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Drei Dekaden schon reist Hermann Ritter an der Hand obskurer und obskurster Lotsen durch Nebenräume, Hinterzimmer, Verliese und Keller. Ein Nerd, bevor es den Begriff gab, ein Rollenspieler, als dieses Hobby noch eigenartig war, ein Science Fiction-Fan, bevor diese Dinge alle ins Kino kamen und ein Esoteriker, bevor der Begriff zu einem Bauchladen für kommerzielle Einhornpulverzerstäuber wurde, war er an eigenartigen Orten zu eigenartigen Zeiten. Diese dreißig Jahre waren eine Fahrt durch das Leben und eine Achterbahnfahrt durch Magie und Okkultismus. Er besichtigte sprechende Pferde, die auf Hessisch in Vierzeilern sprachen. Sprach mit Menschen, die vermuteten, er sei ein Träger geheimer Informationen und wollte nur über „Chemtrails“ schweigen, weil er Angst vor dem Geheimdienst habe. Er stand mit nackten Hexen auf einem FKK-Strand, verirrte sich im Nebel auf einer Thingstätte zwischen Skinheads und Neonazis, durfte zusehen, wie Erzengel in einen Schwaben eindringen und immer wieder versuchen, den schmalen Grat zwischen Vernunft, Humor und Irrsinn einzuhalten. Einige seiner Berichte sind geheim, andere werden vom albanischen Geheimdienst unterdrückt, einige sind in Sprachen geschrieben, die kein lebender Mensch mehr versteht. Der Rest steht hier. Vielleicht.
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Seitenzahl: 508
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Für Petra
1. Auflage Oktober 2017
Copyright © 2017 by Edition Roter Drache.
Edtion Roter Drache, Holger Kliemannel, Haufeld 1, 07407 [email protected]; www.roterdrache.org
Buch- und Umschlaggestaltung: Holger Kliemannel
Lektorat: Isa Theobald
Titelbild: Arnold Böcklin, Die Toteninsel, 3. Version 1883, Alte Nationalgalerie, Berlin
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2018
Alle Rechte vorbehalten.
Kein Teil dieses Buches darf in irgendeiner Form (auch auszugsweise) ohne die schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert, vervielfältigt oder verbreitet werden.
ISBN 978-3-964260-14-7
Cover
Titel
Impressum
Vorwort
Der Herr des Golem
Feuerlöscher – Feuer – Asche
Zaubern ohne Gott?
Das Primat des Göttlichen
Loki, Loki, shining bright!
Musik, Mythos, Fantasy
Über den Abgrund der Zeit
Von außen gestellte Fragen an die Edda
Delling
Hurli Harard, der hurtige Held aus Holmstedt, und Uller, der unbotmäßige Unhold aus Uppsala
Nordische Götter und Fantasy
Grausiger, grimmiger, gruseliger Gygax
Das Delling-Blot
Die geheime Weltregierung tagt in Tibet
Extended Delling
Die Nebel von Troja
Anhang
Quellenverzeichnis
Weitere Bücher
Anmerkungen
Vor dreißig Jahren war ich ein Student an einer evangelischen Hochschule; geprägt von meiner christlichen Erziehung, gefangen in klaren Vorerwartungen darüber, wie mein weiteres Leben verlaufen würde. Irgendwann hätte ich die Zwischenstationen des bürgerlichen Lebens absolviert – Beruf, Hochzeit, Kinder, Haus. Dann ginge alles dem Dämmerabend des Lebens entgegen. Nach dem Alter der Tod, nach dem Tod das Himmelreich.
Zum Glück war mein Studium nicht so, wie ich mir das Studieren an einer kirchlichen Hochschule vorgestellt hatte. Zu den religiösen Überraschungen und Enttäuschungen kamen zwei Ereignisse hinzu, die mein Leben langfristig verändern sollten. Das erste Ereignis war – mehr oder weniger unvorbereitet – die Teilnahme an einem heidnischen Ritual, das zweite Ereignis war – völlig unvorbereitet – ein schwerer Autounfall. Innerhalb weniger Monate waren meine Seele, mein Geist und nicht zuletzt mein Körper durcheinandergewirbelt, zerlegt und neu zusammengesetzt worden.
Den Weg, den ich damals begann, gehe ich noch heute. Er wirkt nicht einmal im Rückblick geradlinig, aber er ist mein Weg. Ich sehe zwar keine farbigen Backsteine vor mir, bin mir oft nicht sicher, ob ich Lotse oder Gelotster bin – aber ich gehe. Viele andere bleiben stehen oder gehen sogar zurück. Einige sind tot. Diese Zahlen werden sich verschieben, bis wir alle tot sind.
Was bleibt mir dann? Die Gewissheit, das Richtige gemacht zu haben. Oder ehrlicher: Das, was mir zu dem Zeitpunkt als richtig erschien. Der Wille zu lernen, die Fähigkeit Fehler einzugestehen, die Neugier, immer wieder Dinge zu probieren – ohne diese drei Grundlagen wäre ich nicht so weit gekommen.
Aber diese dreißig Jahre waren auch eine Fahrt durch das Leben und eine Achterbahnfahrt durch Magie und Okkultismus. Sprechende Pferde habe ich besichtigt, die auf hessisch in Vierzeilern sprachen. Menschen habe ich gesprochen, die vermuteten, ich sei ein Träger geheimer Informationen und wollte nur über chemtrails schweigen, weil ich Angst habe. Mit nackten Hexen stand ich auf einem FKK- Strand und führte ein Ritual durch. Im Wald zog der Nebel nach der Feier von dannen und wir waren von Skinheads und Neonazis umgeben.
Es gibt viel zu erzählen. Einen Teil der Geschichten präsentiere ich, einen Teil halte ich geheim. Das hier ist eine Art Tagebuch von Teilen dieser Reise. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Viel Spaß.
Es ist schwierig, über Meyrink letztendlich gesicherte biographische Daten zu finden, weil er sein Leben für die Nachwelt absichtlich verhüllte (so berichtet Smit, dass Meyrink „auf jedem Brief einen Vermerk machte, ob er aufgehoben werden sollte oder nicht. […] Das führte dazu, dass immer ein geheimnisvolles Dunkel seine Gestalt umhüllte.“1).
Meyrink wurde am 19. Januar 1868 als uneheliches Kind von Maria Wilhemine Adelaide Meyer und Baron Friedrich Karl Gottlieb Freiherr Varnbüler von und zu Hemmingen mit dem Namen Gustav Meyer im Gasthof zum Blauen Bock in Wien geboren. Einige Zeitgenossen beschimpften Meyer/Meyrink später als Juden. Offensichtlich verwechselten sie seine Mutter mit der jüdischen Schauspielerin Clara Meyer, mit der Meyrink nicht verwandt war.2 Dem Fehler, Meyrink als „jüdischen Erzähler“ zu bezeichnen, erliegen sogar Arnold Zweig3 und Zondergeld in ihrem Lexikon der phantastischen Literatur.
