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**Minas Reise geht weiter. Folgst du ihr in eine Welt voller dunkler Bedrohungen und düsterer Vorzeichen?** Zwölf Götter. Neun Welten. Eine Prophezeiung. Du glaubst, ein göttliches Schicksal wäre einfach? Du glaubst, die Liebe überwindet alles? Lass uns hoffen. Für uns alle
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Seitenzahl: 353
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Copyright 2022 by
Dunkelstern Verlag GbR
Lindenhof 1
76698 Ubstadt-Weiher
http://www.dunkelstern-verlag.de
E-Mail: [email protected]
ISBN: 978-3-910615-62-5
Alle Rechte vorbehalten
Für Marco
und Sören
die uns in dieser Welt den Rücken stärken,
damit wir andere Welten erschaffen können.
Inhalt
Prolog 7
Ich seh rot 9
Der Gesegnete 25
Das kämpferische Marsmäulchen 31
Wüstensau trifft Wurm 39
Drachenstern 53
Über sieben Brücken musst du gehen 63
Guruffel on the Rocks 73
Kampfkäfer 82
Wir können nicht alle die Prinzessin sein 87
A Star is Born 102
Truth Hurts 114
Childramund tut Wahrheit kund 129
Du kriegst mich nicht 141
Frühstück in Schwarz 158
In meinem Herzen 170
Das Universum hat einen Plan 192
Das schnurrende Buch 201
Kuma the Wedding Planner 211
Dunkelste Nacht 221
Göttinnen und Götter Glossar in der Galaxie von Sternendämmerung: 234
Danksagung 236
Triggerwarnung:
Dieses Buch nutzt Inhalte, die bei einigen Leserinnen und Lesern Unwohlsein hervorrufen oder eventuelle persönliche Trigger darstellen könnten. Eine genaue Auflistung der inbegriffenen Themen bzw. Szenen ist am Ende des Buches zu finden, da sie explizite Spoiler zur Geschichte enthält.
Prolog
Er träumte … befand sich auf einer weiten Ebene, die ihm wohlbekannt war. Tiefschwarze Nacht wurde nur durch das Funkeln der Sterne erhellt. Gesteinsbrocken waren auf dem Plateau verteilt, als wäre ein Riese beim Murmelspiel gestört worden. Kein Gras, kein Baum, kein Strauch, nichts unterbrach die endlose Weite. Hier gab es nur düstere Einsamkeit.
Es war still und eisig, eine Atmosphäre, in der er geradezu erwartete, dass der verschwundene Riese zurückkommen und nun mit seinen Knochen spielen würde, da er der Steine überdrüssig war.
Freudige Schauer überliefen den Mann, wie jedes Mal, wenn er in diesem Traum erwachte. Er war bei seinem Herrn und der endgültigen Macht wieder ein Stück näher.
Zuckende Schatten flogen über das Geröll und verdichteten sich zu einer großen, dunklen Gestalt, die wabernd in der Luft stand. Donner rollte über das flache Land, als eine uralte Stimme anhob und sprach: »Die Zeit schreitet voran und das Tor wird schwächer. Wir können unsere Essenz immer öfter in die Welt hinaussenden.«
Der Mann nickte eifrig, obwohl es nicht sein Verdienst war.
Erneuter Donner brandete heran, die Schatten zogen sich stärker zusammen und die fast körperlose Stimme fuhr fort: »Nun, da wir uns nach so langer Zeit wieder nähren können, spüren meine Brüder und Schwestern, wie die alte Kraft langsam wiederkehrt. Es wird nicht mehr lange dauern, bis wir uns erheben können.«
Die Knie des Mannes wurden weich vor Vorfreude, war dies schließlich der Moment, in dem auch er seine größte Macht erlangen würde.
»Du wirst uns ein letztes Opfer bringen, wenn die Zeit gekommen ist und alle Götter in einer Reihe stehen. Meine Geschwister und ich werden über die Welt herfallen, und für diese verräterischen, erbärmlichen Götter gibt es dann nur noch die Dämmerung.«
Und noch während ein schwarzer Blitz den Himmel zerriss, ihn aufzuzehren schien, nickte der Mann, denn für die Herrschaft über die Planeten würde er alles geben.
Ich seh rot
Ich starrte blicklos aus dem Fenster. Mein Kopf, der auf ein Kissen gebettet war, schien leer zu sein. Endlich. Endlich setzte die Taubheit ein, nach der ich mich die ganze Zeit gesehnt hatte. Das Blinzeln fiel mir schwer. Zeit und Raum hatten keine Bewandtnis. Ich hatte keine Ahnung, wie lange ich nun auf dem Mars war. Einen Tag? Fünf? Eine Zeit, in der ich mich nicht aus diesem gottverdammten Zimmer bewegt hatte, geschweige denn aus dem Bett. Man hatte mich in Ruhe gelassen. Lediglich Essen wurde regelmäßig in mein Zimmer gebracht. Ich ließ die Vergangenheit an mir vorbeiziehen und kämpfte wieder mit den Tränen. Tränen der Scham, Tränen der Trauer und Tränen der Verzweiflung.
Ein Gefühl schien ich dabei leider komplett begraben zu haben: meine Wut. So sehr ich vorher dazu fähig war, genau diese Emotion jederzeit abzurufen, so sehr versteckte sie sich gerade vor mir und enthielt mir ihre lebensnotwendige Energie vor. Meine Stärke war verloschen wie Feuer ohne Sauerstoff.
Nereus, immer wieder Nereus. Ich kam einfach nicht dahinter, wie ich mich so hatte täuschen können. War mein Wunsch nach einem passenden Gegenüber so übermächtig gewesen, dass ich alle Warnhinweise in den Wind geschossen hatte? Jeden Blick, jede Berührung und jede Geste ging ich immer und immer wieder durch, denn auf seine Worte konnte ich mich nicht verlassen. Seine Worte waren das, was mich an den Rand des Abgrunds gebracht hatten. Sie ist noch nicht so weit … Sein Projekt Minerva. Doch mein verräterisches Herz wollte den letzten Hoffnungsfunken noch nicht aufgeben, und so ging ich seine Gesten, seine Berührungen und seine Blicke wieder von vorne durch.Abermals kroch mir die Scham, die Ausweglosigkeit meiner Gefühle und der Verrat den Nacken hoch. Und doch wollte die Wut nicht kommen. Ich vermisste sie schmerzlich.
