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Es ist nie zu spät für die wahre Liebe
Seit Quinn Montgomery das erste Mal ein Paar Drumsticks in der Hand gehalten hat, weiß sie, dass die Musik ihr Leben ist. Als Drummerin der berühmten Rockband Hush Note hat sie sich ihren großen Traum erfüllt. Nur eins bereut sie: dass sie ihre Jugendliebe Graham Hayes in ihrer Heimatstadt zurückgelassen hat. Doch dann muss Quinn wegen eines familiären Notfalls nach Hause zurückkehren und läuft prompt Graham in die Arme. Die Anziehungskraft zwischen ihnen ist mit einem Schlag wieder da. Aber Graham trägt eine große Verantwortung, die sich nicht so einfach mit Quinns Rockstarleben vereinbaren lässt. Hat ihre Liebe dennoch eine zweite Chance?
"Devney Perry führt die HUSH-NOTE-Reihe fort mit einem Roman voller Hoffnung und Herz, der zeigt, dass es niemals zu spät ist, seine eigene Geschichte neu zu schreiben oder der wahren Liebe eine zweite Chance zu geben." NATASHA IS A BOOK JUNKIE
Band 2 der Rockstar-Romance-Reihe HUSH NOTE von USA-TODAY-Bestseller-Autorin Devney Perry
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Seitenzahl: 410
Titel
Zu diesem Buch
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Epilog
Die Autorin
Die Hush-Note-Reihe bei LYX
Impressum
DEVNEY PERRY
Dreams and Drums
Roman
Ins Deutsche übertragen von Bianca Dyck
Seit Quinn Montgomery das erste Mal ein Paar Drumsticks in der Hand gehalten hat, weiß sie, dass die Musik ihr Leben ist. Als Drummerin der berühmten Rockband Hush Note hat sie sich ihren großen Traum erfüllt. Nur eins bereut sie: dass sie ihre Jugendliebe Graham Hayes in ihrer Heimatstadt zurückgelassen hat. Doch dann muss Quinn aus familiären Gründen nach Hause zurückkehren und läuft prompt Graham in die Arme. Die Anziehungskraft zwischen ihnen ist mit einem Schlag wieder da. Aber Graham trägt eine große Verantwortung, die sich nicht so einfach mit Quinns Rockstarleben vereinbaren lässt. Hat ihre Liebe dennoch eine zweite Chance?
Liebe Leser:innen,
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Wir wünschen uns für euch alle das bestmögliche Leseerlebnis.
Euer LYX-Verlag
»Die Beerdigung ist am Samstag.«
Ich nickte.
»Ich weiß, du hast viel zu tun. Aber wenn du trotzdem kommen könntest, würde dein Vater … Ich weiß, dass er es zu schätzen wüsste, wenn du da bist.«
Jenseits meiner Garderobentür setzte dumpfes Getöse ein. Es wurde geklatscht. Und geschrien. Das rhythmische Stampfen von Füßen ließ den Boden vibrieren. Der Auftritt der Vorband neigte sich wohl dem Ende zu, denn die Spannung der Menge war beinahe mit Händen zu greifen. Das Stadion wartete nur darauf, dass Hush Note die Bühne betrat.
»Quinn, bist du noch da?«
Ich räusperte mich und blinzelte die Tränen weg. »Ich bin hier. Sorry.«
»Wirst du kommen?«
In den letzten neun Jahren hatte meine Mutter mich nie gebeten, nach Montana zurückzukehren. Nicht zu Weihnachten. Nicht zu Geburtstagen. Nicht zu Hochzeiten. War es für sie genauso schwer, darum zu bitten, wie für mich, eine Antwort darauf zu geben?
»Ja«, brachte ich heraus. »Ich werde da sein. Morgen.«
Ihre Erleichterung war sogar durch den Hörer zu spüren. »Danke.«
»Natürlich. Ich muss los.« Ich legte auf, ohne darauf zu warten, dass sie sich verabschiedete, erhob mich von der Couch und ging durch das Zimmer zum Spiegel, vor dem ich mich vergewissern wollte, dass Eyeliner und Mascara von den Tränen nicht verschmiert waren.
Eine Faust hämmerte an die Tür. »Quinn, fünf Minuten noch.«
Gott sei Dank. Ich musste dieses Zimmer unbedingt verlassen und dieses Telefonat vergessen.
Ich kippte den Rest meines Wodka Tonic herunter und trug noch eine Schicht des roten Lippenstifts auf, bevor ich den Raum nach meinen Drumsticks absuchte. Ich nahm sie überallhin mit – Jonas zog mich damit auf, dass sie meine Version einer Schmusedecke waren –, und vorhin hatten sie noch auf dem Tisch gelegen. Nur war dieser, abgesehen von dem nicht angerührten Teller, leer. Auf der Couch lagen sie auch nicht. Ich hatte die Garderobe nur ein einziges Mal verlassen, um mir einen Cocktail und ein Sandwich zu holen.
Wer zum Teufel hatte meine Garderobe betreten und meine Drumsticks dabei mitgehen lassen? Ich marschierte aus dem Zimmer und ließ zu, dass sich Wut in mir aufbaute, damit sie ein wenig vom Schmerz in meiner Brust fortjagte.
»Wo sind meine Sticks?«, brüllte ich durch den Flur. »Wer auch immer sie genommen hat, ist gefeuert!«
Ein kleiner Mann mit schütterem Haar trat hinter der Tür hervor, hinter der er herumgelungert hatte. Er war neu in der Crew, hatte erst vor zwei Wochen angefangen. Seine Wangen röteten sich, als er die Hände ausstreckte, in deren verschwitztem Griff sich meine Sticks befanden. »Oh, äh … bitte.«
Ich riss sie ihm aus der Hand. »Warum warst du in meiner Garderobe?«
Er wurde ganz bleich.
Jepp. Gefeuert.
Ich duldete keine Männer in meiner Garderobe. Der Crew wusste ganz genau, dass allen Personen mit einem Penis der Zutritt strikt verboten war – es sei denn, man war Teil einer sehr kurzen Liste von Ausnahmen.
Diese Regel hatte es nicht immer gegeben, doch nach einer Reihe schlechter Erfahrungen war sie obligatorisch geworden.
Einmal hatte ich meine Garderobe betreten und einen mitten im Zimmer stehenden Mann angetroffen, dessen Jeans und Unterhose bis an die Knöchel hinuntergeschoben waren, damit er mir seine winzige Pracht hatte präsentieren können. Dann hatte es da noch den Vorfall gegeben, bei dem ich im Anschluss an einen Auftritt zwei Frauen knutschend auf meiner Couch vorgefunden hatte – sie hatten angenommen, es wäre Nixons Garderobe gewesen.
Doch der Vorfall vor drei Jahren hatte dann das Fass zum Überlaufen gebracht. Ich war völlig verschwitzt von der Bühne gekommen und wollte einfach nur aus meinen Klamotten raus. Nachdem ich eine Stunde unter heißen Scheinwerfern auf mein Schlagzeug eingetrommelt hatte, war ich für gewöhnlich schweißgebadet. Ich hatte Jeans und Tanktop ausgezogen und stand nur in Unterwäsche da, als ich nach meiner Reisetasche gegriffen hatte, die ich bei Auftritten immer dabeihatte. Als ich sie geöffnet hatte, um meine Wechselkleidung herauszuholen, war diese voller Sperma gewesen.
Also, keine Männer mehr – egal ob klein, groß, glatzköpfig oder behaart.
»S…sorry«, stotterte Shorty. »Ich habe nur gedacht, ich könnte sie schon mal für dich halten.«
Hinter ihm kam unser Tourmanager Ethan durch den Flur angerauscht und formte ein Sorry mit dem Mund, während er mich mit großen Augen ansah. Ethan war ein Friedensstifter, doch er war zu spät, um Shorty noch zu retten.