Den Namen Meyrink (eine alte Schreibform des Namens seiner Mutter, auch als Meyerink geschrieben4) legte er sich erst in späteren Jahren zu. Zeit seines Lebens litt Meyrink unter seiner unehelichen Geburt – besonders, als man ihn in Prag einmal in einer Ehrenaffäre als nicht satisfaktionsfähig bezeichnete. Als ihn jedoch – nachdem er schon als Schriftsteller bekannt war – der Familienverband der väterlichen Familie aufnehmen wollte, lehnte er stolz ab.5
Der Konflikt mit seiner eigenen Herkunft und seine Abneigung gegenüber dem Beruf der Mutter (Schauspielerin) ziehen sich durch sein Werk.6
Nach Schule (in München und Hamburg) und (erstem Teil der) Ausbildung zog Meyrink 1883 nach Prag. „Meyrink schlug wie ein Meteor in die Stadt ein. In kürzester Zeit erwarb er sich den Ruf des großen Bürgerschrecks. Kleidung, Schmuck und Auftreten ließen ihn als den größten Snob erscheinen, den dekadentesten Stutzer, der in Prag herumlief. Hinzu kamen seine extravaganten Hobbys, sein Ruf als gefürchteter Duellant und sein turbulentes Nachtleben.“7 Max Brod beurteilte ihn ähnlich. Meyrink sei jeden Sonntag über die Hauptstraße gelaufen, alleine, dass eine Bein hinter sich herziehend – „Mit ehrfürchtigem Schauder beobachtete ich ihn aus der Ferne.“8 Frank nennt ihn einen „eleganten, snobistischen, okkult-umwitterten unehelichen Halbadeligen“9.
Meyrink war von Prag begeistert, und er ließ sich hier – er hatte wohl vor: für immer – nieder. Er nannte Prag „die Stadt mit dem heimlichen Herzschlag“10 und widmete Prag und seiner Geschichte Zeit seines Lebens immer neue Artikel und Erzählungen. Marzin geht sogar so weit zu behaupten, dass Prag „wenn nicht überhaupt Schauplatz der Handlung doch immer erkennbar im Hintergrund steht“.11
1888 gründete er eine Bank, Meyer und Morgenstern. Er nannte seine Bank Erste christliche Wechselstube12; dies tat er wohl auch, um Gerüchten entgegenzutreten, die seine jüdische Abkunft verbreiteten.
Meyrink entwickelte sein Interesse für den Okkultismus weiter, heiratete 1892 und verfasste seine ersten literarischen Versuche.
1897 wurde Meyrink sehr krank – eine Rückenmarksentzündung, von der er sich nie wieder richtig erholte. „Die Schmerzen gingen auf eine Entzündung des Rückenmarks zurück. Über die Ursachen seiner Krankheit gingen die wildesten Vermutungen um (…), doch Meyrink selbst schreibt sie bestimmten Meditationsübungen zu (…).“13
Durch einige Skandale und einen Prozess (1901/02) – in dem es sich später erwies, dass Meyrink unschuldig war – wurde seine Bank in der Öffentlichkeit unmöglich gemacht; sie musste schließen (der Polizist Olic spielte hier eine tragende Rolle, weswegen ihn Meyrink später als seinen großen Gegenspieler Otschin im Golem verewigt14). Egon Erwin Kisch hat diesen Prozess beschrieben15, Brod selbst hat den Prozess als ungerecht bezeichnet16, sein Vater war in der Kommission, die die Vorwürfe gegen Meyrink zu untersuchen hatte17.
Die Behauptung, dass Kisch über Meyrink geschrieben habe, klingt sehr interessant. In Wirklichkeit handelte es sich jedoch um einen Artikel in einer Kinderzeitung, die Kisch unter dem Arbeitstisch seines Vaters hergestellt hatte. Aber immerhin war es der erste Artikel, den Kisch je geschrieben hat18 (Meyrink war auch der tägliche Schachpartner von Kischs Vater19). Kisch selber schrieb autobiographisch über Meyrink (der sich damals noch Meyer nannte): „(…) wurde der Bankier Meyer unter dem Verdacht des Börsenbetruges verhaftet, und ich (…) verfasste einen geharnischten, nicht weniger als drei Zeilen langen Artikel zu seiner Verteidigung, bestehend in dem Satz, dass Herr Meyer ein sehr anständiger Herr sei. (…) Aber nie hat Gustav Meyrink erfahren, dass ich der erste war, der über ihn geschrieben.“20
Die Hintergründe des Prozesses sind aus heutiger Sicht kaum zu beurteilen, aber es ging wohl einfach darum, den Außenseiter Meyrink aus Prag zu vertreiben. So waren die Anklagen z.T. völlig aus der Luft gegriffen. So solle sich Meyrink als Sohn König Ludwig des II. von Bayern ausgegeben haben, woraufhin eine Hausdurchsuchung bei ihm anberaumt wurde, um festzustellen, ob er wirklich das bayerische Wappen in seinem Haus aufgehängt hat.21
Meyrink muss überhaupt eine schillernde Persönlichkeit gewesen sein. Steiner-Prag (der den Golem illustrierte) beschreibt ihn folgendermaßen: „Man hielt Sie für einen Goldmacher und Alchimisten, dem Geheimlehren vertraut waren; es hieß, Sie wären nicht mehr Christ sondern Brahmane und Mitglied mehrerer asiatischer Orden, den indische Mönche, die Europa bereisten, in Prag besucht hätten; man behauptete, Sie wären königlicher Abstammung und erbrachte phantastische Beweise. Die abenteuerlichsten Dinge erzählte man sich von Ihrer, nur Eingeweihten zugänglichen, ganz seltsam gestalteten Wohnung, in der sich unerklärliche und mystische Dinge zugetragen haben sollen.“22
Eigentlich sollte der Golem von Kubin illustriert werden. Meyrink legte jedoch nach den ersten Kapiteln eine längere Pause ein, so dass Kubin die Illustrationen für seinen eigenen Roman Die andere Seite verwendete.23
Meyrink ging durch die Prozesse Bankrott, er hielt sich nun mit dem Schreiben – namentlich durch die Mitarbeit beim Simplicissimus – über Wasser. Dort fand er bald Anerkennung, man nannte ihn den „bedeutendsten Satiriker des kaiserlichen Deutschland“, Brod nannte Meyrinks Beiträge „das Nonplusultra aller modernen Dichtung“24.
Seine Anstellung beim Simplicissimus ist auch schon an für sich eine typische Meyrink-Geschichte: „Es war etwa um die Jahrhundertwende. Redaktionssitzung beim Simplicissimus in München. Der zweite Schriftleiter Geheeb betrachtete kopfschüttelnd ein Manuskript. Es trug den Titel Der heiße Soldat. Sein Verfasser war ein gewisser Gustav Meyrink aus Prag. »Das Zeug«, sagte Geheeb, »hat ein Wahnsinniger geschrieben. Schade, einiges daran ist gar nicht so übel.« Achselzuckend warf er die Blätter in den Papierkorb. Kurz darauf erschien der Chef persönlich: Ludwig Thoma. Er setzte sich auf seinen Stuhl und hörte der Redaktionskonferenz zu. Zufällig fiel sein Blick auf den Papierkorb. Er fischte Meyrinks Skizze heraus und begann zu lesen. Plötzlich knurrte er: »Ja, was ist denn dös?« »Ach«, meinte Geheeb geringschätzig, »das Produkt eines Wahnsinnigen.« »Wahnsinnig?« fragte Thoma. »Ja, vielleicht. Aber genial. Ja, ja, Geheeb, Genie und Irrsinn! Merken Sie sich mal den Namen Meyrink. Und schreiben Sie dem Mann, ob er nicht noch mehr von solchen Sachen hat. Wir drucken‘s umgehend.«“25
1904 übersiedelt Meyrink nach Wien. Dort lässt er sich scheiden und heiratet 1905 erneut. Er zieht dann 1907 nach München, in dessen Umgebung er bis zu seinem Tode 1932 wohnt.