Ebenso wie meine Eltern. Was sie wohl gerade taten? Ich vermisste Clint und Molly. Fragten sie sich langsam, wo ich bleibe? Und ich vermisste Csilla. Könnte ich ihr jemals verzeihen? In den vergangenen Tagen hatte ich viel Zeit, auch über meine ehemalige Mitbewohnerin und Hebamme meiner wahren Mutter Rhea nachzudenken. Wie ich es drehte und wendete, ich konnte sie nicht rehabilitieren. Unsere gesamte ›Freundschaft‹ war eine Lüge. Sie kannte mich angeblich mein ganzes Leben und war immer in anderer Gestalt bei mir gewesen. Diese Vorstellung war nicht nur gruselig, sondern absurd. Allerdings, was war hier nicht absurd? Vor zwei Wochen war ich noch glücklich und zufrieden in St. Andrews. Ich hatte meine Leidenschaft zu den Sternen mit meiner Professorenstelle gekrönt, hatte witzige Abende mit meinen Freunden verbracht, hatte viel gelacht und ein unbeschwertes Leben geführt. Doch dann lernte ich Nereus kennen und alles geriet aus den Fugen. Plötzlich bin ich das Kind von Göttern und habe eine Bestimmung zu erfüllen. Meine geliebten Sterne sind mir so viel näher und doch meilenweit entfernt.
Azurblaue Augen streiften wieder meine Gedanken und schienen nach mir zu suchen. Diese Farbe, die sich anscheinend in mein Innerstes gebrannt hatte und nicht wieder verblassen wollte. Augen, die für mich sehr schnell die Welt bedeutet hatten. Ein Lächeln, welches mich tief in meinem Inneren berührte, immer noch. Verräterische Grübchen, denen ich besser den Kampf hätte ansagen sollen, aber diesen eigentlich schon beim ersten Einsatz verloren hatte.
Ich konnte gerade gar nichts mehr. Mein Herz fühlte sich an, als hätte es jemand fest in seinem Griff und würde mit voller Kraft zudrücken. Das Atmen fiel mir schwer, die Augen aufzuhalten fiel mir schwer, aufzustehen, zu essen, zu trinken, zu fühlen, das alles fiel mir schwer. Es fiel mir schwer weiterzuleben. Unendlich schwer. Ich machte einen tiefen Atemzug und entschied mich, dass heute auch noch nicht der geeignete Tag war, um aufzustehen. Morgen, morgen würde ich es erneut versuchen.
***
Rötlicher Sand fegte am Fenster vorbei, gefolgt von bordeauxfarbenen, handtellergroßen Blättern. Ich runzelte die Stirn. Die Blätter passten nicht zu dem, was ich bisher von meinem Fenster aus vom Mars gesehen hatte. Neugier. Mein Geist hieß diese Emotion, die sich ihren Weg aus der dumpfen Masse meiner Gefühle herausgebahnt hatte, willkommen. Ich setzte mich auf. Mir tat alles weh. Mein Kopf schmerzte, meine Glieder schienen taub und schlapp und ein dicker Kloß aus Selbstzweifeln und Freudlosigkeit hatte es sich in meinem Magen gemütlich gemacht.
Wann hatte ich das letzte Mal etwas gegessen? Mein Blick fiel auf den Teller mit frischem Obst und ich wollte dem Drang gar nicht widerstehen, der mich automatisch dorthin zog. Ich stand auf und schwankte. Mit wurde wieder schwarz vor Augen, wie in dem letzten Moment auf dem Neptun, bevor ich das Bewusstsein verloren hatte. Ich hielt mich an einem der emporragenden Bettpfosten fest und schloss kurz die Augen. Ich hatte wirklich ganze Arbeit im Projekt »Zerstörung von Mina« geleistet.
Meine Gedanken kreisten wieder um dieses eine Rätsel. Wie, um aller Götter willen, hatten mich diese gerade erst aufkeimenden Gefühle für Nereus so aus der Bahn werfen können? Es war erst ein paar Wochen her, seit ich ihn kennengelernt hatte, und doch fühlte es sich an wie eine Ewigkeit. Wo war mein Kämpferherz hin? Konnte ich nicht irgendetwas tun, damit ich mich nicht so hundeelend fühlte?
Die Blätter.
Mein Blick huschte wieder zum Fenster und meine Neugier trieb mich voran, denn ich hatte bisher keine einzige Pflanze gesehen. Ich lehnte mich seitlich an das Fenster meines Schlafzimmers – Discordias ehemaligen Gemächern. Mars hatte sie mir gleich nach unserer Ankunft gegeben, ganz zum Leidwesen meiner wie-auch-immer Schwester. Zum ersten Mal seit Tagen sah ich aufmerksam aus dem Fenster.
Rot. Überall Rot.
Der Gott des Krieges hatte bei der Gestaltung seines Planeten nicht viel Mühe auf eine vielfältige Farbpalette verschwendet. Der Blick aus dem Fenster zeigte mir Vis, die Hauptstadt des Mars. So viel hatte ich noch an Informationen aufgenommen, bis ich mich meinem Leid hingegeben hatte. Mitten in der weitverzweigten Stadt, die aus vielen Lehmbauten bestand, thronte eine Art riesiges Kolosseum. Allerdings war es so länglich wie der römische Circus Maximus. Das Kolosseum zierten unzählige kleine, versetzte Rundbögen. Oben auf der elliptischen Balustrade, die von etlichen dorischen und ionischen Säulen verziert wurde, waren kämpfende Statuen in Stein gemeißelt. Eine Kampfszene war brutaler als die andere. Den Eingang bildete eine Statue im Mittelpunkt des Geschehens. Mein Vater. Mars’ Beine waren wie bei dem Koloss von Rhodos der Eingang zur Arena.
Ich wandte den Blick ab und versuchte herauszubekommen, woher die Blätter stammten. In diesem funktionalen Stadtbild gab es umso mehr Sand, denn hinter den Stadtmauern von Vis erstreckte sich eine riesige karmesinfarbene Wüste, die in Teilen in der Stadt wiederzufinden war. Fifty shades of red. Sarkasmus – noch eine Emotion, die ich sehr willkommen hieß.
Wieder wehten ein paar Blätter an meinem Fenster vorbei. Diesmal folgte ich ihnen mit meinem Blick, beziehungsweise suchte ihren Ursprung und fand ihn. Ein wunderschöner, riesiger Baum mit tiefroten Blättern wuchs in einem Garten, von dem ich nur einen Bruchteil sehen konnte. Er schien ein Teil des Palastes zu sein. Ich hatte keine Ahnung, denn ich hatte bisher noch nicht viel gesehen, außer ›meinen‹ Gemächern.
Ein weiterer Grund, warum ich heute aufgestanden war, war, dass ich in der vergangenen Nacht einen Entschluss gefasst hatte. Ich musste zurück zur Erde. Ich konnte nicht hierbleiben. Alles, wirklich alles schien hier falsch zu sein. Mein Herz, mein Verstand und mein Körper brauchten Hilfe. Ich brauchte meine Familie und meine besten Freunde. Außerdem wollte ich meine alte Stärke zurück. Ich brauchte sie dringend, wenn ich zurück zur Erde wollte. Zu irgendwas musste mein göttliches Dasein doch gut sein. Ich kniff die Augen zusammen und drückte mir die Handballen an die Schläfe, denn zu allem Überfluss hatte ich, seitdem ich auf dem Mars war, das Gefühl, irgendetwas stimmte mit meinem Kopf nicht. Er pochte immer mal wieder, als ob jemand in meinem Geist um Aufmerksamkeit bitten würde.