Irgendwie war ich froh, dass dieser Typ sich in meine Garderobe geschlichen und meine Sticks genommen hatte. Ich brauchte eine Zielscheibe, irgendetwas, auf das ich diesen entsetzlichen Schmerz lenken konnte, bevor er mich in die Knie zwang. Und diesem Arschloch war es soeben gelungen, zu genau dieser zu werden.
Fast tat er mir leid.
»Du wolltest sie für mich halten?« Ich wedelte mit den Zildjian-Sticks umher. Die Crewmitglieder liefen hektisch um uns herum, machten allerdings einen weiten Bogen um uns, während sie sich auf den Bühnenumbau vorbereiteten. »Hast du auch vorgehabt, Jonas’ Warwick für ihn zu halten? Oder Nixons Fender? Ist das heute dein Job? Dinge für die Band zu halten?«
»Ich, ähm …«
»Fick dich, du Ekel.« Ich richtete die Sticks auf seine Nase. »Geh mir aus den Augen, bevor ich deinen Kopf als Snare Drum benutze.«
»Quinn.« Ethan schoss zu mir herüber und legte mir einen Arm um die Schultern. Er drückte mich kurz, bevor er mich herumwirbelte und in die Garderobe schubste. »Warum machst du dich nicht zu Ende fertig?«
Hinter meinem Rücken hörte ich Shorty noch murmeln: »Miststück.«
Warum war eine Frau ein Miststück, nur weil sie einen Mann für so ein beschissenes Benehmen nicht ungeschoren davonkommen ließ? Wenn ich ein Typ gewesen wäre, dann hätte er es nicht einmal gewagt, in meine Garderobe zu stolzieren.
»Er ist gefeuert, Ethan«, rief ich über meine Schulter hinweg.
»Ich kümmere mich drum.«
Ich trat die Tür zu und atmete tief durch.
Verdammt, warum war unsere Tour nur schon zu Ende? Warum war heute der letzte Abend? Was ich jetzt wirklich gebrauchen könnte, wäre ein voller Terminplan mit Reisen und Auftritten, sodass eine Beerdigung in Montana für mich unmöglich wäre.
Nur gab es dieses Mal keine Ausreden. Diesem Abschied würde ich nicht entkommen können, und tief im Inneren wusste ich auch, dass ich mich dafür hassen würde, wenn ich es versuchte.
Irgendwie würde ich den Mut schon aufbringen.
Erneut stiegen mir Tränen in die Augen, also kniff ich die Augen zu. Warum hatte ich mir nicht mehr Wodka geholt?
Im Anschluss an diese Show in Boston hatte ich vorgehabt, nach Seattle zurückzukehren und Songs zu schreiben. Die Sommertour war vorbei, und wir hatten einen ganzen Monat nichts Weiteres geplant. Nur würde ich jetzt nicht nach Washington State, sondern nach Montana fliegen.
Für Nan.
Meine geliebte Großmutter, mit der ich am Montag noch gesprochen hatte, war gestern Nacht im Schlaf verstorben.
»Klopf, klopf.« Die Tür wurde einen Spalt geöffnet, und Ethan steckte den Kopf hindurch. »Bereit?«
»Bereit.« Fest umklammerte ich meine Sticks, um Kraft aus dem Holz zu ziehen. Dann folgte ich Ethan hinaus und durch die Menschenmenge.
Mit jedem Schritt näher zur Bühne wurde das Jubeln der Fans lauter. Jonas und Nixon warteten bereits darauf, sie zu betreten. Nix hüpfte auf den Fußballen auf und ab und ließ den Nacken knacken. Jonas flüsterte etwas ins Ohr seiner Verlobten Kira, die daraufhin auflachte.
»Alles in Ordnung?«, fragte Ethan, als er mich zu ihnen eskortierte.
»Planänderung für morgen. Ich fliege nicht nach Seattle. Kannst du mir stattdessen einen Flug nach Bozeman in Montana buchen?«
»Ähm … klar.« Er nickte, während sich Verwirrung auf seinem Gesicht abzeichnete.
In all den Jahren, in denen Ethan unser Tourmanager gewesen war, hatte er für mich nie eine Pause von unserem Tourprogramm arrangieren müssen, damit ich meine Heimat besuchen konnte. Denn seitdem ich mit achtzehn von dort abgehauen war, war ich nie wieder zurückgekehrt.
»Ich möchte gleich morgen früh los.«
»Quinn, bist du …«
Ich hielt eine Hand hoch. »Nicht jetzt.«
»Da ist sie ja.« Nixon grinste, als ich näher kam. Seine Aufregung war beinahe greifbar. Er lebte nur dafür, auf der Bühne alles zu geben und sich vom Publikum fortschwemmen zu lassen.
Jonas lächelte ebenfalls, doch sein Lächeln verblasste, als er meinen Gesichtsausdruck sah. »Bist du okay?«
Wenn Ethan der Friedensstifter war und Nixon der Entertainer, dann war Jonas der Fürsorgliche. Der geborene Bandleader. Wenn Nixon und ich uns mit etwas nicht herumschlagen wollten – wie beispielsweise einer Grammy-Dankesrede oder dem Einstellen eines neuen Keyboarders –, war Jonas da, immer bereit, einzuspringen.
Möglicherweise verließen wir uns zu sehr auf ihn. Möglicherweise war der Grund dafür, dass mir das Musikschreiben in letzter Zeit so schwerfiel, der, dass ich mir meiner Rolle nicht mehr sicher war.
Drummerin? Songwriterin? Quotenfrau?
Miststück?
Shortys verdammte Stimme hatte sich in mein Gehirn eingebrannt. »Irgendein Typ von der Bühnencrew ist in meine Garderobe gegangen und hat meine Sticks genommen. Er wollte sie für mich ›halten‹.«
Es war besser, wenn sie dachten, das wäre der Grund für meine schlechte Laune. Ethan würde zwar keine Fragen bezüglich meines Trips morgen stellen, Jonas und Nixon hingegen schon.
»Er ist gefeuert.« Jonas sah zu Ethan, der eine Hand hochhielt.
»Ist schon erledigt.«
»Viel Glück, Leute.« Kira gab Jonas noch einen Kuss und winkte dann Nixon zu. Mir gegenüber war sie etwas weniger freundlich – meine Schuld, nicht ihre –, doch sie lächelte.
Ich war nicht gerade herzlich gewesen, als sie mit Jonas zusammengekommen war. Ich war skeptisch gewesen, und das aus gutem Grund. Vor Kira war sein Frauengeschmack unterste Schublade gewesen.
»Danke, Kira.« Ich schenkte ihr das warmherzigste Lächeln, das ich aufbringen konnte, bevor sie und Ethan sich in den Bereich schlichen, von wo aus sie den Auftritt ansehen würden.
Jonas hielt mir eine Hand hin und Nixon die andere. Während wir danach griffen, bildeten wir Schulter an Schulter einen Kreis.
Das war ein Ritual, das wir vor Jahren eingeführt hatten. Ich konnte mich nicht mehr genau erinnern, wann oder wie es angefangen hatte, doch mittlerweile ließen wir es niemals aus. Es war so essenziell für jeden unserer Auftritte wie mein Schlagzeug und die Gitarren der Jungs. Gemeinsam standen wir mit geschlossenen Augen da und schwiegen, während wir uns für einen Moment verbanden, bevor wir auf die Bühne gingen.
Dann drückte Jonas meine Hand; das Zeichen, dass es an der Zeit war.
Los geht’s.
Ich ließ ihre Hände los und schritt mit gestrafften Schultern und meinen Sticks fest in den Händen an ihnen vorbei auf die Bühne. Ich ließ mich von dem Jubeln berieseln. Das rhythmische Hush Note, Hush Note fuhr mir bis ins Mark. Ich ging geradewegs auf mein Schlagzeug zu, setzte mich auf meinen Hocker und platzierte den Fuß an der Bassdrum.
Boom.
Die Menge tobte.
Nixon betrat die Bühne, und die Lichter von Tausenden Kameras blitzten auf.