Meyrink war begeistert vom Okkultismus, schulte sich auch selber in vielen – teils fernöstlichen – Meditationstechniken, um z.B. Gedankenübertragung ausüben zu können (nach seinem Tode musste sein Arzt auf seinen Wunsch hin ihm einen Gnadenstich ins Herz geben, um zu verhindern, dass Meyrink – geschult durch viele Yoga-Stunden – als Scheintoter begraben wurde).26
Angeblich war er Mitglied in „verschiedenen Orden und Bruderschaften“, u.a. bei den Freimaurern, den Rosenkreuzern, den Sat Bahai und den Illuminaten.27
Neben seiner Tätigkeit als Herausgeber von esoterischen Büchern war er aber auch in Briefen als magischer Lehrer tätig. Da viele Briefe vernichtet sind, kann man nur aus einzelnen Zeugnissen auf diese Tätigkeit schließen. So berichtet Fritsche von einem Briefwechsel mit Meyrink und Fragen zur Magie.28 Auch zählte Meyrink einige Esoteriker zu seinen Freunden.29
Meyrink stirbt – fast 65jährig – 1932 in der Nähe von München. Man sagt, dass, als ihn die Mitteilung des Todes seines Sohnes erreicht hatte, ihn sein Lebensmut verließ; er wollte sterben.
„Es ist Meyrinks letzte Nacht. Er hat solche Schmerzen, dass der Arzt Frau Meyrink rät, ein von ihm mitgebrachtes narkotisches Mittel in den Tee zu tun, den Meyrink als einzige Labung noch zu sich nahm. Meyrink fühlte diese Absicht sofort und sagte: »Ich habe nur noch eine Bitte an euch, mich in meinem Sterben nicht zu stören. Gebt mir keine Narkotika.« Er wollte den Tod ‚erleben’, ihn nüchtern bis zum letzten Atemzug erfahren.“30
Auf seinem Grabstein steht nur Vivo – ich lebe!31
Wenn man Meyrink verstehen will, muss man einige der ihn prägenden Elemente kennen. Das wichtigste war sicherlich Prag und dort die Prager Kreise; Literatentreffen, an denen Meyrink z.T. beteiligt war. Ich habe mich in meiner Einteilung fast nur auf Brod gestützt, weil er die ausführlichsten Schilderungen gibt.
Trotz ihrer sehr unterschiedlichen Vertreter hatten die Prager Kreise drei unterschiedliche Prägungen gemeinsam.
Die erste Prägung war das in Prag existierende Spannungsfeld zwischen Judentum, Tschechentum (Panslawismus) und Deutschtum (Österreich-Ungarn, und damit auch Deutschland). Alle drei Faktoren hatten einen starken Einfluss auf die Mitglieder der Prager Kreise, und alle drei Einflüsse konnten nur in Prag gleich wirken, machten diese Stadt so zu einem einmaligen Zentrum dreier Kulturen. Besonders beeindruckend ist der Einfluss der jüdischen Kultur auf das Prag dieser Zeit: „The position of the Jews inside the cultured German stratum of Prague was strange enough in itself; but the concentration of Jews among the exponents of German culture was from any point of view striking.“32
Die zweite Prägung ist das gleichzeitige Auftreten von so vielen Literaten von Weltrang in einem engen zeitlichen und räumlichen Abstand. Die Prager deutsche Literatur ist in ihrer Konzentration nur verständlich, wenn man sich Prag wirklich als „literarische Insel“33 denkt – Prag zog die Literaten an, das Umfeld formte sie. „Das Phänomen der Prager deutschen Literatur oder besser gesagt der Prager deutschsprachigen Literatur fesselt die Aufmerksamkeit der Literaturforscher und der Leseröffentlichkeit bereits eine Reihe von Jahrzehnten. Diese Literatur repräsentiert nämlich den allerwichtigsten Komplex von Werken der Literatur, der je außerhalb der Grenzen des geschlossenen deutschen Sprachgebietes entstanden ist.“34
Die dritte Prägung ist der Einfluss der alten Kaiserstadt Prag selbst: „(…) der Aspekt Prags in der deutschsprachigen Literatur ist ausgesprochen phantasmagorisch; die Stadt ist eine Brutstätte nicht greifbarer Geheimnisse und bedrückender Mysterien, ein Vampir, der die deutsche Seele mit gorgonischem Grauen lockt wie einst Karthago die römischen Söldner; … ein kompliziertes Gefühl, das die deutsche Terminologie Hassliebe nennt und das ein typisch erotisches Erlebnis ist: Prag selbst ist ein mit Hass geliebtes weibliches Wesen.“35 Wagenbach spricht von der „Prager Treibhausluft“, in der „Arbeiten von monströser Erotik und schwüler Sexualität“ entstanden.36
a.) Concordia und Jung Prag
Dieser Kreis entstand aus den Reihen der Concordia – einer Gruppe von Literaten, die sich in den 1880ern trafen. Zu ihr gehörten u.a. der Dichter Hugo Salus (geb. 1866) und Fritz Mauthner.37 Aus diesem ersten Literatenzirkel entstand Jung Prag. Dieser Kreis existierte seit 1894, festgemacht am Erscheinen von Rilkes erstem Versband Leben und Lieder.38 Dieser Kreis scharte sich um Paul Leppin. Mitglieder waren u.a. Victor Hadwiger, Oskar Wiener, Richard Teschner, Karl Wilfert, Rainer Maria Rilke, Friedrich Adler, Hugo Salus, Emil Faktor, Heda Sauer und Hugo Steiner-Prag.39
In diesem Kreis tauchte auch zum ersten Mal Gustav Meyrink auf. Über sein Auftauchen und den Kreis im allgemeinen schrieb Steiner-Prag: „Es waren merkwürdige Jahre, die wir damals erlebten, wir, ein kleiner Kreis engbefreundeter junger Schriftsteller und Künstler, in deren festgefügte Gemeinschaft Sie eines Tages unerwartet eintraten. Wir staunten Sie an, Sie, den viel älteren, der schon äußerlich so wenig zu unserem etwas formlosen und überschäumenden Bohemetum passte, und wussten zunächsten noch nicht, was Sie (…) in unseren Kreis führte.“40 Auch Marzin erwähnt, dass Meyrink an diesen Treffen teilgenommen hat41 – neben Brod eine notwendige zweite Quelle. Im Zusammenhang mit der Kafka-Beschreibung stellt sich bei Brod eine Tendenz heraus, besonders Kafka zu überhöhen. Dies führt auch dazu, dass er Randfiguren – so sieht er offensichtlich Meyrink – nur wenig behandelt.
b.) Der Prager Kreis
Dieser Kreis, auch Engerer Prager Kreis oder Triumvirat (wegen Brod, Weltsch und Kafka) genannt, ist eigentlich Der Prager Kreis schlechthin. Er existierte von ca.1904 bis 1939. Ab 1908 waren die Treffen im Cafe Central, bald kam ein Wechsel ins Cafe Arco. Über das Arco sagte man „[u]nd es kafkat und werfelt und brodelt und kischt.“42 Die zentrale Figur dieses Kreises war Max Brod. Außer ihm zählten noch Felix Weltsch, Oskar Baum, Franz Kafka, Ludwig Winder, auch Egon Erwin Kisch, Paul Leppin, Rainer Maria Rilke und Hugo Bergmann zu diesem Kreis.
