Draußen vor der Tür. Ein Stück, das kein Theater spielen und kein Publikum sehen will - Wolfgang Borchert - E-Book

Draußen vor der Tür. Ein Stück, das kein Theater spielen und kein Publikum sehen will E-Book

Wolfgang Borchert

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Beschreibung

Beckmann kehrt aus dem Krieg nach Deutschland zurück, er ist körperlich und seelisch verwundet. Doch zu Hause findet er sich nicht mehr zurecht, überall stößt er auf Ablehnung, Kälte und Ignoranz.  Borcherts Heimkehrerdrama ist ein Klassiker der Trümmerliteratur und eines der meistgelesenen Werke der Nachkriegszeit.  Orthographisch behutsam modernisierte Ausgabe mit Worterläuterungen.

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Wolfgang Borchert

Draußen vor der Tür

Ein Stück, das kein Theater spielen und kein Publikum sehen will

Reclam

RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK Nr. 962206

2023 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2023

RECLAM, UNIVERSAL-BIBLIOTHEK und RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetragene Marken der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-962206-4

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-014412-1

www.reclam.de

Inhalt

Draußen vor der Tür

[Personen]

Ein Mann kommt nach Deutschland.

Vorspiel

Der Traum

I. Szene

II. Szene

III. Szene

IV. Szene

V. Szene

Anhang

Zu dieser Ausgabe

Anmerkungen

[5]Draußen vor der Tür

(Ein Mann kommt nach Deutschland)

(Ein Stück, das kein Theater spielen und kein Publikum sehen will)

 

 

 

[Hans Quest gewidmet]

[6][Personen]

BECKMANN, einer von denen

seine FRAU, die ihn vergaß

deren FREUND, der sie liebt

ein MÄDCHEN, dessen Mann auf einem Bein nach Hause kam

ihr MANN, der tausend Nächte von ihr träumte

ein OBERST, der sehr lustig ist

seine FRAU, die es friert in ihrer warmen Stube

die TOCHTER, gerade beim Abendbrot

deren schneidiger MANN

ein KABARETTDIREKTOR, der mutig sein möchte, aber dann doch lieber feige ist

Frau KRAMER, die weiter nichts ist als Frau Kramer, und das ist gerade so furchtbar

der alte MANN, an den keiner mehr glaubt

der BEERDIGUNGSUNTERNEHMER mit dem Schluckauf

ein STRASSENFEGER, der gar keiner ist

DER ANDERE, den jeder kennt

[die ELBE]

[7]Ein Mann kommt nach Deutschland.

Er war lange weg, der Mann. Sehr lange. Vielleicht zu lange. Und er kommt ganz anders wieder als er wegging. Äußerlich ist er ein naher Verwandter jener Gebilde, die auf den Feldern stehen, um die Vögel (und manchmal abends auch die Menschen) zu erschrecken. Innerlich – auch. Er hat tausend Tage draußen in der Kälte gewartet. Und als Eintrittsgeld musste er noch mit seiner Kniescheibe bezahlen. Und nachdem er nun tausend Nächte draußen in der Kälte gewartet hat, kommt er endlich doch noch nach Hause.

Ein Mann kommt nach Deutschland.

Und da erlebt er einen ganz tollen Film. Er muss sich während der Vorstellung mehrmals in den Arm kneifen, denn er weiß nicht, ob er wacht oder träumt. Aber dann sieht er, dass es rechts und links neben ihm noch mehr Leute gibt, die alle dasselbe erleben. Und er denkt, dass es dann doch wohl die Wahrheit sein muss. Ja, und als er dann am Schluss mit leerem Magen und kalten Füßen wieder auf der Straße steht, merkt er, dass es eigentlich nur ein ganz alltäglicher Film war, ein ganz alltäglicher Film. Von einem Mann, der nach Deutschland kommt, einer von denen. Einer von denen, die nach Hause kommen und die dann doch nicht nach Hause kommen, weil für sie kein Zuhause mehr da ist. Und ihr Zuhause ist dann draußen vor der Tür. Ihr Deutschland ist draußen, nachts im Regen, auf der Straße.

Das ist ihr Deutschland.

[8]Vorspiel

(Der Wind stöhnt. Die Elbe schwappt gegen die Pontons. Es ist Abend. Der Beerdigungsunternehmer. Gegen den Abendhimmel die Silhouette eines Menschen).

DER BEERDIGUNGSUNTERNEHMER(rülpst mehrere Male und sagt dabei jedes Mal): Rums! Rums! Wie die – rums! Wie die Fliegen! Wie die Fliegen, sag ich.

  Aha, da steht einer. Da auf dem Ponton. Sieht aus, als ob er Uniform anhat. Ja, einen alten Soldatenmantel hat er an. Mütze hat er nicht auf. Seine Haare sind kurz wie eine Bürste. Er steht ziemlich dicht am Wasser. Beinahe zu dicht am Wasser steht er da.

  Das ist verdächtig. Die abends im Dunkeln am Wasser stehen, das sind entweder Liebespaare oder Dichter. Oder das ist einer von denen aus der großen grauen Zahl, die keine Lust mehr haben. Die den Laden hinwerfen und nicht mehr mitmachen. Scheint auch so einer zu sein, von denen, der da auf dem Ponton. Steht gefährlich dicht am Wasser. Steht ziemlich allein da. Ein Liebespaar kann es nicht sein, das sind immer zwei. Ein Dichter ist es auch nicht. Dichter haben längere Haare. Aber dieser hier auf dem Ponton hat eine Bürste auf dem Kopf. Merkwürdiger Fall, der da auf dem Ponton, ganz merkwürdig.