Das musste jetzt ein Ende haben, ich …
Es klopfte an der Tür. Erschrocken wandte ich mich vom Fenster ab. Bisher hatten die Bediensteten niemals angeklopft. Immer hatten sie leise und dezent das Essen gebracht und wieder abgeholt. Es klopfte erneut, diesmal wesentlich energischer. Ich räusperte mich, da ich mir nicht sicher war, ob ich überhaupt noch sprechen konnte.
»Herein«, krächzte ich und wankte langsam in Richtung des kleinen Tisches, auf dem das Obst stand. Die Tür wurde geöffnet und Zagreus betrat den Raum.
»Wie ich sehe, hast du dich dazu entschlossen aufzustehen.« Spöttisch kräuselten sich seine Lippen und seine wässrigen, grünen Augen suchten die meinen.
»Mars will dich sehen. In zwanzig Minuten haben wir eine Audienz. Wasch dich, zieh dich an und wage es nicht, zu spät zu kommen. Ich warte vor der Tür.« Noch während er sprach, drehte er sich um und verschwand.
Ich nahm mir eine Weintraube und biss zu. Der süße, fruchtige Geschmack war das Schönste seit Langem. Ich nahm mir noch ein paar und seufzte. Ergeben tat ich, was mir aufgetragen wurde und verkniff es mir, darauf hinzuweisen, dass ich ohnehin zu ihm gewollt hatte.
Meine Gemächer bestanden aus mehreren funktional eingerichteten Zimmern. Im Gegensatz zum Neptun, auf dem ich die Räume per Wunschgedanken so umformen konnte, wie ich sie gerade brauchte, war hier jeder Raum in seiner Funktion schon vorhanden. Mein Schlafzimmer, inklusive eines Betts, mündete in eine mit kleinen Mosaiksteinen versehene Badlandschaft. Im Gegensatz zur rauen Sandwüste außerhalb des Palastes waren meine Gemächer sehr stilvoll, wenn auch rustikal, eingerichtet. Die Detailverliebtheit in der Inszenierung der Mosaike war sagenhaft. Sie zeigten mystische Gestalten im Einklang mit der Natur. Diese Geschöpfe hatte ich allerdings nicht auf dem Neptun gesehen und fragte mich, ob es sie nur auf dem Mars gab.
Neben einer im Boden eingelassenen Badewanne, die stets heißes Wasser führte, war auch eine Art Sprühnebeldusche vorhanden, aus der rosafarbenes Wasser kam.
Ein drängendes Räuspern vor der Tür machte mich darauf aufmerksam, dass ich mich beeilen sollte. Nach einer Katzenwäsche zog ich mir schnell die Gewänder an, die für mich bereitgelegt worden waren. Ich war hier nicht wählerisch. Ich wollte dieses Treffen so schnell wie möglich hinter mich bringen und dann packen. Nachdem ich fertig war, schlurfte ich zur Tür.
»Mein Herr, wir haben wieder neue Male entdeckt. Was sollen wir damit machen?« Diese Stimme kannte ich nicht. Dann zischte Zagreus ein »Jetzt nicht« und wandte sich mir zu.
Ich musste einen elenden Anblick abgeben. Völlig entkräftet und ausgelaugt schaute ich in Zagreus Gesicht. Dieser rümpfte nur die Nase und ging ohne ein weiteres Wort voraus. Ihm gefiel anscheinend nicht, dass er für Mars den Laufburschen spielen und mich auch noch eskortieren musste.
Als wir aus dem Gang traten, der zu meinen Gemächern führte, sah ich mich zum ersten Mal wirklich um und bekam große Augen. Wir schritten durch einen riesigen, tempelartigen Saal, der sicher so groß wie ein halbes Fußballfeld war. Links und rechts säumten Statuen der zwölf Götter und ihrer jeweiligen Partner den Raum.
Als wir dem großen Bogen näher kamen, der anscheinend zu Mars führte, blieb ich stehen. Links und rechts neben dem Eingang standen meine Eltern – also meine leiblichen Eltern als Stauen, Mars und Rhea. Mars’ Erscheinung war mir schon etwas vertrauter, deshalb wandte ich mich meiner Mutter zu, die ich bisher nur von einer Wandmalerei aus dem Palast des Neptuns kannte. Die Ähnlichkeit mit mir war frappierend. Wir hatten sogar fast die gleiche Größe. Ihr Lächeln und ihre Gesichtszüge waren bezaubernd. Tränen stiegen mir in die Augen. Es war alles so ungerecht. Wieso war es mir nicht vergönnt gewesen, sie kennenzulernen, sie in den Arm zu nehmen und von ihr geliebt zu werden? Ein weiterer Punkt auf meiner schier endlosen Liste, warum ich hier wegmusste. Jede Erinnerung, die ich außerhalb der Erde gesammelt hatte, schien in einem Berg aus Schmerzen zu gipfeln.
»Mars wartet ungern und ich bin dafür zuständig, dass du pünktlich bist. Komm. Oder soll ich dich wieder transportfähig machen?« Transportfähig? Der Luftzug? Hatte er mir etwa das Bewusstsein genommen?
Zagreus zeigte mit seinem ausgestreckten Arm auf den Rundbogen. Dann sagte er in kühlem Ton: »Mars wird mir schon vorhalten, warum du so aussiehst, als wäre gerade eine Herde von Mantikoren über dich hergefallen.«
Ich fühlte mich tatsächlich, als wäre ich von einer Horde dieser löwenähnlichen Gestalten mit Skorpionsschwänzen überrollt worden. Aber auch diese Bemerkung ließ ich über mich ergehen. Ich war hier bald weg, es lohnte sich nicht, meine sowieso nur noch kläglich vorhandenen Emotionen nach meiner Wut zu durchforsten. Es lohnte sich einfach alles nicht mehr.
Schweigend stellte ich mich vor die Tür zu Mars’ Audienzzimmer und vernahm zänkische Stimmen. Ich runzelte die Stirn und versuchte genauer hinzuhören, als die Tür aufschwang und ich von der Szene, die sich mir bot, komplett erschlagen wurde.
Mars saß auf einem einfachen, blutroten Thron und hielt sich mit einer Hand und geschlossenen Augen den Kopf. Die eigentliche skurrile Szene spielte sich vor ihm ab. Ein seltsames, hüfthohes Plüschwesen, das mich stark an ein überdimensionales Chinchilla erinnerte, hatte beide Hände in die moppeligen Hüften gestemmt und fixierte Discordia.
