. Schon alleine deswegen genoss sie die ungewöhnliche Art und Weise, an ihren Arbeitsplatz zu gelangen. Ein weiterer Grund für ein Ignorieren jener scheußlichen Druckluftröhren.
Ganz abgesehen davon, wäre es für sie ein Leichtes gewesen, ihren Kollegen und Kolleginnen das Phänomen ihrer Person zu erklären: Talent und Planung. Zuerst das Erkennen der Talente, danach eine frühe Planung des weiteren Verlaufs ihrer Karriere. Schon sehr bald in ihrer Jugend hatte sie festgestellt, wie positiv das Umfeld auf sie reagierte. Sie schien eine besondere Aura zu besitzen, die alle Personen anzog, aber gleichzeitig eine natürliche Grenze aufzeigte. Bis hierhin gerne, aber nicht weiter. Damit besaß sie eine Grundlage, auf der sie ihr gesamtes Leben gezielt aufbaute. Disziplin war unumgänglich.
Dann fügte sie Wissen hinzu.
Wissen in Form von verschiedenen Studien, Sprachen und dem gesellschaftlichen Umgang mit Menschen.
Heute besaß sie mit ihren gerade einmal 29 Jahren mehrere Magistertitel und eine Sammlung von nutzlosen Pokalen einiger nationalen Meisterschaften in diversen Sportarten.
Eisschnelllauf gehörte auch dazu.
Jetzt aufpassen! Die nächste Biegung war entscheidend.
Sie richtete sich leicht auf und stellte ihre Füße ein wenig nach innen, um etwas Fahrt wegzunehmen, glitt ganz nach rechts außen und peilte die Ecke des Hauptganges an, der in die große Galerie führte. Im richtigen Moment ging sie in die Hocke und nahm mit weit ausholenden Schritten wieder Fahrt auf.
Das große Finale über den gläsernen Boden der Galerie. Hier schien sie im freien Fall zu schweben. Licht drang von oben und unten durch die ausladende Glaskonstruktion in den breiten Gang herein und bereitete die letzten Meter vor ihrem Ziel zu einem wahren Genuss.
Ein letzter kleiner Spurt und dann war sie angekommen.
Enttäuschte Kommentare vor den Frames und ein bedauerndes Zuwenden an die tägliche Arbeit.
Caitlyn steuerte einen der beiden altertümlichen Sessel an, die ein aufwendiges, mit Holz verziertes Portal flankierten.
Der Eingang in die Löwengrube, in das Allerheiligste der Einheit, bezeichnenderweise von allen Almighty genannt, aber freilich nur hinter vorgehaltener Hand.
Für Caitlyn war das Portal nichts weiter als der Eingang zu ihrer Arbeitsstelle, eine Ehrfurcht vor den Mächtigen war ihr fremd. Respekt ja, aber keine Unterwürfigkeit. Sie hatte sich schon früh darauf trainiert, vor den Großen nicht in die Knie zu gehen. Es war ein Teil ihres Lebensplanes, allen gegenüber gleich aufzutreten. Den Großen wie den Kleinen. Allerdings musste sie schon bald erfahren, dass es schwierig war, mit ihrer offenen Art den ihr scheinbar Unterlegenen zu begegnen. Oft wurde sie falsch interpretiert, was meistens ihre männlichen Gegenüber zu Anzüglichkeiten ausnutzten.
Falsch, dachte sie und grinste in die Überwachungsbox des Portals hinein. In der Hinsicht waren sie alle gleich, es war nur schwieriger, den einfach gestrickten Mann wieder loszuwerden.
Wieder falsch. Vor einiger Zeit hatte sie Monate gebraucht, bis sie Louis Carthage, dem Vorstandsvorsitzenden von Data Time, begreiflich machen konnte, dass ihr Lächeln als nichts anderes als ein Lächeln gedacht war. Es hatte sie einen ziemlichen Aufwand an Energie gekostet, all die Einladungen zum Essen und anderen Veranstaltungen höflich, aber bestimmt zurückzuweisen. Die Energieleistung hatte sich jedoch gelohnt, heute war Louis einer ihrer besten Freunde und Gönner, und das in einer höchst dotierten gesellschaftlichen Stellung.
Männer eben.
Trotzdem – mit Männern kam sie im Grunde genommen bestens aus. Nur für Frauen war sie der Staatsfeind Nr. 1.
In den Augen ihrer Artgenossinnen war sie schlicht eine Beleidigung.
Zu intelligent, zu sportlich und vor allem zu schön.
Caitlyn berührte ein schnörkelloses M (für Mirror) an der Wand.
Kurz darauf blickte sie in ein ausdrucksvolles Modelgesicht. Grau-grüne Tigeraugen, wie sie einmal von ihrer Mutter bezeichnet wurden. Ihre Mutter hatte die gleichen Augen, nur gütiger blickend.
Gerade, schmale Nase, großer Mund. Vor allem die Oberlippe war zu groß. Eine Laune der Natur, die den Verdacht eines operativen Eingriffs aufkommen ließ.
Zu Unrecht. Mit vierzehn wurde sie ständig ihrer vollen Lippen wegen gehänselt, außerdem war ihr schlaksiger Körperbau der Anlass zu allerlei dummen Bemerkungen. Nur gut, dass sie nicht auch noch blond gewesen war. Dann hätte sie einer Comicfigur geglichen. Andererseits sorgten ihre langen pechschwarzen Haare für ein Aussehen, das dem einer jungen Hexe gleichkam. Die Frage nach dem Besen konnte sie schon damals nicht mehr hören.
Vielleicht wäre die Variante mit der Comicfigur doch besser gewesen.
Vergessen. Das war Geschichte. Jetzt war Gegenwart. Und die sah hervorragend aus. Aus dem hässlichen Entlein war ein Schwan geworden, der ganz vorne in der Formation flog und dem es nichts ausmachte, sich aus taktischen Gründen auch mal ans Ende des Schwarms zu setzen.
Seit einem halben Jahr flog sie jedoch im vorderen Drittel, als rechte Hand des Chefs des Unternehmens, Tendenz nach weiter vorne. Falls das Projekt erfolgreich ausginge, wäre sie anschließend an der Spitze, aber bis dahin war noch ein weiter Weg.
Sie wandte sich vom Spiegel ab und ging auf das Portal zu, als ein flacher Säuberungsroboter den Gang entlangflitzte, um die Rückstände des Grafits zu entfernen, das ihre Schuhe auf dem gläsernen Boden hinterlassen hatten. Wie jeden Morgen.
»Na, Larry, heute bist du aber spät dran. Ärgerst dich wieder, weil die Nanos den Dreck nicht wegmachen, nicht wahr?«
Larry antwortete ihr nicht. Wie jeden Morgen.
Die integrierten Nanos im Bodenbelag waren nicht darauf programmiert, reine Kohlenstoffverbindungen zu eliminieren. Aus Sicherheitsgründen. Die FORCE hatte die Befürchtung, ein zu Fall gekommener Mitarbeiter könnte nach einige Zeit von den Nanos entsorgt werden.
»Hier, Larry, noch mehr Arbeit!«
Halb im Gehen und mit kleinen Hoppelschritten zog sie die aufgesetzten Grafitsohlen von den Schuhen und warf sie achtlos in den Gang. Anschließend drückte sie schnell jeweils dreimal auf verborgene Tasten in Knöchelhöhe im Leder der Schuhe. Kurz darauf fuhren sechs Zentimeter hohe Absätze aus dem hinteren Sohlenbereich. Das musste genügen, schließlich wollte sie nicht allzu frivol vor ihrem Chef erscheinen.
Ein kurzer unauffälliger Schnüffeltest bestätigte ihr, dass ihre Deo-Nanos nicht versagt hatten. Immerhin betrug die Strecke von ihrer Wohnung bis hierher über einen Kilometer und bei einem flotten Tempo kam sie bisweilen schon ins Schwitzen.
»Willkommen im HEAD!«, begrüßte sie der Frame am Portal mit der typischen Stimme von George. »Bitte wenden Sie sich zur Identifizierung dem Frame auf der rechten Seite zu!« Alle Frames hier sprachen mit der gleichen Stimme. Und alle Frames und Computer hießen hier George (außer den einfachen Arbeitsrobotern, die hießen alle Larry). Angeblich war George der Vorname eines finanzschweren Großonkels von Hyatt W. Sternberg gewesen, dem Kopf des Unternehmens. Wenn der Großonkel zu Lebzeiten genauso unpersönlich gewesen war wie die Stimme, die er hinterlassen hatte, konnte man nur froh sein, ihm nicht mehr begegnen zu müssen (zu Larry existierte keine Geschichte).
Und jeden Tag der gleiche Blödsinn. Als wenn hier ein Fremder ungesehen reinkommen würde. Dabei waren sie hier alle mehr oder weniger Gefangene in einem riesigen Käfig.
»Zur Identifizierung genügt der volle Name mit Anhang. Bitte sprechen Sie klar und deutlich!«
»Caitlyn MulhollandHEAD«, antwortete sie gelangweilt in Richtung des Frames und wandte sich ab.
»Einen Moment noch«, beharrte der Frame. »Bitte nennen Sie zusätzlich das Geburtsdatum Ihres Vaters!«
Das war ungewöhnlich. Bisher hatte der Frame noch nie eine Zusatzfrage gestellt.