Zur Idee des Prager Kreises schrieb Brod: „Auch dass wir keinen Lehrer und kein Programm hatten (…). Es sei denn, dass man Prag selber, die Stadt, ihre Menschen, ihre Geschichte, ihre schöne nahe und ferne Umgebung, die Wälder und Dörfer, die wir eifrig in Fußmärschen durchwanderten, als unseren Lehrer und unser Programm ansehen will. Die Stadt mit ihren Kämpfen, ihren drei Völkern, ihren messianischen Hoffnungen in vielen Herzen. – Dazu trat die Bibel in ihrer Ursprache, Homer, Platon, Goethe, Flaubert. Ein Kult der Wahrheit und der unverfälschten Natürlichkeit, die wir (im Gegensatz zu den Zieraten der Neoromantiker) verehrten und suchten.“43
c.) Nachwehen
Auch wenn die Literatentreffen in Prag erst 1939 endeten, so bildete der 1. Weltkrieg doch eine Zäsur, der 2. Weltkrieg und der Holocaust dann das Ende. Nach dem 1. Weltkrieg gab es noch eine Art „letzten Prager Kreis“, jedoch nicht in Prag, sondern in Wien. Hier fanden seit 1922 wieder Literatentreffen statt, im Cafe Herrenhof. Teilnehmer waren u.a. Ernst Pollak, Franz Werfel, Otto Pick, Egon Erwin Kisch, Otto Groß und Franz Kafka.44
a.) Artikel
Meyrinks Werk lässt sich in zwei Teile unterteilen – seine Sach-Artikel und seine phantastischen Geschichten. Bis auf wenige Ausnahmen prägten zwei Themen Meyrinks Gesamtwerk, Artikel wie Geschichten. Auf der einen Seite war dies die Stadt Prag. Darunter zählt bei den Artikeln z.B. Die geheimnisvolle Stadt oder – der wegen seinem Titel als Charakterisierung Prags bekannte – Artikel Die Stadt mit dem heimlichen Herzschlag45. Diesen Artikeln ist zu eigen, dass sie Prag mit einer fast zärtlichen Sprache beschreiben und geschichtliche Ereignisse aus der Prager Vergangenheit mit einer Lebendigkeit beschreiben, die in der Literatur selten ist.
Der zweite Teil seiner Artikel widmet sich einem anderen Meyrinkschen Lieblingsthema, dem Okkultismus. Meyrink beschäftigte sich seit seiner Prager Zeit mit dem Okkultismus im weitesten Sinne, so z.B. mit der Golden Dawn, einer Rosenkreuzer-Gruppe, diversen – auch christlichen – Gurus & Hochstaplern und den Anthroposophen.46
Sein Interesse an den Anthroposophen zieht sich durch sein ganzes Werk, und es finden sich bei ihm viele Artikel über die Anthroposophie selbst, aber auch über Madame Blavatsky, Krishnamurti und die späteren Anthroposophen-Absplitterungen. In diesen Artikeln zeigt sich ein ausgesprochen starker, weil spitzzüngiger, fast bösartig sarkastischer Meyrink.
Er selber war von vielen Okkultisten enttäuscht. Da er selber sich ernsthaft mit Okkultismus beschäftigte, waren ihm gerade die Anthroposophen und ihre vergorene Weltsicht zuwider.
Meyrink hielt das Aufkommen des Okkultismus für einen Wink des Lotsen, einer mythischen engelsähnlichen Figur, die in gewissen Weltepochen eingreift. „Die Wendung vom Satiriker zum Metaphysiker war bedingt durch äußere und innere Erlebnisse. Solange Meyrink bloß das Leben eines wohlhabenden Prager Bankiers führte, eines Lebemannes, der durch seine Affären die bürgerlichen Kreise schockierte, wo er nur konnte (…), traf sein Spott zwar wunde Stellen des Lebens, aber das innerste Wesen des Gefüges erkannte er noch nicht.“ Dies geschah erst dadurch, dass – als Meyrink sich eines Tages im Alter von 23 Jahren erschießen wollte – just in diesem Moment ein Heft über Spiritismus unter der Tür durchgeschoben wurde, natürlich vom geheimnisvollen Lotsen!47
Ebenso glaubte er an das regelmäßige Wiederkehren einer kosmischen Walpurgisnacht, in der die Spukwesen aus ihren Ketten befreit werden und die Grenzen zwischen Realität und Traum verwischen.48 Für ihn waren die Ereignisse seit dem Ausbruch des 1. Weltkrieges nur eine Bestätigung seiner Theorien. Er glaubte, in einer besonderen Zeit zu leben, in der der Boom des Okkultismus nur Vorankündigung schlimmerer, größerer Ereignisse war. Zu dieser Art von Artikeln gehört z.B. Der Lotse49.
Er interessierte sich auch für die Alchimie (wie man nicht nur in seinen Goldmachergeschichten merkt) und schrieb auch über dieses Thema eine Reihe von Artikeln, u.a. für Vorwörter (meist für Bücher, die er selber übersetzt hatte). So schrieb er z.B. Alchimie oder die Unerforschlichkeit (als Einleitung zu Thomas von Aquino Abhandlung über den Stein der Weisen).50 Aber auch allgemeine okkultistische Themen reizten ihn, so z.B. bei „Haschisch und Hellsehen“51, der nicht nur angesichts der momentan boomenden Okkultismus-Welle so klingt, als stamme er aus der Gegenwart.
Sein okkultes Hauptwerk dürfte An der Grenze des Jenseits sein. Obwohl schon 1923 erschienen, wirken viele Formulierungen sehr aktuell: „Der heilige Bonifazius hat die Donnereiche abgesägt, und es ist ihm nichts geschehen. Hätte er den Mast einer Hochspannungsleitung abgesägt, wäre ihm das unter Umständen übel bekommen, aber die Existenz oder Nichtexistenz eines Blitzdämons bliebe unbewiesen in dem einen wie in dem anderen Falle.“52
Einige wenige Artikel widmeten sich anderen Themen, z.B. Südsee-Masken53.
b.) Geschichten
Meyrinks Gesamtwerk umfasst fünf Romane, ein Romanfragment, drei Novellen und sechs Bände mit Kurzgeschichten.
