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Sie war mit der Liebe ihres Lebens verheiratet. Sie verlor ihn am ersten Hochzeitstag. Für Poppy ist nichts mehr, wie es war, als ihr Mann Jamie bei einem Überfall erschossen wird. Witwe mit 25 – so hatte sie sich das nicht vorgestellt. Erst Jamies Bucket List wird für sie zum Sonnenstrahl in tiefster Trauer. All die Dinge, die er in seinem Leben nicht mehr tun konnte, will sie nun in die Tat umsetzen. Punkt eins: Sie erfüllt ihren gemeinsamen Traum und eröffnet ein Restaurant, in dem alle Speisen in Einweckgläsern serviert werden. Bis zum letzten Punkt auf der Liste ist es ein weiter Weg. Sie rechnet damit, dass es schwierig wird. Sie rechnet nicht damit, dass sie einer neuen Liebe begegnet.
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Aus dem amerikanischen Englischvon Karen Gerwig
© Devney Perry 2018Titel der englischen Originalausgabe : »The Birthday List«© der deutschsprachigen Ausgabe:Piper Verlag GmbH, München 2020Published in arrangement with Brower Literary & Management.Redaktion: Susann Harring
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Cover & Impressum
Prolog
Poppy – 30. Geburtstag
Fünf Jahre später …
Cole – 26. Geburtstag
Poppy – 29. Geburtstag
Cole – 27. Geburtstag
Poppy – 36. Geburtstag
Cole – 41. Geburtstag
Poppy – 35. Geburtstag
Cole – 38. Geburtstag
Poppy – 43. Geburtstag
Poppy – 37. Geburtstag
Cole – 46. Geburtstag
Poppy – 39. Geburtstag
Cole – 34. Geburtstag
Poppy – 32. Geburtstag
Poppy – 31. Geburtstag
Poppy – 44. Geburtstag
Cole – 45. Geburtstag
Poppy – 33. Geburtstag
Poppy – 48. Geburtstag
Cole – 29. Geburtstag
Poppy – 25. Geburtstag
Cole – Fünf Stunden zuvor …
Fünf Stunden zuvor …
Cole – 50. Geburtstag
Drei Tage später …
Poppy – Fünf Jahre später …
Fünf Jahre später …
Dank
»Poppy!« Jamie kam aus dem Arbeitszimmer in die Küche gerannt.
Von seinem Lächeln bekam ich Schmetterlinge im Bauch, das heißt, ich war seit dem Tag vor fünf Jahren, als wir uns kennenlernten, ein einziger Schmetterlingsschwarm.
Wir waren am ersten Tag unseres Studiums an der Montana State University übereinander gestolpert. Buchstäblich.
Ich war hektisch aus einer Wirtschaftsvorlesung gekommen, die Arme voller Bücher, Notizblöcke und einem Lehrplan. Jamie war hineingeeilt und zu beschäftigt damit gewesen, über die Schulter einer vollbusigen Blondine hinterherzustarren, um mich in der Tür zu bemerken.
Nachdem wir uns beide von dem Zusammenprall erholt hatten, half mir Jamie vom Boden hoch. In dem Moment, als meine Hand in seine glitt, war die vollbusige Blonde schon vergessen.
An diesem Tag hatte ich den Mann meiner Träume getroffen. Meinen Ehemann.
James Sawyer Maysen.
»Rate mal!«
»Was?« Ich kicherte, als er mich auf die Arbeitsplatte hob und sich zwischen meine gespreizten Beine stellte. Sein ganzer Körper strahlte Aufregung aus, seine Augen funkelten, und ich musste unwillkürlich lächeln.
»Ich habe gerade noch ein paar Punkte auf meine Geburtstagsliste gesetzt.« Er machte eine triumphierende Geste mit der geballten Faust. »Die besten Ideen bis jetzt.«
»Oh.« Mein Lächeln verblasste. »Sag mir bitte, dass sie diesmal nicht illegal sind.«
»Nö. Und ich hab dir doch gesagt, das mit dem Feueralarm wird vielleicht gar nicht illegal. Es könnte schließlich sein, dass ich völlig legitim einen Feueralarm auslösen muss, bevor ich fünfundvierzig werde.«
»Das will ich dir auch geraten haben. Ich habe keine Lust, dich aus dem Gefängnis zu holen, nur weil du unbedingt diesen einen Punkt von deiner verrückten Liste abhaken musstest.«
Jamies »Geburtstagsliste« war seine neueste fixe Idee. Er war ein paar Wochen zuvor durch eine Sitcom draufgekommen, und seitdem dachte er sich diese grandiosen Pläne aus – obwohl manche eher lächerlich als großartig waren.
Die Liste war Jamies Version einer Löffelliste. Nur dass er sich statt einer langen Liste, die man im Ruhestand abarbeitete, Dinge auferlegte, die er vor seinen jeweiligen Geburtstagen tun wollte, da er seine beängstigende Liste nicht erst dann in Angriff nehmen wollte, wenn er sein Leben fast gelebt hatte. Stattdessen hatte er es sich zum Ziel gesetzt, jedes Jahr vor seinem Geburtstag einige Punkte von seiner Liste abzuhaken. Bisher hatte er fast jeden Geburtstag bis fünfzig mit Aufgaben gefüllt.
Außerdem hatten wir noch eine Pärchen-Löffelliste: Orte, die wir bereisen, und Dinge, die wir gemeinsam tun wollten. Doch diese Geburtstagsliste war etwas anderes – die gehörte nur Jamie. Sie war mit Dingen bestückt, die er nur für sich tun wollte.
Und auch wenn ich vielleicht bei den riskanteren und verrückteren Punkten ein bisschen gegrummelt hatte, unterstützte ich ihn dabei von ganzem Herzen.
»Und, was hast du heute auf die Liste gesetzt?«
Er grinste. »Meine beste Idee bisher. Pass auf.« Er breitete die Arme aus und malte eine unsichtbare Leuchtreklame in die Luft. »Bevor ich vierunddreißig werde, möchte ich in einem Planschbecken voller grüner Götterspeise schwimmen.«
»Okay.« Ich lächelte, ganz und gar nicht überzeugt, dass das seine beste Idee bisher war, aber so war Jamie. »Aber warum Götterspeise? Und warum grün?«
»Fändest du das nicht cool?« Er zappelte zwischen meinen Beinen herum und grinste noch breiter. »Das gehört zu den Sachen, die jedes Kind gern tun würde, aber die Eltern lassen sie nie. Überleg mal, was für ein Spaß das wäre. Ich kann darin herumplanschen. Sie zwischen den Fingern und Zehen durchquellen lassen. Und ich habe Grün ausgesucht …«
»Weil es deine Lieblingsfarbe ist«, ergänzte ich und wunderte mich über mich selbst, weil ich die Frage überhaupt gestellt hatte.
»Was hältst du davon?«
»Ganz ehrlich? Es klingt nach einer Riesensauerei. Abgesehen davon macht Götterspeise Flecken. Du wirst eine Woche lang ein wandelnder Alien sein.«
Er zuckte die Achseln. »Das ist okay für mich. Meine Schüler werden es super finden, und ich habe ja dich. Du kannst mir beim Saubermachen helfen.«
»Ja, das stimmt.«
Ich würde ihm helfen, seine Haut zu schrubben, bis sie nicht mehr grün war, und ich würde ein Planschbecken voller Götterspeise entsorgen, denn ich liebte ihn. Manche Punkte auf Jamies Liste waren mir fremd, aber wenn sie ihn glücklich machten, würde ich ihm helfen, so gut ich konnte. Die nächsten fünfundzwanzig Jahre – oder solange er wollte – würde ich an seiner Seite sein, während er Dinge von seiner Liste abhakte.
»Und was hast du heute noch draufgeschrieben?«
Er fasste mich an der Taille und zog sich ein bisschen näher an mich heran. »Ich habe etwas hinzugefügt und gleichzeitig abgehakt. Es war ein Punkt für meinen fünfundzwanzigsten Geburtstag: Ich habe einen Brief an mich selbst in zehn Jahren geschrieben.«
»Das hat was.« Den Punkt hätte ich glatt für meine eigene Geburtstagsliste geklaut.
»Darf ich den Brief lesen?«
»Klar.« Er grinste. »Wenn ich fünfunddreißig bin.«
Ich zog ein finsteres Gesicht, aber Jamie glättete es mit einem sanften Kuss.
»Ich muss noch ein paar Besorgungen machen. Brauchst du was, soll ich dir was mitbringen?«
Besorgungen. Na klar. Morgen war unser erster Hochzeitstag, und ich hätte gutes Geld gewettet, dass seine sogenannten Besorgungen ein Last-Minute-Geschenk für mich waren. Im Gegensatz zu mir, die ich sein Geschenk schon vor zwei Monaten besorgt und in der Waschküche gebunkert hatte, ging Jamie immer an Heiligabend oder am Tag vor meinem Geburtstag einkaufen.
Aber statt ihn wegen seiner Neigung zum Prokrastinieren aufzuziehen, nickte ich nur.