Ihr Puls ging leicht nach oben. Sie musste zugeben, der ungewöhnliche Vorgang hatte sie etwas aus der Fassung gebracht, hauptsächlich aber aus Ärger über die Zeitverschwendung.
»Dritter November 2211«, antwortete sie so ruhig wie möglich.
»Vielen Dank, Miss Mulholland. Bitte entschuldigen Sie die Verzögerung.«
Sie verzog leicht den Mundwinkel und ging anschließend weiter.
Reine Schikane.
Nach wenigen Schritten gelangte sie an das Desk von Eloise.
Eloise hatte keinen Nachnamen. Keine der Assistentinnen von Sternberg besaß einen Nachnamen und sie alle schienen zudem einer besonderen Kaste anzugehören, einer Art Kaderschmiede, auf der man gelernt hatte, seinen Kopf etwas höher zu tragen als der Rest der Menschheit. Nicht, dass Eloise oder ihre Kolleginnen unhöflich auftraten, ganz im Gegenteil. Aber ihr Verhalten hatte etwas Aristokratisches, eine nicht fassbare Unnahbarkeit. Gleichzeitig strahlten sie ohne Ausnahme ein unerklärliches Selbstbewusstsein aus, das nur Töchter von Höhergestellten an den Tag legen konnten. Außerdem waren sie allesamt seltene Schönheiten. Nicht schön im Sinne von perfekt. Eher eine Mischung aus selten vorkommend, manchmal auch zerbrechlich, aber im Gesamtbild sehr erotisch.
Eloise zum Beispiel hatte ein reizendes Gesicht mit einem ungewöhnlichen, großen Mund. Dafür stimmten die Proportionen ihrer Figur nicht ganz. Ihr Oberkörper war etwas zu lang, ihr Busen etwas zu groß, die Beine etwas zu kurz. Gepaart jedoch mit ihrer aristokratischen Haltung ergab sich eine außergewöhnliche Extravaganz, die Caitlyn nie erreichen würde.
Nicht, dass sie deswegen neidisch war, sie war mit sich und ihrem Aussehen überaus zufrieden und sehr stolz auf ihre sportliche Ausstrahlung. Sie fragte sich nur, warum Sternberg diese Wesen als Assistentinnen bevorzugte, und vor allem, wofür er sie brauchte. Für die Organisation der täglichen Arbeit gab es genug andere Mitarbeiter und eine Repräsentation in diesem Ausmaß wurde nicht benötigt.
Nun, ihr konnte es gleich sein, vielleicht resultierte die Vorliebe zu extravaganten Frauen aus einem Hang zu gewissem Luxus, wenn auch hier der falsche Platz dafür war.
Augenblicklich musste sie innerlich auflachen, schließlich war ihr eigenes Aussehen auch nicht gerade zweitklassig. Trotzdem, in dieser jungen, aristokratischen Liga konnte sie nicht mitspielen.
»Guten Morgen, Miss Mulholland!«
Was für eine Stimme! Sie klang dunkel und rauchig, mit einem kleinen Kiekser in der Oberlage. Caitlyn war wie jeden Morgen fasziniert von diesem Klang. Es schien mehr eine nebensächlich dahingehauchte Bemerkung in ihre Richtung zu sein als eine ernst gemeinte Begrüßung. Trotzdem kamen die Worte klar und deutlich bei Caitlyn an. Vielleicht erzeugte die enorme Oberweite von Eloise dieses einmalige Stimmvolumen. Oder sie benutzte irgendwelche stimmverändernden Nanos, die sie versteckt an ihrer Kleidung trug. Genügend Technik war dort schon rein äußerlich zu sehen. Ein schwaches Flimmern zeigte Caitlyn, dass Eloise Designermorphs benutzte, die das Outfit ihrer Kleidung stetig veränderten. In ein paar Stunden würde hier nicht mehr eine Eloise in einem beigen Kostüm sitzen, sondern vielleicht in einem einfachen gelben Einteiler. Je nach individueller Programmierung. Für Caitlyns Geschmack war das ein ein bisschen zu billiger Gag, aber wie gesagt, Eloise war noch blutjung und der modische Schnickschnack passte zu ihr.
Bevor Caitlyn den Gruß erwidern konnte, fügte Eloise noch hinzu: »Mr. Sternberg erwartet Sie schon im Salon.«
Kleines Biest! Das war genau das, was sie an diesen vermeintlichen Assistentinnen so hasste: Sie waren immer einen Schritt voraus, ohne jeglichen Respekt für das Gegenüber – und übten dabei ganz leise einen unmerklichen Druck aus.
Sie unterdrückte eine entsprechende Bemerkung und wandte sich dem langen Gang zu, der in den Salon führte.
»Vielen Dank, Eloise!«, entgegnete sie im Gehen. Wie jeden Morgen.
Der breite und sehr hohe Gang zum Salon war mit einem knallroten kurzfaserigen Teppich belegt, der durch eine spezielle Dämmung jedes noch so unscheinbare Geräusch ihrer Schritte unterdrückte. Die eigentliche Sensation dieses Ganges waren jedoch die Bilder, die an den Wänden hingen. Es waren Molekularkopien berühmter Gemälde. Mit diesen Exemplaren konnte man jeden Sachverständigen in den Wahnsinn treiben. Er hätte auf keinen Fall entscheiden können, ob hier an den Wänden die Klassiker der Vergangenheit hingen oder ob es Fälschungen waren.
Wobei man noch nicht einmal von Fälschungen im eigentlichen Sinne sprechen konnte. Es waren exakte molekulare Klone der echten Kunstwerke, jedes für sich in einem aufwendigen Verfahren dupliziert und alleine deswegen schon ein Vermögen wert.
Die Decke des Ganges war so hoch, dass selbst das barocke Kunstwerk Caravaggios, ›Die Berufung des heiligen Matthäus‹, mit über drei Metern Höhe ausreichend Platz fand. Caitlyn passierte das in ihren Augen kitschige Gemälde ebenso wie Corinths ›Selbstbildnis mit Strohhut‹ oder Manets ›Frühstück im Freien‹. Sie zögerte bei Magrittes ›Pyrenäenschloss‹ und bei Cezannes ›Blauer Vase‹, um schließlich vor dem ›Großen Wald‹ von Max Ernst stehen zu bleiben.
Das Werk faszinierte sie jeden Morgen aufs Neue. Gleichzeitig bekam sie Beklemmungen beim Betrachten. Max Ernst musste wirklich ein sehr unsteter Mensch gewesen sein. Nirgendwo zu Hause und ständig auf der Suche nach etwas Neuem. Wie sie selbst. Vielleicht kam von daher eine Art Seelenverwandtschaft zustande. Nur diese Düsternis in dem Gemälde konnte sie nicht nachvollziehen. Auch das Gefühl von einem großen Wald stellte sich ihr beim Betrachten nicht ein. Eher die Vorstellung eines verkohlten Holzstoßes bei Mondaufgang. Oder sollte diese gelbliche Scheibe mit dem schwarzen Kreis mehr einen Sonnenaufgang darstellen?
Unschlüssig ließ sie das dunkle Bild noch ein paar Sekunden auf sich einwirken und ging dann weiter. Zwei Picassos und den Döblin nahm sie noch wahr, dann konzentrierte sie sich auf ihre bevorstehende Arbeit, den Bericht über Escorial, einen Planeten, der einen Teil von Sternbergs gigantischem Projekt darstellte.
»Guten Morgen, Miss Mulholland!«
Estella, ein weiteres Subjekt aus der Clique der Unnahbaren, begrüßte sie am Ende des Ganges. Ihre äußerlichen Vorzüge lagen im Besitz einer ungewöhnlichen, geraden Nase, türkis-blauer Augen und einer märchenhaften blonden Lockenpracht. Darüber hinaus hätte ihr Eloise durchaus etwas von ihrer Oberweite abgeben können, denn Estella war gertenschlank, ohne großartige Anzeichen von irgendwelchen Kurven auf ihrer Körperlinie. Ansonsten präsentierte sie sich im gleichen Strickmuster wie Eloise, nur dass sie nicht vor unzähligen Frames saß, sondern hauptsächlich Getränke servierte beziehungsweise Royce, einem weiteren Geschöpf ihrer Gattung, anwies, die Getränke zu bringen.
Caitlyn nickte ihr wortlos zu, was Estella zu einem höflichen »Einen Kaffee vielleicht, zur Aufmunterung?« veranlasste.
Immerhin, ein bisschen Kritik als Reaktion, dachte Caitlyn. Vielleicht gehen die Töchter eher aus sich heraus, wenn ich missmutig durch die Gänge stapfe.
Lass es sein, sie können bestimmt nichts dafür.
»Ja, danke, das wäre nett«, antwortete sie.
»Mr. und Mrs. Sternberg erwarten Sie im Salon. Den Kaffee lasse ich Ihnen sofort servieren.«
Mr. und Mrs. Sternberg! Caitlyn war überrascht und trat unwillkürlich einen kleinen Schritt zurück. Bisher war die Schwester von Sternberg eher selten in Erscheinung getreten. Genau genommen eigentlich gar nicht. Caitlyn hatte sie nur einmal kurz bei einer kleinen Eröffnungsfeier zu Beginn des Projektes gesehen, bei der diese alle Beteiligten begrüßt und sich bald darauf zurückgezogen hatte.
Wenn Estella ihre Überraschung bemerkt hatte, so zeigte sie dies nicht.
