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Als die Zeitlosen auf die Erde kamen, brachten sie die Erlösung und eine schöne neue Welt. Ich bin Shae van Houten, die beste Dreamer, die es gibt. Die Menschen meiden mich, denn ich entscheide über Leben und Tod. Du kannst dich nicht verstecken, denn in deinen Träumen sehe ich die Wahrheit. Sehe ich, was du getan hast. Und ich irre mich nie.
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Seitenzahl: 455
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Copyright 2024 by
Dunkelstern Verlag GbR
Lindenhof 1
76698 Ubstadt-Weiher
http://www.dunkelstern-verlag.de
E-Mail: [email protected]
ISBN: 978-3-98947-031-6
Alle Rechte vorbehalten
Ungekürzte Taschenbuchausgabe
Für alle Träumer und die,
die es werden wollen.
Inhalt
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Prolog
In trügerischer Schönheit spannt sich die Allee aus Jacarandabäumen vor mir auf. Blauviolette Blüten tanzen im Wind. Sonnenstrahlen brechen durchs Geäst und malen fast schon neonhelle Sterne in die Blütenpracht. Lautlos gleiten die Reifen meines Wagens über den Asphalt, und ich kann die Reflexe des halbaufgespannten Solarsegels auf dem Dach über das Laub huschen sehen. Der Wind frischt auf, und ein wunderschöner blasslila Jacarandaschauer geht auf mich nieder. Die Welt scheint bezaubernd und friedlich, als sei sie in Zuckerwatte verpackt …
Meine Hände umklammern das Lenkrad so fest, dass die Knöchel weiß hervortreten. Ich könnte kotzen. Alles hier erscheint mir falsch und verlogen. Es ist noch keine Stunde her, da musste ich meine Eltern auf ihrer letzten Reise begleiten und hier draußen zwitschern scheißvergnügte Vögel. Außer dem Priester und mir war niemand gekommen, um diesem letzten Abschied beizuwohnen. Warum auch? Meine Eltern waren hochoffiziell zu Schwerverbrechern erklärt und nach der amtlichen Untersuchung zum Tode verurteilt worden. Das Urteil eines Dreamers wurde niemals angezweifelt.
Gerade erst mit der Schule fertig und knapp volljährig, konnte ich nur machtlos danebenstehen und zusehen, wie die Ungerechtigkeit ihren Lauf nahm, der Albtraum sich in Wirklichkeit verwandelte.
Das Leder knirscht, als meine geballte Faust darauf niederfährt. Nie wieder.
Nie wieder werde ich mich derart hilflos fühlen!
Kapitel 1
»Die Wirklichkeit ist falsch. Träume sind wahr.«
Tupac Shakur
Zielstrebig gehe ich durch das schwarz-weiß geflieste Foyer auf den Tresen zu, hinter dem eine unscheinbare Empfangsdame etwas in das Touchpanel eingibt. Das energische Stakkato meiner Absätze begleitet jeden Schritt. Kaum angekommen, trommele ich ungeduldig mit meinen French Nails auf dem glattpolierten schwarzen Holz.
Ich will hier nicht sein, dafür ist mir meine Zeit zu kostbar. Leider zwingt mich das Gesetz zur Wahrung der Traumhygiene regelmäßig zu solchen Terminen zu erscheinen, so überflüssig ich sie auch finde. Genervt stoße ich Luft durch meine Lippen aus, zücke meinen Lippenstift und ziehe mit tiefem Rot die Konturen nach.
Die Empfangsdame sieht endlich auf und wird mit einem Schlag blass um die Nase. Hastig erhebt sie sich und stammelt: »Miss van Houten, entschuldigen Sie, dass Sie warten mussten. Ich führe Sie sofort zu Mister Somexter.«
Dies ist mein erster Termin hier und doch hat sie mich sofort erkannt. Gut so. Mit steinerner Miene beobachte ich ihre ungeschickten Bemühungen, einigermaßen elegant hinter dem Tresen hervorzukommen - beinahe hätte ihr Kaffeebecher dran glauben müssen. »Wenn Sie mir bitte folgen möchten?«
Offensichtlich erwartet sie eine Reaktion von mir, denn sie steht wie festgenagelt da. Also gebe ich ihr mit einem leichten Senken meines Kopfes zu verstehen, dass sie losgehen kann. Ich folge ihr einen langen Gang hinunter, dessen anthrazitfarbener, hochfloriger Teppich alle Geräusche verschluckt. Vor einer schweren Holztür, die in sanftem Kastanienbraun schimmert, bleibt sie stehen, klopft an und wartet. DaxSomexter, Supervisor, ist in das Messingschild graviert, das die Mitte des Türblatts ziert.
»Herein«, erklingt eine tiefe Stimme, und meine Begleitung öffnet mir die Tür. Ich betrete den Raum. Gerader Rücken, leicht gerecktes Kinn, die schlanke, sportliche Figur durch einen weißen Hosenanzug perfekt betont. Ich weiß genau, wie ich auf Menschen wirke, die mich zum ersten Mal sehen.
Dax Somexter, seines Zeichens Supervisor in Somnia für uns Dreamer, erhebt sich zur Begrüßung und tritt hinter seinem massiven Schreibtisch hervor.
»Herzlich willkommen in meiner Praxis, Miss van Houten.« Ein warmes Lächeln gleitet über sein Gesicht. Er bietet mir keinen Händedruck zur Begrüßung an.
Ich berühre andere Menschen nur, wenn es sich nicht vermeiden lässt, und das weiß er, obwohl wir uns noch nie persönlich begegnet sind. Dennoch kennt er mich. Natürlich. Es hat mich zehn Jahre gekostet, aber nun gehöre ich zur Elite. Die beiden Besten ihrer Zunft weltweit in einem Zimmer. Einer ein silberner zeitloser Supervisor, die andere eine menschliche Dreamer.
Mit einladender Geste deutet Somexter auf einen der ledernen Clubsessel, die sich vor der weitläufigen Fensterfront gegenüberstehen. Ich gehe darauf zu, und mein Blick gleitet über das Panorama. Weit unter uns liegen die Straßen unserer Hauptstadt. Wolkenkratzer aus Stahl und Glas ragen hoch in den Himmel auf. Die Strahlen der untergehenden Sonne verfangen sich in ihren glänzenden Oberflächen und blenden meine Augen, sodass ich den Blick senken muss. Golden schimmern die Solarsegel der Autos in den Straßen, bis sie sich am Horizont zu einer leuchtenden Schlange verdichten, die keinen Anfang und kein Ende zu haben scheint.
Somnia wurde von den Zeitlosen erbaut, kurz nachdem sie zu unserer Rettung erschienen waren. Es ist für jeden sichtbar, dass es eine geplante Stadt ist. Schnurgerade führen die Straßen durch die Häuserschluchten. Dazwischen funkeln Parks wie Smaragde, die am blauen Band des Flusses, der sie bewässert, aufgehängt sind. Ich sehe die bunten Lichter der Traumsalons, in denen um diese Uhrzeit bestimmt schon reges Treiben herrscht. Viele Bewohner Somnias besuchen sie, um sich ein bisschen Traumenergie dazuzuverdienen. Die Farmen, in denen diese Energie in großem Stil gewonnen werden, liegen auf der anderen Seite der Stadt, den Blicken der Upperclass entzogen.
Das kühle Leder heißt mich willkommen, als ich mich in einen der Sessel setze. An der gegenüberliegenden Wand steht ein Sideboard. Ein einziger Bilderrahmen steht darauf. Ich erkenne Somexter neben einem blonden Jungen von vielleicht 15 Jahren. Die Beine übereinanderschlagend, drapiere ich meine Arme auf den Lehnen und lächele. In all den Jahren habe ich es perfektioniert, sodass niemand, absolut niemand, an mir zweifeln würde. Oh, wie ich das hasse. Aber wenn ich als Dreamer arbeiten will, führt an diesen dämlichen Sitzungen kein Weg vorbei.
»Schön, dass Sie den Weg zu mir gefunden haben, Miss van Houten. Ihr letzter Supervisor ist in den Ruhestand getreten?« Fragend zieht Somexter eine Augenbraue in die Höhe, und die silbernen Ränder um seine Pupillen blitzen. Sie sind äußerlich der einzige Hinweis darauf, dass ich vor einem silbernen Zeitlosen sitze. Einem Erschaffenen.
»Ja, sehr zu meinem Bedauern. Aber es ist auch ein glücklicher Umstand, dass ich nun mit Ihnen die Sitzungen abhalten kann.« Ich suche mir immer Supervisoren, die aus den unterschiedlichsten Gründen bald ihren Dienst quittieren oder ihren Dienstort wechseln. Ich halte es bei keinem lange aus. Diesmal blieb mir keine Wahl, die Abteilung für Träume und Traumverfolgung hat mich angewiesen, einen Termin mit Somexter zu machen.