»Mein gereiztes Tontöpfchen, wenn du nicht immer so furchtbar dramatisch sein würdest, hättest du längst mitbekommen, dass ich nicht länger in deinen Diensten stehe«, sagte das Chinchilla-Wesen und zwirbelte mit einer plüschigen Pfote seine langen Schnurrhaare.
Das Wesen hatte geredet. Warum wunderte mich das überhaupt noch?
Die Reaktion von Discordia, die bereits einen hochroten Kopf hatte, ließ nicht lange auf sich warten. »Oh, du kleiner, dreckiger Pelz…«
»Na, na, na, Schätzchen, das lassen wir mal lieber bleiben. Mars«, nun wandte es sich an meinen Vater, »kannst du ihr nicht endlich sagen, dass sie keinen Zugriff mehr auf mich hat? Ich soll ihr immer noch Sachen bringen, das habe ich lange genug mitmachen müssen. Meine Krallen hatten gestern eine Maniküre, ich bitte dich –«
»Schweigt. Beide.« Mars erhob sich mit vor Wut funkelnden Augen. »Discordia, Nero ist nicht mehr dein Eigentum. Du bist nicht meine Tochter. Sei froh, dass Minerva sich für deinen Verbleib ausgesprochen hat. Ihr hast du dein noch privilegiertes Leben zu verdanken.«
Oh, oh, wo war ich hier hineingeraten? Ich hätte gerne kehrtgemacht und mich ganz leise wieder aus dem Saal geschlichen, aber –
Zagreus räusperte sich laut. »Herr, hier ist Minerva, wie Ihr es befohlen habt.«
In diesem Moment drehten sich alle Köpfe in meine Richtung. Yeah … genau das, was ich jetzt brauchte …
»Tochter.« Mars machte einen Schritt auf mich zu, hielt dann aber inne.
Ich ließ den Blick schweifen: Hellgrüne Augen bohrten sich in meine. Dafür, dass ich Discordia den Allerwertesten gerettet hatte, schien sie dennoch nicht erfreut zu sein, mich zu sehen. Aber für diese Plänkeleien hatte ich keinen Kopf. Ich schaute das grau-weiß melierte Wesen an, das seine drolligen Pfoten vor der Brust verschränkt hatte. Nero, wenn mich nicht alles täuschte. Große, kugelrunde, braune Augen schauten mich erstaunt an. Dann bewegten sich seine Mundwinkel ganz langsam nach oben und entblößten eine Reihe spitzer, kleiner Zähne. Waren Chinchillas nicht Nagetiere? Dieses Grinsen sah so urkomisch aus, dass ich das erste Mal seit Tagen eine gewisse Erheiterung tief in meinem Inneren verspürte.
Allerdings hatte ich keine Kraft, um mich dieser hinzugeben.
»Ist sie das? Oh, bitte sag mir, dass sie das ist. Du hast ›Tochter‹ gesagt, jippie! Darf ich sie jetzt behalten? Ich habe schon immer davon geträumt, mit einer Dunkelhaarigen –«
Mars und Discordia fauchten Nero gleichzeitig ein »Schweig!« entgegen, so dass dieser seine großen Ohren geknickt hängen ließ. Danach bedachte Mars Discordia mit einem Blick, der sie dazu brachte, ihre Augen niederzuschlagen.
»Minerva, schön, dass du da bist. Wir haben heute einiges vor. Da wir in den vergangenen Tagen leider keine Möglichkeit hatten, uns auszutauschen, sind wir jetzt doch sehr im Zeitverzug. Meine Planung sah etwas anderes vor. Sei es drum. Zagreus.« Mars winkte seinen Seneschall mit einer knappen Geste zu sich. Dieser stellte sich an seine Seite und musterte mich abschätzig.
»Du wirst Minerva ab sofort in unseren Kampftechniken ausbilden. Leg besonderen Wert auf ihre Flammenschwertausbildung.«
Zagreus nickte knapp.
Was ging hier vor sich? »Ähm, stopp, Moment. Ich glaube, hier herrscht ein großes Missverständnis. Ich bin nur hier, um den Lapid zu erbitten, besser gesagt, um zu fragen, ob du mich zur Erde zurückbringst.«
Nun herrschte ein unangenehmes Schweigen, das durch das scharfe Einatmen von Nero unterbrochen wurde.
»Das ist gar nicht gut, gar nicht gut …«
Mars ignorierte Neros Einwand und baute sich zur vollen Größe auf. »Ich werde dich weder zur Erde bringen noch werde ich dir einen Lapid geben. Du bist meine Tochter, mein Erbe. Du wirst mir gehorchen und das tun, was ich wünsche. Und ich will, dass du lernst, was es heißt, einen Planeten zu regieren. Du wirst Land und Leute kennenlernen und du wirst die beste Kämpferin im gesamten Sonnensystem werden. Vor mir sehe ich nur einen kläglichen Haufen, der seine Gefühle über das Wohl seines Volkes gestellt hat. Sieh dich nur an. Abgemagert, fahl, taub. Ich dulde nicht länger, dass du dich in deinem Zimmer verkriechst und deine Wunden leckst. In zwei Wochen wird deine Hochzeit stattfinden. Du wirst Nereus heiraten. Finde dich damit ab.«
Schockiert zog ich die Luft ein.
Ein Albtraum – ich war in meinem persönlichen Albtraum gefangen.
Doch es ging noch weiter.
»Bis dahin werde ich die Herrscherin aus dir machen, die mein Volk braucht. Ich dulde deine Schwäche nicht länger. Von nun an wird Zagreus dein Training übernehmen und Discordia deine Ausbildung in Hofetikette.«
Discordia wollte gerade zum lautstarken Protest ansetzen, als Zagreus ihr einen harschen Blick zuwarf, der sie augenblicklich verstummen ließ. Ich runzelte abermals die Stirn.
Da spürte ich etwas meinen Nacken hochkriechen, ein kleiner Funke meiner Wut. Ich öffnete mein Innerstes, um ihn willkommen zu heißen, aber er zog sich so schnell zurück, wie er gekommen war. Verzweifelt schüttelte ich den Kopf. Tränen bahnten sich ihren Weg in meine Augen. Hilfesuchend schaute ich mich um. Das durfte doch nicht wahr sein. Ich saß hier fest und ich konnte rein gar nichts tun.
»Mars, ich … ich werde Nereus nicht heiraten. Nicht nach dem, was er mir angetan hat. Willst du für mich etwa kein Glück? Willst du alles, was wir vielleicht noch miteinander teilen könnten, von vornherein zunichtemachen? Denn das, was du von mir verlangst, wird mich dich hassen lassen. Willst du das?«, endete ich nach Fassung ringend.