Natürlich war ihr Caitlyns leichtes Zögern aufgefallen, aber ebenso selbstverständlich ging sie darüber hinweg. Leichtfüßig schwebte sie zu der großen Glastür aus getöntem Solfit, öffnete sie, ging in den Raum hinein und hielt Caitlyn die Tür auf. Gerade so, als wäre sie eine Besucherin, die zum ersten Mal den Salon betrat.
Mit einem sibyllinischen Lächeln wartete sie, bis Caitlyn den Schwungkreis der Tür verlassen hatte, und verschwand anschließend lautlos wie eine Elfe hinter der sich automatisch schließenden Glasfläche.
Im Salon war es weder schummrig noch hell. Einzelne Lichtquellen in halber Höhe an den Wänden oder Tischlampen beleuchteten das Mobiliar, das aus allen Zeitepochen stammte, genauer: solchem nachempfunden war. Wohlgeordnet von rechts nach links. Rechts, im dunkleren Teil des Raumes, die alten Zeiten, angefangen mit einzelnen Stücken, die aus dem späteren Mittelalter zu stammen schienen, links, fast schon grell beleuchtet, die farbigen Tisch- und Liegeassembles der Neuzeit. Abgeschlossen wurde der große Raum ebenfalls auf der linken Seite durch ein Podium, das zu dem einzigen Fenster im Raum führte. Ein breiter, aber vertikal im Verhältnis schmaler Durchblick nach draußen.
Dort stand, breitbeinig und mit dem Rücken zu Caitlyn, Hyatt W. Sternberg, die Arme diktatorisch nach hinten verschränkt.
Wie passend, dachte sie und suchte in der rechten Hälfte des Raumes nach Charlotte Sternberg, konnte diese aber nirgends entdecken.
»Guten Morgen, Mr. Sternberg«, sagte sie, unschlüssig darüber, ob sie Mrs. Sternberg im Dunkel vielleicht übersehen hatte.
Sternbergs Reaktion auf ihren Gruß bestand in einer unauffälligen Gewichtsverlagerung.
Nach einigen schweigsamen Sekunden warf er einen letzten Blick durch das Fenster, drehte sich um und kam auf Caitlyn zu.
Der mächtige Eindruck, den er eben noch hinterlassen hatte, war mit seinem ungelenken Gang verflogen. Sternberg war gerade einmal über siebzig, wirkte aber weitaus älter. Auch der teure schwarze Maßanzug änderte optisch daran nichts. Eigentlich war dieser unpassend, eine graue Strickjacke und Cordhosen hätten besser zu ihm gepasst.
»Guten Morgen, Caitlyn«, erwiderte er und machte eine einladende Handbewegung in ihre Richtung, ohne sie dabei anzusehen. Eine grauhaarige Strähne fiel ihm in die Stirn und er wischte sie mit einer fahrigen Geste aus dem Gesicht.
»Hier herüber, hier herüber«, winkte er sie in den dunkleren Bereich nach rechts in den Raum. Im Vorbeigehen verdunkelte kurz sein Profil den Schein einer der Wandlampen. Die typische lange gerade Nase, die tiefen Augenhöhlen und die hässlichen wulstigen Lippen. Nicht gerade ein Mensch, dem jeder sofort sein Vertrauen schenken würde, aber Caitlyn wusste es inzwischen besser.
»Kommen Sie, gehen wir hier herüber, zum Biedermeiertisch, da ist es gemütlich. Meine Schwester stößt gleich zu uns. Möchten Sie etwas trinken? Einen Tee? Oder Kaffee?«
Er sprach ohne Punkt und Komma, was wiederum untypisch für ihn war. Caitlyn runzelte die Stirn und folgte ihm zu der Biedermeierecke, die von einem monströsen Sofa in gestreiftem Grün dominiert wurde. Der Tisch und die Stühle wirkten dagegen eher schlicht und ungemütlich.
»Hierher, auf das Sofa!«, sagte er, gerade als sie im Begriff stand, auf einen der Stühle zuzusteuern.
Er patschte energisch mit der Hand auf die Sitzfläche. Das war schon eher das übliche Gehabe von Sternberg. Sie kam sich vor wie ein Hündchen, dem soeben der Platz zugewiesen wurde.
Sternberg setzte sich auf einen Stuhl, um sofort wieder aufzuspringen.
»Warten Sie, ich sage Estella Bescheid. Was wollten Sie gleich wieder haben? Tee?«
»Ich habe bereits …«
»Ah, da kommt unsere liebe Royce mit dem Kaffee! Sehr schön. Na, das klappt ja hervorragend! Schön, auch für mich einen Kaffee, bitte!«
Caitlyn hätte beinahe laut aufgelacht. So ein Theater hatte sie noch nicht erlebt. Normalerweise ging sie jeden Morgen sofort in ihre Arbeitsräume und sah Sternberg lediglich als unruhigen Schatten durch die milchigen Jugendstilfenster des Salons.
Sie wusste, dass er auf ihren Bericht wartete, aber ihr Report würde nicht viel anders ausfallen als die anderen zuvor, nämlich negativ. Vielleicht ein wenig anders, aber im Endeffekt negativ.
Wie nicht anders zu erwarten war.
Ganz abgesehen davon, gab es von ihrer Seite her nichts zu berichten, was Sternberg nicht schon wusste, schließlich waren sie schon seit Wochen mit dem Projekt beschäftigt.
Das leise Klingen der Löffel, als Royce servierte, überspielte die von Sternberg produzierte unterdrückte Nervosität.
Royce war übrigens schwarz, eine dunkle Gazelle aus Samt mit einem lockigen Bubikopf. Anders als ihre Kolleginnen strahlte sie Caitlyn mit einem breiten Lächeln an. Was nicht viel zu bedeuten hatte, denn sie hatte Royce nie anders erlebt, immer schien diese in fröhlicher Stimmung zu sein, aber gerade dieses Verhalten brachte sie in den Verdacht, das Lächeln sei nicht echt oder – schlimmer noch – Royce könne etwas zu genügsam sein. Eine kleine Bosheit in Caitlyn ließ eher Zweites vermuten. Besonders die längst aus der Mode gekommene Nano-Behandlung der kurzen, gekräuselten Haare mit dem im Minutentakt wechselnden Farbenspiel, zeugte eher von einer einfachen Gesinnung.
Ein wenig später war Royce fertig und zog sich mit flimmernden Haaren zurück. Wohin auch immer. Caitlyn hatte die Privaträume der Sternbergs nie zu Gesicht bekommen. Wie auch sonst niemand außer den edlen Assistentinnen. Natürlich kursierten deswegen die abenteuerlichsten Gerüchte, angefangen von ausufernden Orgien bis hin zu schwarzen Messen, aber Caitlyn schob das eher den schmutzigen Fantasien der Mitarbeiter zu, als dass die Beschreibungen den Tatsachen entsprachen.
Sternberg hatte sich inzwischen zu etwas mehr Ruhe gezwungen.
Für einen kurzen Moment herrschte eine beinahe peinliche Stille am Tisch. Caitlyn suchte mit unbewegtem Gesicht den Raum ab, konnte aber Charlotte Sternberg immer noch nicht ausmachen.
»Nun Caitlyn«, begann Sternberg, lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. »Was haben Sie zu berichten?« Seinen Kaffee ließ er unbeachtet.
Sie nahm einen kleinen Frame, der neben ihr auf einem Beistelltisch lag, und wollte ihre Unterlagen aufrufen.
»Nein, bitte keine Fakten!«, sagte Sternberg mit einer abwehrenden Handbewegung. Er nahm ihr sogar den Frame aus der Hand und legte ihn zurück. »Schildern Sie einfach Ihren Eindruck mit eigenen Worten!«
»Escorial ist ein von Wolken umhüllter Planet«, begann sie mit nüchternen Worten. Sie kam sich dabei etwas dämlich vor, ihm all das herunterzubeten, was er längst kannte, und das waren nun einmal reine Informationen. »Ein Planet in einem recht mächtigen System. Savoy ist ein heißer Stern des G-Typs. G1, um genau zu sein, und etwa zehnmal größer als unsere Sonne. Er wird von zwölf Planeten umkreist, sechs davon sind Gasriesen, Escorial steht an vierter Stelle, inmitten zweier Jupitergiganten. Durch die enorme Anziehungskraft seiner Nachbarn gleicht seine Umlaufbahn einem Schlingerkurs, ist seiner hohen Geschwindigkeit wegen aber relativ stabil. Trotz seiner enormen Entfernung zu Savoy braucht Escorial nur knapp zwei Jahre für eine Umkreisung. Er besitzt vier relativ große Monde, die ihm auf seinem Weg zusätzliche Stabilität verleihen.«
Sie nahm einen Schluck von dem Kaffee. Sternbergs Tasse war immer noch unberührt. Seine Augen waren geschlossen und sein Kopf nickte leicht, gerade so, als ob er einer Ouvertüre lauschen würde.