Der lächelt gerade geschmeichelt und sagt: »Wir werden intensiv miteinander arbeiten und dabei Ihre Fälle aufarbeiten. Dafür werde ich leider auch in Ihren Träumen spazieren müssen. Da wir uns also zwangsläufig sehr nahekommen werden, Miss van Houten, sagen Sie doch bitte Dax zu mir.«
Der Mitfünfziger im Maßanzug lächelt mich väterlich an. Ich hasse solche Vertraulichkeiten, aber für einen reibungslosen Ablauf springe ich über meinen Schatten. »Gerne Dax, aber sagen Sie dann doch bitte auch Shae zu mir.«
Er nickt und greift zu der Karaffe, die zwischen uns steht. Er schenkt uns beiden Wasser ein und reicht mir ein Glas. »Bevor wir zu der eigentlichen Arbeit kommen, sollten wir uns besser kennenlernen. Erzählen Sie doch bitte etwas über sich, Shae.«
Ich nehme das Glas entgegen und stelle es auf der Platte des niedrigen Tisches ab.
»Mister Somexter – Dax …«, verbessere ich mich, als mein Gegenüber die Augenbrauen kaum merklich runzelt. »Mein Name ist Shea van Houten, ich bin 28 Jahre alt und arbeite als Dreamer für die Abteilung Träume und Traumverfolgung unserer Regierung. Ich glaube, das genügt für den Anfang. Wir sind doch beide Profis und wissen mit unserer Zeit besseres anzufangen, als Smalltalk zu halten.«
Somexter stutzt, kann aber offensichtlich nichts gegen meine Argumentation einwenden, also greift er hinter sich und nimmt ein Display von seinem Schreibtisch. Dabei streift er einen der beiden Stifte, die auf der Platte liegen. Mit leisem Klicken stößt dieser an seinen Nachbarn und bleibt liegen.
»Verzeihung«, murmelt Dax, steht auf, umrundet seinen Schreibtisch und rückt den verrutschten Stift wieder gerade. »Äußere Ordnung gleich innere Ordnung«, witzelt er, setzt sich wieder und fängt sogleich an, auf dem Display zu tippen.
Ich schenke ihm ein unverbindliches Lächeln und warte. Im Prinzip laufen diese Sitzungen alle gleich ab. Der Supervisor nimmt sich einen meiner letzten Fälle vor und wir gehen gemeinsam in die Traumsequenz, durch die ich meinen Patienten geleitet habe. Immer spreche ich von Patienten, nie von Angeklagten, denn bis ich mir sicher bin, dass der Mensch mir gegenüber schuldig ist, will ich unvoreingenommen sein.
»Wollen wir uns jetzt mit Ihrem letzten Fall beschäftigen?«
Ich unterdrücke einen genervten Augenaufschlag. Sie nehmen immer alle den Fall mit dem Schuldigen. Sie sind wie Aasgeier.
»Ganz wie Sie möchten, Dax.« Mir ist es egal, meine Fälle sind immer wasserdicht und je kooperativer ich bin, desto schneller komme ich hier wieder raus.
Er erhebt sich und streicht das Jackett seines Anzuges glatt, mit einladender Geste weist er auf die angrenzende Tür. Dahinter befindet sich dann wohl sein Behandlungszimmer.
Ich folge ihm und stehe nun in einem hellen Raum, in dem sich ein bequem aussehender Sessel, ein Behandlungsstuhl und eine Liege befindet. Zwischen Stuhl und Liege ist die Apparatur installiert, die es uns ermöglicht, in die Träume von Patienten zu reisen. Einige Dreamer helfen Menschen, die zu ihnen kommen, mit Verlusten, Ängsten oder anderen Problemen umzugehen. Andere – so wie Somexter – arbeiten zudem noch als Supervisor für Dreamer und einige wenige – wie ich - arbeiten für die Abteilung. Wir unterstützen die Justiz, indem wir beurteilen, ob jemand schuldig ist oder nicht. Je nach Schwere des Verbrechens kann dies mit dem Tode bestraft werden. Da ich die Beste bin, arbeite ich nur mit Patienten, bei denen es um alles oder nichts geht. Das Ergebnis meiner Untersuchung kommt einem Urteil gleich. Mir ist die Verantwortung bewusst, und das ist in Ordnung. Im Gegensatz zu den Menschen, die ich gerne meide, kann ein Träumender nicht lügen. Ich muss nur zum Kern vordringen.
»Möchten Sie sich setzen oder lieber hinlegen?« Somexter deutet auf Behandlungsstuhl und Liege.
»Ich nehme den Stuhl, danke.« Als würde ich mich in Gegenwart eines anderen Menschen in eine so verletzliche Position begeben ... Trotzdem lächle ich sanft. Sein Bericht ist wichtig für mich.
Ich lehne mich zurück und schließe die Augen, das ist leider nicht zu vermeiden. Er schaltet das Somdoskop ein, und gleich darauf erwacht es zum Leben. Ich höre das Knistern, das immer entsteht, wenn das Gerät auf meine Traumenergie zugreift und sich ein strahlend blauer Bogen zwischen mir und dem Somdoskop aufbaut. Das Knistern verstärkt sich, und ich weiß, dass der Bogen nun auch Dax erreicht hat. Der vertraute Sog erfasst mich, meine Mitte scheint fortgezogen zu werden und der Rest meines Körpers folgt in einer fließenden Bewegung. Erst als alles wieder zum Stillstand gekommen ist, öffne ich meine Augen.
Wie immer erfasst mich an diesem Punkt Ehrfurcht vor der Technologie, die die Zeitlosen uns geschenkt haben. Wir leben nun schon über tausend Jahre friedlich miteinander, und ich arbeite seit fast einem Drittel meines Lebens als Dreamer. Trotzdem fühlt es sich jedes Mal wieder wie ein Wunder an, wenn ich in einem fremden Traum die Augen öffne. Dax als Silberner könnte auch ohne das Somdoskop auf meine Traumerinnerung zugreifen, aber ihnen wurde verboten, dies einfach zu tun. Einige Silberne missbrauchten diese Macht in der Vergangenheit und brachten so die Menschen dazu, sich von den Zeitlosen abzuwenden und die Qualität ihrer Träume nahm ab.
Dax und ich stehen am Rande eines chinesischen Pavillons. Warmes Holz schmiegt sich an meine nackten Füße. Es sieht genauso aus wie beim letzten Mal. Eine Veränderung wäre auch merkwürdig, ist dies schließlich eine Erinnerung an etwas, das ich gemeinsam mit meinem Patienten geträumt hatte. Der kleine Pavillon ist, soweit das Auge reicht, von Wasser umgeben. Sanft kräuselt sich die Oberfläche und wirft glitzernde Spiegelungen auf die roten Vorhänge, die zart im lauen Wind wehen. Hier und da blitzt das goldene Garn hervor, mit dem Drachen auf die Stoffbahnen gestickt sind. Ein prächtiger Tiger setzt mit mächtigen Sprüngen über den wolkenlosen Himmel. Das Spiel seiner kraftvollen Muskeln lässt sein silbernes Fell schimmern.
Somexter betrachtet alles neugierig und befühlt die leichten Vorhänge prüfend. Zwei Menschen knien sich im Pavillon wortlos gegenüber. Ein kleines Tablett zwischen sich, auf dem eine bauchige Teekanne und zwei runde Schalen stehen, aus denen Dampf emporsteigt. Sie beachten den Tiger nicht, sondern sitzen ganz still da, die Häupter gesenkt. Ich sehe mich selbst auf der linken Seite. Die Füße unter dem waldgrünen Kimono versteckt, die weißblonden Haare kunstvoll aufgesteckt. Meinem Traum-Ich gegenüber sitzt ein Mann mittleren Alters. In seinem Anzug und mit den zurückgegelten Haaren, wirkt er wie der Prototyp eines distinguierten Geschäftsmanns. Ich weiß nicht, warum er eine chinesische Teezeremonie träumt. Es ist sein Traum, nicht meiner.
Ich sehe mich zu meiner Schale greifen und sanft den Dampf in Richtung meines Gegenübers blasen. »Und? Hast du sie getötet?« Sanft und schmeichlerisch klingt meine Stimme, gepaart mit träger Neugier. Ich wiege ihn in Sicherheit, will seine Reaktion sehen.