Seine fünf Romane sind Der Golem (Buchausgabe 1915, ab 1913 erschien er als Fortsetzungsroman) (der Roman spielt in Prag), Der weiße Dominikaner (1921) (ebenso Prag), Das grüne Gesicht (1917) (Amsterdam), Walpurgisnacht (Prag) und Der Engel vom westlichen Fenster (1927). Sein Romanfragment ist Das Haus des Alchimisten, das im Haus zur letzten Latern 1 veröffentlicht ist. Doch dies ist kein von Meyrink zur Veröffentlichung vorgesehenes Werk: „Ein Enkel Gustav Meyrinks, Dr. Julius Gustav Böhler, hat das nachgelassene Manuskript bearbeitet und sämtliche Entwürfe zu diesem Roman zusammengefasst; so ist ein Exposé entstanden, das die vorgesehene Grundstruktur und den Inhalt des gesamten Romans enthält.“54
Seine drei Novellen (Der Mönch Laskaris, Der seltsame Gast und Die Abenteuer des Polen Sendivogius) sind alle im Band Goldmachergeschichten (1925) enthalten.55
Seine Kurzgeschichten finden sich in Des deutschen Spiessers Wunderhorn (1913). Diese zweibändige Ausgabe umfasst in Band 1 Der heiße Soldat56, Orchideen (1904) und Das Wachsfigurenkabinett (1907). Band 2 ist Der violette Tod (1922). Beide Bände bestehen zum großen Teil aus Simplicissimus-Artikeln. Das Haus zur letzten Latern, 1973 von Eduard Frank herausgegeben, enthält drei Bände mit vermischtem Inhalt, nämlich Die Frau ohne Mund und Das Zauberdiagramm sowie Fledermäuse (1916) (wiederum 2 Bände – Die 4 Mondbrüder und Der schwarze Habicht). Zwei angekündigte Romane – Die seltsamen Abenteuer des Bankiers Hugendubel und Salz – sind wohl nie geschrieben worden.57
Auch in seinen Romanen bleibt Meyrink bei den beiden Themen, mit denen er sich am besten auskennt: Prag und Okkultismus. Weiter oben ist schon die These dargelegt worden, dass zwar nicht alle Romane in Prag spielen, aber doch Prag als Handlungshintergrund haben.
Meyrinks erster Roman, Der Golem, erscheint erst, nachdem er schon einige Jahre aus Prag fort war. Er verließ sich also auf seine Erinnerung und erzeugte so ein idealisiertes Prag, mehr ein Abbild seiner Idee von Prag als eine Darstellung des wirklichen Prag (wobei der Begriff des wirklichen Prag für Meyrink unverständlich gewesen wäre. Er ging immer davon aus, dass es bei der Stadt Prag mehrere Ebenen von Wirklichkeit gibt). Es gelang ihm trotzdem in diesem – und seinen folgenden Romanen – Prag treffend zu schildern; scheinbar ist erst durch die Distanz zu Prag seine treffende Schilderung möglich. Kafka z.B. hat Der Golem nicht gefallen, aber dafür die Schilderung der Atmosphäre Prags58, ein größeres Lob kann man sich für einen Exil-Prager kaum vorstellen.
In Prag spielt auch eine der wichtigsten autobiographischen Geschichten, in der er seinen Hass auf diese Stadt durch die Zerstörung einiger ihrer Teile ausdrückt (hier ist es der Hass des Vertriebenen; dieser rächt sich aus dem Exil zurückgekehrt durch seine überlegene Intelligenz an den bornierten Stadteinwohnern). Diese Geschichte G.M.59, die er in seiner Münchener Zeit verfasste, ist nicht nur wegen der Initialen im Titel mehrfach ein klarer Hinweis auf die Person Meyrinks.
Ich will in diesem Zusammenhang nur kurz auf sein Hauptwerk eingehen. Der Golem geht zurück auf den alten Mythos von Rabbi Löw und dem aus Ton erschaffenen Golem.60 Meyrink war – obwohl selber von der Erziehung her Christ – ein großer Bewunderer des Judentums. Er war z.B. von der chassidischen Bewegung fasziniert. So stand er auch einige Zeit im Briefwechsel mit Martin Buber und kannte Gershom Scholem.61 Meyrink verwendet den Golem jedoch nicht in der sehr roboterhaften Form, in der ihn die volkstümliche Überlieferung benützt. Er verwendet ihn als Handlungshintergrund, wobei er absichtlich die Sagen benutzt, ohne auf sie wirklich inhaltlich zurückzugreifen. Der Golem ist eigentlich ein Werk über Gott (nicht umsonst arbeitet Marzin in seiner sehr guten Golem-Analyse heraus, dass es „im Golem keinen rationalisierten Gottesbegriff“ gibt. „Gott ist ein deus absconditus, der sich dem Menschen vollständig entzieht“62).
Im Golem geht es nur vordergründig um eine Handlung. Alle irdischen Dinge – auch die sonst so gern verwendeten Geschehnisse wie Liebe, Verrat, Enttäuschung – sind nur Spiegelungen einer höheren Wahrheit, die die Existenz Gottes zwar zu beweisen trachtet, ihn aber nicht selber vorführt (analog dazu wird der Golem im Roman nur erwähnt, tritt jedoch handelnd nicht auf).
Kisch hat den Golem später gesucht – er stieg auf den Dachboden der Prager Altneu-Synagoge, um ihn zu suchen. Er konnte ihn nicht finden. Aber immerhin – er war der einzige, der ihn vor Ort gesucht hat.63
Marzin arbeitet für Meyrinks Kosmologie drei Punkte heraus, die ich – leicht verändert – an den Abschluss dieser Werkschau stellen möchte.64
Der erste Punkt ist der Okkultismus (statt der Marzinschen Kabbala) als Lehre, der sich durch Meyrinks Werk zieht. In allen Geschichten bezieht sich Meyrink auf irgendwelche okkulten Lehren, nur wandelt er im Laufe der Zeit seine Vorlieben (manchmal ist es die Alchimie, manchmal eben Yoga oder Anthroposophie oder starke christliche Elemente). Meyrink versteht sich als jemand, der versucht, das Wissen um die Magie durch die Literatur den Menschen wieder nahe zu bringen.
Konieczny fasst dies folgendermaßen zusammen: „Der Schriftsteller versucht, die Welt wieder zu verzaubern, und sei es mit dem Bösen, Bizarren, Okkulten.“65Dieses Literaturverständnis hat Meyrink immer wieder Kritik eingebracht. Jüngst ist diese Kritik von Reiter zusammengefasst worden: „Die bereits bei oberflächliche Lektüre offenkundigen Probleme seines Oeuvres liegt darin, dass in die Texte okkultistische Glaubensmodelle derart stark einfließen, dass ihr Status als ästhetische Literatur und als fiktionale Werke durch didaktische Züge gefährdet wird.“66 Es sollte betont werden, dass ich diese Ansicht nicht teile.
Beim zweiten Punkt geht es um das Verhaftetsein in der Geschichte. Meyrinks Figuren handeln nicht selber, sondern sie sind Ausführende einer Handlung, die sozusagen an ihnen vorbeiläuft, die sie nur noch ausführen können, ohne wirklich auf sie einwirken zu können. Besonders im Golem wird deutlich, dass die Protagonisten nur Spielbälle des Schicksals sind, welches sie selber nicht beeinflussen oder verändern können. Meyrink geht sogar so weit, dass er hinter Kriegen handelnde Mächte sieht, die jenseits unserer menschlichen Ebene liegen.67
Der dritte Punkt ist das individuelle Schicksal als zentrales Thema. Dies scheint auf den ersten Blick im Widerspruch zum zweiten Punkt zu stehen. Doch während für Meyrink die Geschichte etwas kosmologisches ist (in ihr scheinen überirdische Kräfte zu wirken), ist das individuelle Schicksal rein irdisch.