Boom.
Jonas trat ans Mikrofon. »Hallo, Boston!«
Die Schreie waren ohrenbetäubend.
Boom.
Dann legten wir los.
Der Rhythmus meiner Drums verschlang mich. Ich floh in die Musik und ließ zu, dass sie den Schmerz betäubte. Ich spielte, als wäre mein Herz nicht gebrochen, und tat so, als klatschte die Frau, die mir die letzten neun Jahre über aus der Ferne Rückhalt geboten hatte, in der ersten Reihe mit.
Heute Abend war ich die preisgekrönte Drummerin. The Golden Sticks.
Morgen würde ich Quinn Montgomery sein.
Und morgen würde mir keine andere Wahl bleiben, als nach Hause zurückzukehren.
»Was machst du hier?«
Nixon zuckte auf dem Sitz in unserem Jet mit den Achseln. Er trug eine Sonnenbrille und dieselben Klamotten, die er gestern nach dem Auftritt angehabt hatte. »Hab gehört, du machst einen Ausflug. Da dachte ich mir, ich komme mit.«
»Hast du überhaupt schon geschlafen?« Ich ging zu ihm hinüber und zog ihm die Sonnenbrille vom Gesicht. Der Anblick seiner glasigen Augen ließ mich zusammenzucken. »Nix …«
»Schhh.« Er nahm mir die Brille wieder ab und setzte sie auf. »Nach dem Schläfchen.«
Ich runzelte die Stirn und ließ mich auf den Sitz auf der anderen Seite des Ganges plumpsen. Seine Feierei lief aus dem Ruder.
Die Flugbegleiterin kam mit einer Bloody Mary aus der Bordküche. »Bitte schön, Nix.«
Sie sprach ihn mit Vornamen an? Wollte wohl keine Zeit verschwenden.
»Ich will einen O-Saft«, bestellte ich, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen. »Und ein Glas Wasser ohne Eis. Und einen Kaffee.«
»Sonst noch etwas für dich?«, fragte sie in Nixons Richtung, nicht in meine.
Grinsend winkte er sie fort.
»Komm bloß nicht auf die Idee, mit ihr im Schlafzimmer zu verschwinden«, sagte ich, als sie außer Hörweite war. »Wahrscheinlich hat sie schon Löcher in ein Kondom gestochen.«
Nixon lachte leise. »Warum so zynisch heute Morgen?«
»Hilfreich, nicht zynisch. Denk nur daran, wie viele Schlampen ich mit meiner kratzbürstigen Art schon verscheucht habe. Wie viele ›Unfälle‹ ich schon für dich verhindert habe. Du könntest ruhig Danke sagen.«
Er lachte und nippte an seinem Drink. »Also, wo geht’s hin?«
»Da du hier sitzt, habe ich angenommen, Ethan hätte dir das schon erzählt.«
»Okay, lass mich das anders ausdrücken. Warum fliegen wir nach Montana? Du fährst nie nach Hause.«
Ich starrte aus dem Fenster und beobachtete, wie die Bodencrew unseren Piloten ein Zeichen gab. »Nan ist gestorben.«
Die Worte auszusprechen fühlte sich an, als hätte mir jemand gegen die Brust geboxt. Ich musste meine ganze Kraft aufbringen, um die Tränen in Schach zu halten.
»Fuck.« Nixon streckte die Hand aus, und seine Finger schlossen sich um meinen Unterarm. »Das tut mir leid, Quinn. Entsetzlich leid. Warum hast du nichts gesagt? Wir hätten die Show gestern absagen können.«
»Ich habe sie gebraucht.« Von allen Menschen würde Nix das Bedürfnis, für eine Stunde abzutauchen und der Realität zu entkommen, am besten verstehen.
»Was kann ich tun?«
»Leg die Flugbegleiterin nicht flach, bis ihr mich abgeladen habt.«
Er lachte. »Wird gemacht. Sonst noch was?«
»Hilf mir, einen Song für sie zu schreiben. Für Nan«, flüsterte ich.
»Aber klar doch.« Sein Griff an meinem Arm wurde fester, bevor er ihn löste, als die Flugbegleiterin mit meinen Getränken zurückkam. Sie stellte sie auf einem Tisch ab und ging dann wieder, damit wir uns in den luxuriösen Ledersitzen entspannen konnten. Der Pilot kam zur Begrüßung zu uns und bestätigte unseren Flugplan.
Als er im Cockpit verschwunden war, setzte ich meine Kopfhörer auf, schloss die Augen und lauschte der Stille, während wir uns auf den Abflug vorbereiteten. Nixon verstand dies als Signal dafür, dass ich nicht reden wollte, und versank tiefer in seinem Sitz. Er schnarchte bereits, bevor wir mit eingezogenem Fahrwerk in die Wolken hinaufstiegen.
Ich flog nach Hause, und mir graute es vor der Rückkehr, vor der ich mich fast ein Jahrzehnt gedrückt hatte.
Das letzte Mal, dass ich Nan oder irgendjemanden aus meiner Familie gesehen hatte, war vor neun Jahren gewesen. Ich war mit achtzehn ausgezogen, bereit, frei zu sein und meinen Träumen hinterherzujagen. Das erste Jahr war das schwerste gewesen, doch dann hatte ich Jonas und Nixon gefunden, und unsere Band war eine Ersatzfamilie geworden. Mit jedem Jahr war es leichter geworden, von Montana fortzubleiben. Es war einfacher gewesen, der Vergangenheit aus dem Weg zu gehen.
Nur dass der einfache Weg auch der feige Weg gewesen war. Ich hatte die Gelegenheit verpasst, mich von Nan zu verabschieden.
Sie würde mich montags nicht länger anrufen. Es würde keine Geburtstagskarten mit der Post mehr geben, in die sie einen Zwanzig-Dollar-Schein geschoben hatte. Nan würde nicht mehr vor ihrem Wassergymnastikkurs prahlen können, dass ihre Enkelin einen People’s Choice Award gewonnen hatte, um mich dann anzurufen und mir von jedem einzelnen Wort zu berichten.
Während das Sonnenlicht durch das Fenster hereinstrahlte, kamen mir die Tränen. Ich blinzelte sie weg, da ich mich weigerte zu weinen, solang die Flugbegleiterin ständig nach uns sah, in der Hoffnung, dass Nixon endlich aufwachte. Ich schaltete meine Musik an und drehte sie so laut auf, dass es beinahe wehtat. Dann klopfte ich im Takt mit dem Fuß auf den Boden. Meine Finger trommelten auf meine Lehne.
Ich verlor mich im Rhythmus, genau wie gestern Abend, nur dass es diesmal der Beat von jemand anderem war.
Mein eigener erschien im Moment zerbrechlich, wie eine Glasscheibe, die zerspringen würde, wenn man zu hart dagegen schlug. Ich schlich mich um mein eigenes Talent herum, ging ihm aus dem Weg, weil ich in letzter Zeit meine Fähigkeit infrage stellte, etwas Neues erschaffen zu können.
Diese kreative Blockade drohte mich zu erdrücken.
Nixons zunehmende Liebe zu Kokain, Alkohol und was auch immer er sonst noch für Substanzen in sich reinschaufelte, stand seiner kreativen Ader seit einiger Zeit ebenfalls im Weg.
Unsere Plattenfirma saß uns seit Monaten im Nacken, dass wir endlich mit dem nächsten Album anfingen. Jonas flog nach Hause nach Maine, um neue Texte zu schreiben. Seitdem er im letzten Jahr Kira wiedergetroffen hatte – seine Muse –, waren die meisten seiner Songs weicher geworden als die auf unseren vorherigen Alben. Bei einigen Entwürfen hatten Nixon und ich unser Veto eingelegt, doch andere besaßen großes Potenzial.
Vorausgesetzt, wir würden die passende Musik dazu schreiben können.