Er blickt auf und seine Augen flackern. Vehement schüttelt er den Kopf, antwortet mir aber nicht. Damit habe ich gerechnet. Er kämpft gegen die Wahrheit, die ich bereits spüre. Ich greife in die Luft zwischen uns und balle meine Hand zur Faust. Langsam ziehe ich sie zu mir und als hätte ich in ein Stück Stoff gegriffen, folgt die Traumrealität meiner Bewegung. Pavillon und Wasser verzerren sich, die Vorhänge werden eingesogen und der Tiger, der immer noch über den Himmel jagt, bäumt sich auf. Nur wir beide bleiben sitzen, weil ich es so will. Ich ziehe den Traumstoff vollends weg und der Mann mir gegenüber schlägt die Hände vor das Gesicht. Sein Haar ist schütterer geworden und die Haut seiner Hände grau.
»Hast du die Frau getötet?«, wiederhole ich meine Frage diesmal schärfer. Ich bin ein Bluthund, der seine Spur aufgenommen hat. Mein Gegenüber schüttelt wieder nur den Kopf, diesmal noch vehementer.
Ich glaube ihm nicht. Schicht für Schicht ziehe ich ab, reiße eine Verteidigungslinie nach der nächsten fort und jedes Mal verändert sich der Mann, während ich bleibe, wie ich bin. Dies ist längst nicht mehr sein Traum, ich mache jetzt die Regeln. Mir gegenüber sitzt nun nicht mehr der seriöse Geschäftsmann, sondern eine fast kahlköpfige Kreatur mit aschgrauer, runzliger Haut. Die Nase ist schnabelartig gebogen und klauenförmige Hände rücken zitternd den Knoten seiner Krawatte zurecht. Was für ein verabscheuungswürdiges Bild.
Ich beuge mich vor und fixiere seine seelenlosen Augen. »Hast du diese Frau getötet?« Gleichzeitig lasse ich einen Spiegel erscheinen, den ich ihm vorhalte.
Zischend ziehen sich die schmalen Lippen zurück und zeigen gelbe spitze Zähne. »Ich habe es genossen!« Mit hoher schriller Stimme kichert die Kreatur vor sich hin, wirft den Kopf in den Nacken und projiziert eine Sequenz an den nachtschwarzen Himmel.
Dann werde ich Zeugin, wie sich dieser scheinbar ehrenhafte Geschäftsmann zuerst von der Prostituierten bedienen lässt, nur um sie im Anschluss zu erdrosseln. Die Zeitlosen haben uns Frieden gebracht, aber gegen menschliche Abgründe sind selbst sie machtlos. Der Traum ist eingefroren, ich bin hier fertig, spule zurück zum Anfang. Suchend sehe ich mich nach Somexter um, der gerade zwischen den Vorhängen des Pavillons hervortritt.
»Können wir dann?«, frage ich mit hochgezogener Augenbraue.
»Ja … natürlich. Hervorragende Arbeit«, murmelt er und glättet eine Falte in der roten Stoffbahn.
Kapitel 2
»Wenn du es dir vorstellen kannst,
kannst du es auch machen.«
Walt Disney
Ich stehe vor meiner Wohnungstür und lasse die Schultern kreisen. Meine Hoffnung, so die drückenden Kopfschmerzen zu bekämpfen, die mich seit meiner gestrigen Supervision begleiten, ist gering. Es ist kein alles verschlingender Schmerz, aber er lauert im Hintergrund.
Nichts an meiner matt schwarz lackierten Tür weist auf mich hin. Es geht niemanden etwas an, wer hinter ihr lebt. Für alles, was geliefert wird, reicht die Nummer meines Appartements.
Ich lege meinen Zeigefinger auf den Scanner, und die Tür verschwindet leise zischend in der Wand, nur um sich ebenso schnell wieder hinter mir zu schließen, nachdem ich hindurchgetreten bin. Das ist gut so. Zielstrebig steuere ich die Küchenzeile aus Edelstahl an. Jetzt brauche ich ein Glas Wein. Es ist zwar erst später Nachmittag, aber heute hatte ich drei Überprüfungen für die Abteilung Traum und Traumverfolgung, etliche Patienten in meiner eigenen Praxis und diese dröhnenden Kopfschmerzen …
Im Gehen schlüpfe ich aus meinen Heels. Sofort entspannen sich meine Füße, als sie den weichen weißen Teppich berühren. Mein Weg führt mich an der ebenfalls weißen Couchlandschaft vorbei, die sich einladend um einen Tisch aus Chrom und Glas gruppiert. Eisblaue Kissen sind die einzigen Farbtupfer hier. Bestimmt zehn Menschen könnten auf ihr Platz finden, essen, trinken und Gespräche führen. Ich weiß gar nicht, warum ich sie gekauft habe. Ich habe nie Gäste und will sie auch nicht.
Eine angebrochene Flasche Bordeaux steht noch auf der Arbeitsfläche aus schwarzem Granit. Ich stelle mich auf die Zehenspitzen, um ein Glas aus einem der oberen Schränke zu angeln, gieße mir schwungvoll ein und drehe mich um. An die Arbeitsplatte gelehnt, schwenke ich den Wein und lasse ihn atmen.
Seit etwa zehn Jahren besitze ich diese Wohnung nun schon. Ein großer Wohnraum mit Küche, ein weitläufiges Bad und ein Schlafzimmer. In diesem empfange ich tatsächlich manchmal einzelne männliche Gäste, wenn mir danach ist.
Nach der Hinrichtung meiner Eltern hätte ich weiterhin in unserem Haus bleiben können. Die Strafen, die die Zeitlosen eingeführt haben, sind zwar drastisch, erstrecken sich aber nie auf unschuldige Angehörige.
Doch ich konnte es nicht ertragen, dort zu wohnen. Den Baum zu sehen, auf den ich als Kind geklettert war, den Gartentisch, an dem wir gesessen und fröhliche Gespräche geführt hatten. Das Schlafzimmer meiner Eltern, nun verwaist und leer. Einzig ihr Duft hing noch in der Luft. Vielleicht wäre es etwas anderes gewesen, hätte ich Geschwister gehabt. Doch die Zeitlosen haben eine strikte Ein-Kind-Politik eingeführt, um die stetig wachsende Bevölkerungszahl einzudämmen.
Unsere Welt befand sich am Rand des Zusammenbruchs, als sie erschienen waren. Völlig überbevölkert, die Bodenschätze fast verbraucht und die Umwelt nahezu zerstört. Nur den Zeitlosen haben wir es zu verdanken, dass wir uns nicht selbst vernichtet haben. In den letzten tausend Jahren hat sich unsere Welt verändert. Die Menschheit beschränkt sich auf einige wenige Städte mit der dazugehörigen Landwirtschaft. Wir lassen die Natur in Ruhe und sie gibt uns, was wir brauchen.
Also verkaufte ich mein Elternhaus an den erstbesten Interessenten und zog in die Hauptstadt. Jahre später stellte sich heraus, dass der Dreamer ein Fehlurteil gefällt hatte. Für das Unrecht, das meinen Eltern angetan worden war, wurde ich großzügig entschädigt und besitze nun ein sehr angenehmes Polster an Somnus. Ich hätte gern darauf verzichtet ...
»Holotier«, meine Stimme klingt fremd in dieser allumfassenden Stille. Die Luft zu meinen Füßen beginnt zu flimmern und mein Haustier materialisiert sich. Ein Hoch auf die Sprachsteuerung.
Das Haustierprogramm wurde vom Ministerium vorinstalliert, als ich die Wohnung gekauft habe. Eines Abends war mir langweilig und vielleicht hatte ich auch ein Glas zu viel. Auf jeden Fall entschied ich mich, das Programm zu aktivieren und mein zukünftiges Haustier zu gestalten. Wieder ein Beweis dafür, dass man bestimmte Dinge nur nüchtern tun sollte.
Holotier irritiert mich jedes Mal aufs Neue, wenn ich es aufrufe. Ein Kater mit langem, welligem, eisblauem Fell, kurzer Schnauze und kornblumenfarbenen Augen mit goldener Pupille. Das absolute Highlight meines kreativen Desasters sind aber mit Sicherheit die kleinen Widderhörnchen auf der Stirn des Tieres. Mich nervt auch das wellige Fell, aber aus irgendeinem Grund habe ich Holotiers Erscheinungsbild nie geändert. Die Technologie der Zeitlosen lässt die Hologramme echt erscheinen; sie haben sogar eine haptische Form, die auf Traumenergie basiert.
Der Widderkater betrachtet mich mit einem äußerst kritischen Blick und trollt sich dann seiner Wege. Der Charakter eines Holotiers entfaltet sich erst durch die Interaktion mit seiner Umwelt. Irgendetwas scheint da bei meinem schief gelaufen zu sein. Aber auch wenn es nicht die angenehmste Persönlichkeit haben mag, ist mir Holotier lieber als ein Haustier aus Fleisch und Blut. Es benötigt weder Essen, Pflege noch Zuwendung. Das Beste ist allerdings die Abschaltfunktion.