Der Meyrinksche Mensch ist in seinem Schicksal doppelt determiniert – auf der einen Seite durch seinen Stammbaum, durch den „die Freiheit des menschlichen Willens auf die durch die Ahnen gesetzten Grenzen reduziert wird.“68 Auf der anderen Seite durch die unverständlichen, nur am Rande erfassbaren kosmischen Geschehnisse (wie die kosmische Walpurgisnacht), die sein Schicksal bestimmen. Immer sind es (wie bei den Goldmachergeschichten) geheime Regeln und Beziehungen, die ihre Entsprechung im Leben der Menschen finden. Verschiedene Handlungen verbinden sich (obwohl vorher durch Zeit und/oder Raum getrennt), um am Ende parallel zu laufen, bevor sie einem gemeinsamen Höhepunkt zustreben.
Meyrink spürte die Entfremdung des Menschen von der Welt voraus. Für ihn gab es das hüben der irdischen Welt und das drüben der mystischen Welt (oder, um in Meyrinks Begrifflichkeiten zu bleiben, der jenseitigen Welt69). Doch das höchste Ziel des Menschen ist nicht die Machtentfaltung im hüben oder die esoterische Perfektionierung im drüben, sondern die Synthese beider Welten, der Verbund beider Hälften der Welt. Das Ziel definiert Meyrink am Ende von Das grüne Gesicht eindeutig: „er war hüben und drüben ein lebendiger Mensch.“70
Konieczny äußert dazu: „Die Gesamtheit des irdischen Seins ist eine unabänderliche Kette von Ursache und Wirkung, von schicksalshafter Verstrickung. Was geschieht, geschieht aus einer existentiellen Notwendigkeit heraus, die der einzelne quasi als Fatum, als Schicksal, hinnehmen muss, weil er sie nicht durchschaut (…).“71
Berechtigterweise muss man jetzt die Frage stellen, was aus dem Topseller Meyrink nach dem 2. Weltkrieg geworden ist. 1917 warb ein Verlagsprogramm noch im Vordergrund mit den Gesamtausgaben von Heinrich Mann und Meyrink.72 Während der Golem „innerhalb zweier Jahre 150 Tausend Exemplare“ verkaufte73 und damals – eine Neuheit – auf Litfaßsäulen beworben wurde74, verkauft er sich heute kaum. Meyrinks Bücher sind nicht alle erhältlich, über ihn ist wenig publiziert. Marzin spricht sogar von einer „Lücke in der Meyrinkrezeption“.75
Doch was ist mit dem Mystiker Meyrink, über den Wünsch schreibt: „Meyrink ist der vielleicht bedeutendste Mythenschöpfer dieser Zeit“?76
Leider kann auch ich keine verbindlichen Lösungen anbieten. Natürlich sind Teile von Meyrinks Werk von der Zeit überholt worden. Heute liest sich seine Kritik am Offizierskorps nicht mehr treffend, viele seiner Artikel über okkultistische/okkulte Phänomene sind von der Berichterstattung seriöser Magazine über übersinnliche Phänomene überrollt worden, diesen Artikeln fehlt heute der Biss.
Doch seine Romane sind immer noch gut zu lesen. Der Golem ist ein herausragender Roman der Phantastik, und auch sein weiteres Werk wird deutlich unterschätzt (besonders die Goldmachergeschichten hätten es verdient, positiver aufgenommen zu werden). Noch immer mangelt es an vernünftigen Ausgaben von Meyrinks Geschichten. Die letzte Bereicherung – Der Mönch Laskaris – enthält kein Vorwort, keine Informationen über die Herkunft der Geschichten und knapp 40 Seiten Information auf dem Backcover.
Trotzdem kommt es in letzter Zeit zu einer – begrenzten – Wiederbelebung von Meyrink. Nach der verstärkten literaturwissenschaftlichen Beschäftigung mit Meyrink hat sich auch die Esoterik an einen ihrer Klassiker erinnert.
Es bleibt zu hoffen, dass die deutschen Leser der Phantastik für die Zeit vor dem 2. Weltkrieg genauso wie die Freunde der Mystik wieder einen der Klassiker wiederentdecken – Gustav Meyrink. VIVO!
Wir wissen nicht, woher wir kommen. Wir wissen nicht, wohin wir gehen. Doch wir folgen dem Weg, den die Gottheit uns zeigt.
In den 80er Jahren war ich Mitorganisator einer Großveranstaltung. Man bat mich an einem Abend darum, den großen Saal für eine geschlossene Veranstaltung haben zu dürfen. Unter der Auflage, dass die Mieter jemanden reinlassen, der auf offene Kerzen etc. aufpasst, bekamen sie die Räumlichkeit. Also fand ich mich wenige Minuten vor dem geplanten Beginn in den Räumen ein – einen Feuerlöscher im Arm.
Ich habe den Feuerlöscher nicht gebraucht. Der Abend war die Sommersonnenwendfeier von zwei befreundeten Hexen-Coven, die den von uns gestellten Rahmen nutzten, um hier zu feiern. Ich kam mir mit meinem Feuerlöscher im Arm selten dämlich vor – nicht nur, weil er überflüssig war, sondern weil ich auch die feierliche Stimmung des restlichen Abends zu stören schien. Man nahm mich aber freundlich auf, ließ mich an den Feierlichkeiten teilhaben. Jahrelang war ich schon auf der Suche nach einer Religion, einem Glauben, der meine Vorerwartungen erfüllen konnte. Von den christlichen Kirchen enttäuscht sah ich hier eine Möglichkeit, zu meinem spirituellen Selbst zu finden.
Der Kreis wird sich wiederfinden, wenn es an der Zeit ist!
Ich begann meine Zeit als Schüler. Ein Schüler ist jemand, der den Wunsch geäußert hat, etwas über die Geheimnisse und Riten der Hexenkunst zu lernen. Den Wunsch hatte ich schon mit meinem Feuerlöscher im Arm unmissverständlich geäußert, den Drang nach Wissen auch. Ich fand auch eine Lehrerin, die bereit war, mich auszubilden.
Dies waren ihrer Meinung nach die drei Grundvoraussetzungen für eine Ausbildung: Das Äußern des eigenen Wunsches zu einer Ausbildung, die Nähe zu einer Lehrerin/zu einem Lehrer und der Wunsch nach Wissen, der in einem brennen sollte. Das konnte ich alles bieten.
Meine Schülerzeit wurde als eine Vorstufe beschrieben. Die beiden mir zu vermittelnden Grundlagen waren eine umfangreiche Persönlichkeitsbildung (immerhin sollte ich wissen, was ich wirklich will, bevor ich die Techniken lerne, um meinen Willen durchzusetzen) und das Fühlen eines Grundvertrauens in die Gottheit, so dass ich die Angst vor den Dingen abstreifen konnte, die mir noch fremd waren.
Außerdem erhielt ich sozusagen liturgische Grundkenntnisse – einen Einblick in die Glaubensgrundlagen des Covens.
Nach einem Jahr und einem Tag (der alten Formel für solche Bindungen) erhielt ich meine erste Initiation. Beschrieben wurde sie mir im Vorfeld als Akzeptierung des Schülers durch die Gottheit. Dem kann ich nur beipflichten (auch wenn das jetzt ein wenig kitschig klingen mag). Ich war jetzt ein vollwertiges Mitglied im Coven, durfte mitsprechen. Außerdem war es nun an der Zeit, weitere Dinge zu lernen. Namentlich waren dies der Ablauf der Feste im Jahreslauf, die ersten Einblicke in den Ritus und der Ausbau meiner Kenntnisse der Grundkenntnisse im Bereich Mystik und Hexerei.