»Ja, bitte. Könntest du in den Getränkemarkt gehen?« Wir wollten am nächsten Tag eine Frühlingsgrillparty zur Feier unseres Hochzeitstages steigen lassen, und der einzige Alkohol, den wir im Haus hatten, war Jamies Lieblingstequila.
»Babe, ich hab es dir doch gesagt. Wir brauchen keine schicken Cocktails. Hol morgen einfach ein paar Bier im Supermarkt, und wir trinken mein Zeug.«
»Und, Schatz, ich habe dir gesagt, dass nicht alle Tequila mögen.«
»Klar mögen sie. Tequila ist ein klassischer Partydrink.«
Ich verdrehte lachend die Augen. »Wir schmeißen morgen keine Wohnheimparty. Wir sind jetzt erwachsen und können uns Auswahl leisten. Zumindest könnten wir Zutaten für Margaritas dahaben.«
»Na gut«, brummelte er. »Hast du eine Einkaufsliste?«
Ich nickte, aber als ich von der Arbeitsplatte springen wollte, hielt er mich fest.
»Darf ich dich was fragen?« Seine Augenbrauen zogen sich zusammen, und sein Lächeln verschwand.
»Natürlich.«
»Wir sind seit fast einem Jahr verheiratet. Was ist für dich das Schönste daran, mit mir verheiratet zu sein?«
Ich legte die Hände an seine Wangen und strich ihm die blonde Strähne aus dem Gesicht, die ihm in die blauen Augen gefallen war. Für meine Antwort musste ich nicht einmal überlegen. »Es ist wunderschön, dass ich mich deine Frau nennen darf. Das macht mich jedes Mal stolz. Zum Beispiel in der Schule, wenn Eltern zu mir kommen und mir erzählen, wie gern ihre Kinder in deinen Unterricht gehen, dann bin ich so stolz, dass du mir gehörst.«
Die Anspannung in seinem Gesicht löste sich auf.
Ich wusste nicht so recht, wie er darauf kam, aber es war eine gute Frage. Vor allem heute, am Vorabend unseres Hochzeitstages.
Jamie machte einen Schritt rückwärts, aber ich packte ihn am Hemdkragen und zog ihn wieder an mich. »Warte! Jetzt bist du dran. Was ist für dich das Schönste daran, mit mir verheiratet zu sein?«
Er grinste. »Dass du jeden Tag Sex mit mir hast.«
»Jamie!« Ich versetzte ihm einen Klaps gegen die Brust, und er lachte. »Ernsthaft!«
»Das ist mein Ernst! Ach ja, und ich finde es toll, dass du kochst und meine Wäsche wäschst. Ernsthaft, Babe. Vielen Dank dafür.«
»Willst du mich verarschen?«
Er nickte und grinste noch breiter. »Na gut. Ich finde es wunderschön, dass ich dir dabei zusehen darf, wie du jeden Tag noch schöner wirst.«
Wieder setzte der Schmetterlingsschwarm in meinem Bauch zum Flug an. »Ich liebe dich, Jamie Maysen.«
»Ich liebe dich auch, Poppy Maysen.«
Er beugte sich vor und streifte meine Lippen mit seinen, neckte mich ganz kurz spielerisch mit der Zunge, bevor er zurücktrat und mich losließ.
»Ich hole dir die Liste für den Getränkemarkt.« Ich hüpfte von der Arbeitsplatte und holte den Klebezettel, den ich vorhin geschrieben hatte.
»Okay. Bin bald zurück.« Jamie steckte die Liste in die Tasche und küsste mich auf den Scheitel, bevor er zur Tür hinausging.
Drei Stunden später war Jamie noch immer nicht wieder da. Jedes Mal, wenn ich ihn auf dem Handy anrief, klingelte es und klingelte und klingelte, bis die Mailbox ranging. Ich gab mir größte Mühe, den Knoten in meinem Magen zu ignorieren. Wahrscheinlich war er nur einkaufen. Jede Minute würde er nach Hause kommen, und wir würden zum Essen ausgehen. Ich kannte Jamie, er hatte sicher nur die Zeit vergessen oder einen Freund getroffen und sie waren ein Bier trinken gegangen.
Es geht ihm gut.
Eine Stunde später war er immer noch nicht zu Hause. »Jamie«, fragte ich seine Mailbox. »Wo bist du? Es wird langsam spät, und ich dachte, wir wollten essen gehen. Hast du dein Handy verloren oder so was? Komm nach Hause oder ruf mich zurück. So langsam mache ich mir Sorgen.«
Ich legte auf und tigerte in der Küche auf und ab. Es geht ihm gut. Es geht ihm gut.
Eine Stunde später hatte ich ihm noch fünf Nachrichten auf die Mailbox gesprochen und mir alle Fingernägel abgeknabbert. Noch eine Stunde später hatte ich fünfzehn Nachrichten hinterlassen und angefangen, die Krankenhäuser anzurufen.
Als ich gerade die Telefonnummer der nächsten Polizeidienststelle heraussuchte, klingelte es an der Haustür. Ich warf mein Handy auf die Wohnzimmercouch und rannte zur Tür, aber beim Anblick einer Uniform hinter der Milchglasscheibe blieben meine Füße wie angewurzelt stehen.
O Gott. Mir drehte sich der Magen um. Bitte, mach, dass es ihm gut geht!
Ich öffnete die Tür und trat auf die Veranda hinaus. »Officer.«
Der Polizist stand sehr aufrecht, die Haltung makellos, aber seine grünen Augen verrieten ihn. Er wollte genauso wenig an meine Tür klopfen, wie ich ihn auf meiner Veranda sehen wollte.
»Ma’am. Sind Sie Poppy Maysen?«
Ich würgte ein Ja heraus, bevor mein Mageninhalt nach oben wollte.
Der Cop sackte ein kleines bisschen in sich zusammen. »Mrs Maysen, es tut mir leid, ich habe schlechte Nachrichten. Möchten Sie gern hineingehen und sich setzen?«
Ich schüttelte den Kopf. »Geht es um Jamie?«
Er nickte langsam, und der Druck auf meine Brust wurde so schlimm, dass ich keine Luft mehr bekam. Mein Herz hämmerte so sehr, dass mir die Rippen wehtaten.
»Sagen … sagen Sie es mir einfach«, flüsterte ich.
»Sind Sie allein hier? Soll ich jemanden anrufen?«
Wieder schüttelte ich den Kopf. »Sagen Sie es mir bitte.«
Er holte tief Luft. »Ich muss Ihnen leider sagen, Mrs Maysen, dass Ihr Ehemann heute ums Leben gekommen ist.«
Jamie ging es nicht gut.
Der Cop sprach weiter, aber seine Worte wurden vom Krachen meines zersplitternden Herzens übertönt.
An viel mehr von diesem Abend erinnere ich mich nicht. Ich weiß noch, dass mein Bruder rüberkam und dass er Jamies Eltern anrief, um ihnen zu sagen, dass ihr Sohn nicht mehr auf der Welt war – dass er bei einem Raubüberfall auf den Getränkemarkt umgebracht wurde.
Ich weiß noch, dass ich mir wünschte, ich wäre auch tot.
Und ich weiß noch, dass der Polizist die ganze Zeit bei mir saß.
30. Geburtstag:Restaurant für Poppy kaufen
1 »Bist du bereit?«, fragte Molly.
Ich schaute mich lächelnd in dem luftigen, offenen Raum um. »Ja. Ich glaube schon.«
Mein Restaurant, das Maysen Jar, würde morgen eröffnen.
Mein Kindheitstraum – den Jamie mit mir geteilt hatte – wurde endlich wahr.
Das Maysen Jar, einst eine alte Autowerkstatt, war jetzt das neueste Café in Bozeman, Montana. Ich hatte ein heruntergekommenes, verlassenes Gebäude in meine Zukunft verwandelt.
Die Zementfußböden voller Ölflecken waren Vergangenheit. Jetzt gab es hier einen Fischgrat-Fußboden aus Nussbaumholz. Die schmuddeligen Werkstatttüren hatte ich ersetzen lassen: Besucher kamen jetzt an einer verglasten Front mit schwarzen Sprossenfenstern vorbei. Und jahrzehntealte Schmiere, Schmutz und Öl waren weggeschrubbt. Die ursprünglichen roten Ziegelmauern waren sauber und wieder wie neu und die hohen Fabrikbaudecken frisch weiß gestrichen. Tschüss, Radkappen und Schraubenschlüssel. Hallo, Löffel und Gabeln.