Mars sagte einige Momente nichts. »Raus. Alle, außer meiner Tochter.«
Zagreus und Discordia machten sich schnell von dannen. Nero schien allerdings keinen gesteigerten Wert darauf zu legen, die Szenerie hastig zu verlassen. Er kam langsam auf mich zu und rieb seinen kuschelweichen Kopf an meiner rechten Hand. Dann blickten mich seine großen Augen von unten an und er flüsterte: »Er meint es nur gut, gib ihm eine Chance.«
Verblüfft und an dem Verstand des Riesenchinchillas zweifelnd, schaute ich ihm beim Verlassen des Raumes hinterher. Mars ging kurz zu Nero und flüsterte ihm etwas ins Ohr, bevor das Chinchilla-Wesen den Raum endgültig verlassen hatte. Dann wurde es still.
Der Gott des Krieges holte tief Luft und kam auf mich zu. »Minerva, ich weiß, dass das hier alles viel für dich ist, aber ich meine es ernst. Uns läuft die Zeit davon, denn wir haben so viel davon verloren, dass es jetzt nur im Schnelldurchlauf geht und du an deinen Aufgaben wachsen musst.«
Ich blickte zu ihm auf und schaute ihm fest in die Augen. »Ich kann nicht. Beim besten Willen, ich kann nicht. Bitte verlang das nicht von mir«, flüsterte ich. »Ich brauche meine Eltern.«
Dieser Satz ließ Mars’ Miene etwas weicher werden und Schmerz huschte über sein Gesicht. Mir wurde jetzt erst bewusst, dass ich ihn damit verletzt haben musste.
»Seit vierundzwanzig Jahren kenne und liebe ich meine Eltern Sue und James. Du würdest sie auch mögen, wenn du sie kennen würdest. Sie sind warmherzige und großzügige Menschen. Sie lieben mich von ganzem Herzen.« Ich machte eine kleine Pause.
»Konntest du denn für Discordia nie so etwas empfinden? Oder warum fiel es dir so leicht, sie verbannen zu wollen? Es scheint, als sei es dir nicht vergönnt gewesen, sie so zu lieben, wie man sein eigenes Kind liebt.« Ich seufzte.
Mein Göttervater drehte sich weg und fuhr sich mit seiner linken Hand durch sein schwarzes Haar. »Ich habe leider nie wahre Gefühle für Discordia entwickeln können, und Jupiter weiß, ich habe es versucht. Ich habe mich lange Zeit dafür gehasst. Ich habe sie mit Geschenken überhäuft, aus dem schlechten Gewissen heraus, dass ich ihr nicht der Vater sein konnte, den sie verdient. Deine Mutter war mein Ein und Alles. Als sie starb, starb auch ein Teil von mir. Ich habe verzweifelt versucht, etwas von ihr in Discordia zu finden. Ich bin kläglich gescheitert, und jetzt weiß ich, warum das nie funktioniert hat. Denn wenn ich dich anschaue, dann sehe ich Rhea. Die Schicksalsgöttinnen hatten anscheinend andere Pläne für uns.« Er seufzte und fuhr sich nun mit seiner Hand über sein Gesicht.
»Ich bitte dich um Zeit. Du bist mein Kind, ein Kind des Mars. Das hier …«, er machte eine ausholende Geste, »… ist dein Volk, dein Planet, deine Heimat. Du wurdest mir genommen und nun habe ich dich wiedergefunden. Gib mir und deinem Volk Zeit und lerne uns kennen.« Er sah mich abwartend an.
Seine Worte bewegten etwas in mir. Zwei Herzen schlugen in meiner Brust. Natürlich hatte ich mir auch Gedanken gemacht, wie es mir gehen würde, wenn ich auf der Erde zurück wäre und nie mehr zum Mars kommen könnte. Mein Erbe und somit der gesamte Planet wären auf ewig verloren. Denn ohne herrschende Gottheit wäre die Welt, die Mars erschaffen hatte, dem Untergang geweiht.
Konnte ich mit dieser Schuld leben? Ich kannte die Antwort nur zu gut. Aber was hätte ich davon, wenn ich blieb? Einen Planeten, einen verlogenen Ehemann, einen Haufen voll diplomatischen Kram, von dem ich nichts verstand …
Durfte ich nicht auch egoistisch sein und mich in mein glückliches Erdenleben zurückbeamen?
»Zwei Wochen.«
»Was?«, fragte ich verdattert.
»Ich möchte zwei Wochen von dir, in denen du deinen Heimatplaneten erkundest. Lerne von Zagreus, und ja, auch von Discordia, denn sie ist eine hervorragende Taktiererin, sie kann gut mit Menschen umgehen, auch wenn sie dies nicht immer zeigt. Danach überleg dir, ob du bleiben und dein Erbe annehmen oder gehen willst. Außerdem wartet vor der Tür noch eine Überraschung auf dich. Mein Geburtsgeschenk, das du nie erhalten hast.«
Meine Gedanken kreisten gegen den Strom. Zwei Wochen. Was waren schon zwei Wochen?
»Und dann? Was passiert, wenn ich nach zwei Wochen sage, dass ich nicht bleiben will? Lässt du mich dann wirklich gehen?«
Mars nickte langsam. »Ja, dann lasse ich dich gehen.«
Hatte ich mich gerade verhört? »Was wird aus dem Mars?«
Er seufzte abermals. »Ich habe schon längere Zeit darüber nachgedacht, ob ich Zagreus die Herrschaft überlasse. Er ist mein engster Vertrauter und mein oberster Befehlshaber. Er war mir stets treu ergeben und hat mich nie hinterfragt. Ein hervorragender Soldat. Ich hatte nie ein gutes Gefühl dabei, Discordia den Mars zu überlassen. Das einzige Problem wäre, dass ich ab und zu meine Magie erneuern müsste.«
Mir klappte der Mund auf. Zagreus, dieser Widerling? Das konnte doch wohl nicht sein Ernst sein. Ich erinnerte mich noch gut daran, wie Nereus mir erklärt hatte, dass die alten Götter sich zurückziehen und ihren Kindern die Herrschaft überlassen wollten.
Andererseits, was scherte es mich? Mars hatte mir gerade gesagt, dass er mich nach zwei Wochen gehen lassen würde, wenn ich dem Planeten und seinen Bewohnern eine Chance gab.
»Einverstanden. Zwei Wochen. Danach entscheide ich mich.«
Mars nickte und zog einen Dolch. Ohne zu zögern, schnitt er sich damit tief in den Unterarm. Erschrocken schaute ich ihn an.
»Götter besiegeln solche Versprechen mit Blut, unserem stärksten und verpflichtenden Mittel.«
Er wiederholte die Prozedur an meinem Arm, ohne auf mein Einverständnis zu warten, und presste die Wunden aufeinander. Kleine rote Funken tanzten über unserer Verbindung. Ich konnte nur erstaunt zuschauen und spürte keinen Schmerz. Als Mars seinen Unterarm von meinem nahm, war keine Spur der Schnittwunden zu sehen. Zufrieden lächelte er das erste Mal, seit ich ihn kannte.