»Die Atmosphäre von Escorial besteht hauptsächlich aus Kohlendioxid, Methan, Ethan, Stickstoff, Schwefelwasserstoff, ein bisschen Ammoniak, ein wenig Wasserdampf. Blausäure in geringen Mengen. Und Sauerstoff, nicht viel, aber ich denke, der Planet ist auf dem besten Weg, ein gemütlicher Ort zu werden, falls ihm die Gasriesen mit ihrer enormen Anziehungskraft nicht doch irgendwann einen Strich durch die Rechnung machen. Bisher hat er sich ganz gut gehalten, auch wenn der Aufenthalt dort ziemlich unwirtlich ist. Windgeschwindigkeiten von 200 Stundenkilometern sind keine Seltenheit und zusätzlich wird dabei viel Dreck in die Atmosphäre transportiert, der anschließend als giftiger Regen niedergeht. Im Augenblick scheint so etwas Ähnliches wie Frühling zu herrschen, denn die Temperatur hat sich in den letzten Tagen erhöht. Außerdem reißt immer wieder die Wolkendecke auf. Unsere Teams auf Escorial berichten von kurzen Zeitabständen, in denen sogar Savoy zu sehen ist.«
Sie machte eine Pause, hoffte auf einen Kommentar von Sternberg, aber sie wurde enttäuscht. Mehr als ein gehauchtes »Ja, machen Sie weiter« war von ihm nicht zu hören.
»Zu unserer Expedition: Commander Verotroicx, der sich seit Wochen mit seinen Einheiten auf Escorial befindet, würde gerne eine Pause einlegen und auf die Unit Eleven zurückkehren, aber Professor Raphael Werfel von der SCIENCE treibt die Teams immer wieder nach vorne und startet eine Expedition nach der anderen …« Sie unterbrach sich und versuchte, sich die Situation auf Escorial vor Augen zu führen.
Der Planet war alles andere als ein freundlicher Aufenthaltsort für Menschen, selbst bei bester Ausrüstung. Dabei waren es weniger die klimatischen Bedingungen wie das Fehlen von Sauerstoff oder der stetige Wind, unter denen die Einheiten litten, es waren hauptsächlich die mangelnden Sichtverhältnisse. Ohne Hilfsmittel konnte man keine fünf Meter weit sehen und die ständigen künstlichen Bilder der Triangle-Optik aus dem Infrarot- und Röntgenspektrum, zu denen die Computer noch eine statistische Hochrechnung der Umgebung dazurechneten, ging auf die Dauer selbst dem hartgesottensten Menschen auf die Nerven. Nicht jedoch Raphael Werfel. Der Professor kannte anscheinend nichts anderes als seine Wissenschaft und fühlte sich sichtlich wohl in der Ursuppe. Mehr als einmal mussten die Einheiten FORCE und SUPPLY seinen ungestümen Forschungsdrang bremsen und das Terrain aufwendig sichern, bevor sie ihn auf ein unbekanntes Gelände loslassen konnten. Auf die Dauer würde das nicht gut gehen. Werfel vertraute zu sehr der Technik und vor allem seinem Glück.
Caitlyn überlegte. Sie stand in der Befehlskette ganz oben. Letztendlich hätte sie Verotroicx ohne Rücksprache mit Sternberg befehlen können, zur Unit Eleven zurückzukehren, aber das wäre unter Umständen ein Alleingang gewesen, der sie ihren Kopf kosten könnte.
Trotzdem …
»Herr Sternberg, was Werfel auf Escorial treibt, kann gefährlich werden!«, sagte sie mutig. »Wir wissen viel zu wenig von dem Planeten. Außerdem repräsentiert dieses Sonnensystem in keiner Weise das, wonach Sie suchen. Also wozu sollen wir noch länger Zeit und Geld in Expeditionen stecken, die nichts einbringen. Als Rohstofflieferant ist Escorial nicht besonders geeignet. Er ist ein unwirtlicher Planet mit einer heißen Atmosphäre und einer Anziehungskraft von beinahe 1,5 g. Alles, was wir dort ausbeuten oder produzieren würden, treibt die Transportkosten nach oben. Das können Sie alles einfacher und billiger auf den heimischen Asteroiden und Monden haben.«
Sternberg zeigte nun endlich eine Reaktion.
»Das weiß ich alles, aber darum geht es nicht!«
Er beugte sich nach vorne und sah ihr ihn die Augen.
»Begreifen Sie nicht, was wir entdeckt haben? Zum ersten Mal in der Geschichte haben Menschen einen Planeten entdeckt, der erdähnlich ist. Der irgendwann einmal eine atembare Atmosphäre besitzen wird …«
»Die Unit Eleven ist seit Monaten unterwegs. Früher oder später hätte sie solch einen Planeten aufgespürt«, unterbrach sie ihn etwas zu heftig. Für sie waren die Expeditionen von Werfel schlichtweg unnötig. Ganz abgesehen davon, konnte sie nicht verhehlen, dass ihr der Professor unsympathisch war. Für sie war er ein bornierter Fachidiot, der nichts weiter im Kopf hatte als Informationen und Daten. Und zudem … na ja, sie würde es natürlich nie zugeben, aber bei Commander Verotroicx war es genau umgekehrt. Nicht, dass zwischen ihnen eine Beziehung irgendeiner Art bestehen würde, in Wirklichkeit hatte es nie mehr als einige flüchtige Augenkontakte gegeben, aber sie ahnte, dass da etwas zwischen ihnen beiden entstanden war – oder entstehen könnte. Nicht jetzt sofort, später vielleicht einmal. Auf jeden Fall wusste sie aus seinen Berichten, wie hart der Aufenthalt auf Escorial war, trotz bester Ausrüstung und eines geschulten Teams.
»Hätte sie nicht!«, entgegnete Sternberg in einem beinahe unwirschen Ton. »Escorial ist über 15 000 Lichtjahre von der Erde entfernt. Haben Sie überhaupt eine Ahnung, wie viele Sternsysteme in dieser weiten Umgebung existieren? Millionen davon! Die Mehrzahl ist weder kartografiert noch erforscht, aber wir sind nach wenigen Monaten auf ein System gestoßen, das erdähnliche Anzeichen aufweist …«
Er machte eine Pause, als hätten ihn seine energisch vorgetragenen Sätze vorübergehend erschöpft. »Und warum haben wir dieses System so schnell entdeckt? Weil wir im Besitz von Informationen sind, die …«
Caitlyn horchte auf. Bisher war sie der Meinung gewesen, die Unit Eleven hätte das Savoy-System ausgewählt, weil ein bestimmtes Suchraster vorgegeben war, wie auch schon bei den vierzehn Systemen zuvor, die sie zuvor angeflogen hatten. Wie dicht das Raster war oder aus welchen Informationen es sich ergab, war ihr nicht bekannt. Die Sternbergs hatten daraus immer ein großes Geheimnis gemacht. Bisher waren leider alle Planetensysteme ein Fehlschlag gewesen.
»Du kannst es ihr ruhig erzählen, Hyatt«, ertönte eine dunkle Stimme aus dem Hintergrund. Charlotte Sternberg hatte unbemerkt den Raum betreten. Die dunkle Erscheinung gesellte sich zu ihnen an den Tisch und nahm auf einem der unbequemen Stühle Platz. In der einen Hand eine Zigarette, in der anderen einen kristallenen Aschenbecher, den sie vorsichtig auf der Tischplatte platzierte. »Der Sternberg-Trust hat in den vergangen zwei Jahrhunderten beinahe alle Firmen aufgekauft, die im Besitz von Informationen über Planetensysteme waren. Alle Rechte liegen bei uns. Niemand sonst hortet diese unglaubliche Fülle von Daten, Ergebnisse und Prognosen über Sternsysteme. Danach hat es noch einmal beinahe fünfzig Jahre gedauert, bis wir auf dem heutigen Wissenstand waren und damit dieses Projekt starten konnten.
Guten Morgen, Miss Mulholland.«
Sie machte keine Anstalten, Caitlyn zur Begrüßung die Hand zu reichen, sondern nickte ihr nur zu und langte nach einer Tasse vom Tablett. Nachdem sie sich Kaffee eingeschenkt hatte, nahm sie einen Schluck und lehnte sich zurück, die Zigarette in der Hand. Es war eine dieser Gesundheitszigaretten, mit der man beim Inhalieren jede Menge Installationsnanos zu sich nahm. Gesundheit durch Rauchen. Man konnte es auch einfacher haben, aber wenn man schon unbedingt rauchen wollte, dann eben auf diese Art. Die, nebenbei bemerkt, nicht unumstritten war, denn es gab jede Menge Gesundheitsapostel, die sich vehement dagegen wehrten, dass sie mit dem Rauch des Genießers unbeabsichtigt die Nanos aufnahmen. Zu viel Gesundheit würde dem Menschen schaden, war ihre Meinung.
Charlotte Sternberg schienen die Zigaretten gutzutun, trotz ihres hohen Alters von beinahe 90 Jahren sah sie gut 20 Jahre jünger aus. Ihr Gesicht schien zwar alt, aber es waren die dunklen und wachen Augen, die ihr jugendliches Feuer verliehen und die Caitlyn ständig mit verhaltener Neugier musterten.
Ihre gepflegten Hände drehten die Zigarette unmerklich zwischen ihren Fingern, als sie schließlich weiterredete.