»Ich habe nachgedacht.« Molly rückte schon zum vierten Mal den Stapel mit den Speisekarten zurecht. »Wir sollten den Radiosender anrufen, vielleicht könnten sie einen kleinen Bericht ausstrahlen oder ankündigen, dass du eröffnet hast. Wir haben die Werbung in der Zeitung, aber Radio wäre vielleicht auch gut.«
Ich rückte das Glas mit den Stiften neben der Kasse gerade. »Okay. Ich rufe sie morgen an.«
Wir standen nebeneinander hinter dem Tresen an der Rückseite des Raums. Beide fingerten wir nervös an Dingen herum, die schon hübsch dekoriert waren, und rückten andere gerade, die schon lange gerade standen – bis ich laut aussprach, was wir beide dachten: »Ich bin nervös.«
Molly griff auf dem Tresen nach meiner Hand. »Du machst das großartig. Der Laden ist ein Traum, und ich werde jeden Schritt des Weges hier bei dir sein.«
Ich lehnte mich mit der Schulter an sie. »Danke. Für alles. Dass du mir hilfst, das hier auf den Weg zu bringen. Dass du meine Geschäftsführerin bist. Ohne dich wäre ich nicht so weit gekommen.«
»Doch, das wärst du, aber ich freue mich, dass ich dazugehöre.« Sie drückte meine Hand, bevor sie losließ und mit den Fingern über den schwarzen Marmortresen strich. »Ich habe …«
Die Eingangstür öffnete sich, und ein älterer Mann mit einem Gehstock kam hereingeschlurft. Im Türrahmen blieb er stehen und ließ den Blick über die schwarzen Tische und Stühle in dem offenen Raum schweifen, bis er Molly und mich bemerkte.
»Hallo«, rief ich. »Kann ich Ihnen helfen?«
Er nahm seine graue Schiebermütze ab und klemmte sie sich unter den Arm. »Ich schau nur.«
»Entschuldigen Sie, Sir«, sagte Molly, »aber wir eröffnen erst morgen.«
Er ignorierte sie und machte sich schlurfend auf den Weg den Mittelgang entlang. Mein Restaurant war nicht sehr groß. Die Werkstatt selbst hatte nur aus zwei Werkplätzen bestanden, und für den Weg von der Eingangstür bis zum Tresen brauchte ich genau siebzehn Schritte. Bei diesem Mann jedoch wirkte die Reise, als durchquerte er die Sahara. Jeder Schritt war klein, und er blieb mehrmals stehen, um sich umzuschauen. Aber irgendwann kam er am Tresen an und nahm auf einem der Barhocker aus Holz vor Molly Platz.
Als ihr Blick aus großen braunen Augen meinen traf, zuckte ich nur mit den Achseln. Ich hatte alles in dieses Restaurant gesteckt, was ich besaß – Herz, Seele und Brieftasche –, und konnte es mir nicht leisten, potenzielle Kunden abzuweisen, selbst wenn wir noch gar nicht eröffnet hatten.
»Was kann ich für Sie tun, Sir?«
Er griff sich eine Speisekarte und brachte Mollys ganzen schönen Stapel durcheinander, als er sie zu sich herüberzog.
Als ich Mollys finsteren Blick sah, musste ich ein Lachen unterdrücken. Es juckte sie in den Fingern, die Speisekarten wieder zu ordnen, aber sie hielt sich zurück und beschloss stattdessen zu gehen. »Ich glaube, ich schaue mal hinten, was noch zu machen ist.«
»Okay.«
Sie drehte sich um und verschwand durch die Schwingtür in die Küche. Als sich die Tür hinter ihr schloss, konzentrierte ich mich auf den Mann, der anscheinend gerade die Speisekarte auswendig lernte.
»Essen im Glas?«, fragte er.
Ich grinste. »Ja, in Einmachgläsern. Sie wissen schon, die Mason Jar-Einmachgläser. Fast alles hier wird darin zubereitet und serviert.« Abgesehen von ein paar Sandwiches und Gebäckteilchen fürs Frühstück hatte ich eine Speisekarte entwickelt, bei der Einmachgläser im Mittelpunkt standen.
Genau genommen war es Jamies Idee gewesen, Einmachgläser zu benutzen. Kurz nach unserer Hochzeit hatte ich mit Rezepten experimentiert. Es war zwar immer mein Traum gewesen, ein Restaurant zu eröffnen, aber ich hatte nie genau gewusst, was ich ausprobieren wollte. Bis zu dem Abend, als ich mit Ideen herumspielte, die ich auf Pinterest gefunden hatte. Ich machte leckere Apfelkuchen in winzigen Gläsern, und Jamie war völlig hin und weg. Wir verbrachten den Rest der Nacht damit, Ideen für ein Restaurant rund um das Thema Einmachgläser zu entwickeln.
Jamie, du wärst so stolz, wenn du es sehen könntest. In meiner Nase begann das nur allzu vertraute Kribbeln, aber ich rubbelte es weg und konzentrierte mich auf meinen ersten Kunden, statt mich in der Vergangenheit aufzuhalten.
»Möchten Sie gern etwas probieren?«
Er antwortete nicht. Er legte nur die Speisekarte hin und starrte auf die Schiefertafel und die Regale hinter mir. »Sie haben es falsch geschrieben.«
»Na ja, mein Nachname ist Maysen, genauso geschrieben wie der Name des Restaurants.«
»Hm«, brummelte er, ganz eindeutig nicht besonders beeindruckt von meiner Pfiffigkeit.
»Wir eröffnen zwar erst morgen, aber wie wäre es mit einer Kostprobe? Auf Kosten des Hauses?«
Er zuckte die Achseln.
Ich ließ mich von seiner mangelnden Begeisterung und allgemeinen Miesepetrigkeit nicht beeindrucken, ging zu der Kühlauslage neben der Kasse und holte Jamies Lieblingskuchen heraus. Ich stellte ihn in den Backofen und legte dann einen Löffel und eine Serviette vor den Mann hin, während er weiterhin prüfend den Raum musterte.
Ohne auf seine finstere Miene zu achten, wartete ich, bis der Kuchen fertig war, und ließ ebenfalls den Blick wandern. Vor Stolz schwoll mir die Brust. Gerade an diesem Morgen hatte ich allem noch den letzten Schliff gegeben: Ich hatte die letzten Bilder aufgehängt und auf jeden Tisch eine frische Blume gestellt. Es war schwer zu glauben, dass das die Werkstatt sein sollte, die ich vor einem Jahr betreten hatte, dass ich es geschafft hatte, dass es hier nicht mehr nach Benzin stank, sondern nach Gebäck und Leckereien duftete.
Egal, was mit dem Maysen Jar passierte – ob es völlig unterging oder sein Erfolg meine wildesten Träume überstieg –, ich würde immer stolz darauf sein, was ich hier geleistet hatte.
Stolz und dankbar.
Ich hatte fast vier Jahre gebraucht, um unter der Last der Trauer um Jamies Tod hervorzukriechen.
Vier Jahre, bis der schwarze Nebel von Schmerz und Verlust zu Grau verblasst war. Das Maysen Jar hatte mir im letzten Jahr eine Aufgabe gegeben. Hier war ich nicht nur eine neunundzwanzigjährige Witwe, die sich mit Mühe durch jeden Tag kämpfte. Hier war ich Geschäftsinhaberin und Unternehmerin. Ich hatte mein Leben und mein Schicksal selbst in der Hand.
Das Klingeln des Ofens riss mich aus meinen Gedanken. Ich zog einen Ofenhandschuh über und holte das kleine Glas heraus, atmete den Duft von Äpfeln, Butter und Zimt tief ein. Dann ging ich zum Kühlschrank und holte meine Lieblingseiscreme mit echter Vanille heraus und gab einen Klacks davon auf die gitterförmige Kruste des Apfelkuchens.
Das heiße Glas wickelte ich in eine schwarze Stoffserviette und schob es dann vor den mürrischen alten Mann.
»Guten Appetit!« Ich unterdrückte ein selbstzufriedenes Grinsen. Beim ersten Bissen von diesem Kuchen würde er überzeugt sein.
Er beäugte ihn lange von allen Seiten, bevor er den Löffel in die Hand nahm. Doch mit dem ersten Bissen entschlüpfte ihm unwillkürlich ein genießerisches Brummen.
»Das hab ich gehört!«, neckte ich ihn.
Er grummelte etwas vor sich hin, bevor er einen weiteren dampfenden Bissen nahm. Und dann noch einen. Der Kuchen hielt nicht lange; er verschlang ihn, während ich vorgab, sauber zu machen.
»Danke«, sagte er leise.
»Gern geschehen.« Ich nahm sein leeres Geschirr und stellte es in eine Plastikwanne. »Möchten Sie gern einen mitnehmen? Vielleicht als Nachtisch nach dem Abendessen?«
Er zuckte mit den Schultern.
Das interpretierte ich als ein Ja und packte ihm eine kleine Tüte, diesmal mit Blaubeer-Crumble statt Apfelkuchen. Ich steckte eine Speisekarte und die Anleitung fürs Aufwärmen mit hinein und stellte die braune Papiertüte neben ihm auf den Tresen.
»Wie viel?« Er griff nach seiner Brieftasche.
Ich winkte ab. »Das geht aufs Haus. Ein Geschenk von mir für Sie als meinem ersten Kunden, Mister …«
»James. Randall James.«
Bei dem Namen zuckte ich innerlich zusammen – wie immer, wenn ich den Namen Jamie oder eine ähnliche Version davon hörte –, ließ es aber an mir abperlen, froh, dass es besser wurde. Vor fünf Jahren wäre ich in Tränen ausgebrochen. Jetzt war der Stich zu verkraften.