Mein Vater begleitete mich zur Tür. »Nun schau dir dein Geschenk an. Ich hoffe, dass es dir gefallen wird.«
Er öffnete die Tür und entließ mich in das Vorzimmer, in dem Nero gerade versuchte, eine rote Schleife über seinem Bauch zu drapieren.
»Nero, was machst du da?«, fragte Mars und zog seine Augenbrauen zusammen.
Erschrocken schaute Nero auf und versuchte nun verzweifelt, die Schleife zu verbergen.
»Ich, ähm, ich wollte nur … na ja, ich bin ja das …« Er streckte auf einmal beide plüschigen Pfoten in die Höhe, schob ein Bein grazil mit spitzem Fuß nach vorne und sagte: »Tatatatataaaaa, ich bin dein Geschenk.«
Ich konnte vor Erstaunen – und auch ein klein wenig vor Entsetzen – nichts sagen. Neben mir vernahm ich ein Grollen von Mars.
»Nero, hatten wir nicht darüber gesprochen, Minerva etwas zu schonen und sie nicht gleich mit deinem vollen … Charme zu überrollen?«
»Na ja, genau genommen hast du es mir befohlen, und von ›besprochen‹ waren wir da meilenweit entfernt. Meine Idee war eine gänzlich andere, wie du weißt. Wenn jemand so traurig ist wie unsere kleine Regenwolke hier, dann braucht sie besonders viel von –«
»Jaja, ist schon gut. Minerva, als Rhea in den Wehen lag und ich wusste, dass du bald das Licht der Welt erblicken würdest, kam mir der Gedanke, einen Lebensbegleiter für dich zu erschaffen. Ich habe viele Geschwister, aber ich wusste, dass du ein Einzelkind bleiben wirst, so wie alle anderen Götterkinder. Nun … Nero ist dein Geburtsgeschenk.« Er blickte etwas verlegen, aber auch stolz zu mir.
»Und ich sage es noch mal: Tatatatataaaa, hier bin ich und ich freue mich, endlich bei meiner wahren Begleiterin angekommen zu sein.«
»Ja … ähm, danke? Also, ich meine, ich weiß nicht genau, was ich mit ... Nero soll. Tut mir leid. Ich bin gerade etwas überfordert. Ich hatte noch nie ein Haustier …«
»Haustier? HAUSTIER?«, Neros Stimme kletterte in ungeahnte Höhen und er schien sich irgendwie aufzuplustern. Oh, oh, da hatte ich ja was gesagt.
»Begleiter«, sagte Mars in einem neutralen Tonfall, aber er musste sich ein Lachen stark verkneifen.
»Haustier?« Nero kräuselte wieder das kleine Näschen und grummelte vor sich hin. Dann sah er mich an und ließ seine pelzigen Pfoten lasziv über seinen Körper gleiten.
»Schätzchen, glaub mir, ich bin kein Haustier, ich bin eine Granate.«
Nun war es an mir, meine zuckenden Mundwinkel unter Kontrolle zu bringen. Allerdings war ich nach wie vor mit dieser Situation komplett überfordert. Was sollte ich denn jetzt mit Nero anstellen?
»Okay, du Granate. Was passiert denn jetzt? Was macht denn ein Begleiter so?«
Mars räusperte sich. »Zunächst einmal wird Nero stets bei dir sein, außer du möchtest es nicht. Mir wäre es aber lieber, wenn er so oft wie möglich in deiner Nähe wäre. Er kann sehr nützlich sein, auch wenn das auf den ersten Blick vielleicht nicht immer so ersichtlich ist.«
Nein, das war es tatsächlich nicht. Wie sollte ein Chinchilla nützlich sein?
»Okay, ich … Nero, wollen wir dann jetzt zusammen in mein Zimmer gehen? Oder haben wir heute noch einen weiteren Programmpunkt?«
»Nein«, sagte Mars. »Ich denke, heute solltet ihr zwei euch vielleicht ein bisschen besser kennenlernen. Nero ist übrigens ein Childra, er ist einzigartig und nur für dich, meine Tochter, erschaffen worden.«
Erstaunt sah ich Nero an, der gerade damit begonnen hatte, seinen Bauch mit wenig Erfolg von der Schleife zu befreien. Ich schüttelte langsam den Kopf, holte tief Luft und stieß diese geräuschvoll aus.
»Na los, Nero, dann komm. Lass uns einander besser kennenlernen.«
»Nichts lieber als das, meine kleine Zimtschnecke.«
Bei diesem Spitznamen zog sich mein Herz schmerzhaft zusammen. Die gesamte Trauer, die ich gerade für ein paar Momente erfolgreich verdrängt hatte, schlug wie eine meterhohe Welle, die sich aufSee bricht, über mir zusammen. Mir wurde schlagartig schlecht, als meine Gedanken wieder zu Csilla, zu meinen Eltern und letztendlich auch zu Nereus zurückkatapultiert wurden.
»Mina?«
Erschrocken hielt ich inne und fasste mir an den Kopf. Was war das?
»Mina? Hörst du mich?«
Diese Stimme würde ich immer und überall wiedererkennen.
Nereus.
Wie, in drei Teufels Namen, kam seine Stimme in meinen Kopf? Ich horchte, ob noch etwas kam, aber da war nur noch Stille.
»Habe ich etwas Falsches gesagt? Oh, mein Haselnüsschen, komm, ich begleite dich auf dein Zimmer, du kannst mir alles sagen. Ich weiß, du machst gerade eine schwere Zeit durch, ich… –«
Nero plapperte noch viele belanglose Worte, während er neben mir, halb hüpfend, halb auf zwei Beinen laufend, herging. Ich bekam von alledem nur noch wenig mit. Hatte ich mich verhört, hatte ich Wahnvorstellungen? Ich fasste mir abermals an die Schläfen.
Auch die Verabschiedung von Mars fiel knapp aus. Ich schätzte es, dass er mich gewähren ließ. Gerade als wir wieder in meinem Zimmer waren, merkte ich, dass etwas anders war. Dort lag ein Gegenstand auf meinem Bett. Ein Päckchen.
»Uh, Geschenke! Hast du etwa schon einen heimlichen Verehrer? Ach, wie schön, dass es so was doch noch gibt. Das ist so romantisch. Ich bin ja so neugierig! Darf ich es öffnen oder willst du unbedingt? Also ich würde es dir auch abnehmen, das wäre gar kein Problem –«
»Nero. Stopp.«
Dieses pausenlose Geplapper konnte ich gerade nicht gebrauchen. Nero verstummte. Ich konnte nur das Päckchen anstarren. Etwas daran kam mir grausam bekannt vor. Mein Blick fiel auf eine zarte Blume, eine Blume, die mir vor einer kleinen Ewigkeit ein Seepferdchen geschenkt hatte, welches Nereus extra für mich erschaffen hatte. Ich machte einen Schritt zurück und schaute Nero an.