»Es war der Traum unseres Großvaters, einmal einen fremden Planeten zu entdecken, der der Erde gleichkam. In einem fremden Ozean zu schwimmen, in einem Wasser, dessen Quelle nicht von der Erde stammte.«
Sie drückte die Zigarette in dem Aschenbecher aus. »Ein unerfüllbarer Wunsch zu seinen Zeiten, denn der Guinevere-Sphären-Antrieb zur Überwindung von Lichtjahren ist erst in unserem Jahrhundert zur Vollendung gereift.« Sie blickte kurz ihren Bruder an, der ihre Erklärungen stumm und mit beiläufigem Kopfnicken verfolgt hatte. »Aber nun ist es so weit. Die Unit Eleven ist unterwegs. Sie sucht Sternsysteme auf, die anhand unserer Datenbanken berechnet wurden. Systeme, die mit größter Wahrscheinlichkeit erdähnliche Planeten besitzen. Ich brauche Ihnen als Wirtschaftsspezialistin nicht zu erläutern, was es bedeuten würde, wenn wir einen oder gar mehrere Planeten entdecken würden, die den Aufenthalt von Menschen ermöglichen. Und die Menschheit ist reif dazu. Trotz aller Schwierigkeiten, die in den letzten Jahrhunderten gemeistert wurden, um die Erde vor dem Untergang zu retten, haben viele den Planeten und die Gesellschaft satt. Sie wollen von vorne anfangen, eine neue Zivilisation auf den guten wie auch auf den schlechten Erfahrungen der Vergangenheit aufbauen. Der endgültige Aufbruch der Menschheit zu den Sternen wäre eine Sensation. Von dem finanziellen Zuwachs für den Sternberg-Trust möchte ich in dem Zusammenhang gar nicht reden.«
»Unermesslich«, murmelte Sternberg. »Unermesslich, aber das ist nicht unser Hauptanliegen. Es ist die Vollendung unseres Erbes, verstehen Sie? Die Erfüllung eines Jahrhundertplanes, den unsere Vorfahren ersonnen haben. Es wird eine Ehre für uns sein, für uns und alle, die vor uns dafür gearbeitet haben.«
Für einen Moment entstand eine Stille, die für die Sternbergs ehrfurchtsvoll erscheinen musste. Für Caitlyn war sie eher peinlich, ungeachtet der enormen Anstrengungen, die der Sternberg-Trust jetzt und in der Vergangenheit unternommen hatte, um dieses Ziel zu erreichen. Sie war sich nicht sicher, ob es hauptsächlich um Ruhm und Ehre ging. Der Anfang des 23. Jahrhunderts war ein Zeitalter des Aufbruchs, nachdem die Menschheit alle Energieprobleme gelöst hatte, die Klimaerwärmung nach unzähligen Katastrophen allmählich in den Griff bekam und der Religions- und Massenwahn der Vergangenheit angehörte. Nichtsdestotrotz erzeugte die Möglichkeit, Lichtjahre dank Entdeckung der Guinevere-Sphären in kurzer Zeit überwinden zu können, einen Aufbruchsgedanken, der potente Konkurrenten in die Startlöcher rief. Der Sternberg-Trust war nur einer von vielen, wenn auch mit besten Erfolgschancen, wie Caitlyn vor ihrer Einstellung recherchiert hatte.
»Sie glauben also, aufgrund Ihrer umfassenden Datenbank einen Vorteil gegenüber Ihren Konkurrenten zu haben?«, fragte Caitlyn in die Stille hinein.
Sternberg schnappte unhörbar nach Luft. Charlotte Sternberg rang sich zu einem Lächeln durch. »Hören Sie, Kindchen, wir suchen nicht nach der Nadel im Heuhaufen, ganz im Gegenteil. Wie Sie vielleicht bemerkt haben, fliegt die Unit Eleven eine ganz bestimmte Strecke ab. Entlang einer Linie, einer weit geschwungenen Parabel an den Grenzen unserer Milchstraße. Erstaunlicherweise haben unsere Rechner alle infrage kommenden Sonnensysteme genau auf einer Linie entlang den Außenbezirken unserer Galaxis ausgemacht. Wir haben sie die Sternberg-Linie genannt. Auch die Erde liegt auf dieser Linie, in einem Seitenarm der Galaxis, einem Ausläufer des Orionbereichs. Anscheinend herrschen in den Außenbereichen die besten Bedingungen für Sternsysteme mit einem erdähnlichen Planeten. Während unsere Konkurrenten der Meinung sind, eine zweite Erde müsste sich mehr im Innenbereich der Galaxis befinden, wo die Anzahl der Sterne zunimmt, sucht die Unit Eleven als einziges Schiff an einem ganz anderen Ort, nämlich am Rand der Galaxis – aufgrund von einzigartigen und absolut verlässlichen Daten.«
Caitlyn schwieg überrascht. Mit den infrage kommenden Zielen der Unit Eleven hatte sie sich nicht beschäftigt. Warum auch? Ihre Aufgaben lagen in der Organisation und im wirtschaftlichen Bereich. Bisher war sie immer der Meinung gewesen, das Schiff suche in einem bestimmten Abschnitt der Galaxis nach potenziellen Planetensystemen und nicht entlang einer vorgegebenen Linie. Jetzt wurde ihr auch klar, warum die Unit Eleven lange Distanzen zwischen den bisher abgesuchten Systemen zurückgelegt hatte.
Sie verdrängte einen ihrer Versäumnis wegen aufsteigenden Ärger. Sie hatte einen Fehler begangen. Unbedeutend zwar, aber es war ein Fehler. Sie hätte sich auch darum kümmern sollen. Allerdings hatten die Sternbergs das Geheimnis des Schiffskurses für sich behalten wollen, anders war das Zögern von Hyatt Sternberg im Bezug auf die Linie nicht zu erklären. Erst Charlotte Sternberg hatte im jetzigen Gespräch die Sternberg-Linie mehr oder weniger bekannt gegeben. Konnte es sein, dass noch nicht einmal der Kapitän des Schiffes den weiteren Verlauf der Expedition kannte?
»Wie viele Systeme liegen denn auf der Linie?«, fragte sie neugierig. Die Linie als Sternberg-Linie zu bezeichnen, brachte sie aus irgendeinem Grund nicht fertig. »Und wie weit reicht sie in die Galaxis hinaus?«
Charlotte Sternberg zog ein silbernes Zigarettenetui aus der linken Seitentasche ihres Kostüms und klappte es auf. Bevor sie eine weitere Zigarette nahm, tippte sie kurz zweimal auf die Platte des Biedermeiertisches, dessen Oberfläche sich augenblicklich in einen Frame verwandelte und eine dreidimensionale Ansicht der Milchstraße zeigte.
»Hier, Kindchen, das ist die Milchstraße, unsere Heimatgalaxie. Und hier ungefähr befindet sich die Erde.« Sie tippte wieder zweimal auf die Platte und eine helle, rote Linie spannte sich um die Abbildung. Die beiden Enden der Linie verschwanden im Dunkel des Leerraumes.
Caitlyn beugte sich verblüfft nach vorne und vergaß augenblicklich das anzügliche Kindchen. »Die Erde liegt tatsächlich auf der Linie?« Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. »Das ist doch kein Zufall, oder?«
Charlotte Sternberg zog ein teures Asqcore-Feuerzeug aus der rechten Tasche und zündete die Zigarette an. Dann lehnte sie sich zurück und blies eine Rauchfahne über den Tisch. Sie hob leicht die Schultern an. »Es ist eine Glaubensfrage. Professor Werfel glaubt an keinen Zufall, wir tendieren zu der Ansicht, dass entlang dieser Linie günstige Bedingungen für die Bildung erdähnlicher Planeten bestehen. Fragen Sie mich aber bitte nicht, welche Bedingungen das sein könnten. Wir nehmen an, dass es sich um Voraussetzungen handelt, die unsere Wissenschaft noch nicht erklären kann. Auf dieser Linie liegt aber unser Sonnensystem, genau wie das Savoy-System mit Escorial und den anderen Systemen, die wir bisher untersucht haben. Alle wiesen ähnliche Eigenschaften auf. Escorial ist bis jetzt der beste Treffer. Er ist zwar keine Erde, aber der Planet ist auf dem besten Wege dahin. Irgendwann einmal vielleicht. Wie auch immer. Es bleibt schlichtweg die Tatsache, dass all diese Systeme auf einer Linie liegen.«
Caitlyn entdeckte ein schwach flimmerndes Bedienfeld auf dem Tisch. Altmodisch, aber wirksam. Sie drehte damit das Abbild der Milchstraße langsam um die Achse.
»Die Unit Eleven verfolgt den südlichen Kurs entlang der Linie, von der Erde aus gesehen. Warum nicht in die andere Richtung? Ah, ich verstehe, der Abschnitt der Linie ist kürzer, bevor sie im Leerraum zwischen den Galaxien verschwindet.«
Charlotte Sternberg lächelte nur hintergründig als Bestätigung und zog genüsslich an ihrer Zigarette.
»Wie viele Systeme liegen auf der Linie?«, fragte Caitlyn noch einmal.
»Fünfunddreißig in südlicher Richtung, zwölf in nördlicher«, sagte Hyatt Sternberg, der ihre Unterhaltung mit steifer Haltung und mit halb geschlossenen Augen verfolgt hatte. »Wir haben uns aber für die südliche Route nicht nur der Menge der Systeme wegen entschieden, sondern auch deswegen, weil sich am Ende der Linie eine eigenartige Gravitationsanomalie befindet, die uns – beziehungsweise Werfel – sehr interessiert.«
»Gravitationsanomalie? Das klingt nicht gerade harmlos. Was ist es denn? Ein Schwarzes Loch?«
»Nein, wir wissen es nicht. Oder genauer: Werfel weiß es nicht. Deswegen möchte er unbedingt dorthin. Es scheint eine Art Zeitkrümmung oder ein Zeitfeld zu sein. Die Wellenlänge des eindringenden Lichtes ist nicht identisch mit der Wellenlänge des austretenden Lichtes. Ein Novum in der physikalischen Astronomie.«
Caitlyn rümpfte skeptisch ihre Nase. Der Gedanke, einem Schwarzen Loch oder einer unbekannten Gravitationsanomalie zu nahe zu kommen, behagte ihr gar nicht, auch wenn es bis dorthin noch ein weiter Weg war.