Randall öffnete die Papiertüte und schaute hinein. »Sie geben den Leuten die Sachen im Glas mit?«
»Ja, das Glas gehört dazu. Wenn Sie es mir wiederbringen, bekommen Sie auf den nächsten Kauf einen Rabatt.«
Er schloss die Tüte wieder und murmelte: »Mhm.«
Einen Moment lang sahen wir uns schweigend an; mit jeder verrinnenden Sekunde wurde es immer peinlicher, aber ich lächelte weiter.
»Sind Sie von hier?«, fragte er schließlich.
»Ich wohne seit dem College in Bozeman, aber nein, ich bin in Alaska aufgewachsen.«
»Gibt’s da oben im Norden auch solche schicken Restaurants mit Einmachgläsern?«
Ich lachte. »Nicht, dass ich wüsste, aber ich war auch schon seit einer Weile nicht mehr zu Hause.«
»Mhm.«
Mhm. Ich nahm mir vor, nie wieder mit »Mhm« zu antworten. Bis ich Randall James kennenlernte, war mir nie klar gewesen, wie sehr das nervte.
Wieder breitete sich Schweigen zwischen uns aus. Molly rumorte in der Küche; wahrscheinlich räumte sie den Geschirrspüler aus, aber so gern ich ihr da drin helfen wollte – ich konnte Randall nicht hier draußen allein lassen.
Ich schaute auf die Uhr. Ich hatte heute Abend etwas vor, musste aber vorher noch die Quiches fürs Frühstück vorbereiten. Hier herumzustehen, während Randall mein Restaurant musterte, hatte ich nicht eingeplant.
»Ich, ähm …«
»Ich habe das hier gebaut.«
Seine Unterbrechung überraschte mich. »Die Werkstatt?«
Er nickte. »Hab für die Baufirma gearbeitet, die sie damals in den Sechzigern gebaut hat.«
Jetzt ergab seine Inspektion Sinn. »Und was halten Sie davon?«
Normalerweise waren mir die Meinungen anderer nicht so wichtig – vor allem nicht die eines verschrobenen Fremden –, aber aus irgendeinem Grund wollte ich Randalls Bestätigung. Er war der erste Mensch hier im Restaurant, der nicht zur Familie oder zu meinem Bautrupp gehörte. Eine positive Meinung eines Außenstehenden würde meine Stimmung für die Eröffnung noch einmal anheben.
Doch meine Laune ging in den Keller, als Randall ohne ein Wort seine Mütze aufsetzte und vom Barhocker rutschte. Er hängte sich die Papiertüte ans Handgelenk und nahm mit der anderen seinen Stock. Dann begann er seine langsame Reise zur Tür.
Vielleicht war mein Apfelkuchen doch nicht so magisch, wie Jamie dachte.
Als Randall an der Tür stehen blieb, schöpfte ich neue Hoffnung, wartete auf irgendein Zeichen, dass es ihm hier gefallen hatte.
Er schaute über die Schulter und zwinkerte. »Viel Glück, Ms Maysen.«
»Danke, Mr James.« Ich hielt die Arme an die Seiten gepresst, bis er sich umdrehte und durch die Tür ging. Sobald er außer Sicht war, riss ich die Arme in die Höhe und murmelte ein lautloses: Yes!
Ich wusste nicht, ob ich Randall James je wiedersehen würde, aber ich nahm seinen Abschiedsgruß als den Segen, nach dem ich mich gesehnt hatte.
Es würde funktionieren. Das Maysen Jar würde ein Erfolg werden.
Ich spürte es in den Knochen.
Keine halbe Minute nachdem Randall verschwunden war, flog die Tür wieder auf. Diesmal kam ein kleines Mädchen hereingestürmt. »Tante Poppy!«
Ich eilte um den Tresen herum und kniete mich, bereit für den Aufprall, hin. »Kali, mein Kätzchen! Wo bleibt meine Umarmung?«
Kali, meine vierjährige Nichte, kicherte. Ihr rosa Kleid wehte hinter ihr her, als sie auf mich zurannte. Ihre braunen Locken – wie die von Molly – hüpften auf ihren Schultern, als sie in meine Arme flog. Ich küsste sie auf die Wange und kitzelte sie an den Seiten, ließ sie aber schnell wieder los, denn ich wusste, sie kam nicht meinetwegen.
»Wo ist Mommy?«
Ich nickte nach hinten. »In der Küche.«
»Mommy!«, schrie sie, während sie auf der Suche nach Molly weiterrannte.
Ich stand auf, als die Tür auch schon wieder klingelte und mein Bruder Finn mit dem zweijährigen Max auf dem Arm eintrat.
»Hi.« Er durchquerte den Raum und zog mich mit dem freien Arm an sich. »Wie geht’s dir?«
»Prima.« Ich drückte seine Taille, dann stellte ich mich auf die Zehenspitzen, um meinem Neffen die Wange zu küssen. »Und dir?«
»Gut.«
Finn ging es alles andere als gut, aber ich sagte nichts. »Möchtest du etwas zu trinken? Ich mache dir deinen Lieblings-Karamell-Latte.«
»Klar.« Er nickte und setzte Max ab, als Molly und Kali aus der Küche kamen.
»Mommy!« Max’ ganzes Gesicht leuchtete auf, und er watschelte auf seine Mutter zu.
»Max!« Sie nahm ihn hoch, küsste ihn auf die Pausbacken und drückte ihn an sich. »Ach, ich hab dich vermisst, mein Schatz. War es schön bei Daddy?«
Max erwiderte nur ihre Umarmung, während sich Kali an ihr Bein klammerte.
Finns und Mollys Scheidung war für die Kinder hart gewesen. Ihre Eltern unglücklich zu sehen und ihre Zeit zwischen zwei Wohnungen aufzuteilen war nicht spurlos an ihnen vorbeigegangen.
»Hi, Finn. Wie geht’s dir?« Mollys Stimme war voller Hoffnung auf wenigstens eine kleine nette Geste.
»Gut«, antwortete er kurz angebunden.
Ihr Lächeln schwand, als er sich weigerte, sie anzusehen, aber sie erholte sich schnell und konzentrierte sich auf ihre Kinder. »Na kommt, wir holen meine Sachen aus dem Büro, und dann können wir nach Hause gehen und vor dem Abendessen noch was spielen.«
Ich winkte. »Wir sehen uns morgen.«
Sie nickte und strahlte mich an. »Ich kann es kaum erwarten. Das wird großartig, Poppy. Ich weiß es einfach.«
»Danke.« Ich lächelte meiner besten Freundin und Ex-Schwägerin zum Abschied zu.
Molly warf einen Blick zurück zu Finn, wartete auf eine Reaktion von ihm, aber er weigerte sich. Er küsste seine Kinder zum Abschied, drehte seiner Ex-Frau dann den Rücken zu und setzte sich auf den Hocker, den Randall verlassen hatte.
»Tschüss, Finn«, flüsterte Molly, dann führte sie die Kinder nach hinten durch die Küche in das kleine Büro.
Sobald wir hörten, wie sich die Tür schloss, rieb sich Finn ächzend mit den Händen das Gesicht. »Das ist so eine Scheiße!«
»Tut mir leid.« Ich tätschelte seinen Arm und ging dann wieder hinter den Tresen, um seinen Kaffee zu machen.
Die Scheidung war erst vier Monate her, und beide hatten Mühe, sich an das neue Normal zu gewöhnen, das aus getrennten Wohnungen, Betreuungszeitplänen und unangenehmen Begegnungen bestand. Das Schlimmste daran war, dass sie einander immer noch liebten. Molly tat, was sie konnte, um auch nur ein Fitzelchen Vergebung von Finn zu bekommen. Finn tat, was er konnte, um sie büßen zu lassen.
Und als Mollys beste Freundin und Finns Schwester steckte ich dazwischen und versuchte, ihnen beiden gleich viel Liebe und Unterstützung zu geben.
»Ist alles bereit für morgen?« Finn stützte die Ellbogen auf den Tresen und schaute mir zu, wie ich seinen Latte macchiato zubereitete.
»Ja. Ich muss nur noch ein paar Sachen für die Frühstücksspeisekarte fertig machen, dann bin ich so weit.«
»Möchtest du heute Abend was mit mir essen? Ich kann hier warten, bis du fertig bist.«
Meine Schultern verkrampften, und ich drehte mich nicht um. »Ähm, ehrlich gesagt habe ich heute Abend schon was vor.«
»Ehrlich? Was denn?«
Die Überraschung in seiner Stimme kam nicht unerwartet. In den fünf Jahren seit Jamies Tod hatte ich selten Pläne gemacht, die nichts mit ihm oder Molly zu tun hatten. Den Kontakt zu unseren Freunden vom College hatte ich mehr oder weniger verloren. Die einzige Freundin, mit der ich noch sprach, war Molly. Und was einer neuen Freundschaft in letzter Zeit am nächsten kam, war kurz zuvor mein Gespräch mit Randall gewesen.
Finn war vermutlich begeistert, weil er dachte, ich würde etwas Geselliges machen und vielleicht die Fühler ausstrecken, was nicht ganz falsch war. Aber meine Pläne würden meinem Bruder nicht gefallen.