Da kamen Nixon und ich ins Spiel. Jonas hatte ein Talent für Worte. Nixon und ich waren für die Noten zuständig.
Jonas’ jüngste Texte benötigten das richtige Maß an Liebe in der Melodie. Sie benötigten einen Hauch von Unsicherheit, um interessant zu bleiben, und eine gewisse Härte, um sie noch Rockmusik nennen zu können. Es war einfach zu erklären, was ich von einem Song erwartete. Doch etwas zusammenzureimen, das greifbar war, erwies sich als Herausforderung.
Es war so viel einfacher gewesen, als er noch über Sex gesungen hatte.
Nun, da wir eine Pause hatten, konnte ich es kaum erwarten, nach Seattle zurückzukehren, wo ich mich in meinem Apartment verkriechen und an meinem Klavier sitzen konnte, bis es Klick machte.
Doch zuerst würde ich eine Woche in Montana verbringen, um mich zu verabschieden.
Ich verabscheute Abschiede, daher vermied ich sie.
Dieses Mal würde ich dies jedoch nicht tun.
Der Knoten in meinem Bauch wurde mit jeder weiteren Stunde fester. Als der Pilot ankündigte, dass wir zur Landung ansetzten, schoss ich aus meinem Sitz hoch und rannte ins Bad, um mich zu übergeben.
»Alles okay?«, fragte Nixon, der mir ein Kaugummi anbot, als ich zurückkam und mich setzte.
»Ja, danke.«
»Sicher?«
»Bin nur nervös.«
Seit der Anfangszeit von Hush Note war ich nicht mehr so verdammt nervös gewesen. Nach jahrelanger Erfahrung stressten mich die Auftritte nicht mehr. Außerdem waren die Augenblicke auf der Bühne das Beste an meinem Leben. Egal, ob ich vor Tausenden von Menschen live spielte oder vor Millionen im Fernsehen, meine Hände zitterten nie. Mein Magen blieb standhaft.
Doch das hier? Nach Hause zu meiner Familie zurückzukehren. Zu einer Beerdigung. Zu ihm.
Das machte mir eine Heidenangst.
Erneut schloss sich Nixons Hand um meinen Unterarm, und er ließ ihn erst wieder los, als das Flugzeug gelandet war.
»Ich möchte nicht hier sein«, gab ich zu, als wir über die Landebahn rollten.
»Soll ich bleiben?« Sein Blick, der nach dem Nickerchen nun klarer wirkte, war voller Zärtlichkeit.
Er würde bleiben, wenn ich Ja sagte. Er würde sich entsetzlich langweilen, doch er würde bleiben. Ein Teil von mir wollte ihn als Puffer zwischen mir und meiner Familie nutzen, doch seine Anwesenheit und seine Bekanntheit würden alles nur noch schlimmer machen.
Mein Gesicht wurde auf der Straße nicht so schnell wiedererkannt wie seins, und ich bekam nicht halb so viel Aufmerksamkeit, weil ich weder Nixon noch Jonas war. Ich war nicht der Leadsänger, der mit der Gitarre um den Hals ins Mikrofon raunte. Nixon war vom People Magazine vor drei Jahren zum Sexiest Man Alive ernannt worden. Dieses Jahr war Jonas an der Spitze.
Entzückte Fans, die nach Autogrammen verlangten, waren das Letzte, was wir diese Woche gebrauchen konnten.
Ich wollte ohne viel Aufheben nach Montana und zurück. Ich war hier, um Nan meinen Respekt zu erweisen, und dann würde ich wieder nach Hause fliegen.
Allein.
»Nein, aber danke.« Das Flugzeug hielt, und der Pilot kam aus dem Cockpit, um die Tür zu öffnen, während ich mein Zeug zusammensuchte. »Wo geht’s für dich hin? Nach Hause nach Seattle?«
»Nee. Mir ist nach Tropen-Feeling. Hawaii ist nicht weit weg.«
»Bitte, trink nicht so viele Dirty Bananas, dass du vergisst, mich abzuholen. Nächsten Montag. Soll ich es dir aufschreiben?«
»Nein, aber du solltest vielleicht sicherstellen, dass Ethan es in seinem Kalender stehen hat.«
»Wird gemacht.« Ich lachte und beugte mich hinunter, um ihn auf die stoppelige Wange zu küssen. »Danke, dass du mit mir geflogen bist.«
»Gern.«
»Du bist ein netter Kerl, Nix.«
Er legte einen Finger an die Lippen. »Erzähl es nicht weiter. Es ist einfacher, Frauen ins Bett zu kriegen, wenn sie dich für einen Bad Boy halten.«
»Uuund du bist außerdem ein Schwein.« Ich zog die Stirn kraus, als die Flugbegleiterin ankam und Nixon blinzelnd einen Cocktail reichte. Wann hatte er den bestellt? Vielleicht sollte ich ihn doch bei mir behalten und ihn eine Woche zwangsausnüchtern lassen. »Treib’s nicht zu wild. Wird bei dir alles in Ordnung sein?«
»Ich bin ein Rockstar, Baby.« Er schenkte mir ein Lächeln, das verschmitzte, das Fans und Frauen vorbehalten war. Das Bühnen-Lächeln, das seine Dämonen verbarg. »Mir geht’s absolut großartig.«
Lügen. Von großartig war er weit entfernt, jedoch wusste ich nicht, wie ich ihm helfen sollte. Nicht, wenn er sich in den Kopf gesetzt hatte, sich in Sex, Alkohol und Drogen zu verlieren, wie er es jeden Sommer tat.
»Danke noch mal.« Ich winkte. »Genieß deine Flugbegleiterin.«
»Genieß deine Zeit in der Heimat.«
Angesichts seiner Abschiedsworte drehte sich mir der Magen um. Ich warf mir den Rucksack über die Schulter und ging Richtung Tür. Unten an der Treppe wartete der Pilot mit meinem Koffer auf mich.
Ich nickte ihm zum Abschied zu, fischte meine Sonnenbrille aus der Tasche und setzte sie auf, bevor ich über die Rollbahn marschierte. Der Weg auf dem schwarzen Asphalt der privaten Landebahn war mit gelben Pfeilen markiert.
Die Sonne brannte mir heiß auf die Schultern, als ich die schwarze Kapuze meiner Jacke über mein blondes Haar zog. So konnte ich am ehesten verhindern, dass ich erkannt wurde. Und mit meiner momentanen Laune wäre es nicht gut, wenn ich heute von einem Fan erkannt werden würde.
Die Sommerbrise wehte mir ins Gesicht und brachte die saubere Bergluft mit sich. Wir verbrachten zu viele Tage damit, recycelte Luft in Bussen, Flugzeugen und Hotels einzuatmen. Ich mochte zwar meine ländliche Herkunft für ein Leben in der Stadt eingetauscht haben und bevorzugte es auch so, doch diese frische, reine Luft war einfach unschlagbar.
Montana hatte einen absolut einzigartigen Duft nach Bergen und Erhabenheit.
Zu schnell kam ich an der Tür zum Terminal an und betrat den klimatisierten Bereich. Ethan hatte einen Mietwagen und eine Hotelsuite für mich reserviert, und sobald ich eingecheckt hatte, würde ich mir eine lange, heiße Dusche gönnen. Anschließend würde ich auspacken und die Hotel-Einzugsroutine durchgehen, die ich mit den Jahren perfektioniert hatte.
Meine Hygieneartikel würden neben dem Waschbecken aufgereiht stehen. Ich würde meine Kleider in die Schubladen legen und meinen Koffer in den Schrank stellen. Dann würde ich mir einen ausländischen Fernsehsender suchen. Ich beherrschte zwar keine Fremdsprache, aber ich mochte die Hintergrundgeräusche, damit sie den Lärm aus dem Flur übertönten.
Diesen Trick hatte ich auf unserer ersten Europatour in Berlin aufgeschnappt. Mittlerweile konnte ich nur in einem Hotelzimmer schlafen, wenn irgendein Drama auf Spanisch, Französisch oder Deutsch aus dem Fernseher dröhnte.