»Das Ende der Linie. Gemäß ihrer Darstellung hier auf dem Tisch ist es schätzungsweise gut 60 000 Lichtjahre von der Erde entfernt …«
»Fast 70 000. Die Gravitationsanomalie liegt im äußersten Halo unserer Galaxis.«
»… und ich weiß von keinem Schiff, das sich auch nur annähernd so weit vom heimischen Sonnensystem aufgehalten hat.«
Ein schelmisches Lächeln huschte über Sternbergs Gesicht.
»Captain Holmes kreuzte mit der Ennabris vor gut einundzwanzig Jahren in einem Gebiet 18 000 Lichtjahre von der Erde entfernt. Angeblich sollten von dort Signale von Extraterristrischen gesendet worden sein. Gefunden hat er nichts, nur Doppelsternsysteme und gewaltige Gasriesen. Seitdem war kein Schiff weiter draußen.«
»Stichwort extraterristrisch: Mal angenommen, die Unit Eleven findet eine zweite Erde, und mal angenommen, sie wäre von intelligenten Lebewesen bewohnt, was passiert dann?«
Sternberg wirkte für einen kurzen Moment unkonzentriert, dann sah er Hilfe suchend seine Schwester an.
»Sagt Ihnen der Begriff Green-Bank-Gleichung etwas? Haben Sie davon schon einmal etwas gehört?«, wurde sie von Charlotte Sternberg in einem etwas indignierten Ton gefragt.
Eine überflüssige Frage, denn diese antiquierte Formel aus dem 20. Jahrhundert war in den letzten Jahren von den Medien des Öfteren aus den verstaubten Archiven gezerrt worden, um Aufmerksamkeit zu erregen.
»Natürlich. Sie stammt von Frank Drake, einem Astronomen aus dem damaligen Staatenbund USA. Ein etwas primitiv formulierter Versuch, die Anzahl von intelligentem außerirdischen Leben in unserer Galaxis zu berechnen. Die Formel wurde im Frühjahr 1960 im Observatorium von Green Bank in West Virginia präsentiert und sagt im Endeffekt aus, dass es bis zu vier Millionen Zivilisationen in der Milchstraße geben könnte – im günstigsten Fall. In einem weit strengeren Maßstab betrachtet, könnten es aber auch nur vier intelligente Rassen sein. Die Green-Bank-Gleichung lässt also im Ergebnis einen ziemlich weiten Bogen von Schätzungen zu. Selbst spätere Korrekturen und Hinzufügungen von weiteren Faktoren ergaben kein genaueres Bild der Verteilung von möglichen Intelligenzen in der Galaxis. In meinen Augen ist die Formel nichts als ein nettes Spielzeug in den Händen der Astronomen und seit Kurzem auch der Medien.«
Sie fing sich einen tadelnden Blick von Charlotte Sternberg ein. Vielleicht hätte sie ihre persönliche Meinung besser zurückhalten sollen, schließlich war sie nicht danach gefragt worden.
Trotzdem blickte Caitlyn Charlotte Sternberg fest in die Augen, um ihren Standpunkt zu unterstreichen. Wenn schon nach vorne preschen, dann richtig, sagte sie sich.
»Ach Kindchen, nun mal langsam mit den jungen Pferden«, entgegnete Charlotte Sternberg versöhnlich. »Natürlich ist die Gleichung eine grobe Berechnung, aber nach meiner Einschätzung zeigt sie deutlich, wie gering die Wahrscheinlichkeit einer außerirdischen Intelligenz in unserer Galaxis ist, von einer Zivilisation ähnlich der unsrigen ganz zu schweigen. Wenn man als weiteren Faktor noch die bewiesene Unmöglichkeit von Leben im Kern der Milchstraße dazurechnet und sich weiterhin nur auf die wenigen Planetensysteme der Sternberg-Linie beschränkt, dann werden auch Sie einsehen, dass die Wahrscheinlichkeit von intelligentem Leben sehr schnell gegen null tendiert.«
Reine Ansichtssache, dachte Caitlyn, und bewiesen ist gar nichts. Sie hütete sich aber, die Diskussion darüber noch weiter anzufachen.
»Ganz abgesehen davon«, fuhr Charlotte Sternberg fort, »sollten wir uns vielleicht über fremde Intelligenzen erst dann Gedanken machen, wenn wir ihnen irgendwann einmal tatsächlich begegnen. Also nicht jetzt, und ich nehme an, das wird auch in naher Zukunft nicht zutreffen.«
Damit war der Punkt erledigt.
Hyatt Sternberg rührte sich wieder, nachdem er die Diskussion regungslos verfolgt hatte. »M Mulholland, wie Sie wissen, brauche ich einen ausführlichen Abschlussbericht über das Savoy-System für das Logbuch der Unit Eleven, aber vorher wollte ich Ihnen noch etwas zeigen.«
Er stützte sich mit beiden Händen auf die Knie und stand umständlich auf. Dann ging er wortlos durch den Raum hinüber zu dem länglichen Fenster.
Caitlyn warf Charlotte Sternberg einen fragenden Blick zu, den diese mit einer auffordernden Kopfbewegung in Richtung ihres Bruders beantwortete.
Caitlyn stand ebenfalls auf und folgte Sternberg, wohl wissend, dass die Augen von Charlotte Sternberg abschätzend ihren wohlgeformten Rücken taxierten.
Sie trat hinter Sternberg an das Fenster, der mit verschränkten Armen vor dem breiten Streifen voller Licht stand. Sich neben ihn zu stellen hätte sie nie gewagt.
»Sehen Sie sich dieses gewaltige Bild an, Miss Mulholland«, flüsterte er voller Respekt. »Ein unmittelbarer und direkter Blick auf die Schöpfungsgeschichte wurde bisher nur wenigen Menschen zuteil.«
Sie wusste, was er damit sagen wollte. Dieses Fenster war einzigartig. In keinem anderen Raumschiff außer in der Unit Eleven gab es einen direkten Sichtkontakt mit der Außenwelt. Nur Sternberg leistete sich den Luxus eines Fensters, das mit besonderen Sicherheitsvorrichtungen versehen und aus teuren und seltenen Kristalltripoden und Korrekturfiltern konstruiert war. Wurde die auftreffende Strahlung zu hart, schlossen sich die vorgelagerten Luken innerhalb von Mikrosekunden. Selbst hochbeschleunigte Meteoriten hatten keine Chance, innerhalb dieser kurzen Zeitspanne auch nur in die Nähe der Oberfläche dieses hochwertigen Glases zu gelangen. Eine Beschreibung dieses Fensters war vor einem Jahr Gegenstand eines Artikels in der People of Earth gewesen. Man hatte ehrfurchtsvoll vom Sternberg-Fenster gesprochen, wahrscheinlich zu Recht, denn dessen Preis dürfte dem der Klongemälde draußen im Gang um nichts nachstehen.
Sie trat einen halben Schritt nach rechts und sah blinzelnd hinaus. Es dauerte einen Moment, bis sich ihre Augen an das helle Licht gewöhnt hatten. Sternbergs Rede von einem Bild war passend, wobei das Wort Gemälde wohl eher zutreffend gewesen wäre. Die Unit Eleven kreiste in einem mittleren Orbit von 10 000 Kilometern um Escorial und somit konnte Caitlyn den gesamten Planeten mit seiner ungewöhnlich hohen Albedo betrachten. Die beinahe geschlossene Wolkendecke reflektierte das Licht von Savoy und ließ damit den Eindruck entstehen, Escorial bestünde aus einer glänzenden Oberfläche. Nur an manchen Stellen, an denen die faserige Wolkenschicht dünner wurde, zeigte sich die wahre Beschaffenheit einer unwirtlichen Landschaft. Hässliche, graubraune Flecken, in denen ab und zu die Überreste tiefer Krater zu sehen waren. Einschläge von großen Meteoriten, die aber schon vor langer Zeit stattgefunden hatten.
Nachdem sich ihre Augen in der Zwischenzeit besser an die Helligkeit gewöhnt hatten, konnte Caitlyn Strömungen in der Wolkenschicht erkennen. Lange, helle Bereiche, die von dunklen Wirbeln unterbrochen wurden. Dort unten mussten chaotische Windverhältnisse herrschen, die den FORCE-, SCIENCE- und SUPPLY-Units auf der Oberfläche enorme Schwierigkeiten machten. Unwillkürlich kam ihr Commander Verotroicx in den Sinn, der seit Tagen auf einen Abbruch ihrer Mission drängte.
Sternberg verlagerte sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen.