»Ich gehe in eine Karatestunde«, platzte ich heraus, während ich begann, seine Milch aufzuschäumen. Ich konnte sein Stirnrunzeln in meinem Rücken fast spüren, und natürlich war es noch da, als ich ihm seinen fertigen Kaffee servierte.
»Poppy, nein. Hatten wir nicht über die Sache mit der Liste geredet und dass du sie aufgeben solltest?«
»Wir haben darüber geredet, aber ich erinnere mich nicht, dass ich dir zugestimmt hätte.«
Finn fand meinen Wunsch, Jamies Geburtstagsliste abzuarbeiten, ungesund.
Ich fand es nötig.
Denn indem ich Jamies Liste abhakte, konnte ich vielleicht einen Weg finden, ihn gehen zu lassen.
Finn schnaubte und fing sofort wieder unseren üblichen Streit an: »Es könnte Jahre dauern, bis du mit der Liste durch bist!«
»Und was wäre dann?«
»Wenn du seine Liste abarbeitest, bringt ihn das nicht zurück. So klammerst du dich nur an die Vergangenheit. Du wirst nie nach vorn blicken können, wenn du ihn nicht gehen lässt. Er ist nicht mehr da, Poppy.«
»Ich weiß, dass er nicht mehr da ist!«, schnauzte ich. In meiner Kehle brannten schon die Tränen. »Ich bin mir sehr wohl dessen bewusst, dass Jamie nicht zurückkommt, aber das ist meine Entscheidung. Ich möchte seine Wünsche erfüllen, und du könntest mich wenigstens ein bisschen unterstützen. Abgesehen davon musst du gerade reden. Von wegen nach vorn blicken und so.«
»Das ist was anderes«, konterte er.
»Ach ja?«
Wir starrten uns in die Augen, meine Brust hob und senkte sich mühsam, während ich mich weigerte zu blinzeln.
Finn gab als Erster nach und ließ die Schultern hängen. »Es tut mir leid. Ich will doch nur, dass du glücklich bist.«
Ich trat an den Tresen und legte die Hand auf seine. »Ich weiß, aber bitte versuch zu verstehen, warum ich das tun muss.«
Er schüttelte den Kopf. »Ich kapier’s nicht. Ich weiß nicht, warum du dir das alles antun willst. Aber du bist meine Schwester, und ich liebe dich, also werde ich es versuchen.«
»Danke.« Ich drückte seine Hand. »Ich möchte auch, dass du glücklich bist. Vielleicht solltest du, statt mit mir zu essen, zu Molly gehen? Ihr könntet versuchen zu reden, wenn die Kinder im Bett sind.«
Er schüttelte den Kopf, und eine rostrote Locke fiel ihm in die Augen, während er zur Tischplatte sagte: »Ich liebe sie. Ich werde sie immer lieben, aber ich kann ihr nicht verzeihen, was sie getan hat. Ich … kann einfach nicht.«
Ich wünschte, er würde sich mehr Mühe geben. Es war schrecklich, meinen Bruder so untröstlich zu sehen. Molly auch. Ich würde sofort jede Chance ergreifen, Jamie zurückzubekommen, ganz egal, welche Fehler er gemacht hätte.
»Karate also?«, wechselte Finn das Thema. Er mochte nicht viel davon halten, dass ich Jamies Liste abarbeitete, aber er wollte immer noch lieber darüber sprechen als über seine gescheiterte Ehe.
»Karate, genau. Ich habe heute Abend einen Termin für eine Probestunde.« Es war wahrscheinlich ein Fehler, am Abend vor der großen Eröffnung ein anstrengendes körperliches Training zu absolvieren, aber ich wollte es erledigen, bevor das Restaurant eröffnete und ich zu viel zu tun hatte – oder mich davor drückte.
»Dann kannst du morgen wohl zwei Sachen von der Liste streichen: dieses Restaurant eröffnen und eine Karatestunde nehmen.«
»Jetzt, wo du es sagst …« Ich hob den Zeigefinger, dann ging ich zur Kasse, neben der meine übergroße Handtasche stand. Ich wühlte darin herum, bis meine Finger Jamies Ledernotizbuch fanden. »Den Punkt mit dem Restaurant hake ich heute schon ab.«
Ich hatte noch nicht viele Punkte auf Jamies Liste gestrichen, aber jedes Mal, wenn ich es tat, öffneten sich die Schleusen. Die Restauranteröffnung morgen würde einer meiner stolzesten Momente werden, und ich wollte ihn nicht tränenüberströmt erleben.
»Würdest du mir dabei helfen?«, fragte ich.
Er lächelte. »Du weißt, dass ich immer für dich da bin, egal, was du brauchst.«
Das wusste ich.
Finn hatte mich in den letzten fünf Jahren zusammengehalten. Ohne ihn hätte ich Jamies Tod nicht überlebt, glaube ich.
»Okay.« Ich holte zittrig Luft, dann zog ich einen Stift aus dem Glas neben der Kasse. Ich blätterte zu der Seite für den dreißigsten Geburtstag und malte sorgfältig ein Häkchen in das kleine Viereck in der oberen rechten Ecke.
Jamie hatte jedem Geburtstag eine Seite in dem Notizbuch gewidmet. Er hatte ein bisschen Platz für Notizen über seine Erlebnisse lassen wollen oder um Fotos einzukleben. Er würde diese Seiten nie füllen, und obwohl jetzt ich seine Liste abarbeitete, brachte ich es selbst auch nicht über mich. Also hakte ich nur das Kästchen ab, wenn ich einen Punkt erledigt hatte, und ignorierte die Zeilen, die für immer leer bleiben würden.
Erwartungsgemäß brach ein Schluchzen aus mir heraus, sobald ich das Notizbuch schloss. Bevor die erste Träne fiel, hatte Finn schon den Tresen umrundet und zog mich in seine Arme.
Ich vermisse dich, Jamie. Ich vermisste ihn so sehr, dass es wehtat. Es war nicht fair, dass er seine Liste nicht selbst erleben konnte. Es war nicht fair, dass sein Leben zu früh enden musste, weil ich ihn um eine blöde Erledigung gebeten hatte. Es war nicht fair, dass der Mensch, der für seinen Tod verantwortlich war, immer noch frei herumlief.
Es war nicht fair.
Die Flut der Gefühle riss mich fort, und ich ließ sie ganz in das dunkelblaue Hemd meines Bruders fließen.
»Bitte, Poppy«, flüsterte Finn in meine Haare. »Bitte denk darüber nach, mit diesem Listending aufzuhören. Ich finde es furchtbar, dass es dich zum Weinen bringt.«
Ich schniefte und wischte mir die Augen ab, kämpfte mit aller Kraft um Fassung. »Ich muss«, hickste ich. »Ich muss das machen. Und wenn es mich Jahre kostet.«
Finn antwortete nicht, er drückte mich nur fester.
Wir umarmten uns einige Minuten, bis ich mich zusammenriss und einen Schritt rückwärts machte. Weil ich das Mitgefühl in seinen Augen nicht sehen wollte, schaute ich mich im Restaurant um. Das Restaurant, das ich nur wegen des Geldes aus Jamies Lebensversicherung hatte kaufen können.
»Glaubst du, es hätte ihm gefallen?«
Finn legte mir den Arm um die Schultern. »Er hätte es geliebt. Und er wäre sehr stolz auf dich.«
»Das war der einzige Punkt auf seiner Liste, der nicht für ihn selbst war.«
»Ich glaube, da irrst du dich. Ich glaube, er hat es sehr wohl für sich selbst aufgeschrieben. Deine Träume zu ermöglichen war Jamies größte Freude.«
Ich lächelte. Finn hatte recht. Jamie hätte das alles hier großartig gefunden. Ja, es war mein Traum, aber es wäre auch seiner gewesen.
Ein letztes Mal wischte ich mir über die Augen, dann steckte ich das Notizbuch weg. »Ich mache mal besser meine Sachen fertig, damit ich in die Karatestunde komme.«
»Ruf mich hinterher an, wenn du möchtest. Ich bin ganz einfach daheim. Allein.«
»Wie ich schon sagte, du kannst jederzeit zum Abendessen mit deiner Familie gehen.« Er schoss einen finsteren Blick auf mich ab, und ich hob die Hände. »Nur so ein Gedanke.«
Finn küsste mich auf die Wange und nahm noch einen großen Schluck von seinem Kaffee. »Dann gehe ich mal.«
»Aber du kommst morgen vorbei?«
»Das lasse ich mir um nichts auf der Welt entgehen. Bin stolz auf dich, Schwesterherz.«
Ich war auch stolz auf mich. »Danke.«
Wir gingen gemeinsam zur Tür, dann schloss ich hinter ihm ab, bevor ich in die Küche zurückeilte. Ich machte mich ans Kochen, produzierte ein Tablett Quiches, die über Nacht in den Kühlschrank und am Morgen frisch aufgebacken werden sollten. Als meine Uhr piepste, kurz nachdem ich das Tablett in die Kühlung geschoben hatte, holte ich tief Luft.
Karate.