An dieser Stelle hätte ich jetzt die Möglichkeit gehabt, als einfaches Covenmitglied im äußeren Kreis zu verbleiben. Doch ich entschloss mich gegen diesen magischen Schnupperkurs und bat nach Jahr und Tag erneut darum, eine Initiation zu erhalten. Meine Lehrerin war mit meinen Fortschritten sehr zufrieden. So erhielt ich auch diese Initiation und durfte mich nun Zweitinitiierter nennen.
Meine weiteren Lernaufgaben waren jetzt vielfältig: vom genauen Ablauf der einzelnen Feste im Jahreslauf, über weitere Informationen zum Ritus, die Grundlagen der Energiearbeit (man stelle sich das ähnlich vor wie bei den Chakren – verschiedene Körperregionen waren an bestimmte Energiemuster geknüpft) bis hin zur Handhabung des Zubehörs (kein echtes Coven-Mitglied ohne seine eigene Klinge – und der Erwerb von weiteren Dingen wie Räucherkessel ist zwar optional, aber sehr empfohlen!).
Danach sollte ich mich entscheiden, ob ich weitermache. Die weiteren möglichen Initiationen waren aufgeteilt – es gab eine Initiation, die es mir erlaubt hätte, als Priester zu arbeiten; eine andere Initiation ist für die Heiler vorbehalten etc. Ich entschloss mich erst nach längerem Nachdenken für eine Wahlmöglichkeit.
Meine Lehrerin hatte mir vorher gesagt, dass das Lernen niemals aufhört; man ist das ganze Leben damit beschäftigt. Und sie hat mir auch gesagt, dass die Ausbildung andere Ziele verfolgt als die Beherrschung obskurer magischer Energien. Gemeinsam mit ihr habe ich eine Reihe von Zielen entwickelt, die ich erreichen wollte. Die Wahl meines Berufs oder meiner Berufung in der letzten Weihe hing also davon ab, was ich eigentlich wollte. Wieder war es mein Wollen, das mein Handeln bestimmen sollte.
Was wollte ich? Ich wollte eine Ruhe in Gott finden. Außerdem wollte ich mein Leben in der Zeit anders empfinden – im Jahreskreis, gebunden an die Entwicklung der Welt, der Natur. Ich wollte die Ausbildung als einen Lernprozess begreifen, in dem es nicht darum ging, einen Rang zu erlangen, sondern um eine Art Aufgabeninitation. Und als letztes wollte ich die Aufgabe abarbeiten, die mir meine Lehrerin ganz zu Anfang gestellt hatte – die Aufgabe der Charakterbildung. Ich war in den Jahren bis dahin durch die Ausbildung ein anderer geworden und ich wollte jetzt anfangen, etwas aktiver an der Gestaltung dieses anderen Selbst mitzuwirken.
Etwas über mein Leben in der Zeit kann ich zum Besten geben, ohne zu viel über mich und meine Seele zu verraten. Es war gerade die andere Zeit, die natürliche Zeit des Heidnischen, die mich begeistert hat. Im Heidentum – so wie ich es kennen gelernt habe – ist man eingebunden in größere Bezüge, die einem das Leben strukturieren und überleben helfen. Natürlich bietet eine natürliche Ordnung auch Sicherheit, in dem sie Strukturen schafft und Anleitung gibt. Mir ist das klar; damals war es mir auch klar, aber ich habe trotzdem den engen Rahmen des Mythos gesucht, weil er mir half, anderen Dingen zu entkommen.
Der heidnische Jahreslauf orientiert sich primär an den Vollmonden. Das Jahr hat 13 Vollmonde, die einem helfen, den Kreis der Jahreszeiten zu strukturieren. Weitere wichtige Eckpunkte dieses Jahreskreises sind Winter- und Sommersonnenwende sowie die beiden Tag- und Nachtgleichen. Eigentlich ist es egal, wie man die Feste nennt – bekannte Namen sind Yul, Ostara, Beltaine und Samhain, aber die Feste könnten genauso Rollepöng, Epsol, Flekkna und Schrumbiegel heißen. Wichtig ist, dass man sich durch sie sowohl in den Jahresablauf als auch in einen historischen Kontext eingebunden fühlt, der einem glaubhaft vermitteln kann, dass man über Generationen und Leben hinweg in einer Gemeinschaft steht, die dem Leben Sinn vermittelt.
Dazu kommen die Regeln des Ritus, die weiterhin helfen, die Arbeit mit den Energien zu strukturieren. Während die Zeit am Mond verortet ist, ist der Ort an die Himmelsrichtungen gebunden. Den vier Himmelsrichtungen werden Elemente zugeordnet – von Osten aus im Uhrzeigersinn Luft, Feuer, Wasser und Erde. Und auch die Zeit findet ihren Niederschlag im Räumlichen: Den Himmelsrichtungen sind in derselben Reihenfolge von Osten aus Kleinkind/Kind, junge Frau/junger Mann, Mutter/Vater und Greisin/Greis bzw. die Toten zugeordnet. Der Raum ist nicht länger von der Zeit getrennt und unsere Positionierung beim Ritual war auch immer ein Standpunkt in der Zeit.
Das Ritual eröffnet durch seine Bindung an den Jahreslauf und dessen Bindung an eine heidnische Religion, welche die Schöpfung in einen Sinn einbettete, eine Möglichkeit, Teil einer größeren Wirklichkeit zu werden, die unsere Realität wie schützende Hände umfing. Alleine für dieses Gefühl des geborgen seins, des verstanden seins war es sinnvoll, die ganzen Jahre auf mich zu nehmen.
Die Flamme des Wissens wird ewig in uns weiterleben.
Der Coven hatte eine Geschichte. So war es nicht verwunderlich, dass sich bestimmte Rahmenbedingungen – genährt sowohl aus der Tradition der Wicca als auch aus eigenen Überlegungen meiner Lehrerin (die diese wiederum aus Mythen und der Fantasy-Literatur speiste) – in Form von Traditionen eingeschlichen hatten.
Dies waren z.B. bestimmte Geräte mit klarer ritueller Bedeutung – die Schale für die Salz-Wasser-Reinigung, der Hausaltar mit seinem ewigen Licht, das Räucherwerk, das Messer, aber auch die Kleidung. Wie auf Bildern von Romantikern des frühen 19. Jahrhunderts hüllten wir uns in farbige Kutten, die eher aussahen wie die Requisiten der Eloi in Die Zeitmaschine denn wie heidnische Kleidungsstücke. Warum kann ein Heide im 21. Jahrhundert nicht Kleidung tragen, die zu seiner Zeit und seiner Umwelt passt?
Da waren aber auch die Handlungen, die sich eingeschliffen hatten, ohne hinterfragt zu werden. Während die Aufstellung in den vier Himmelsrichtungen (s.o.) noch Sinn machte, gab es andere Handlungen (z.B. bestimmte Formen, den Kreis zu schützen, oder einen Schirm um die Teilnehmer zu errichten), die darunter litten, dass ihre Bedeutung nicht genügend kommuniziert wurde. Es mag sein, dass mir ein mystischer Schirm hilft, auch wenn ich nicht davon unterrichtet worden bin, dass er errichtet wurde – lieber ist es mir trotzdem, wenn ich Bescheid weiß. Angenehm fand ich die Angewohnheit, die letzten 24 Stunden vor einem Hochfest kein Fleisch zu essen. Ich fühlte mich dadurch leichter, energievoller als mit Fleisch im Magen. Dafür gab es dann nach dem Ritual – „wegen des Energieverlusts“ – Schlachtplatten voller Fleisch zu essen. Aber heute muss ich sagen, dass hinter diesem Aufbau des Rituals eine bestimmte Weisheit steckte.