»Du willst mir etwas Gutes tun? Bitte nimm das mit«, ich zeigte auf das Päckchen, »und entsorge es.«
Nero fragte erstaunlicherweise nicht nach dem Warum, sondern tat, worum ich ihn gebeten hatte.
Nun war ich wieder allein. Der Schock über das Geschenk, das gerade noch mein Bett berührt hatte, Nereus’ Stimme in meinem Kopf und die Erinnerung an sein Präsent auf dem Neptun ließen mich wieder schwer atmen, mein Herz schmerzte entsetzlich. Ich ging zur Tür, schloss ab und legte mich aufs Bett.
Dann gestattete ich mir ein letztes Mal, die Tränen, von denen ich geglaubt hatte, dass sie bereits alle hätten geweint sein müssen, fließen zu lassen.
Der Gesegnete
Eine Faust traf hart auf mein Jochbein. Sterne tanzten vor meinen Augen, als scharfer Schmerz durch meinen Schädel schoss. Benommen taumelte ich zur Seite und wich einem mörderischen rechten Haken aus, der mich ansonsten mit Sicherheit k. o. hätte gehen lassen. Eigentlich fast schon schade, wäre dieses Elend, das sich Training schimpfte, dann wenigstens zu Ende gewesen.
Ich fing mich und mit einer leichten Drehung platzierte ich einen Treffer in Zagreus’ Nierengegend.
»Streng dich mehr an, du schlägst ja wie ein jämmerlicher Mensch.«
Diesem freundlichen Kommentar folgte ein Schlag in meinen Magen, der mir die Luft zum Atmen raubte. Mit zusammengebissenen Zähnen zischte ich: »Menschen sind ganz sicher nicht jämmerlich.«
Auf Zagreus’ Stirn bildete sich eine wütende Falte, als ich knapp seinem nächsten rechten Haken entkam, indem ich mich blitzschnell duckte.
»Du bist die Tochter des Kriegsgottes und beschämst ihn gerade mit deiner lahmen Vorstellung.«
Keuchend drehte ich mich unter seinem Arm hindurch und verpasste ihm einen Tritt gegen sein Knie, den er kaum zur Kenntnis zu nehmen schien.
»Das soll alles sein? Zu mehr ist die Tochter des Mars nicht fähig?«, knurrte Zagreus mit hämisch verzogenen Lippen.
Mir lief der Schweiß in die Augen. Sein nächster Schlag streifte meine Schläfe zwar nur, aber es fühlte sich an, als wäre seine Faust aus Eisen.
Benommen schüttelte ich den Kopf.
»Zieh dein Flammenschwert«, spie mir Zagreus kalt entgegen.
Er täuschte einen weiteren Hieb an, um mich davon abzulenken, dass er mir die Beine wegtreten wollte. Ich entging einem unsanften Zusammenstoß mit dem Erdboden, indem ich hochsprang und ihm gegen die Brust trat.
»Hervorragend, mein Kampfhäschen!«, schrie Nero von der Seite. Abgelenkt wandte ich meinen Kopf in die Richtung, aus der ich seine Stimme vernommen hatte.
Der Childra hüpfte mit gesträubtem Fell auf und ab.
Ein starker Unterarm legte sich um meinen Hals und drückte zu.
»Niemals den Feind aus den Augen lassen«, zischte Zagreus siegessicher in mein Ohr.
Verzweifelt rang ich nach Luft und sein säuerlicher Geruch stieg mir in die Nase. Meine Finger krallten sich in seine stahlharten Muskeln, konnten sie jedoch nicht den kleinsten Millimeter lockern.
»Du vergeudest meine Zeit. Zieh deine Waffe«, knurrte Zagreus.
»Mach ihn platt, kleine Zuckermaus!« Nero stieß seine pelzige Pfote geballt in die Luft.
Zagreus verstärkte den Druck auf meinen Hals.
Panik kroch in mir hoch.
»Ja, mach mich platt«, höhnte er.
Endlich fühlte ich Wut in mir aufsteigen. Wut, die ich so dringend benötigte, um mein Schwert ziehen zu können. Wut, die mir helfen würde, diese Demütigung in einen Sieg zu verwandeln. Wut, die mich durch diese schwere Zeit tragen und das Elend leichter machen würde. Mein Nacken kribbelte und brannte, gleich würde ich mein ersehntes Flammenschwert in der Hand halten und damit Zagreus’ arrogante Miene aus seinem Gesicht wischen.
Doch wie ein fernes Gewitter grollte meine Wut nur und zog sich dann zurück. Mein Körper verlor seine Spannung und ich sackte in Zagreus’ Griff zusammen. Der stieß mich von sich, so dass ich unsanft auf Händen und Knien im Dreck landete.
»Schwach und unwürdig.« In seiner Stimme war der Ekel nicht zu überhören.
Ich hob nicht einmal mehr den Kopf. Nach Luft ringend, sah ich nur noch, wie sich die schwarzen Lederstiefel umdrehten und zügig den Trainingsplatz verließen.
»Ich werde ihn umbringen.« Da war sie wieder, Nereus’ Stimme. Ich hatte sie mir nicht eingebildet. Konnte es sein? Ging Nereus’ Fähigkeit, Gedanken zu manipulieren, darüber hinaus, war er in der Lage, mit mir telepathischen Kontakt aufzunehmen? Er hatte mir doch versprochen, aus meinem Kopf rauszubleiben. Aber was waren seine Versprechen noch wert?
Genauso, wie ich es geschafft hatte, meine Gefühle wegzusperren, würde ich einen Weg finden, auch Nereus aus meinem Geist zu verbannen.
***
Ich schleppte mich durch einen langen Arkadengang und konzentrierte mich auf das wechselnde Spiel von Licht und Schatten auf den Steinplatten unter meinen Füßen. Nero hatte mich noch ein kleines Stück begleitet und versucht, mich wieder aufzumuntern, aber ich hatte ihn weggeschickt. So freundlich seine Bemühungen auch gemeint gewesen waren, sie hatten doch Zagreus’ letztes Urteil über mich nicht überdecken können. Schwach und unwürdig.
Obwohl ich diese Trainingsstunde mit gemischten Gefühlen angetreten war, war ich doch motiviert gewesen und hatte mich darauf gefreut, vielleicht etwas Neues zu lernen. Mir war auch klar gewesen, dass es nicht einfach werden würde und Zagreus alles andere als einen freundlichen Charakter hatte. Dass er diese Stunde aber nur dazu nutzen würde, mich unter Aufforderungsrufen, ich solle mein verdammtes Schwert endlich ziehen, nach Strich und Faden zu verprügeln, hatte ich nicht erwartet. Ebenso nicht, dass er es schaffen würde, dass sich seine abschließenden Worte wahr anfühlten: Schwach und unwürdig. Ich wollte nur noch eine heiße Dusche nehmen und den Schmutz von mir abspülen. Äußerlich wie innerlich.