Ich würde an diesem Abend zum Karate gehen. Ich selbst hatte kein Interesse daran, Kampfsport auszuprobieren, aber ich würde es tun. Für Jamie.
Also eilte ich ins Bad, tauschte die Jeans und das weiße Top gegen schwarze Leggins und ein kastanienbraunes Tanktop. Ich band meine langen roten Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen, der mir bis über den Sport-BH hing, bevor ich meine dunkelgrauen Tennisschuhe anzog und durch die Hintertür hinausging.
Ich brauchte nicht lange bis zur Karateschule. Bozeman war die am schnellsten wachsende Stadt in Montana und hatte sich sehr verändert, seit ich fürs College hergezogen war, aber man brauchte mit dem Auto immer noch nicht länger als zwanzig Minuten, um vom einen Ende zum anderen zu kommen – vor allem im Juni, wenn Semesterferien waren.
Auf dem Parkplatz fühlte ich mich, als hätte sich mein Magen verknotet. Mit zitternden Händen stieg ich aus meiner grünen Limousine und betrat das graue Ziegelgebäude.
»Hi!«, begrüßte mich eine blonde Teenagerin hinter dem Empfangstresen. Sie konnte nicht älter als sechzehn sein und trug einen schwarzen Gürtel um ihren weißen Anzug.
»Hi«, flüsterte ich.
»Sind Sie für eine Probestunde hier?«
Ich nickte und fand meine Stimme wieder. »Ja, ich habe vor ein paar Tagen angerufen. Ich weiß nicht mehr, mit wem ich gesprochen habe, aber er sagte, ich könne heute Abend einfach vorbeikommen und es mal versuchen.«
»Super! Ich hole Ihnen eine Verzichtserklärung. Kurzen Moment.« Sie verschwand im Büro hinter dem Empfangstresen.
Ich nutzte den freien Moment, um mich umzuschauen. Die Regale hinter dem Tresen waren mit Pokalen gefüllt. Gerahmte Urkunden, sowohl auf Englisch als auch auf Japanisch, hingen in ordentlichen Reihen an den Wänden. Im Rest des Vorraums waren überall Fotos von glücklichen Schülern verteilt.
Hinter dem Empfangsbereich sah ich ein breites Podest, darauf Eltern auf Klappstühlen. Stolze Mütter und Väter saßen vor einer Glasfront mit Blick auf einen Klassenraum voller Kinder. Die Kleinen in weißen Anzügen und gelben Gürteln übten Schläge und Tritte – einige koordinierter als andere, aber alle ziemlich putzig.
»So, bitte schön.« Die blonde Teenagerin kam mit einem schmalen Stapel Papieren und einem Stift zurück.
»Danke.« Ich machte mich an die Arbeit, füllte die Felder mit meinen Daten aus und unterschrieb an den nötigen Stellen, dann gab ich ihr den Stapel zurück. »Muss ich mich, ähm, umziehen?« Ich warf einen Blick auf meine Sportklamotten hinab; neben all den weißen Anzügen fühlte ich mich deplatziert.
»Für heute Abend ist das in Ordnung. Sie können einfach das hier tragen, und wenn Sie sich entscheiden, mehr Stunden zu nehmen, können wir Ihnen einen Gi besorgen.« Sie zupfte am Kragen ihres Anzugs. »Ich führe Sie kurz rum.«
Ich holte tief Luft und lächelte einigen der Eltern zu, die mich bemerkt hatten und sich umdrehten. Dann gesellte ich mich auf der anderen Seite der Rezeption zu dem Mädchen und folgte ihm durch einen Torbogen in einen Warteraum. Sie ging schnurstracks an dem offenen Bereich vorbei und direkt durch die Tür, auf der Ladys stand.
»Sie können hier irgendeinen von den Haken und Kleiderbügeln benutzen. Im Dojo tragen wir keine Schuhe, die können Sie also mit Ihrem Schlüssel in einem Regalfach lassen. Wie Sie sehen, gibt es keine Schließfächer.« Sie lachte. »Aber niemand wird Ihnen etwas klauen. Nicht hier.«
»Okay.« Ich streifte die Schuhe ab und legte sie mit meinem Autoschlüssel in ein freies Fach.
Verdammt. Ich hätte mir die Zehennägel lackieren sollen. Das Rot, das ich vor Wochen ausgesucht hatte, war jetzt abgesplittert und stumpf.
»Ich bin übrigens Olivia.« Sie beugte sich zu mir und flüsterte: »Wenn wir hier drin sind, können Sie mich einfach Olivia nennen, aber im Wartebereich oder Dojo sollten Sie mich immer Olivia Sensei nennen.«
»Verstanden. Danke.«
»Das Kindertraining ist in ein paar Minuten zu Ende.« Olivia führte mich wieder hinaus in den Wartebereich. »Sie können einfach hierbleiben, bis wir anfangen.«
»Okay. Danke noch mal.«
Sie lächelte und verschwand dann wieder nach vorn zum Empfangsbereich.
Ich stand schweigend in dem Warteraum und versuchte, mich den weißen Wänden anzupassen, während ich in das Dojo spähte.
Der Kurs war vorbei, und die Kinder stellten sich in einer Reihe auf, um sich vor ihren Lehrern zu verneigen. Senseis. Ein kleiner Junge wackelte mit den Zehen auf den blauen Matten, mit denen der Boden ausgelegt war. Zwei kleine Mädchen flüsterten und kicherten. Ein Lehrer rief sie zur Ordnung, und sofort streckten alle Kinder den Rücken. Dann verbeugten sie sich vor den Senseis und einer Reihe Spiegeln an der hinteren Wand.
Als die Kinder aus ihrer Unterrichtsstunde entlassen wurden und herausströmten, brandeten Gelächter und fröhliches Geschrei im Raum auf. Die meisten gingen ohne einen Blick an mir vorbei, um ihre Eltern zu suchen oder sich umzuziehen.
Meine Nervosität stieg, als sich der Trainingsraum leerte, denn ich wusste, jetzt war es beinahe Zeit, dass ich hineinging. Weitere erwachsene Schüler betraten die Umkleidekabinen oder kamen heraus, und mir war jetzt noch bewusster, dass ich heute Abend die Einzige sein würde, die nicht Weiß trug.
Ich hasste es, neu zu sein. Manche Leute genossen den Nervenkitzel eines ersten Schultages oder einer neuen Arbeitsstelle, aber ich nicht. Ich mochte das nervöse Kribbeln in meinen Fingern nicht. Und ich wollte mich heute Abend wirklich nicht blamieren.
Fall einfach nicht hin.
Das war eines von zwei Zielen für heute Abend: überleben und in der Senkrechten bleiben.
Ich lächelte einer anderen Schülerin zu, die aus der Umkleide trat. Sie winkte, ging dann aber zu einem Männergrüppchen an der anderen Wand hinüber.
Da ich die Erwachsenen nicht belauschen wollte, beobachtete ich die Kinder, wie sie um mich herumwuselten, bis im Vorraum Unruhe entstand.
Wild entschlossen, keine Furcht zu zeigen, egal, wer da auf mich zukam, zwang ich meine Mundwinkel nach oben. Sie fielen wieder herunter, als ein Mann den Wartebereich betrat.
Ein Mann, den ich seit fünf Jahren, einem Monat und drei Tagen nicht gesehen hatte.
Der Polizist, der mir mitgeteilt hatte, dass mein Ehemann ermordet worden war.
26. Geburtstag: Karatestunde nehmen
2 Poppy Maysen.
Ach du Scheiße.
Poppy Maysen stand in meinem Dojo.
»Hallo, Sensei.«
»Hi«, antwortete ich automatisch und drehte mich von Poppy weg und dem Studenten zu, der mich im Vorbeigehen gegrüßt hatte.
Es dauerte aber nicht lange, bis mein Blick wieder zu Poppy zurückwanderte. Sie stand wie paralysiert an der Wand und starrte mich an, als hätte sie einen Geist gesehen.
Wie lange war es her? Fünf Jahre? Als ich sie das letzte Mal gesehen hatte, schlief sie auf dem Sofa in ihrem Wohnzimmer und zitterte von dem Albtraum, den ich an ihre Türschwelle gebracht hatte.
Und jetzt stand sie hier in Sportklamotten und wartete auf ihre Karatestunde. Bei mir.
»Hi, Cole.« Danny, ein Teenager mit Schwarzgurt, gab mir im Vorbeigehen einen Klaps auf den Arm.
Ich stand den Leuten, die zu den Umkleiden oder in die Halle wollten, direkt im Weg und starrte Poppy an wie ein Idiot. »Hallo, Danny.«
Wieder riss ich den Blick von ihr los und schob mich zur Seite. Als ich erneut zu ihr hinsah, hatte sie sich immer noch nicht gerührt.
Was ging in ihrem Kopf vor? Würde sie gleich davonlaufen? Mein Gesicht hatte wahrscheinlich einen Ansturm von bösen Erinnerungen ausgelöst. Und dass ich hier stand und sie angaffte, half wahrscheinlich auch nicht gerade.