»Wenn das Schicksal es will, wird Escorial in ein paar Millionen Jahren ein bewohnbarer Planet sein«, sagte er und hob den Kopf etwas nach oben, als wollte er den Klang seiner Worte ergründen. »Ein paar Millionen Jahre. Die Zeitspanne ist für die Schöpfung lediglich ein Augenzwinkern, für die Menschheit ist sie unvorstellbar. Wir Menschen dagegen besitzen den Trumpf der Schnelllebigkeit. In nur knapp 300 Jahren haben wir den Sprung vom Mond in die Galaxis geschafft. Wer weiß, wohin wir es in weiteren 300 Jahren schaffen werden.«
Caitlyn erwiderte nichts darauf und genoss schweigend den außergewöhnlichen Anblick. Das Fenster regelte den Kontrast mithilfe von partiellen Filtern, sodass trotz der enorm hellen Reflexion des Lichtes von Savoy auf den Wolken die umgebenden Sterne und die Sicheln von den Monden Tucker und Delmare zu sehen waren.
In der Äquatorebene von Escorial zogen brodelnde Wolkenspiralen von Südwesten nach Nordosten und zeugten als sichtbare Boten von den ungeheuren Turbulenzen, die auf dem Planeten herrschten. Kräftig aufflammende Felder von lautlosen Blitzen erhellten ihren Weg auf der Nachtseite jenseits des sichelförmig gebogenen Terminators.
»Wir sollten unsere Leute zurückholen«, wagte sie vorsichtig vorzuschlagen. »Die Bedingungen dort unten werden immer schlechter.«
Sternberg antwortete nicht sofort. Caitlyn konnte von hinten sehen, dass sich sein Kinn unmerklich nach vorne schob. Sie kannte seine Aversion gegen Ratschläge von außen und hatte es bisher immer vermieden, ihre Meinung laut zu äußern, aber jetzt erforderte die Situation eine schnelle Entscheidung. Er blieb jedoch ruhig. Schließlich wippte er einige Male mit den Füßen vor und zurück.
»Sie haben recht. Wir verschwenden hier nur unsere Zeit. Holen Sie die Leute zurück. So schnell wie möglich.«
Er drehte sich um und ging an ihr vorbei, ohne sie anzusehen.
Caitlyn atmete innerlich kurz auf und beobachtete, wie er mit schnellen Schritten aus dem Raum ging. Wenig später war sie allein. Charlotte Sternberg war vorher schon ebenso grußlos gegangen, wie sie gekommen war.
Sie blickte wieder hinunter auf Escorial und konnte nicht verleugnen, dass es ein erhabenes Gefühl war, hier alleine an diesem berühmten Fenster zu stehen und die einmalige Aussicht zu genießen.
Nach einigen Minuten aktivierte sie ihren persönlichen Frame, der sich mit einem leisen Knistern vor ihr aufbaute. Das stilisierte Symbol der Unit Eleven verdeckte einen Teil des Fensters und wanderte ruckartig nach oben, als sie leicht ihren Kopf hob.
»MulhollandHEAD an Escorial!«
Augenblicklich erschien der Kopf einer rothaarigen jungen Frau. Die gefärbten Rastalocken standen der Frisur von Eloise in nichts nach.
»LaceyFORCE, diensthabender Offizier.«
Caitlyn lächelte, als sie den schwarzhäutigen Rotschopf erkannte. Victoria Lacey, ein quirliger junger Offizier mit blauen Augen und einem sarkastischen Humor.
»Vic, ihr könnt die Expedition beenden. So schnell wie möglich. Befehl von ganz oben.«
Victoria Lacey machte einen Schmollmund.
»Och, schade, gerade jetzt, wo ab und zu Savoy rauskommt und wir auch mal draußen spielen könnten …«
Caitlyn ging nicht auf den Scherz ein.
»Wie lange braucht ihr zum Packen?«
»Weiß ich nicht, im Normalfall vielleicht eine Stunde, aber hier tobt ein gewaltiger Sturm und ich glaube nicht, dass wir hier schnell wegkommen. Außerdem müssen wir erst noch den verrückten Professor einfangen. Er ist irgendwo da draußen und bereichert sein Wissen.«
»Sag ihm Bescheid. Und sag ihm, es sei dringend. Sternberg möchte seine Reise fortsetzen.«
»Okay. Sofort. Gleich. Gerne. Sonst noch etwas?«
»Nein, das ist alles. Wir sehen uns später.«
Victoria hob den Daumen als Bestätigung und hauchte ein »Ciao« mit ihren vollen Lippen in die magnetische Linse.
Verrücktes Huhn, dachte Caitlyn mit einem Lächeln und deaktivierte ihren Frame, das mit einem Zischen im Nichts verschwand.
Nach einigen weiteren Minuten, die sie der Betrachtung von Escorial widmete, ging sie mit Bedauern zurück an ihre Arbeit.
Die Unit Eleven musste für die Rückkehr der Einheiten bereit gemacht werden.
2
Commander Alan Verotroicx stemmte seinen rechten Fuß hinter einen Felsen und versuchte, im Windschatten eines Überhanges Schutz vor dem Sturm zu finden.
»Ja, Vic, was gibt es?«
Sein Frame außerhalb seines Schutzanzuges wurde buchstäblich vom Wind verweht. Noch nicht einmal die automatische Projektionsnachführung brachte ein stabiles Bild zustande, also aktivierte er den Frame auf der Sichtscheibe seines Helmes.
Was ihm nicht viel nutzte, denn jetzt konnte er Vic zwar deutlich sehen, aber das Brüllen der Naturgewalten um ihn herum übertönte sogar ihre Stimme aus den Speaker Flats.
»Einen Moment, langsam!«, unterbrach er ihre lautlosen Bemühungen, ihm etwas mitzuteilen. »Ich schalte die visuelle Übersetzung ein. Ich verstehe kein Wort!«
Vor dem Aufenthalt auf Escorial hatte er diese Funktion nur bei der Verständigung mit fremdsprachigen Kollegen benutzt und selbst bei diesen Gelegenheiten nur als zusätzliche Unterstützung. Seit er auf dem verdammten Planeten war, liefen ständig die gesprochenen Worte auf seiner Sichtscheibe ab. Anders waren bei dem Getöse im Freien Informationen nicht weiterzugeben.
»… die Expedition abbrechen und auf die Unit zurückkehren. So schnell wie möglich!«, las er ab.
Fast hätte er laut aufgelacht. Zurückkehren! Das wäre vor ein paar Tagen kein Problem gewesen, aber jetzt, bei Windgeschwindigkeiten von über 200 Stundenkilometern? Die großen Cargos würden keine zehn Meter weit kommen, um danach irgendwo an den Felsen oder am Boden zu zerschellen.
»Vic, bei dem momentanen Sturm ist an eine Rückkehr nicht zu denken«, antwortete er beherrscht. »Wir müssen ruhigeres Wetter abwarten. Sag Mulholland … Nein, warte, ich spreche selbst mit ihr, sie soll von dem Sauwetter gleich einen richtigen Eindruck bekommen!«
Er sah, wie Victoria Lacey bedeutungsvoll die Handflächen bewegte und ihr Gesicht verzog. Anschließend machte sie einige wertlose Gesten in einer erfundenen Taubstummensprache, die wohl so viel wie »Viel Spaß dabei« bedeuten sollten.
»Vic, du hast einfach keinen Respekt vor deinen Arbeitgebern. Du kannst nur darauf hoffen, dass niemand unsere Unterhaltung belauscht!«
Sie schlug die Hände über dem Kopf zusammen und blickte ängstlich nach oben. Gleich darauf grinste sie ihn mit zwei blendend weißen Zahnreihen an.
»Irgendwann kriegst du einmal was auf den Deckel, wenn du dich nicht besserst«, murmelte er und schaltete ab. Die Zahnreihen verschwanden von seinem Sichtschirm. »George, eine Verbindung mit MulhollandHEAD!«, befahl er seinem Frame.
So schnell wie möglich zurückkehren! Die arrogante Büromieze hatte doch keine Ahnung. Wenn sie ihren hübschen Hintern einmal in eine der Realkabinen bewegen würde, dann würden ihr die Simulatoren sehr schnell klarmachen, was hier unten vor sich ging. Wahrscheinlich aktivierte sie nur ab und zu einmal ihren persönlichen Frame und sah sich nebenbei die langweiligen Übertragungen von der Oberfläche des Planeten an. Viel gab es in dieser trüben Atmosphäre ja nicht zu sehen, außer vielleicht ein paar dunkle Gesteinsbrocken, die vom Wind gepeitscht träge über eine Ebene rollten. Oder sie hörte sich die begeisterten Kommentare von Professor Werfel an, wenn der mit seiner Arack unterwegs war.
Nein, das würde sie gewiss nicht tun. Keins von beiden. Vermutlich wusste sie noch nicht einmal, wer Professor Werfel überhaupt war. Kein Wunder, wenn man jeden Morgen auf albernen Gleitschuhen ins Büro rutschte.
»VEROTROICX!«, las er in großen Buchstaben auf seinem Sichtschirm.
Dahinter erkannte er Caitlyn Mulholland, die resignierend versuchte, mit ihm Kontakt aufzunehmen.
»Okay, okay, ich höre Sie, oder besser, lese Ihre Worte!«, antwortete er verärgert über seine eigene Unaufmerksamkeit. Gleichzeitig verfluchte er seine Entscheidung, sofort mit ihr reden zu wollen, um ihr hautnah die Bedingungen auf dem Planeten vor Augen zu führen. Der Einstieg in die geschützten Quartiere befand sich keine fünfzig Meter vor ihm. Allerdings würde der Weg einiges an Zeit kosten, da er nur in der Deckung der schützenden Felsen rechts von ihm dorthin gelangen konnte.