Ein Mann trat aus den Schatten der geschwungenen Arkadenbögen und stellte sich mir in den Weg. Groß stand er da, still aufgerichtet, die Schultern breit und seine Füße fest auf dem Boden. Mit hinter dem Rücken verschränkten Händen wartete er, dass ich mich ihm näherte. Sein Gesicht lag im Schatten, doch seine Haltung erzählte von Überlegenheit, ganz ohne Arroganz. Eine schlichte Wahrheit. Eindeutig war er ein Krieger.
»Ihr seid Minerva, Tochter des Mars«, stellte er fest. Seine Stimme hatte ein angenehm warmes Timbre.
»Auch wenn Zagreus gerade den Boden mit mir aufgewischt hat, weiß ich schon noch ohne Unterstützung, wer ich bin«, fauchte ich. Der arme Mann hatte es eigentlich nicht verdient, dass ich mich an ihm abreagierte, aber ich war fertig – mit allem.
Ein Lächeln huschte über seine Lippen. »Entschuldigt, ich wollte Euch nicht belehren. Aber ich dachte, es wäre hilfreich, Euch ins Gedächtnis zu rufen, wer Ihr tatsächlich seid: Minerva, die Tochter des Mars.«
Ich legte den Kopf schief und sah ihn mir genauer an: mutiges Kinn, gerade Nase, Augen, die an dunkle Schokolade erinnerten und braune Locken, die in ihrer Wildheit so gar nicht zu seiner disziplinierten Ausstrahlung passen wollten. Ich runzelte meine Stirn und begriff einfach nicht, worauf er hinauswollte.
Ihm entging meine Ratlosigkeit nicht, denn er fügte erklärend hinzu: »Ich habe Euch während Eures Trainings beobachtet.«
Schamesröte kletterte auf meine Wangen und ließ sich dort häuslich nieder. »Normalerweise bin ich besser, aber … ich kann gerade nicht …«, stammelte ich.
»Ich wollte Euch nicht in Verlegenheit bringen, bitte verzeiht. Mein Name ist Benedictus, ich bin Hauptmann der Garde und möchte Euch ein Angebot machen.«
Was sollte das denn werden? Hier stand mir ein wildfremder Mann im Weg und offerierte in aller Ruhe irgendein ominöses Angebot. Eigentlich hatte ich die Nase voll von Männern und ihren Plänen mit mir. Mmh … Benedictus … der Gesegnete; sperriger Name, aber vielleicht ein gutes Omen … Ich rief mir in Erinnerung, wie die Menschen aus den alten Ritterfilmen immer miteinander geredet hatten, und probierte mich in altertümlicher Sprache.
»So sprecht und lasst mich Euer Angebot hören, edler Hauptmann der Garde.«
Er musste gegen ein Schmunzeln ankämpfen, blieb aber ernst. »Ihr habt Euch heute gut geschlagen, Minerva.«
Ich grummelte und zog eine Grimasse der Ablehnung.
Benedictus’ Augen blitzten warm auf. »Doch, doch, das habt Ihr. Vergesst bitte nicht: Es war Eure erste Stunde, und Zagreus ist nicht ohne Grund der Seneschall des Mars. Er hat auf unzähligen Schlachtfeldern gestanden und viele Male gewonnen. Zudem ist er ein rangniederer Gott und hat Euch tausende Jahre Erfahrung voraus.«
Nun, unter den Gesichtspunkten konnte ich vielleicht doch stolz sein, dass ich den einen oder anderen Treffer gelandet hatte.
»Es steht mir eigentlich nicht zu, den Seneschall zu kritisieren, aber ich sehe die Lüge und muss die Wahrheit aussprechen: Ihr seid weder schwach noch unwürdig.«
Die Röte auf meinen Wangen intensivierte sich und ich ließ den Kopf sinken. Demütigungen wurden noch schlimmer, wenn es Zeugen gab, man sich nicht mit der Zeit einreden könnte, dass das alles ganz anders gewesen sei.
Benedictus’ Stimme unterbrach meine Gedanken. »Ihr seid Minerva, die Tochter des Mars.«
Wenn er das noch einmal sagte, würde ich mit den Augen rollen, ganz bestimmt. Ich benahm mich, ignorierte seine offenkundige Besessenheit bezüglich meiner Abstammung und bemühte mich um einen höflich-interessierten Gesichtsausdruck.
»Ihr habt heute Morgen da draußen nicht alles geben können, doch das war nicht Eure Schuld.«
»Ach, war es nicht? Wessen dann?«
»Zagreus hat offenkundig kein Interesse oder kein Talent, Eure Fähigkeiten hervorzuholen. Deshalb würde ich Euch gern trainieren, wenn Ihr mir Eure Erlaubnis erteilt.«
Erstaunt blickte ich Benedictus an. Warum machte er mir dieses Angebot? Ich betrachtete ihn nachdenklich. Da war nichts Falsches an ihm. Ruhig und sich seiner selbst bewusst stand er da und wartete auf meine Entscheidung. Er würde dort wohl auch noch am nächsten Tag stehen, wenn es nötig wäre. Eine Stimme in mir flüsterte, ich solle ihm vertrauen.
»Euer Angebot ehrt mich. Ich werde es mir überlegen.« Ich hatte in letzter Zeit zu oft und zu schnell vertraut.
Benedictus neigte den Kopf und nahm meine Entscheidung an. »Darf ich Euch morgen wenigstens in unserer prachtvollen Hauptstadt herumführen?«
»Es wäre mir ein Vergnügen, durch Euch Land und Leute näher kennenzulernen.«
Ein Lächeln ließ sein Gesicht erstrahlen, er verneigte sich vor mir und begann, sich in die Schatten, aus denen er gekommen war, zurückzuziehen.
»Benedictus? Warum?« Ich musste wissen, warum er mich trainieren wollte.
»Weil Ihr Minerva seid, die Tochter des Mars.«
Nun verdrehte ich doch die Augen und sein warmes Lachen verklang in den Arkaden.
Das kämpferische Marsmäulchen
Ich stand vor einer großen, hölzernen Flügeltür und ließ meine Finger das Relief nachfahren, das in die dunkle, warme Oberfläche geschnitzt worden war. Sie glitten über zarte Blütenranken, die einen Drachen umrahmten, der vor einem Kamin lag und las. Meine Mutter musste einen interessanten Sinn für Humor gehabt haben, denn dies war ihr Werk. Nicht die Schnitzerei an sich, aber die Auswahl des Motivs und die Welt voller Wissen, die sich hinter diesen mächtigen Türen verbarg. Die Bibliothek dieses Palastes war ihr Heiligtum gewesen.