Wenn es laut genug war, dann konnte ich weinen, ohne dass es jemand hören konnte.
Ich erspähte den Autoverleih, doch bevor mich meine Füße in seine Richtung tragen konnten, entdeckte ich ein bekanntes Gesicht.
Die Welt um mich herum verschwamm.
In der Lobby des Flughafens stand der Junge, den ich zurückgelassen hatte.
Graham Hayes.
Nur dass er kein Junge mehr war. Er war zu einem Mann herangewachsen. Einem attraktiven, atemberaubenden Mann, der neben Jonas und Nix auf das Cover des People Magazine gehörte.
Reglos stand er da und blickte mich an. Der Flughafen war seit meiner Abreise umgestaltet worden, doch er stand fast genau dort, wo ich ihn vor neun Jahren verlassen hatte. Er hatte am Fuß einer Treppe gestanden und mir dabei zugesehen, wie ich gegangen war.
Allerdings würde ich mir nicht vormachen, dass er hier auf mich gewartet hatte.
Was zur Hölle machte Graham hier? Ich war noch nicht dazu bereit, ihm entgegenzutreten. Ich war noch nicht dazu bereit, irgendeinem von ihnen entgegenzutreten, doch allen voran nicht Graham.
Er riss sich aus seiner Erstarrung und setzte die Füße in Bewegung. Seine Schritte waren locker und selbstbewusst, als er auf mich zukam. Sein markanter Kiefer war bedeckt von einem getrimmten Bart, in derselben Farbe wie sein braunes Haar. Es war länger als damals als Teenager. Heißer. Der Mann, zu dem er geworden war, übertraf jede Version, die ich mir in den vielen einsamen Hotelnächten ausgemalt hatte, bei Weitem.
Ich schluckte schwer, als er näher kam. Mein Herz raste.
So war das nicht geplant gewesen. Ich hätte meinen Mietwagen abholen und ins Hotel fahren sollen, um mich zu sammeln. Ich brauchte Zeit, um mich zu sammeln, verdammt. Und Zeit, um mich vorzubereiten.
Grahams lange, in dunkle Jeans gekleidete Beine legten den Weg zwischen uns in Sekundenbruchteilen zurück. Der Hall seiner Stiefel auf dem Boden ertönte im Einklang mit dem Schlagen meines Herzens.
Noch bevor ich bereit dazu war, stand er vor mir.
»Quinn.« Seine Stimme klang geschmeidig und tief, tiefer, als ich in Erinnerung hatte. Er hatte meinen Namen immer mit einem Lächeln ausgesprochen, doch davon war nun nicht einmal ein Hauch zu erkennen.
»Hi, Graham.«
Er trug ein T-Shirt von Hayes-Montgomery Construction. Meine Mutter hatte mir vor zwei Jahren genauso eins zu Weihnachten geschickt.
Hayes war er.
Und Montgomery war mein Bruder Walker.
Der schwarze Baumwollstoff spannte an seiner breiten Brust. Ich hatte viele Nächte mit meinem Ohr an dieser Brust verbracht, allerdings war sie damals noch nicht so muskulös gewesen. Und dennoch vielversprechend – im Hinblick auf den Mann, der er einmal werden würde.
Der Mann, der er geworden war.
Alles an Graham schien sich verändert zu haben, selbst seine goldbraunen Augen. Die Farbe war noch so kräftig wie in meinen Träumen, doch sie war nun kälter. Distanziert. Eine Veränderung, die ich nicht auf die Zeit schieben konnte.
Nein, die hatte ich zu verschulden.
»Lass uns gehen.« Er entriss mir meinen Koffer.
»Ich habe einen Mietwagen reserviert.« Ich zeigte auf den Stand der Autovermietung, aber Graham drehte sich um und ging auf den Ausgang zu. »Graham, ich habe ein Auto.«
»Stornier es«, bellte er über seine Schulter hinweg. »Deine Mom hat mich gebeten, dich abzuholen.«
»Na gut«, murmelte ich und zog mein Handy aus der Hosentasche. Ethan zu schreiben, während ich versuchte, mit Grahams erbarmungslosem Tempo mitzuhalten, erwies sich als schwierig. Und ich schaute gerade noch rechtzeitig auf, um einen Zusammenstoß mit einer Wand zu vermeiden.
Oh, verdammt. Es war nicht nur irgendeine Wand. Es war eine Wand mit einem gerahmten Hush-Note-Poster, in dessen Zentrum ich zu sehen war. Ich hatte mein Haar nach hinten geworfen, während ich auf die Drums hämmerte. Jonas sang in sein Mikrofon, und Nix spielte ein Riff auf seiner Gitarre.
Das Poster hatte unsere Plattenfirma letztes Jahr als Werbeaktion für unsere Tour anfertigen lassen, und der Flughafen hatte es mit einem Banner darüber ausgestattet.
Willkommen in Bozeman.
Heimatstadt von Quinn Montgomery, Hush Notes Grammy-gekrönte Drummerin.
Graham blieb stehen und blickte zurück, vermutlich weil er sich fragte, warum ich so lange brauchte. Als er das Poster entdeckte, warf er ihm einen wütenden Blick zu, der womöglich das Papier in Brand gesetzt hätte, wäre es nicht hinter Glas geschützt gewesen. Dann marschierte er durch die Tür, seine Schritte waren nun noch schneller.
Ich musste joggen, um mit ihm mithalten zu können, war jedoch zu weit entfernt, um ihn daran hindern zu können, meinen Koffer auf die Ladefläche seines Trucks zu werfen – dieser Wurf war weitaus ruppiger, als ich ihn je bei Flugpersonal gesehen hatte.
»Steig ein.« Er deutete mit dem Kinn in Richtung der Beifahrertür.
»Okay.« Ich biss mir auf die Zunge.
Da sich das mit meinem Mietwagen ja nun erledigt hatte, bestand mein neuer Plan darin, diese Fahrt zum Hotel zu überleben. Graham war verärgert, also würde ich ihn einfach in Ruhe lassen. Zehn Minuten, höchstens fünfzehn, und wir würden getrennte Wege gehen. Ich würde diese Woche hier für Nan verbringen, und es hätte sie verletzt, wenn ich Drama mit Graham veranstalten würde.
Also stieg ich in seinen Truck und atmete tief durch.
Grahams Geruch umgab mich. Als Junge hatte er frisch und sauber gerochen. So war es immer noch, vertraut und herzzerreißend, nur dass darin jetzt noch ein Unterton von Moschus, Aftershave und Mann lag. Der schwere, berauschende Duft würde die Fahrt zum Hotel nicht gerade einfacher machen.
Noch bevor ich meinen Gurt angelegt hatte, war Graham schon am Steuer und trat kräftig aufs Gas.
Ich schluckte und rang mich dazu durch, ein Gespräch anzuleiern. »Also, ähm … wie geht’s dir so?«
Der Sirius XM Countdown geht weiter mit Sweetness von Hush Note. Ein Song, der an der Spitze unseres Countdowns ist, seitdem …
Graham erstach den Aus-Knopf förmlich mit seinem Finger.
Ich blickte aus dem Fenster.
Er war also nicht einfach verärgert. Er war stinksauer. Ganz offensichtlich hatten neun Jahre der Trennung mich nicht zu einer schönen Erinnerung werden lassen.
»Ich habe eine Reservierung im Hilton Garden Inn. Wenn es dir nichts ausmachen würde, mich dort …«
»Du gehst nach Hause.«
Natürlich. Ende der Diskussion. Graham tat meiner Mutter einen Gefallen, da meine Familie an einem Sonntagmorgen zu beschäftigt war. Er war geschickt worden, um mich aufzugabeln, bevor ich in einem Hotel verschwinden konnte.
Vielleicht hätte ich es doch nicht so eilig damit haben sollen, hierherzukommen.