Ich nippe noch einmal an meinem Wein und beschließe, in etwas Bequemeres zu schlüpfen.
***
Immer noch barfuß, dafür aber in bequemen Leggins und gemütlichem Wollpullover, schnappe ich mir im Vorbeigehen mein Glas von der Arbeitsfläche und schlendere zum Sofa. Die Sonnenstrahlen des späten Nachmittags malen abstrakte Muster auf die Polster. Mit leisem Klirren stelle ich mein Weinglas ab und lasse mich in die eisblauen Kissen fallen, nur um gleich darauf wieder aufzuspringen, als es unter mir faucht und zappelt.
»Bist du total bescheuert?«, motzt mich Holotier an und taucht aus den gleichfarbigen Kissen auf. Das dunkle Blau der Augen wird fast vollständig vom Gold der Pupille verdrängt. Der Kater hat seine Ohren angelegt und die Hörner treten noch deutlicher hervor.
»Ich habe nicht gesehen, dass du da liegst«, versuche ich eine Entschuldigung und starre das kleine Vieh hilflos an.
»Das war ja auch eine hirnverbrannte Idee, mein Fell in der Farbe deiner Sofakissen zu gestalten.« Holotier stößt ein Fauchen aus und zeigt mir die spitzen Zähnchen. Langsam setzte ich mich neben mein Haustier und glätte vorsichtig das empört gesträubte Fell.
»Es tut mir leid.« Ob ich nun die vermasselte Fellfarbe meine oder das Nutzen seines Körpers als Kissen, lasse ich mal offen. Stattdessen genieße ich lieber das einzigartig samtweiche Gefühl unter meinen Fingern. »Mein Tag war anstrengend. Ich musste zu viele Traumbesuche machen, und mir brummt immer noch der Schädel.«
»Du arbeitest zu viel«, wirft mir Holotier vor. »Du musst dich mal entspannen. Nimm ein Bad, geh joggen, fahr irgendwo hin. Nein, viel besser: bestell dir was! Oder jemanden. Du bist total unterv…«
»Holotier: aus!«, befehle ich dem Programm und meine Hand fällt auf das Sofakissen. Ich will das jetzt nicht hören. Stattdessen streichle ich nun das Kissen und spüre der Wärme nach, die der Widderkater hinterlassen hat. Mit der anderen Hand erhebe ich mein Glas und halte es ins Licht. Blutrot leuchtet der Bordeaux auf. Vielleicht liegt Holotier nicht so falsch. Ich leere den Wein in einem Zug, erhebe mich und steuere auf das Computerpanel an meiner Wohnungstür zu.
***
Es kann nicht mehr lange dauern, bis meine Bestellung eintrifft. Langsam streiche ich mir über meine nackten Arme. Für das, was ich gleich vorhabe, habe ich mich noch einmal umgezogen. So ist es praktischer. Ich lehne mich an die Scheibe des Wohnzimmerfensters und genieße die Kühle an meiner Stirn.
Weit unter mir funkeln die Lichter Somnias wie Sterne in der Nacht. Eine Stadt, die nie zu schlafen scheint. Hier, hoch oben, fühle ich mich wohl. Getrennt vom stürmenden und brodelnden Leben dort unten. Ich fühle mich der Welt entrückt, das gibt mir Sicherheit. Der melodische Gong meiner Wohnungsklingel lässt mich herumfahren und zum Panel an der Tür gehen. Es ist so weit. Showtime.
Der Bildschirm leuchtet auf, nachdem ich die Außenkamera aktiviert habe. Ein Mann steht vor der Tür. Etwa mein Alter, nichtssagendes Gesicht, raspelkurze, blonde Haare. Die perfekte Leinwand.
Zufrieden lächelnd tippe ich Anweisungen, um meinen Gast zu modifizieren und betätige die Entertaste. Ein prüfender Blick auf den Bildschirm lässt mich nicken und ich aktiviere den Türöffnungsmechanismus, um meinen Gast einzulassen. Ein durchtrainierter, schwarzhaariger Mann betritt mein Wohnzimmer, der nichts trägt, außer einer schmal geschnittenen Anzugshose. Ich liebe diesen Hologrammfilter einfach.
Ich bleibe in der Mitte des Raumes stehen und betrachte mein Werk. Seine Haut schimmert seidig. In jenem speziellen Braunton, der sofort den Wunsch nach Berührung weckt, in der Hoffnung, noch etwas von der Sonne zu erwischen, die diese Haut geküsst hat.
Er kommt mit geschmeidigen Bewegungen auf mich zu und streicht sich eine glänzende Haarsträhne hinters Ohr. »Guten Abend, Miss…«, setzt er an, doch ich verschließe seine geschwungenen Lippen sofort mit meinen Fingern.
»Wir werden nicht reden«, instruiere ich ihn. Als Antwort fühle ich den sanften Druck seiner Lippen auf der Innenseite meiner Finger, und ein elektrisierender Schauer durchfährt mich.
Ich gleite mit meiner Hand hinab, streiche über das kantige Kinn und lasse mich von der Grube seines Schlüsselbeins zur Schulter leiten, deren Wölbung Kraft verspricht. Vorfreude lässt meinen Magen flattern. Als hätten sie einen eigenen Willen, fahren meine Finger nun den Rand seiner definierten Brustmuskeln entlang und wandern weiter nach unten, die Stränge seiner Bauchmuskeln zählend.
Das Vibrieren unter meinen Fingerspitzen erzählt mir, dass mein Spielgefährte für heute Nacht die Berührung genießt. Eine raue, warme Hand schiebt sich auf meine Wange und lässt mich den Kopf heben. Der Blick haselnussbrauner Augen senkt sich auf mich und verdunkelt sich glutvoll, während seine Hand weiter in meinen Nacken wandert. Er beugt sich hinab zu mir und seine weichen Lippen öffnen sich.
»Wir werden uns auch nicht küssen«, informiere ich ihn.
Ein Lächeln zuckt um seinen Mundwinkel und Hände wandern über meine Schultern. Er beugt sich vor, streift mit seinen Lippen über meine Wange, zieht eine Spur den Hals hinab und küsst schließlich die Vertiefung meines Schlüsselbeins. Wohlige Gänsehaut überzieht mich. Seine Hände wandern mit zartem Druck weiter und fast, als wäre es ein Versehen, streift er mir die schmalen Träger meines schwarzen Kleidchens von den Schultern. Mit seidigem Rascheln fällt es zu Boden. Kühle Luft streichelt meinen nackten Körper und lässt mich lustvoll erschauern. Seine Lippen wandern über meine Brust, nähern sich meinen aufgerichteten Brustwarzen quälend langsam. Er neckt mich, will mich aus der Reserve locken.
Ich revanchiere mich und fahre mit der Hand über den Bund seiner Hose weiter nach unten, bis ich seine beeindruckende Härte spüre. Ein warmer Luftstrahl trifft meine nach Berührung gierende Brust, als er leise aufstöhnt. Dieser Laut fährt direkt in meine Körpermitte und entfacht dort ein brennendes Feuer. Endlich umkreist seine Zunge meine Brustwarze. Ich lege den Kopf in den Nacken und hebe ihm die Brust weiter entgegen. Seine Härte zuckt unter meiner Hand und das Feuer zwischen meinen Beinen wird zu einem genussvoll schmerzlichen Ziehen. Seine Zähne streichen über meine Brustwarze, knabbern an ihr, necken sie. Ich kann nicht mehr warten. Meine Hand fährt in seinen Hosenbund und ich beginne langsam, rückwärts zum Schlafzimmer zu gehen. Während er mir folgt, erscheint ein wissendes Lächeln auf seinem Gesicht.
Kapitel 3
»Zwischen Schlaf und Traum, zwischen mir und was in mir ist und was ich vermute zu sein, fließt ein unendlicher Fluss.«
Fernando Pessoa
Einatmen. Ausatmen. Einatmen. Ausatmen. Rhythmisch schlagen meine Turnschuhe auf den Asphalt der Straße. Mit jedem Atemzug dringt die kühle Morgenluft tief in meine Lunge. Die Welt hat noch keine Farbe. Die Hochhäuser der Straßenschlucht spiegeln den blassblauen Himmel des anbrechenden Tages. Die Straße liegt verlassen vor mir, keine Menschenseele in Sicht. Befreit atme ich ein. Die Traumsalons mit ihren bunten Werbetafeln ziehen an mir vorbei und wechseln sich mit Geschäften des täglichen Bedarfs ab. Neben der Abgabe an Traumenergie des Nachts, ermöglichen sie auch am Tag ins Land der Träume zu entschwinden, um sich den ein oder anderen Somnus dazuzuverdienen. Jeder Mensch geht allerdings auch einem irdischen Gewerbe nach, das seinen Fähigkeiten entspricht. Die Zeitlosen setzen auf eine hohe Zufriedenheit innerhalb der Bevölkerung und sie haben erkannt, dass wir Menschen eine Beschäftigung brauchen.