Mist. Mit Mühe zwang ich einen Fuß vor den anderen und nickte ihr leicht zu, bevor ich in der Männerumkleide verschwand. Falls sie immer noch im Warteraum stand, bis ich wieder herauskam, würde mich das zwar wirklich wundern, aber ich würde Hallo sagen. Vielleicht halfen ihr – und mir – ein paar Minuten, um über die Überraschung wegzukommen, wieder im selben Raum zu sein.
»Hi, Cole Sensei.«
»Hallo, Jungs.« Ich grüßte ein paar der Kleineren in der Umkleide, während sie sich die Schuhe banden. »Habt ihr heute etwas Neues gelernt?«
Die Kids erzählten mir lautstark und alle durcheinander von neuen Schlägen, die sie gelernt hatten, auch wenn sich keiner von ihnen an die japanischen Namen erinnern konnte. Ich schaltete ab, ließ meine Sporttasche auf eine Bank fallen und fuhr mir mit der Hand durch die Haare.
Poppy Maysen.
Was hatte sie in den fünf Jahren seit damals gemacht? Was war aus ihrem Leben geworden? Ich hatte sie nach dieser furchtbaren Nacht nicht weiter im Auge behalten, wünschte mir jetzt aber, ich hätte es getan.
Sie war noch genauso umwerfend wie damals.
Lange, rote, fließend wellige Haare. Haut so makellos und cremefarben wie geschmolzene Eiscreme. Poppy hatte nicht die typischen Sommersprossen einer Rothaarigen – nur ein paar auf dem Nasenrücken. Und diese kornblumenblauen Augen – immer noch betörend schön, genau wie damals auf ihrer Veranda. Ich würde nie den Moment vergessen, als das Feuer hinter ihnen erloschen war.
»Tschüss, Sensei!«
»Tschüss!«, rief ich, als die Jungs hinausgingen. Hoffentlich hatten sie nichts Wichtiges gesagt, denn ich hatte kein Wort mitbekommen.
Scheiße. Poppy Maysen.
Ich traf ständig zufällig Leute aus der Vergangenheit, aber keine dieser Begegnungen hatte mich je so erschüttert. Und wenn ich mich nicht in den Griff bekam, würde ich im Unterricht über meine eigenen Füße stolpern.
Ich rieb mir mit den Händen über das Gesicht, zog die Sonnenbrille aus dem Kragen meines Shirts und warf sie auf die Bank. Dann öffnete ich meine Tasche und zog mir statt meiner Jeans und dem schwarzen Poloshirt mein weißes Gi an. Nachdem ich mir den schwarzen Gürtel umgebunden hatte, holte ich noch einmal tief Luft. Mit mir zogen sich noch ein paar andere Jungs um, aber ich hielt ihnen den Rücken zugedreht; ich brauchte noch einen Moment, um den Kopf wieder klar zu bekommen.
Hatte sie es geschafft, dieses Feuer in ihren Augen wieder anzufachen? Das wollte ich wirklich wissen. Das heißt, wenn sie nicht schon meilenweit vom Dojo entfernt war und nie wiederkam.
»Wir sehen uns draußen.« Ich nickte den anderen Jungs zu und drückte die Tür auf.
Poppy stand immer noch an ihrem Platz an der Wand. Ihr Blick schoss zwischen den Leuten im Wartebereich hin und her. Es war laut und voll vor dem nächsten Kurs, und sie hatte nicht bemerkt, dass ich wieder aus der Umkleide gekommen war. Und obwohl sie offensichtlich nervös war, lag auf ihrem Gesicht ein leichtes Lächeln.
Anmutige Stärke.
Poppy besaß anmutige Stärke. Das hatte ich auch vor all den Jahren schon gedacht. Nie hatte ich jemanden so am Boden zerstört und doch gefasst erlebt. Sie hatte nicht geschrien oder geweint oder um sich geschlagen. Sie war einfach … beherrscht gewesen. In all der Zeit beim Bozeman Police Department hatte ich nie jemanden – Cop oder Zivilist – erlebt, der mit einem Trauma umging wie sie.
Poppy hatte mich noch nicht bemerkt, also übernahm ich die Eröffnung und schob mich an die freie Stelle an der Wand neben ihr. Ich beugte mich hinunter und sagte leise: »Hi.«
Sie riss den Kopf zu mir herum, dann schluckte sie und blinzelte. Anscheinend hatte sie sich für unsere nächste Begegnung gewappnet, solange ich in der Umkleide war. »Hallo.«
Hallo. Sogar ihre Stimme machte etwas mit mir. Vor fünf Jahren war das, was sie zu mir gesagt hatte, voller Schmerz gewesen. Aber jetzt? Ihre Stimme war so klar. Es war nichts weich oder schüchtern daran. Nichts erschöpft oder heiser. Es war die reinste Stimme, die ich je gehört hatte.
Nonchalant wischte ich mir die schwitzige Hand ab und streckte sie ihr entgegen. »Ich bin Cole Goodman.«
»Poppy Maysen.«
Ich nickte. »Ich erinnere mich.«
Poppys Blick irrte zu meiner Hand, die immer noch zwischen uns ausgestreckt hing, und dann zurück zu meinem Gesicht. Dann schoben sich langsam ihre zarten Finger in meine. In dem Moment, als ihre weiche Haut meine schwielige Handfläche streifte, raste ein Stromstoß meinen Arm hinauf.
Ich erstarrte, Poppy stockte der Atem.
Wir starrten einander an, ohne uns loszulassen; wahrscheinlich sahen wir für die anderen um uns herum wie Verrückte aus, aber das machte mir nichts aus. Nicht, solange Poppys Hand noch in meiner lag und sie keine Anstalten machte, sie zurückzuziehen.
»Cole, hast du mal kurz Zeit?«, rief Robert aus seinem Büro herüber.
»Ja, klar.« Ich hielt Poppys Hand noch einen Moment lang fest, bevor ich losließ und zum Büro hinüberging. Ich hasste jeden Schritt, den ich von ihr weg machen musste.
Robert, mein Ausbilder und der Besitzer des Dojos, saß an seinem Schreibtisch, auf seiner Nasenspitze balancierte eine Lesebrille, während er einen Stapel Notizen durchblätterte. Seit letztem Jahr wurden seine Haare schütterer, deshalb hatte er uns diese Woche alle geschockt, als er mit frisch rasiertem Schädel ins Dojo gekommen war. Ich lernte seit fast zwei Jahrzehnten Karate bei Robert, schon seit der Highschool, und sein neuer Look warf mich aus der Bahn.
»Was ist?« Ich setzte mich auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch.
»Kannst du heute die Neue übernehmen? Sie hat angerufen, ob sie beim Einsteigerkurs mitmachen kann, aber ich hab’s irgendwie verpeilt. Ich würde sie selbst unterrichten, aber ich muss heute Abend ein bisschen mit den Braungurten arbeiten, damit ich sehe, wer vielleicht bereit ist aufzusteigen.«
»Alles klar.« Ich hoffte, es würde nicht zu unangenehm für sie werden, denn ich wollte schon ein bisschen zusätzliche Zeit mit Poppy verbringen, um vielleicht zu erfahren, was sie in den letzten fünf Jahren gemacht hatte. Um zu sehen, wie sie sich von diesem Abend erholt hatte. Vielleicht herausbekommen, warum ich nach nur dreißig Sekunden so stark auf sie reagierte.
»Wie läuft’s bei der Arbeit?«, fragte Robert und lenkte meine Gedanken von Poppy ab.
»Viel zu tun. Wir haben heute die neue Drogen-Taskforce gestartet.«
»Gut. Wird auch Zeit.«
Eigentlich sogar überfällig. Als ehemaliger Cop wusste Robert, dass das Drogenproblem in der Gegend ihnen langsam über den Kopf wuchs. Er hatte schon vor Jahren im Sheriff’s Department des County aufgehört und Karate zu seinem Vollzeitjob gemacht, aber der Drogenhandel war schon sprunghaft angestiegen, als er noch dabei gewesen war.
»Hat dieser Idiot von Polizeichef dich wenigstens zum Leiter der Taskforce befördert?«
Ich grinste. »Hat er.«
Robert grinste zurück. »Vielleicht ist dein Dad ja doch nicht so dumm.«
Ich gluckste. Robert und Dad ließen keine Gelegenheit aus, Witze übereinander zu machen, selbst wenn der andere nicht im Raum war. Ihre Freundschaft war der Grund, warum ich mit sieben mit Karate angefangen hatte – Dad hatte mich oft mitgenommen, wenn er sich mit Robert zum Training getroffen hatte.
»Robert Sensei? Kann ich …?« Olivia kam herein, hielt aber abrupt inne. »Oh, ähm, hi, Cole Sensei.« Sie strich sich eine lose Strähne hinters Ohr und musterte den Boden, um ihre roten Wangen zu verbergen.
»Was brauchst du, Olivia?«, fragte Robert.
»Ich, äh …« Einen Moment lang rang sie die Hände, und ihr Blick wanderte zwischen Boden und Tür hin und her. Als ihr Blick wieder meinen traf, drehte sie auf dem Absatz um und ging.