»Ich kann Sie bei dem Sturm nicht hören!«, rief er laut. »Ihre Worte erscheinen als Schrift hier auf meinem Schirm.«
»Ich weiß«, antwortete sie. Dann kam sie gleich zur Sache. »Hat Ihnen Lacey den Rückzugsbefehl übermittelt?«
Natürlich, du Schlaukopf, was sollte sie denn sonst machen! Er mahnte sich zur Sachlichkeit und sagte beherrscht: »Ja, aber wir werden Schwierigkeiten haben, hier wegzukommen. Die Windgeschwindigkeiten sind im Moment zu hoch …«
»Ich weiß«, fiel sie ihm ins Wort. »So, wie es aussieht, wird sich das in den nächsten 24 Stunden auch nicht ändern. Besonders die Scherwinde über dem Boden werden einen Start mit den Cargos unmöglich machen. Trotzdem besteht Sternberg auf einem sofortigen Abbruch der Expedition, aber ich werde versuchen, ihm die Situation zu erklären.«
Hey, Vorsicht!, dachte er. Lacey hatte ihm hinter vorgehaltener Hand erzählt, dass Sternbergs elitäre Mädchentruppe nichts anderes zu tun hatte, als Informationen über den allgemeinen Status in der Unit Eleven zu sammeln. Dazu gehörte auch das Abhören des Funkverkehrs. Sternberg würde es bestimmt nicht gerne hören, wenn man ihm eine falsche Einschätzung der Lage unterstellte.
»Nun ja«, meinte er versöhnlich. »Laut Handbuch sind die Cargos für weit schlimmere Bedingungen konzipiert. Ich werde mit den Piloten darüber sprechen.«
Ich rede reinen Schwachsinn, dachte er. Fogelman und seine Jungs von der SUPPLY werden mich sofort für bescheuert erklären, wenn ich ihnen mit den Beschreibungen in den Handbüchern komme.
»Vergessen Sie das«, las er auf seinem Schirm. »Die Cargos sind nicht für solche extremen Bedingungen gebaut. Ich habe auf dem Gelände von Mitsubishi Testflüge mit den Cargos unternommen. Sergio Tamini selbst hat mir demonstriert, wozu die Cargos in der Lage sind und wo deren Grenzen liegen. Die jetzigen Bedingungen auf Escorial liegen deutlich außerhalb der Toleranzen. Mit anderen Worten: Sie unternehmen keine Alleingänge, Commander Verotroicx. Wir können uns keine Verluste leisten, weder an Menschen noch an Material. Wir stimmen uns mit dem Wetterscan ab. Sobald es ein Fenster mit günstigeren Bedingungen gibt, handeln wir. Halten Sie sich für diesen Moment bereit!«
Er schwieg verblüfft. Respekt! Das klang alles absolut vernünftig. Anscheinend hatte er die Büromieze unterschätzt. Er blinzelte verwirrt den Sichtschirm an, von dem ihm die zwei blassgrünen Augen von Caitlyn Mulholland kühl entgegenblickten. Sie konnte ihn nicht sehen. Seine externen Nanokameras, die normalerweise irgendwo unsichtbar vor dem Gesicht des Benutzers eines Frames schwebten, konnten ihr kein Bild von ihm liefern, sie waren buchstäblich schon längst vom Winde verweht. Im Augenblick benutzte sie seine Helmkameras, die ihr Eindrücke von der Umgebung vermittelten.
Einen kleinen Augenblick lang erschien die Andeutung eines verschmitzten Lächelns auf ihrem großen Mund.
Sie wusste es! Sie wusste ganz genau, dass ihr Gespräch abgehört wurde. Sie spielte ganz bewusst eine souveräne Rolle, um den großen Sternberg zu beeindrucken.
»Okay, wir halten uns bereit«, sagte er.
Er wollte das Gespräch schon beenden, als ihm noch etwas einfiel. »Sie haben vorhin Sergio Tamini erwähnt, den Vorsitzenden von Mitsubishi. Sie haben tatsächlich mit ihm zusammen auf Titan mit den Cargos Testflüge durchgeführt?«
»Nicht nur das, ich war sogar Gast in seinem Haus«, antwortete sie nüchtern.
Er war beeindruckt. Tamini war für alle Piloten ein Pionier der modernen Raumfahrt. Beinahe sämtliche Cargos liefen heutzutage von den Bändern seiner Produktion auf dem Mars und den Saturnmonden. Außerdem gehörte Tamini zu den Top Ten der Gesellschaft. Ihm persönlich zu begegnen war so unwahrscheinlich wie ein Sechser im Lotto. Umgeben von Luxus und schönen Frauen wohnte er in einer schlossähnlichen Anlage auf Titan, die des Öfteren ausführliches Thema in einschlägigen Magazinen gewesen war.
»Ach was!«, entfuhr es ihm. »Lassen Sie mich raten, ich wette, Sie stehen auf seiner Liste der zehn schönsten Frauen!« Es sollte ein Kompliment sein, aber kaum hatte er es ausgesprochen, bemerkte er, dass er zu weit gegangen war.
Und wenn schon so eine blöde Anmache, dann setze sie wenigstens auf die Spitze der Liste!
Sie ließ sich jedoch nichts anmerken, doch für einen kurzen Moment schien ihr Gesicht auf dem Frame einzufrieren.
»Vielen Dank für das Kompliment, aber sie haben recht, er hat mir schon am zweiten Tag meines Aufenthaltes einen Heiratsantrag gemacht. Möchten Sie noch weitere Details wissen?«
Er spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss.
Caitlyn Mulholland blickte ihn auf seinem Sichtschirm weiterhin regungslos an.
Er fragte sich, was diese Frau dazu trieb, im All nach fremden Planeten zu suchen.
Ein starker Windstoß ließ ihn sich tief hinter dem Felsvorsprung ducken. Was für ein verrücktes Gespräch, dachte er. Mich bläst es hier fast von den Beinen und ich flirte wie ein dummer Junge mit der rechten Hand von Sternberg. Dabei lag er nun 0:1 hinten.
»Nein, danke. Entschuldigen Sie bitte meine Indiskretion. Es war sehr nett, mich mit Ihnen zu unterhalten.« Er war bemüht, den Satz in einem gleichgültigen Tonfall hervorzubringen Wenigstens war ihm ein einigermaßen cooler Abgang gelungen.
Eine Stunde später saß er alleine in der Messe der kleinen Station, die er und seine Leute vor gut drei Wochen in den Schutz einer flachen Bergflanke hineingebaut hatten. Ein Fehler, wie es sich im Nachhinein herausstellte. Durch den tosenden Sturm, der über den niedrigen Hügel tobte, entstand gleich hinter dem Abriss ein Unterdruck, der unablässig an der Konstruktion der Schutzwände zerrte. Ein ständiges Knattern und Rütteln war die Folge. Zudem war durch den Dreck, den der Sturm transportierte, vor dem Eingang der Station nach und nach ein kleiner Hügel entstanden, der ständig größer wurde und allmählich ein Passageproblem darstellte. Die Station zu verlegen war nach dem dramatischen Anwachsen der Windgeschwindigkeiten nicht mehr möglich gewesen und so blieb ihnen nur die Hoffnung auf eine möglichst rasche Änderung der Wetterverhältnisse.
Verotroicx verfluchte innerlich Sternbergs Entscheidung, eine Einheit auf Escorial abzusetzen, um den Werdegang des Planeten genauer zu erforschen. In seinen Augen ein sinnloses Unterfangen. Hier gab es nichts zu erforschen, was man nicht auch problemlos vom Orbit aus hätte erfahren können. Was hier unten geschah, war nichts weiter als ein unnötiges Strapazieren von Menschen und Material.
Sternberg hatte bestimmt keine Ahnung, was hier vor sich ging. Oder er wollte es nicht wahrhaben, schließlich würden ihm seine Hofberichterstatterinnen bestimmt eine Zusammenfassung der täglichen Aufnahmen von der Planetenoberfläche vorlegen. Immer mehr kam in ihm der Verdacht auf, dass Professor Werfel maßgeblichen Einfluss an der Entscheidungsfindung hatte. Sternberg selbst konnte kein Interesse an dem Planeten haben, denn Escorial war nicht das, wonach er suchte.
Werfel dagegen war von Anfang an beinahe jeden Tag draußen im Gelände, sogar heute, bei diesen harten Bedingungen.
Ein kleiner, verrückter, sehr energischer Mann. Lange konnte das nicht mehr gut gehen, dachte Verotroicx und duckte sich unwillkürlich, als eine erneute Böe an der Schleuse am Eingang rüttelte. Gegen diese Naturgewalten kam bald auch die beste Technik nicht mehr an. Es war ihm ein Rätsel, wie Werfel es dort draußen so lange aushielt. Zwar war er mit einer Arack unterwegs, einer sogenannten Geländespinne, die unter diesen Umständen das Beste vom Besten war, aber die war lediglich unter heimischen Bedingungen getestet und entwickelt worden.
Ebenfalls ein Produkt aus dem Hause Tamini.
Wahrscheinlich steckte Tamini ebenfalls in dieser Expedition mit drin. Zwar konnten die Sternbergs ohne Zweifel alles alleine finanzieren, aber Verotroicx schätzte, dass Tamini mit einer Beteiligung zu den Auserwählten gehören würde, die als Erste einen fremden Planeten besiedelten – falls die Suche Erfolg hätte.
Verotroicx glaubte nicht daran.