Ich lasse meinen Blick schweifen. Bald wird sich diese Straße mit Menschen füllen, die zum Einkaufen hasten oder schnell etwas verdienen wollen. Dann werde ich schon lange nicht mehr hier sein.
Einatmen.
Ich biege in eine kleine Seitenstraße, die mich zum zentralen Park Somnias führt. Dort umfängt mich der Schatten uralter Baumriesen. Lange Flechten hängen von ihren Ästen und schwingen sanft in der Morgenbrise. Ich kann den Tau auf dem Boden riechen: erdig, dunkel und rein. Hier und da begrüßt ein Vogel den neuen Tag, und zwischen den Moospolstern recken kleine weiße Blüten ihre Köpfe empor. Sie leuchten wie Sterne im Schatten.
Ausatmen.
Immer weiterlaufen. Nie den Rhythmus verlieren.
Die Sonne hat sich ein Stück den Himmel emporgekämpft und spielt mit den Blättern der Bäume. Von weitem höre ich Stimmen und biege sofort ab. Würde ich an diesen Menschen vorbeilaufen, würden sie mir respektvoll Platz machen. Weil sie spüren, wer ich bin, ohne es zu wissen. Ein Dreamer. Beth, meine Sekretärin, hat mir mal beschrieben, dass es sich anfühlen würde, als würde eine andere Präsenz von mir ausgehen, eine andere Schwingung und die zieht sich wie ein großer Radius um mich herum. Ich will das nicht, auch wenn ich es seit meiner Weihe nicht anders kenne.
Einatmen.
Baumstämme ziehen an mir vorbei. Ich laufe durch Licht und Schatten. Meine Gedanken gleiten. Vergangenes steigt in mir auf. Schon als ich noch in der Schule war, besuchte ich Kurse zur Förderung meines Talents. Die Zeitlosen hatten meine Eltern kontaktiert und ihnen mitgeteilt, dass sie in mir das Potential eines Dreamers vermuten. Ich mochte die Kurse und war stolz, vielleicht bald zur menschlichen Elite zu gehören. Nicht, dass ich eine Alternative gehabt hätte. Bist du einmal erwählt, gibt es kein Zurück mehr. Als dann jedoch einer derjenigen, zu denen ich so aufsah, mein Leben zerstörte, schwor ich mir, die verdammt Beste zu werden, die Somnia je gesehen hatte. Deswegen zog es mich in die Hauptstadt, denn hier befindet sich die zentrale Ausbildungsstätte für Dreamer.
Es dauerte ein Jahr, um ins Hochbegabtenprogramm zu gelangen und zwei weitere, um die abschließende Weihe zu erhalten. Während der Zeremonie zeigten sich die Zeitlosen zum ersten Mal in ihrer wahren Gestalt. Oder zumindest, was dieser nahe genug kam, ohne unsere menschliche Vorstellungskraft zu überfordern. Den Rest der Zeit sind sie in ihrer nichtstofflichen Ursprungsform und ernähren sich von Traumenergie.
Meine Initiation fand in ihrem Sanctum, einem runden Raum, dessen Boden und Wände mit weißem Marmor bedeckt sind, statt. In der Mitte führen zwei Stufen zu einem niedriger gelegenen Plateau. Sechs Säulen umgeben es und zwischen diesen Säulen stand jeweils ein Zeitloser. Ihre großen schlanken Körper waren in weiße Gewänder gehüllt, und je nach Rang verzierten silberne oder goldene Ornamente die Ränder des Stoffes. Die Silbernen regieren unsere Städte, halten den Goldenen den Rücken frei. Die Goldenen sind die ursprünglichen Zeitlosen und erschufen die Silbernen aus hochbegabten Menschen. Doch unabhängig von Rang und Aufgabe, war die ursprüngliche Erscheinung, die sie sich gaben, immer gleich: Ihre Haut schimmerte hell und glänzend, wie die Oberfläche einer Perle. Langes weißes Haar fiel glatt den Rücken hinab und umrahmte die schmalen Gesichter. Von den Wangenknochen ausgehend, zogen sich verschlungene hellblaue Wirbel über die Schläfen, um sich in der Mitte zu einem leuchtenden Kreis zu vereinen. Ihr stoffliches Aussehen ist jedes Mal eine Überraschung, niemand kann vorhersehen, wie sie sich das nächste Mal präsentieren werden.
Ich stand allein in diesem Kreis, und Ehrfurcht ließ mich erzittern. Doch ich reckte das Kinn und machte mich größer, als ich zu ihnen hinaufsah. Selbst ihnen gegenüber würde ich keine Schwäche zeigen. Mit gemessenen Schritten stieg ein Zeitloser mit goldener Bordüre zu mir herab. Ich verschränkte meine zitternden Finger, als ich zum ersten Mal seine Stimme hörte. Sie war leise. Sanft. Fast schon ein melodisches Flüstern und doch war sie raumgreifend, alles einnehmend. Die Worte entstanden parallel im Raum und in meinem Kopf, als würde er über zwei Ebenen zu mir sprechen.
»Anwärterin Shae, wirst du den Eid ablegen und niemals deine Fähigkeiten zum Nachteil der Menschen einsetzen? Wirst du das Wissen, das du durch Träume anderer erlangst, nicht zum eigenen Vorteil einsetzen oder es teilen, sodass andere sich bereichern?«
Ich nickte nachdrücklich und mein »Ja, ich schwöre auf die Ehre der Dreamer und die Güte der Zeitlosen«, kam nicht ganz so unbewegt heraus, wie ich es mir gewünscht hätte.
»Dann will ich dir jetzt den letzten Funken schenken, und du wirst auf immer zur Gemeinschaft der Dreamer gehören.« Sanft, aber bestimmt legte er seine Hände an meine Wangen und neigte meinen Kopf nach oben. Sein Haupt näherte sich meinem und der hellblaue Kreis leuchtete strahlend hell auf, als seine Stirn meine berührte. Helles Licht entbrannte in meinem Solarplexus, breitete sich aus, durchströmte mich von Haarspitze bis Fußsohle. Alles in mir schien in Aufruhr, als ob Milliarden kleiner Bläschen zeitgleich an die Oberfläche strebten, um dort zu zerplatzen. Der Zeitlose legte seine Lippen auf meine Stirn und küsste sie sacht. »Du bist nun gesegnet.«
Einatmen.
Ausatmen.
Ich habe meine Runde fast beendet, die Bäume werden lichter. Kurz stoppe ich und pflücke einen der kleinen Sterne aus den Schatten. Es ist eine Blume mit perlweißer Blüte. Langsam drehe und wende ich sie. Ein Lächeln stiehlt sich auf mein Gesicht. Sie wird ein neues Zuhause bekommen.
***
Ich betätige das Panel in der Wand und warmes Licht flutet den stockdunklen Raum. Obwohl es das Sonnenlicht imitiert, wärmt es meine Haut nicht. Meine Utensilien liegen wie immer auf dem Arbeitstisch bereit. Nie weiß ich, wann ich sie benötigen werde. Erst messe ich eine farblose Flüssigkeit ab, dann wiege ich das Pulver. Beides gebe ich in einen Tiegel und verrühre sie miteinander. Das Pulver löst sich langsam auf und wird von der durchsichtigen Flüssigkeit verschluckt, die stetig zäher wird. Prüfend ziehe ich den Spachtel in die Höhe und betrachte die Masse, die nun wie dicker Honig wieder in das Gefäß zurückläuft. Eine perfekte Konsistenz. Ich ziehe mir meine würfelförmige Gießform heran und fülle sie zur Hälfte. Vorsichtig lasse ich die Blume aus dem Park hineingleiten und bedecke sie mit dem Rest der durchsichtigen Masse. Einen Tag werde ich warten müssen, bis mein neuer Schatz seinen Platz im Regal finden wird.
Nach dem zweiten Bedienen des Panels, erhellt warmes goldenes Licht das Regal an der Wand, das vorher im Schatten lag. Meine Finger gleiten über die kühle Oberfläche der Würfel, die hier schon ihr Zuhause haben. Ich habe die Blüten aufbewahrt, ihre Lebendigkeit konserviert. In diesem Raum gibt es keine Vergänglichkeit, denn ich habe die Zeit angehalten. Mir wird warm in der Brust, als ich meine Schätze liebevoll betrachte. Ganz ungeachtet ihres Standes im Blumenreich, habe ich ihnen Partner gegeben. Das bodenständige Gänseblümchen strahlt neben der braven Moosrose. Der exaltierte Mohn scheint sich gut mit der zickigen Mimose zu verstehen, und die gutmütige Kornblume passt hervorragend zum lebhaften Wandelröschen. So geht das Regalbrett um Regalbrett, alle haben einen Partner gefunden. Nur das Gedenkemein nicht, es muss alleinstehen.