»Meine Güte«, brummelte Robert. »Nicht noch eine.«
Ich hob die Hände. »Hey, das ist nicht meine Schuld!«
Ich konnte nichts dafür, dass Olivia im letzten Jahr eine Schwäche für mich entwickelt hatte. Sie und ihre siebzehnjährigen Freundinnen. Das war nicht nur verdammt seltsam – ich hatte ein paar von ihnen unterrichtet, seit sie kleine Kinder waren –, es nervte Robert auch tierisch, weil sie sich regelmäßig hinten im Dojo versammelten und kicherten.
»Du könntest mir wenigstens ein bisschen helfen.« Robert stand auf.
»Wie? Nicht mehr herkommen?« Ich konnte nichts für das Gesicht, mit dem ich geboren wurde, und ich würde ganz sicher nicht wegen ein paar verknallter Teenager mein Training vernachlässigen. »Ich ignoriere sie doch schon, so gut es geht. Willst du, dass ich mich ihnen gegenüber wie ein Arsch benehme und sie fürs Leben schädige?«
»Nein«, murmelte er. »Aber bring wenigstens ab und zu Aly mit, damit die Mädchen sehen, dass du vergeben bist.«
Das würde nicht passieren.
Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um Robert ein Update zu geben, aber Aly würde so schnell nicht mehr ins Dojo kommen, zumindest nicht an meinem Arm.
Ich stand auf und folgte Robert wieder hinaus in den Wartebereich. Er ging weiter ins Dojo, verneigte sich im Eingang, bevor er eintrat, aber ich blieb vor Poppy stehen. »Wir fangen gleich an.«
Sie nickte und zwang sich zu einem nervösen Lächeln.
»Klingt gut.«
»Du bist heute Abend bei mir im Kurs.«
Ihre Augen wurden ein bisschen größer. »Okay.«
Fühlte sie sich in meiner Gegenwart unwohl, oder war sie nur nervös vor der ersten Stunde? Wahrscheinlich beides, aber ich wollte es nicht noch schlimmer machen, also ging ich direkt in den Lehrermodus über. »Bevor wir das Dojo betreten oder verlassen, verneigen wir uns.«
»Verstanden.« Sie nickte und stieß sich von der Wand ab.
Ich ging voraus und zeigte ihr die richtige Technik, bevor ich auf die Matten trat. Poppy folgte mir und hielt einen Meter Abstand, während sie sich umsah.
»Du kannst dich zum Verneigen dort drüben hinstellen.« Ich zeigte auf die hintere Wand. »Folge einfach den Anweisungen von Robert Sensei. Danach machen wir ein Konditionstraining. Mach mit, so viel du kannst, aber übertreib es nicht. Dann arbeiten wir beide die restliche Stunde zusammen. Ist das in Ordnung?«
Sie nickte, ohne mir in die Augen zu schauen.
»Poppy.« Als ich ihren Namen flüsterte, hob sie den Blick. »Es macht mehr Spaß, wenn du dich einfach entspannst.«
»Ich bin eigentlich nicht zum Spaß hier, ich bin hier … Ich bin einfach nicht in meiner Komfortzone.« Während sie sprach, wedelte sie mit den Händen, sie kreisten an ihren Handgelenken.
Poppy Maysen sprach mit den Händen.
Und es war das Entzückendste, was ich je gesehen hatte.
Ich konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, während ich einen Schritt auf sie zumachte und es genoss, wie ihr der Atem stockte. Sie fühlte die Spannung zwischen uns genauso stark wie ich.
»Wenn es zu viel wird, gib mir einfach ein Zeichen. Vielleicht diese Bewegung mit den Händen, die du eben gemacht hast.« Sie verengte die Augen, und ich lächelte breiter. »Ganz ruhig, Killer. Ich veräpple dich nur.«
Sie zog eine Augenbraue hoch. »Veräppelst du alle deine neuen Schüler?«
»Vielleicht.« Ich lächelte. »Also, wie ist es dir …«
»In einer Reihe aufstellen!«, rief Robert.
Poppy wirbelte herum und rannte in die Reihe mit den anderen Schülern, während ich mich nach vorn zu den Ausbildern stellte und der Unterricht begann. Die ganze Zeit konnte ich den Blick nicht von Poppy losreißen. Sie bemühte sich, es möglichst zu verbergen, aber sie warf mir auch immer wieder Blicke zu.
Das heißt, so lange, bis sie sich nur noch darauf konzentrierte, beim Ausdauertraining mitzukommen.
Robert war wieder ins Büro zurückgegangen und hatte einen jüngeren Ausbilder, Danny, ausgewählt, die Übungen anzuleiten. Der Dreckskerl hatte es als Freibrief aufgefasst, alle zu quälen. Ich hatte keine Schwierigkeiten mitzuhalten – ich schwitzte noch nicht einmal wirklich –, aber Poppy und alle anderen auf ihrer Seite des Raums sahen bedauernswert aus.
Es war nicht zu leugnen, dass Poppy fit war. Ihr Körper überließ in dieser engen Leggins und dem Trägertop, das wie eine zweite Haut saß, wenig der Fantasie, aber ein Karatetraining war noch mal was anderes. Und Danny übertrieb es, sogar für einige der fortgeschritteneren Schüler.
»Das reicht!«, beschied ich Danny, als er zu einer neuen Runde von fünfzig Liegestützen aufrief. Wir hatten schon hundert gemacht.
»Hast du Schwierigkeiten mitzukommen, Cole Sensei?« Die kleine Mistkröte warf sich in die Brust.
»So, ist gut«, rief ich den anderen zu und starrte Danny nieder. »Trinkpause.«
Poppy drückte sich vom Boden hoch und ging zum Trinkwasserbrunnen. Ihr Gesicht war rot und ihre Stirn schweißnass, aber diese rosa Wangen machten sie, verdammt noch mal, nur noch schöner. In meinem Kopf tauchte das Bild von ihr neben mir im Bett auf, mit roten Wangen von einer anderen Art von Work-out.
Verdammt.
Das Letzte, was ich jetzt brauchte, war ein Ständer unter meinem Gi. Zum Glück hing das Oberteil weit genug herunter, um mein schnelles Neuordnen zu verstecken, während sich alle anderen fürs Wasser anstellten.
»Na, das ist ja mal ein Prachtarsch«, flüsterte Danny; sein Blick klebte an Poppys Hintern. Ich war mir nicht sicher, ob er es wirklich laut sagen wollte, aber ich sah rot. Er hatte recht, ihr Hinterteil war spektakulär, aber das sagte man nicht laut.
»Pass auf, was du sagst, Danny.« Ich nahm ihn mit hartem Griff bei der Schulter und zog ihn aus der Schlange. »Du bist mit dem Ausdauertraining zu weit gegangen. Wenn wir Gastschüler haben, übertreiben wir es nicht so, und das weißt du auch. Das hätte ich noch durchgehen lassen, aber jetzt hast du die Grenze überschritten. Du machst den Rest der Stunde Shuttle-Runs und Klimmzüge. Wenn ich sehe, wie du schlampst, bleiben wir länger und du machst noch eine Einheit, bis du die Grenzen kennst. Verstanden?«
Er wurde blass. »Tut mir leid, Sensei.«
»Wir behandeln Frauen mit Respekt, innerhalb des Dojo und draußen. Denken kannst du es, aber sprich’s nicht aus.« Ich deutete zum anderen Ende des Raums und baute mich zu meiner vollen Größe von eins achtundachtzig auf. »Und jetzt mach dich an die Arbeit.«
Er nickte und schlich mit hängenden Schultern davon.
Nachdem alle anderen getrunken hatten, schlürfte ich ein bisschen Wasser vom Brunnen und bedeutete Poppy, mir in die andere Ecke des Raums zu folgen.
Sie wischte sich mit dem linken Handrücken den Schweiß von der Stirn, ihre Ringe funkelten im Licht der Deckenlampen.
»Für heute ist das in Ordnung«, ich zeigte auf ihren Ringfinger, »aber nächstes Mal solltest du die abnehmen. Besser, du lässt sie in der Umkleide, als dass du dir den Finger verstauchst und sie müssen sie im Krankenhaus aufschneiden.«
»Ähm …« Sie ließ die Hand sinken und musterte den Verlobungsring mit dem Smaragd und den weißgoldenen Ehering. »Ich hab sie nicht abgenommen, seit Jamie … du weißt schon.«
»Oh, ah, verstehe.« Ich musste wohl nicht fragen, ob sie wieder geheiratet hatte – nicht, wenn sie immer noch die Ringe ihres verstorbenen Ehemanns trug. »Na ja, denk einfach fürs nächste Mal darüber nach. Geht’s nach dem Ausdauertraining?«
»Ich lebe noch und bin nicht hingefallen.« Sie lächelte. »Das ist heute Abend ein Erfolg für mich.«
Ich gluckste. »Dann sorgen wir dafür, dass du die nächste halbe Stunde auf den Beinen bleibst, und belassen es dabei.«
»Das würde mir entgegenkommen.«
In den folgenden Minuten erklärte ich ihr die Haltung und wie sie die richtigen Halbkreisschritte machte. Als sie das draufhatte, bat ich sie, eine Faust zu machen.