Die Fahrt durch Bozeman verlief angespannt. Ich hielt den Blick nach draußen gerichtet und bemerkte die neuen Gebäude. Die Stadt war mit den Jahren gewachsen. Wo sich einst offene Felder befunden hatten, standen nun Bürokomplexe, Einkaufzentren und Restaurants.
Erst als wir uns der Innenstadt näherten, wurden mir die Straßen vertrauter, und ich konnte vorausahnen, wo Graham als Nächstes abbiegen würde. Als wir in der Nachbarschaft meiner Kindheit ankamen, wunderte ich mich über die Häuser. Waren sie immer schon so klein gewesen?
Und dann parkten wir auch schon vor dem Haus meiner Eltern. Meinem Zuhause.
Endlich etwas, das sich nicht verändert hatte. Blaugraue Verkleidung, weiße Leisten, schwarze Fensterläden und Moms rote Geranien in einem Whiskyfass neben der Eingangstür.
»Danke fürs Abliefern«, sagte ich zu Graham und riskierte einen Blick in seine Richtung. »Genau wie in alten Zeiten.«
Er hatte immer darauf bestanden, mich zu Hause abzuliefern, obwohl er nebenan wohnte.
Nur hatte er mich damals dabei angelächelt und mich zum Abschied geküsst.
Doch das war vorher gewesen.
Bevor ich ihm das Herz gebrochen hatte.
Bevor er meins zerschmettert hatte.
Neun Jahre, und ich war immer noch nicht dazu bereit, sie wiederzusehen.
Hätte ich tatsächlich neun Jahre gehabt, um über sie hinwegzukommen, ohne ständig von ihr zu hören, hätte das Wiedersehen am Flughafen mir nicht so einen verdammt unerwarteten Schlag versetzt. Doch vor ihr gab es kein Entkommen, nicht solang überall die Musik von Hush Note lief. Egal wie schnell ich das Radio ausschaltete oder den Fernsehsender wechselte, sie war immer da und verfolgte mich.
Und nun war sie hier, um mich höchstpersönlich zu foltern. In dieser Woche würde ich die Erinnerungen an sie nicht abschotten und in eine dunkle Ecke verbannen können. Vor allem nicht heute, da sie gerade aus meinem Truck ausstieg.
Ich hatte gewusst, dass dieser Tag kommen würde. Dass sie irgendwann nach Montana zurückkehren und wir einander begegnen würden. Doch anstatt mich mit dem Unausweichlichen abzufinden, hatte ich neun Jahre lang die Furcht davor aufgebaut.
Jedes Jahr zu Thanksgiving und Weihnachten hatte ich mich gefragt, ob nun der Moment ihrer Rückkehr gekommen war. Ich hatte mich geweigert, ihre Familie zu fragen, doch meine oder ihre Mutter hatten stets gezielte Kommentare fallen gelassen, die mir klarmachten, dass sie wieder einen Grund gefunden hatte, fernzubleiben.
Sie hat die Uni abgebrochen, um einer Band beizutreten.
Sie spielen über die Feiertage in Australien.
Sie arbeitet an einem Album.
Lahme Ausreden. Quinn hatte einfach nicht zurückkommen wollen. Sie hatte ihr Leben in Ruhm und Reichtum zu leben – sie und ihre verdammte Band.
Quinn hatte allem aus ihrer Jugend den Rücken zugewandt. Ihrer Familie. Ihren Freunden.
Mir.
Sie hatte uns vergessen. Neun Jahre waren eine verdammt lange Zeit, um an Zorn festzuhalten. Doch sosehr ich auch versuchte loszulassen, es gelang mir nicht. Die Wut brodelte innerlich, kein bisschen weniger als damals, direkt nachdem sie gegangen war.
Ich öffnete die Trucktür und schlug sie fest zu, bevor ich nach hinten ging, um ihren Koffer herauszuheben.
»Danke.« Sie lächelte mich schwach an und streckte die Hand nach dem Gepäck aus.
Doch ich marschierte an ihr vorbei auf den Gehweg und, den Koffer fest im Griff, blendete sie auf dem Weg zur Haustür aus.
Ihre Schritte folgen mir. »Ich kann mein Gepäck selbst tragen.«
»Nein.« Angesichts ihrer melodischen Stimme verzog ich den Mund.
In den Jahren seit unserer Trennung hatte ich diesen sanften, sinnlichen Klang nicht vergessen. Er war wie Sirenengesang, verlockend und bezaubernd. Irritierend. Ich zwang mich dazu, sie auszublenden, und ging schneller.
An die Tür zu klopfen war nicht nötig. Sie war nie verschlossen, denn nur ein krankes oder wahnsinniges Individuum würde an einem Sonntagnachmittag in Pastor Montgomerys Haus einbrechen.
Stimmen drangen an mein Ohr, und der Geruch von Gegrilltem wehte aus der Küche herüber.
Verdammte Scheiße. Waren nicht alle angeblich beschäftigt? Deshalb war es doch an mir hängen geblieben, Quinn abzuholen, oder nicht? Weil die Montgomerys länger in der Kirche bleiben würden, um mit allen zu reden, die ihr Beileid aussprechen wollten. Mom und Dad wollten als seelischer Beistand ebenfalls bleiben.
Dieses Haus war voll von Lügnern. Nun ja, und einer Person, die immer ihre Nase überall reinstecken musste.
Meine Mutter.
Ich ließ Quinns Koffer fallen und stiefelte am Wohnzimmer vorbei in den hinteren Teil des Hauses, wo die Küche und das angrenzende Esszimmer vor Menschen nur so überquollen. Die Verandatür war offen, und Dad stand am Grill.
»Oh, Graham.« Mom lächelte, als sie mich entdeckte, bevor ihr Blick über meine Schulter huschte. »Wo ist Qui… Quinn!«
Es wurde still, und alle Blicke schwangen in meine Richtung, bevor sie hinter mich wanderten, wo sich Quinn herumdrückte.
»Hi.« Sie hob die Hand und lächelte unbehaglich.
Niemand regte sich.
Quinns Hand verharrte in der Luft, während alle nur starrten. Das Lächeln in ihrem Gesicht ließ nach, als sich Sekunden zu gefühlten Stunden ausdehnten.
Wie es aussah, war ich nicht der Einzige, der auf das heutige Wiedersehen nicht vorbereitet gewesen war.
Ich räusperte mich, und alle erwachten aus ihrer Schockstarre.
»Willkommen zu Hause.« Quinns Mutter Ruby flog förmlich durch die Küche; sie warf ein Handtuch beiseite und zog Quinn in eine lange Umarmung. »Du siehst …« Ruby ließ Quinn los, und ein Anflug von Reue trat auf ihr Gesicht. »Du siehst wunderschön aus.«
»Danke, Mom.«
Bradley tauchte im Flur neben Quinn auf. Seine Augen waren glasig, als hätte er sich kurz zurückgezogen, um im Stillen um seine Mutter zu weinen.
»Hi, Dad.« Quinn wiederholte ihr unbehagliches Winken.
»Quinn.« Bradleys Stimme klang heiser und rau, während er sie von Kopf bis Fuß musterte, als könnte er nicht glauben, dass sie wirklich dort stand.
Genau wie ich es am Flughafen getan hatte.
»Tut mir leid wegen Nan«, flüsterte Quinn.
»Sie ist an einem besseren Ort.« Zögerlich tat er einen Schritt, dann einen weiteren, bevor er sie in eine steife Umarmung zog.
Ruby wischte sich über die Augen und legte die Hände auf die Schultern der beiden.
Es war ein persönlicher Moment, ein Wiedersehen, das keine Zuschauer nötig hatte. Warum waren wir hier? Ich sah Mom stirnrunzelnd an.