Ich lasse mich in den weichen Sessel sinken, betrachte meine erstarrten Blüten, komme zur Ruhe und leere meinen Geist. Tief hinab tauche ich ein in mich selbst, finde jenen Funken, den der Zeitlose mir vor Jahren gab und bade in seinem Licht. Er atmet wie ein zweites Herz in meiner Brust. Mit jedem zusammenziehen und neu entfalten durchflutet mich ein wenig mehr Licht. Manchmal wiederhole ich diese Übung stundenlang, es ist ein gutes Training, und ich muss fit bleiben, um ganz oben mitspielen zu können. Heute stören meine Kopfschmerzen den Fluss und ich gebe entnervt auf. Nachdem ich gestern mit meinem Gast einiges an Energie losgeworden war, hatte ich sie fast gar nicht mehr wahrgenommen, doch nun pocht es wieder leise in meinem Hinterkopf.
Seufzend erhebe ich mich und lege meinen Zeigefinger auf den Scanner in der Wand. Die Tür zischt leise und öffnet mir den Durchgang in mein Wohnzimmer, nur um sich Sekunden danach wieder zu schließen und unsichtbar mit der Wand zu verschmelzen. Ich mache einen Schritt in den Raum hinein und wäre beinahe über Holotier gestolpert.
»Wieso drückst du dich hier immer herum?« Mit schräg geneigtem Kopf warte ich auf Antwort.
»Das ist ein freies Land, ich kann chillen, wo ich will.« Der Widderkater legt seine Ohren nach außen, sodass sie fast quer zum Kopf stehen. Holotier bekommt dadurch einen solch bedröppelten Gesichtsausdruck, dass mir ein lautes Lachen entwischt.
Seine Schnurrhaare zucken, er macht einen Buckel und streicht mir um die Beine. »Besser, Eiskönigin, viel besser.«
Kapitel 4
»Um ein anderes Wesen zu verstehen, musst du in ihm leben, bis in seine Träume hinein.«
Indianische Weisheit
Eiskönigin. Ich sinniere über diesen Titel, während ich meinen Wagen durch die Straßen Somnias lenke. Schon oft habe ich ihn gehört, zuerst heimlich hinter meinem Rücken und später hat ihn die Presse aufgegriffen, wenn sie über einen besonders spektakulären Fall von mir berichtete. Vermutlich hat Holotier ihn daher. Ich sollte darüber nachdenken, seinen online Zugang einzuschränken.
Mein erstes Ziel des Tages wird die Abteilung für Träume und Traumverfolgung sein. Ein Patient wartet dort auf mich. Vorher brauche ich aber noch einen Kaffee. Das ist mein Ritual: Joggen im Morgengrauen, Kaffee aus dem Drive-in und dann beginnt der Arbeitstag. Mein bevorzugtes Café Insomnia liegt schon in Sichtweite, es gibt kein besseres in der ganzen Stadt. Die Zeitlosen raten zwar vom Konsum ab, da er die Gesundheit nicht fördert, aber wir Menschen sind stur, wenn es um unsere lieben Gewohnheiten geht. Ein knallrotes Schild über der Durchfahrt zum Drive-in lässt mich verwirrt die Augenbrauen runzeln. »Nutzung nicht möglich. Bitte nehmen Sie den Haupteingang«, entziffere ich.
Ich lenke meinen Wagen auf den Parkplatz und bleibe sitzen. Das Innere des Cafés betreten oder auf den Kaffee verzichten? Ich weiß schon gar nicht mehr, wann ich ein Geschäft zum letzten Mal von innen gesehen habe, denn ich bevorzuge Lieferungen an meine Wohnungstür. Der Wunsch nach meinem Lieblingsgetränk lässt mir keine Wahl. Ich gebe mir einen Ruck, verlasse meinen Wagen und steuere auf die Eingangstür zu.
Stimmengewirr schlägt mir entgegen, als ich die Tür öffne. Es riecht nach gemahlenen Kaffeebohnen mit einem Hauch von Vanille, vermischt mit dem köstlichen Geruch nach frischem Gebäck. Mit dunkelgrünem Samt bezogene Sessel sind um runde, niedrige Holztische gruppiert, auf deren blank polierten Tischplatten Zuckertöpfchen und Milchkännchen stehen. Alles, was ein Kaffee-Junkie so braucht. Das Café ist gut besucht, es sind kaum noch Plätze frei. Auf Abstand bedacht, schlängle ich mich zwischen den Tischen hindurch und nähere mich dem Ende der Schlange am Verkaufstresen.
Der Mann vor mir in der Reihe ist in sein Computerdisplay vertieft und tippt darauf herum. Vielleicht arbeitet er beim Warten. Der Anzug, den er trägt, spräche dafür. Ich bin bis auf zwei Schritte an ihn herangekommen, da hebt er ruckartig den Kopf und blickt sich suchend um. Mich wahrnehmen, erkennen und zur Seite gehen, wirken wie eine fließende Einheit. Die anderen in der Schlange tun es im gleich.
Am Verkaufstresen gebe ich meine Bestellung auf. Ich könnte darauf bestehen, mich anzustellen, wie jeder andere auch, aber das führt zu nichts. Ich habe es versucht.
***
Automatisch gleiten die Glastüren vor mir auseinander, als ich das Gebäude betrete, in dem sich die Abteilung für Traum und Traumverfolgung befindet. Mein Display unter den Arm geklemmt, steuere ich auf den Empfangsbereich der Security zu. Heute hält ein rundlicher Mann Wache, der hinter dem Tresen angeregt etwas zu lesen scheint. Was es ist, will ich gar nicht wissen. Es geht mich nichts an.
Er springt sofort auf, als er mich sieht und steht stramm. »Guten Morgen, Miss van Houten, wohin darf ich Sie heute begleiten?«
»Ich will zu Patient F-12/52.« Ich will nichts über sie wissen. Nicht, ob sie verheiratet sind oder Kinder haben. Nicht einmal ihre Namen. Nur ihre Träume zählen.
Wir steigen in den Fahrstuhl und mein Begleiter aktiviert den Zugang zur unteren Etage. Ich rücke an die ihm gegenüberliegende Wand. Dort unten, in den Veritasräumen, ausgestattet mit Somdoskopen, warten die Patienten auf Dreamer wie mich, die über Schuld oder Unschuld befinden.
»Es scheint heute wieder ein herrlicher Tag zu werden, nicht wahr?«, versucht sich der Security-Angestellte im Smalltalk.
»Alle Tage sind hier herrlich. Die Sonne scheint tagsüber und nachts regnet es. Kein Tag ist anders als der vorherige.« Leider ist Smalltalk halten keine meiner Begabungen.
Den Rest des Weges bringen wir schweigend hinter uns. Nachdem wir einen langen, kahlen Gang entlang gegangen sind, halten wir vor einer massiven Zellentür aus grauem Stahl. Sie unterscheidet sich durch nichts, von den vielen anderen, die wir passiert haben.
Mein Begleiter scannt den Code und nickt. »F-12/52, hier sind wir richtig.«
Bevor er den Türöffnungsmechanismus auslösen kann, frage ich: »Ist alles nach meinen Wünschen vorbereitet worden?«
»Ja, Ma‘am«, er überschlägt sich fast bei seiner Antwort. »Der Patient ist sediert und schläft tief und fest.«
Mit einem Wink gebe ich meine Erlaubnis die Tür zu öffnen.
Ich betrete den Raum. Allein. Wie immer. Mein Patient liegt auf einer Liege und schläft. Er träumt, denn seine Augen bewegen sich schnell unter den geschlossenen Lidern. Ein großer, kräftiger Mann, der nun schutzlos aussieht. Das tun sie immer, wenn sie schlafen. Das Einzige, was ich über ihn weiß, ist die Art seines Verbrechens. Der Mann, der vor mir liegt, soll seine Frau ertränkt haben.
Ich setzte mich auf den Stuhl neben ihn. Ob ich ihn wohl schnell dazu bringen werde, mit mir zu sprechen? Oder wird er versuchen, sich herauszuwinden, wie mein letzter Patient? Ab welchem Punkt wird er gezwungen sein, mir unweigerlich die Wahrheit zu sagen?