(Es gluckst einmal schwer und dunkel auf.)

(Die Silhouette ist verschwunden.)

  Rums! Da! Weg ist er. Reingesprungen. Stand zu dicht am Wasser. Hat ihn wohl untergekriegt. Und jetzt ist er weg. Rums. Ein Mensch stirbt. Und? Nichts weiter. Der Wind weht weiter. Die Elbe quasselt weiter. Die [9]Straßenbahn klingelt weiter. Die Huren liegen weiter weiß und weich in den Fenstern. Herr Kramer dreht sich auf die andere Seite und schnarcht weiter. Und keine-keine Uhr bleibt stehen. Rums! Ein Mensch ist gestorben. Und? Nichts weiter. Nur ein paar kreisförmige Wellen beweisen, dass er mal da war. Aber auch die haben sich schnell wieder beruhigt. Und wenn die sich verlaufen haben, dann ist auch er vergessen, verlaufen, spurlos, als ob er nie gewesen wäre. Weiter nichts. Hallo? Da weint einer. Merkwürdig. Ein alter Mann steht da und weint. Guten Abend.

DER ALTE MANN(nicht jämmerlich, sondern erschüttert): Kinder, Kinder! Meine Kinder!

BEERDIGUNGSUNTERNEHMER: Warum weinst du denn, Alter?

DER ALTE MANN: Weil ich es nicht ändern kann, oh, weil ich es nicht ändern kann.

BEERDIGUNGSUNTERNEHMER: Rums! Tschuldigung! Das ist allerdings schlecht. Aber deswegen braucht man doch nicht gleich loszulegen wie eine verlassene Braut. Rums! Tschuldigung!

DER ALTE MANN: Oh, meine Kinder! Es sind doch alles meine Kinder!

BEERDIGUNGSUNTERNEHMER: Oho, wer bist du denn?

DER ALTE MANN: Der Gott, an den keiner mehr glaubt.

BEERDIGUNGSUNTERNEHMER: Und darum weinst du? Rums! Tschuldigung!

GOTT: Weil ich es nicht ändern kann. Sie erschießen sich. Sie hängen sich auf. Sie ersaufen sich. Sie ermorden sich, heute hundert, morgen hunderttausend. Und ich, ich kann es nicht ändern.

[10]BEERDIGUNGSUNTERNEHMER: Finster, finster, Alter. Sehr finster. Aber es glaubt eben keiner mehr an dich, das ist es.

GOTT: Sehr finster. Ich bin der Gott, an den keiner mehr glaubt. Sehr finster. Und ich kann es nicht ändern, meine Kinder, ich kann es nicht ändern. Finster, finster.

BEERDIGUNGSUNTERNEHMER: Rums! Tschuldigung! Wie die Fliegen! Rums! Verflucht!

GOTT: Warum rülpsen Sie denn fortwährend so ekelhaft? Das ist ja entsetzlich!

BEERDIGUNGSUNTERNEHMER: Ja ja, gräulich! Ganz gräulich. Berufskrankheit. Ich bin Beerdigungsunternehmer.

GOTT: Der Tod? Du hast es gut! Du bist der neue Gott. An dich glauben sie. Dich lieben sie. Dich fürchten sie. Du bist unumstößlich. Dich kann keiner leugnen. Keiner lästern. Ja, du hast es gut. Du bist der neue Gott. An dir kommt keiner vorbei. Du bist der neue Gott, Tod, aber du bist fett geworden. Dich hab ich doch ganz anders in Erinnerung. Viel magerer, dürrer, knochiger. Du bist aber rund und fett und gut gelaunt. Der alte Tod sah immer so verhungert aus.

TOD: Na ja, ich habe in diesem Jahrhundert ein bisschen Fett angesetzt. Das Geschäft ging gut. Ein Krieg gibt dem anderen die Hand. Wie die Fliegen! Wie die Fliegen kleben die Toten an den Wänden dieses Jahrhunderts. Wie die Fliegen liegen sie steif und vertrocknet auf der Fensterbank der Zeit.

GOTT: Aber das Rülpsen? Warum dieses grässliche Rülpsen?

TOD: Überfressen. Glatt überfressen. Das ist alles. Heutzu[11]tage kommt man aus dem Rülpsen gar nicht heraus. Rums! Tschuldigung!

GOTT: Kinder, Kinder. Und ich kann es nicht ändern! Kinder, meine Kinder! (Geht ab.)

TOD: Na, dann gute Nacht, Alter. Geh schlafen. Pass auf, dass du nicht auch noch ins Wasser fällst. Da ist vorhin erst einer reingestiegen. Pass gut auf, Alter. Es ist finster, ganz finster. Rums! Geh nach Haus, Alter. Du änderst es doch nicht. Wein nicht über den, der hier eben plumps gemacht hat. Der mit dem Soldatenmantel und der Bürstenfrisur. Du weinst dich zu Grunde! Die heute abends am Wasser stehen, das sind nicht mehr Liebespaare und Dichter. Der hier, der war nur einer von denen, die nicht mehr wollen oder nicht mehr mögen. Die einfach nicht mehr können, die steigen dann abends irgendwo still ins Wasser. Plumps. Vorbei. Lass ihn, heul nicht, Alter. Du heulst dich zu Grunde. Das war nur einer von denen, die nicht mehr können, einer von der großen grauen Zahl ...... einer ....... nur ......