Sie zuckte mit den Achseln und ging auf Quinn zu, wo sie wartete, bis Bradley und Ruby sie freigaben. Dann umarmte sie Quinn fest. »Du siehst so wunderschön aus. Ganz erwachsen. Und dieser Nasenring ist so süß.«
Ich zwang mich, den Blick von Quinns Stupsnase abzuwenden. Süß war nicht das richtige Wort. Sexy. Verführerisch. Das waren passende Worte für den winzigen Silberring in ihrem linken Nasenflügel.
Wann hatte sie sich piercen lassen? Vor oder nach dem Telefonat, das mir das Herz gebrochen hatte?
Dieses Nasenpiercing würde mir als Warnung dienen. Es würde mir nicht guttun, in Quinns Dunstkreis zu geraten. Hatte ich alles schon hinter mir. Sie war nicht mehr das Mädchen, das ich gekannt hatte. War nicht länger achtzehn. Nicht in jeglicher Hinsicht perfekt. Dann war sie eben noch schöner geworden, na und?
Meine Quinn war fort. Dies hier war die Quinn, die ich im Fernsehen sah.
Eine Fremde.
Und ich war dazu gezwungen gewesen, ihre Verwandlung aus der Ferne zu beobachten.
Als junger Mann hatte ich geplant, dass Quinn immer an meiner Seite sein würde. Wir hatten den naiven Traum gehabt, dass eine Jugendliebe für den Rest des Lebens anhalten könnte.
Als die jugendliche Zartheit ihres Gesichts zu weiblicher Anmut geworden war, hätte ich einen Sitz in der ersten Reihe haben und der Veränderung durch einen gemeinsamen Badezimmerspiegel zusehen sollen. Als ihre Haarlänge ihren unteren Rücken erreicht hatte, hätte ich der Mann sein sollen, der mit den Strähnen spielte. Als ihr Körper fester geworden und sie zu dieser schlanken Frau geworden war, hätte sie sich in meinem Bett befinden sollen.
Naiv reichte nicht annähernd aus.
»Hi, Schätzchen.« Mom stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste mich auf die Wange.
»Alle waren zu beschäftigt, um sie abzuholen, was?«
»Wir waren beschäftigt. Die Kirche war früher zu Ende als erwartet.«
»Aha«, sagte ich ausdruckslos und gestikulierte mit der Hand in Richtung des Raums. »Und das?«
»Ruby dachte, es wäre vielleicht einfacher mit ähm … du weißt, Quinn, wenn ein bisschen was los ist. Und sie dachte, dass Bradley heute vielleicht alle um sich haben möchte.«
Bradley hatte heute Morgen die Predigt gehalten, obwohl seine Mutter nicht an ihrem gewohnten Platz gesessen hatte. Einige Male hatte er sich etwas verhaspelt, doch im Großen und Ganzen die Haltung bewahrt. Ich war nicht überrascht gewesen, als ich ihn auf der Kanzel gesehen hatte, denn er war ein Mann, der Kraft aus seinen Mitmenschen zog, vor allem aus Freunden und Familie.
Womöglich gab aber auch er uns die Kraft, die wir benötigten.
Er hatte seine Mutter verloren, doch wir alle hatten Nan verloren.
Wie konnte er noch aufrecht stehen? Meine Mutter machte mich wahnsinnig, wenn sie sich immer überall einmischte, mich bedrängte und ständig in meinen persönlichen Angelegenheiten herumpfuschte, aber ich wäre ein Wrack, wenn ich sie verlieren würde.
Doch er stand steif und schweigsam neben Quinn. Beide hatten den Blick auf den Boden gerichtet, und ihr Unbehagen griff langsam auf den Raum über.
»Hey«, sagte Walker, als er durch die Verandatür kam und mir auf die Schulter klopfte. »Colin spielt draußen.«
»Danke, dass du ihn hergebracht hast.«
»Kein Problem«, murmelte er, bevor er Quinn ansah.
Sie entdeckte ihn ebenfalls und kam zu uns herüber. Sie warf mir einen zaghaften Blick zu, bevor sie zu ihrem großen Bruder hinauflächelte. »Hey, Walker.«
»Hi, Quinn.« Er bedachte sie mit einem höflichen Nicken.
Sie hob die Arme ein wenig, als wollte sie ihn umarmen, doch als er sich nicht rührte, ließ sie sie wieder sinken.
Verdammt noch mal. Ich wollte absolut nicht hier sein. Bradley mochte vielleicht Menschen um sich haben wollen, während er trauerte, doch ich wollte nur die friedliche Stille meines eigenen Heims. Hier herumzustehen machte Nans Abwesenheit nur umso deutlicher.
Bei Veranstaltungen wie dieser war sie immer diejenige gewesen, die lockere Scherze gemacht und dadurch die Anspannung gelöst hatte. Nan hätte aus Quinns Rückkehr eine Party gemacht und das Unbehagen aus dem Raum gejagt. Ohne Nan, die alle Wogen glättete, würde dieses Mittagessen unerträglich sein.
»Walker …« Seine Frau Mindy steckte den Kopf ins Haus. »Oh, hey, Graham. Ich wusste nicht, dass du hier«, ihr Blick fiel auf Quinn, »bist.«
»Komm rein, Babe.« Walker winkte sie heran. »Mindy, das ist meine Schwester Quinn.«
Mindy zwang sich zu einem Lächeln und schüttelte Quinn die Hand. »Nett, dich kennenzulernen.«
»Gleichfalls.« Draußen herrschte eine drückendende Hitze, aber Quinn war winterlich angezogen – Jacke, Kapuzenpullover und zerschlissene Jeans, die in Stiefeln mit dicken Sohlen verschwanden. Ihr blondes Haar, das den Goldton der Weizenfelder im August hatte, reichte bis an ihre Taille. Die Augen in der Farbe der sommerlichen Berge Montanas im Morgengrauen – blaugrau mit Sprenkeln in Schneespitzenweiß – hatte sie schwarz umrandet.
Der Rockstar.
Ich wollte ihren neuen Look hassen, wie ich auch ihre Stimme hassen wollte.
Doch ich tat es nicht.
»Unsere Kinder sind draußen.« Mindy zeigte mit dem Finger über ihre Schulter. »Ich, ähm … ich hole sie mal.«
»Danke.« Ein Anflug von Reue breitete sich auf Quinns Gesicht aus. »Ich würde sie sehr gern kennenlernen.«
Quinn war ihrer Nichte und ihrem Neffen noch nie begegnet. Sie waren sechs und vier. Mindy und Walker waren seit sieben Jahren verheiratet.
Diese Zahlen, die Jahre, die sie verpasst hatte, löschten jegliches Mitgefühl aus, das ich für sie angesichts ihres Unbehagens empfunden hatte. Sie sollte sich elend fühlen. Sie sollte ihre Entscheidungen bereuen. Denn sie hatte nicht nur mich zurückgelassen, als sie, ohne zurückzublicken, nach Seattle verschwunden war.
Sie hatte uns alle im Stich gelassen.
»Mom, weißt du …« Brooklyn kam mit einem Baby auf dem Arm die Treppe herunter. Sie musste wohl gerade oben gestillt haben, als wir angekommen waren. Ein Blick zu Quinn, und ihr Gesicht wurde hart.
»Hi, Brookie.« Quinn wandte sich um und lächelte sie an.
Brooklyn schnaubte. »Niemand nennt mich mehr so.«
»Oh, sorry.« Quinns Lächeln verschwand, und ihre Aufmerksamkeit richtete sich auf das Baby, das nach ihrem Vater benannt worden war. »Das ist dein Sohn? Bradley?«
»Ja.« Brooklyn hatte keinen weiteren Blick für sie übrig, als sie an uns vorbeimarschierte und nach draußen stürmte.