Das leise Knistern des Somdoskops erfüllt den Raum und Sekundenbruchteile später zieht es mich aus dem Hier in den Traum meines Patienten.
Wasser schlägt mir entgegen. Ich befinde mich in einem Wasserfall, dessen Wassermassen aufwärts fallen. Schnell springe ich zur Seite und lande auf einem Felsvorsprung. Links von mir dröhnt der Wasservorhang, rechts öffnet sich ein Gang in den Felsen hinein. Die Entscheidung ist leicht und ich begebe mich auf die Suche.
In einen Traum greife ich nie sofort ein, ich will ein Gefühl für ihn bekommen. Die Wände des halbdunklen Ganges beginnen zu flimmern und auseinanderzuweichen. Langsam schiebt sich ein neues Bild dazwischen, aus Felsen wird Erde. Aus ihr ragen Wurzeln wie verdrehte Arme. Die Decke hebt sich und verschwindet schließlich ganz, um einem Abendhimmel Platz zu machen, der schon auf die ersten Sterne wartet.
Zügig schreite ich den Hohlweg weiter entlang, der nun in sanfter Steigung bergan geht, bis er mich zu einer Tür führt. Sie ist alt, aus hellgrün lasiertem Holz und über und über mit Marienkäfern bemalt. Wie eine kleine Armee, ziehen sie säuberlich geordnet über das Holz. Zu dieser Tür gehört kein Haus. Sie steht einfach da. Ich drücke gegen das Türblatt und es schwingt auf. Auf der anderen Seite befindet sich ein sonnendurchflutetes Kinderzimmer, aber kein Kind. Suchend drehe ich mich im Kreis, sondiere, sehe. Kinderbett, Schrank, Schreibtisch, Schaukelpferd. Ein leises Schluchzen lässt mich innehalten und den Kopf lauschend neigen.
Da! Da ist es schon wieder. Langsam gehe ich auf alle Viere und spähe unter das Bett. Ein kleiner blonder Junge mit Wuschelkopf liegt dort an die Wand gedrückt. Das Gesicht hinter seinen Händen vergraben. Flach lege ich mich auf den Bauch und berühre vorsichtig seinen Arm.
»Hi«, flüstere ich, und der Junge zuckt zurück. Er hat Angst. Aber nicht vor mir, das weiß ich.
Ich lasse ein Stofftier entstehen und streiche mit dem weichen Fell über die Hände des Jungen. »Sieh mal, Teddy ist da. Er hilft dir.«
Der Kleine späht zwischen seinen Fingern hindurch und blinzelt mich aus braunen Augen an. Mit leichten Bewegungen lasse ich Teddy vor seinem Gesicht tanzen und werde mit einem leisen Glucksen belohnt. Auffordernd halte ich ihm das Stofftier entgegen und er schnappt es sich. Kuschelt mit ihm und lächelt mich vorsichtig an.
»Warst du ein böser Junge?«, frage ich ihn. Auch dieses Mal kenne ich die Antwort schon.
»Nein, aber sie wollen mir weh tun«, kommt die prompte Antwort.
Das werden sie nicht, dafür werde ich sorgen. Dieser Mann ist unschuldig.
***
»Sie müssen sich schon gedulden. Miss van Houten ist die nächsten Wochen ausgebucht. Ich kann Sie auf die Warteliste setzen, falls wider Erwarten ein Termin frei wird.« Die Stimme meiner Sekretärin dringt durch die halboffene Praxistür in mein Büro.
Ich habe noch ein paar Minuten, bis mein nächster Patient erscheinen wird. Mit Schwung stoße ich mich von meinem Schreibtisch ab und rolle zurück. Jetzt brauche ich einen Kaffee. Kurz glätte ich mein Haar, das mir heute als gerader Bob bis auf die Schultern fällt, und streiche eventuelle Falten aus meinem anthrazitfarbenen Bleistiftrock. Mit wenigen Schritten erreiche ich meine Tür und öffne sie ganz.
Beth hat inzwischen aufgehört zu telefonieren und arbeitet konzentriert an ihrem Computer. Gleich nach meiner Weihe habe ich diese Praxis übernommen und damit auch sie. »Ich brauche einen Kaffee«, spreche ich meinen Wunsch aus.
Meine Sekretärin hält inne und mustert mich über ihre Brille hinweg. Sie bräuchte eigentlich keine. Niemand in Somnia braucht eine Brille. Eigenwillige Frau.
Beth zieht beide Augenbrauen hoch und sieht nun noch beeindruckender aus, als sie es mit ihrem streng nach hinten gekämmten Knoten ohnehin tut. »Wie bitte?«
Ich räuspere mich. »Beth, würden Sie mir bitte einen Kaffee machen, bevor mein nächster Patient erscheint?«
Sie erhebt sich umgehend und begibt sich zur Kaffeemaschine. »Schwarz mit Zucker, wie immer?«
Nickend gehe ich in das Behandlungszimmer zurück. Wenig später stellt Beth meine heiße Beute wortlos auf dem Tisch ab. Genüsslich halte ich meine Nase über den Becher und atme den kräftigen Geruch ein. Den Kaffee mit beiden Händen haltend, nippe ich und erfreue mich an dem ersten Schluck, der mir heiß die Kehle hinunter rinnt. Ich versuche diese Momente bewusst zu genießen, wenn sich unverhofft eine kleine Pause in meinem Alltag auftut.
Hier in meiner Praxis finden sich die unterschiedlichsten Menschen ein, doch als Patienten gehören sie immer einer der drei Kategorien an, die ich mir zurechtgelegt habe.
Viele kommen zu mir, weil sie Hilfe brauchen, sie Ängste oder Erinnerungen im Schlaf verarbeiten wollen. Einige möchten gern etwas Besonderes träumen, sich so ausleben und eine Handvoll Patienten kommt zu mir, weil sie keinen Traumsalon aufsuchen wollen. Meist sind es Personen des öffentlichen Lebens, die die Privatheit einer Praxis vorziehen. Mein Job ist immer gleich: Ich lenke ihre Träume zum gewünschten Ziel. Egal aus welchen Gründen sie bei mir träumen, sie produzieren dabei Traumenergie. Ein Teil dieser Energie dient meiner Bezahlung, ein anderer geht an den Patienten und der größte Teil an die Zeitlosen, damit sie weiterhin über unsere Welt wachen können.
Es klopft, und Beth öffnet die Tür, um meinen Patienten hineinzuführen. Ich erhebe mich und deute auf den Stuhl auf der anderen Seite meines Schreibtisches. »Guten Tag, nehmen Sie Platz.«
Eine schmale Frau Mitte vierzig eilt auf den ihr angebotenen Stuhl zu.
»Womit kann ich Ihnen helfen?«, frage ich sie, nachdem sie sich gesetzt hat.
»Seit ich denken kann, hab‘ ich furchtbare Angst.« Sie knetet die Hände in ihrem Schoß.
»Angst wovor?« Ich beuge mich zu ihr hin.
»Vor …« Sie beginnt zu zittern, und ihr Atem beschleunigt sich. »Ich kann es noch nicht einmal aussprechen. Bitte helfen Sie mir, das muss besser werden.«
Weiter werden wir in diesem Gespräch nicht kommen, das weiß ich aus langjähriger Erfahrung. Also erhebe ich mich und trete hinter dem Schreibtisch hervor. »Haben Sie schon Erfahrung mit Traumsitzungen?«
Sie nickt und sieht mich mit großen Augen hoffnungsvoll an.
»Gut, dann wissen Sie ja, wie das Prozedere ist. Bitte legen Sie sich auf die Liege und nehmen Sie das Traumliquid zu sich.« Bevor ich das Somdoskop aktiviere, versuche ich die aufgeregte Frau noch einmal zu beruhigen. »Es ist ein Traum, ich werde bei Ihnen sein. Es kann nichts passieren.«
Sie schluckt das zähflüssige, durchsichtige Liquid und schließt die Augen. Die Flüssigkeit wirkt in Sekundenschnelle. Ich setze das Gerät in Gang, das Licht der Energiebögen wirft bizarre Schatten und ich folge dem vertrauten Ziehen in meiner Körpermitte.
Noch bevor ich die Augen öffne, höre ich lautes Vogelkrächzen. Es ist warm hier, und ein Schweißfilm bedeckt meine Haut. Die Luft um mich herum und in meiner Lunge ist wie Wasser. Es riecht nach Erde und Leben. Urwaldriesen werfen ihre Schatten auf dunkelrot blühende Orchideen. Ein Affe flitzt durchs Geäst der Bäume. Ich bin im Regenwald gelandet. Ein Trampelpfad verschwindet zwischen den Stämmen und ich beschließe, ihm zu folgen.