Quinn schloss die Augen und stieß einen langen Atemzug aus. »Wow.«
»Das wird schon noch«, sagte Ruby, die zu Quinn hinüberging und ihr einen Arm um die Schultern legte. »Es ist schön, dich zu Hause zu haben.«
»Ich wäre bereit für die Burger und Hot Dogs!«, bellte mein Dad von draußen, bevor er den Kopf durch die Tür steckte. »Oh, hallo, Quinny.«
Quinny. Mit einem Wort hatte Dad die Anspannung in ihrem Gesicht gelöst. Sie lächelte strahlend und so verdammt schön, dass ich wegsehen musste. »Hi, Mr Hayes.«
»Mr Hayes.« Dad lachte schnaubend. »Du hast dich nicht verändert.«
Sooft Dad darauf bestanden hatte, dass sie ihn Don nannte, sie hatte sich immer geweigert.
Doch Dad irrte sich. Quinn hatte sich verändert.
Zu vieles hatte sich verändert.
»Dad!« Ein Lichtblitz kam hereingeschossen und sauste an meinem Dad vorbei, bevor er mit meinen Beinen kollidierte. Mein Sohn lächelte zu mir herauf, ihm fehlten beide Schneidezähne. Die hatten die Zahnfee fünf Mäuse das Stück gekostet – ich war eine großzügige Zahnfee.
»Wie läuft’s, Kumpel? Hast du dich bei Walker und Mindy gut benommen?«
»Was denn sonst? Übst du jetzt mit mir Fangen?«
»Nach dem Essen.« Ich wuschelte ihm durchs Haar, das denselben Braunton besaß wie meins. »Geh dich waschen.«
Er wirbelte herum, bereit, davonzurasen, denn er kannte nur zwei Geschwindigkeitsstufen: schnell und schneller. Colin Hayes verstand das Konzept des Gehens nicht. Als er sich also in Bewegung setzte, stieß er gegen Quinn. »Oh. Sorry.«
Sie blinzelte ihn an, ihr Blick zuckte zwischen uns beiden hin und her.
Colins Augen wurden groß, als er sie erkannte. Ich legte den Kopf in den Nacken und unterdrückte ein Stöhnen. Mist.
»Echt jetzt? Du bist Quinn! Quinn Montgomery, die Drummerin von Hush Note. Du bist The Golden Sticks.«
Bei dem Spitznamen rümpfte Quinn die Nase, aber Colin plapperte weiter, während seine Arme in dem Versuch, mit seiner Zunge mitzuhalten, auf und ab wedelten.
»Hush Note ist meine absolute Lieblingsband, aber Sweetness ist nicht mein Lieblingssong, denn Dad hat recht, er wurde zu oft gespielt und damit ruiniert. Am liebsten mag ich Torchlight. Am zweitliebsten Passive Aggression. Als Drittes kommen Hot Mess und Fast Hands, weil ich mich nicht entscheiden kann. Welchen magst du am liebsten? Darfst du einen Lieblingssong haben? Ich wette, es ist auch Torchlight, oder?«
»Ähm …« Quinns Mund blieb offen stehen.
»Ich will Drummer werden. Ich habe ein Schlagzeug im Keller, mit allem Drum und Dran. Vielleicht kannst du rüberkommen und mit mir spielen.« Colin wirbelte herum. »Darf sie, Dad?«
Ich war versucht, einfach Ja zu sagen und sie wie ein Opferlamm Colin zu überlassen. Mein siebenjähriger Sohn würde sie mit seinem unaufhörlichen Gerede lebendig verschlingen.
Fragenstellen war Colins Superkraft. Von dem Moment an, in dem ich ihn an der Bushaltestelle abholte, bis zum Abend, wenn ich ihn ins Bett steckte, bestand das Kind aus einer endlosen Reihe an Fragen. Und die meiste Zeit wartete er nicht einmal auf eine Antwort.
Vor etwa einem Jahr hatte ich ihn einmal darum gebeten, mir fünf Minuten Ruhe zu gönnen, und er hatte mir mitgeteilt, dass er, wenn er nicht sprach, nicht atmen könnte.
Das war mein Sohn.
Wenn man nicht darauf vorbereitet war und kein jahrelang aufgebautes Durchhaltevermögen besaß, konnte dieses Kind einem in weniger als einer Stunde die ganze Energie rauben.
Es wäre lustig, ihn auf Quinn loszulassen und zu sehen, wie sie sich schlagen würde.
Doch die Art, wie ihr jegliche Farbe aus dem Gesicht gewichen war, wie sie ihn anstarrte, ohne zu blinzeln, traf mich mitten in die Brust. Es traf diesen einen Teil von mir, den Teil, den ich nicht ignorieren konnte und der Quinn immer beschützen würde.
Es bereitete ihr Schmerzen, meinen Sohn das erste Mal zu sehen.
»Geh dir die Hände waschen.« Ich drehte Colin an den Schultern und gab ihm einen sanften Schubser in Richtung Badezimmer.
Während er ging, formte er mit den Lippen: »Oh mein Gott.« Dann reckte er triumphierend die Faust in die Höhe.
Ich grinste. Mein Sohn war verdammt großartig.
Die meisten Siebenjährigen interessierten sich nicht besonders für Rockbands. Basketball und Baseball war eher ihr Ding. Colin liebte Sport, doch er widmete dem Dribbeln genauso viel Zeit wie dem Schlagzeug, das ich ihm zu Weihnachten geschenkt hatte.
Er war grauenvoll. Wahrhaft grauenvoll. Aber es machte ihn so glücklich, dass der Lärm mich nicht störte.
»Du hast einen Sohn«, sagt Quinn, kaum lauter als ein Flüstern.
Ich nickte. »Er ist gerade sieben geworden. Das wusstest du nicht?«
»Nein, ich, äh …« Sie schüttelte den Schock ab. »Nan hat mir von ihm erzählt.«
»Sie haben sich nahegestanden.« Für Colins Wohlergehen freute ich mich, dass Quinn hier war. Sie würde ihm als Ablenkung vom Tod einer Frau dienen, die er fast genauso sehr geliebt hatte wie seine Großmutter.
»Er weiß eine Menge über mich«, sagte sie.
»Das war Nan. Nicht ich.« Ich wollte absolut klarstellen, dass Colins Schwärmerei nichts mit mir zu tun hatte. »Ich habe die Musik von Hush Note schon vor langer Zeit aus unserem Haus verbannt, aber Nan war so stolz auf dich. Immer wenn sie Zeit miteinander verbracht haben, haben sie eure Musik gehört. Und sie hat ihm alles über ihre berühmte Enkelin erzählt.«
Tränen traten ihr in die Augen, doch sie blinzelte sie fort. »Torchlight war auch ihr Lieblingssong.«
Weil es ein guter Song war, das würde ich allerdings niemals laut zugeben.
Und Nan hatte einen tadellosen Musikgeschmack gehabt. Sie hatte Colin nicht nur Hush Note nähergebracht, sondern auch alles, was der Classic Rock zu bieten hatte.
Mein Gott, wir würden sie vermissen. Gestern und heute waren so rasend schnell vergangen, dass Nans Abwesenheit noch gar nicht richtig durchgesickert war. Ich erwartete immer noch, sie auf der Veranda in ihrem Stuhl unter dem Schirm sitzen zu sehen, wo sie Heidelbeerlimonade trank und ihren pinken Lippenstift nachzog, den sie jederzeit getragen hatte.
»Lasst uns essen«, rief Mom.
Quinn hielt den Kopf gesenkt, während sie zu der Schiebetür ging und hinausschlüpfte.
Ich raufte mir die Haare und konnte nun endlich atmen, da sie außer Sichtweite war. Ich würde nicht lange bleiben, also sollten alle möglichst zügig essen.
Ich wollte einfach nur einen stillen Nachmittag mit meinem Sohn zu Hause, wo ich seine Fragen beantworten und wir Fangen üben würden, während wir der Frau gedachten, die für mich genauso eine Großmutter gewesen war wie für Quinn, Walker und Brooklyn.
Ich wartete, bis Colin aus dem Badezimmer gelaufen kam, und führte ihn hinaus, wo ich ihn an den Picknicktisch mit den Kindern im Garten setzte, bevor ich mich zu den anderen auf die Veranda gesellte.
Nans Stuhl war leer.