Er führt mich tiefer in den Wald hinein, die Bäume stehen enger, und die Schatten verdichten sich. Etwas irritiert mich. Ich stehe und lausche. Nichts. Keine Affen, keine Papageien, nicht einmal Insekten. Intensiv betrachte ich meine Umgebung und sehe etwas zwischen den Bäumen funkeln. Ein verirrter Lichtstrahl wird reflektiert. Das Rascheln der Farne, als ich darauf zuhalte, ist das einzige Geräusch, das die Stille durchdringt. Je näher ich komme, umso mehr funkelnde Flecken sehe ich. Langsam verbinden sie sich zu Strängen, bilden Kreise und Geraden. Ich stehe vor einem gigantischen Spinnennetz. Wunderschön in seiner geometrischen Ordnung. Offensichtlich hat die Spinne Beute gemacht, denn etwas hängt eingesponnen an den Fäden und zappelt. Es hat in etwa die Größe und Statur meiner Patientin.
Meine Armeehose klopfe ich nach Nützlichem ab, mit dem mich ihr Traum ausgestatten haben mag und finde einen Gurt mit Messer. Gut, dann wollen wir mal. Ich prüfe die Spinnenseide auf ihre Festigkeit und beginne daran hochzuklettern, immer darauf bedacht, den klebrigen Tropfen auszuweichen. Am Kokon angekommen, schlinge ich einen Arm um einen Faden und sichere meinen Stand. Mit einem Gedanken von mir könnte ich all dies verschwinden lassen, aber das ist nicht hilfreich. Sie muss jetzt da durch.
Die Spinnenseide gibt ein schmatzendes Geräusch von sich, als ich beginne, den Kokon vorsichtig aufzutrennen. Es fühlt sich zäh und fest an, als ich das Messer hindurchfahren lasse. Kaum habe ich das Gesicht meiner Patientin freigelegt, fängt sie an zu schreien. Ihr Kopf ruckt hin und her. Sie wirkt, wie ein Tier in der Falle, und irgendwie ist sie das ja auch.
Ich lege ihr beide Hände an die Wangen und halte ihren Kopf, nehme ihr etwas von ihrer Angst. Lasse sie in mich fließen. Nicht alles, denn sie muss sie selbst besiegen. Mein Rücken ist schweißnass, als ich meine Patientin endlich soweit befreit habe, dass sie aus dem Kokon klettern kann. Sie steigt auf einen der Spinnenfäden und ihre Beine geben nach. Sofort greife ich ihren Oberarm und stütze sie. Zu zweit beginnen wir hinabzusteigen, einen Faden nach dem anderen. Auf dem Boden angelangt, steht sie zitternd da.
Ich lege ihr eine Hand auf die Schulter und drücke sanft. Äste brechen krachend hinter mir entzwei, und wir wirbeln herum.
»Nein«, flüstert meine Patientin und schlägt beide Hände vor den Mund, während sie mit schreckgeweiteten Augen in das Zwielicht des Dschungels starrt.
Die Besitzerin des Netzes bahnt sich rücksichtslos ihren Weg durch das Unterholz. Schwarze borstige Haare bedecken den Panzer der Spinne, und Gift tropft von ihren Fangzähnen, während sie uns aus schwarz funkelnden Augen anstarrt.
»Du musst sie töten«, fordere ich meine Patientin auf. Die Spinne nähert sich uns langsam.
»Ich kann nicht«, schluchzt sie unter Tränen.
»Stell dich deiner Angst.«
»Ich kann nicht.« Sie zittert und taumelt zurück.
»Willst du so weiterleben? Dir von einer kleinen Spinne diktieren lassen, wo in einem Raum du dich aufhalten darfst, welchen Weg du draußen nehmen kannst?«
Ein Schluchzen schüttelt ihren Körper. Gleich ist die Spinne in Reichweite, wir haben kaum noch Zeit.
»Ich kann nicht«, wimmert sie. Ich packe ihre Schultern und drehe sie zu mir.
Ernst sehe ich meiner Patientin in die Augen und lasse ein wenig mehr von mir in sie fließen. »Du kannst. Geh und besiege deine Angst.« Mit schreckgeweiteten Augen blickt sie mich an. Sie glaubt mir nicht. Glaubt sich selbst nicht. Ich gebe ihr mehr Energie, mehr Mut. Drücke ihre Schulter auffordernd.
Zittrig nickt sie und ich reiche ihr eine Machete. Sie dreht sich um und steht der mannshohen Spinne gegenüber. Ein Ruck geht durch die Frau hindurch, sie reißt beide Arme hoch, schreit laut und stößt die Waffe in den Panzer der Spinne. Knirschend gibt er nach, die Spinne faucht und windet sich. Meine Patientin zieht die Machete zurück und ein Schwall bunten Glitzers ergießt sich aus der Wunde der Spinne.
»Ja!«, schreit sie und trennt ihrer Angst mit einem einzigen Hieb den Kopf ab.
Seifenblasen steigen aus dem Rumpf hervor und zerplatzen friedlich in der grünen Dämmerung.
Das war mein Werk. Ich kann kein Blut sehen.
Kapitel 5
»Alles, was man vergessen hat, schreit im Traum um Hilfe.«
Elias Canetti
Als die Patientin meine Praxis verlässt, lasse ich mich in meinen Stuhl zurückgleiten. Traumsitzungen sind anstrengend, und sie verlangen mir einiges ab. Gedankenverloren spiele ich mit meinem Kugelschreiber. Ich öffne die oberste Schublade meines Schreibtisches und hole meine neuste Errungenschaft heraus. Zartes Blau, kräftiges Gelb und sattes Grün strahlen mir entgegen. Die Farben des Lebens. Leben, das ich konserviert habe, damit es mir nicht durch die Finger rinnt. Ich streiche liebevoll mit meinem Daumen über die glatte Oberfläche des polierten Schmuckstücks.
Die Tür öffnet sich, und Beth betritt mit einem Tablett bewaffnet den Raum. »Wie schaffen Sie es nur immer wieder, alle Kaffeetassen in Ihrem Büro zu sammeln?«, weist sie mich zurecht und sammelt eine beachtliche Anzahl diverser Tassen und Becher ein.
»Hartes Training«, rutscht es mir raus. Normalerweise bin ich nicht zum Scherzen aufgelegt und wenn dann nur in der Nähe von Menschen, die ich kenne.
Eigentlich nur in Beths Nähe, wenn ich es mir genau überlege, denn sie ist der einzige Mensch, den ich näher kenne.
Beth hält in ihrer Bewegung inne und dreht sich zu mir um. Ein Lächeln umspielt ihre schmalen Lippen. Es wirkt irgendwie fehl am Platz. »Das wäre dann Nummer Vier«, sagt sie.
Ich runzele die Stirn und blicke ihr in die hellgrauen Augen. »Das ist der vierte Versuch einen Witz zu machen, Miss Van Houten, und der zweite in diesem Jahr. Nicht, dass ich Sie noch an den hiesigen Zirkus verliere.«
Innerlich stöhne ich auf. Das bedeutet in der nächsten Zeit, viele Patienten mit Clownsphobie zu therapieren, und wenn es ganz schlecht läuft, den Clown ebenfalls.
Aber ich beschwere mich nicht. In den Träumen anderer Menschen zu wandeln, ist jedes Mal wieder spannend - spannend und gefährlich. Man muss konzentriert bleiben. Manche sind so wunderschön, dass man sich in ihnen verlieren will, andere sprechen eigene Ängste an, sodass es schwerfällt, den Patienten herauszuholen.
In meiner Ausbildung traf ich auf einen Patienten, dessen größte Angst es war, zu fallen. Als ich seinen Traum betrat, befand ich mich sofort im freien Fall. Angestrengt versuchte ich, zu meinem Patienten zu gelangen. Vergebens. Ganze drei Stunden fielen wir gemeinsam und doch allein. Das war bisher die schlechteste Leistung, die ich jemals in der Traumfabrik abgeliefert habe.
»Wer ist mein nächster Termin?«, verdränge ich meine Gedanken.
»Eben kam ein Anruf von der Abteilung Träume und Traumverfolgung, Sie mögen bitte umgehend zu Ihnen kommen. Ein Mord wurde begangen und der Herr wurde am Tatort aufgegriffen, sie wollen wissen, ob er schuldig ist.«
Ich bin schon aufgestanden, als sie das erste Mal »Abteilung« gesagt hat. In Gedanken schon vor Ort, lege ich mir meinen weißen Blazer über, ziehe meinen Lippenstift nach, greife nach meiner Tasche und sage zu Beth: »Streichen Sie alle weiteren Termine für heute, das wird dauern.«
Vermeidliche Verbrecher zu überführen, ist die Essenz meines Seins, meine Praxis sichert lediglich meine Existenz.