Mehr Schwierigkeiten hatte ich mit den Glaubenselementen, die einfach vorgegeben wurden, ohne dass man sie hinterfragen durfte. Dazu gehörte nicht nur die unsägliche Rückbesinnung auf Atlantis (nein, ich habe das jetzt nicht erfunden), sondern auch der Rückgriff auf die mythische Klamottenkiste: Die Reinkarnation. Mehr als einmal durfte ich erleben, dass Mitglieder unseres Covens sowohl nach innen (zu Mitgliedern des Covens) als auch nach außen (zu anderen Heiden) die These vertraten, man würde sich aus früheren Leben kennen. Dies sollte gleich eine besondere Bindung herstellen. Diesen Effekt hat es in den wenigsten Fällen nicht gehabt; die meisten Menschen fühlen sich gelobt, wenn sie erfahren, dass sie in einem früheren Leben auch eine wichtige Person waren und mit dem Funktionsträger des Covens in irgendeiner Art und Weise verbunden waren (beliebte Ansätze: Geschwister, Geliebter, Magier-Kollege). Ich glaube heute, dass man diese Bindungen eher psychologisch als religiös deuten sollte.
Aber es gilt weiterhin, dass die Existenz von Riten und Formen für den Zusammenhalt einer Gemeinschaft wichtig ist. Die Regeln sorgen für eine Sicherheit im Ritus, für ein Gemeinschaftsgefühl bei den Feiern.
Magie ist das Gespür für und das Erkennen von Energien, die dieses Universum schufen und im Gang halten.
Ich habe nicht wirklich zaubern gelernt. Es tut mir leid, wenn ich das zugeben muss. Bis heute77 kann ich keine Krankheiten heilen, keine Kaffeemaschinen reparieren oder Dämonen austreiben. Anders ist die Frage, ob ich Situationen zulassen kann, in denen solche Dinge – die wir eigentlich als unnatürlich oder übernatürlich bezeichnen würden – geschehen können. Viel wichtiger als der Einsatz einer aus einem selbst kommenden Gabe ist die Fähigkeit, die Umgebung (das setting) davon zu überzeugen, dass gewisse, den üblichen Gesetzen der Realität widersprechende Dinge zugelassen werden können.
Der Magier ändert nichts am Gegenstand, den er verzaubern will – er ändert etwas an der Welt, die den Gegenstand umgibt und verändert somit den Gegenstand und sein Verhältnis zur Welt.
Anfangs, in den ersten Jahren meiner Ausbildung, war es gerade die duale Ausrichtung des Glaubens, die mir Halt verschaffte. Hier waren die Dinge einfach und locker in ein Schwarz-Weiß-Schema zu pressen. Es gab die Gottheit, die eins war, und trotzdem geteilt in ein männliches und ein weibliches Prinzip. Es gab Hell und Dunkel, Gut und Böse, Kalt und Warm, Göttin und Gott. Aber umso mehr ich mich mit der Frage beschäftigte, was hinter den Dingen liegt, die ich beobachten kann, desto mehr wurde mir klar, dass diese Dualität eigentlich nicht besteht. Alles ist eins, ist miteinander verbunden. Nicht immer kann ich die Verbindungslinien sehen, aber sie sind vorhanden – wenn auch getarnt oder versteckt oder schwer zu sehen. Manchmal ist die Zahl der Verbindungen so hoch, dass ihnen mein begrenzter Verstand nicht folgen kann. Aber die Verbindungen sind trotzdem vorhanden.
Der Dualismus ist ein künstlicher Dualismus, weil er trennt, wo Dinge eigentlich verbunden sind, und verbindet, wo Dinge eigentlich getrennt sind. Die Welt ist nicht in Dichotomien einteilbar; die Welt ist vielschichtiger, als wir es begreifen können. Der Dualismus hilft, die Extreme zu erkennen. Aber man muss den Dualismus transzendieren, um die Extreme aufheben zu können.
So will ich trachten zu tragen meinen Teil an Leid und dankbar zu empfangen meinen Teil an Freude.
Ich war fast ein Jahrzehnt in diesem Coven. Er hat mir viele Dinge gegeben, die ich gesucht habe – Nähe, Freundschaft, Wärme und Zuneigung. Darüber hinaus erfuhr ich, wie es ist, im Kreis mit anderen Menschen zu arbeiten, wie man gemeinsam Entscheidungen trifft, ohne dass sich nachher jemand ausgegrenzt oder beleidigt fühlt. Ich erfuhr eine Menge darüber, wie es ist, wenn man in Ritualgewänder gehüllt nachts im Wald steht und anfangs nur darauf hofft, dass einen kein Spaziergänger oder gar Polizist erwischt – bis diese Angst durch ein Gefühl des Verzaubertseins vertrieben wird, welches die Unwirklichkeit der Situation in ein Gefühl der Freude verwandelt.
Heute noch gibt es Tage, an denen ich diesem Gefühl nachtrauere. Ich habe meine Lehrerin sehr geschätzt. Gescheitert ist sie am eigenen Anspruch, an sonst nichts. Wer Schüler ausbildet, der muss sich damit abfinden, dass diese Schüler eines Tages fertig ausgebildet sein werden und bei der weiteren Planung der Gruppe mitsprechen wollen. Mit dieser Problematik konnte sie nicht leben.
Sie konnte auch nicht damit leben, dass es mir eigentlich egal war, ob sie die Texte selbst erfunden oder wirklich aus einer jahrhundertealten Tradition übernommen hatte. Wichtig ist nicht die Herkunft einer Inspiration, wichtig ist, ob sie Wirkung zeigt. Und sie hat gewirkt, denn in mir ist ein Feuer geweckt worden, das bis heute nicht erloschen ist. Ich suche Wissen und suche Erfahrungen; ich will mich in meinem Suchen der Gottheit annähern und mein Leben mit dem Gefühl beschließen können, dass ich nach jenem Licht gestrebt habe, welches unser Leben beginnt, begleitet und beendet.
P.S.: Die Zitate an den Kapitelanfängen sind Texte aus den heiligen Texten meines Covens.
Das einzige, was der wahre Mensch aber wirklich besitzen kann, ist sein eigenes Ich. Alles andere ist das Nichts, in das wir eines Tages zurückkehren.78
Ein Text wie dieser kann keinen allgemeinen Zuspruch erwarten. Das Fragezeichen im Titel impliziert, dass ich eine Frage stelle, die ich – soweit möglich – beantworte. Das heißt aber nicht, dass jeder Mensch, der sich mit dieser Frage beschäftigt, zu denselben Antworten kommen muss wie ich. Ganz im Gegenteil. Es ist unsere Vielfalt, aus der wir Nutzen ziehen sollten, nicht unsere Gleichförmigkeit.
Ich möchte auch einleitend darauf hinweisen, dass man Gott im Titel und im Text gerne durch Göttin oder Göttliches ersetzen kann – ich finde Gott als Begriff hier lesbarer und für mich nachvollziehbarer. Man möge Nachsicht mit mir üben.
Zwei Verschiebungen von Begrifflichkeiten sind im Rahmen der Industrialisierung erfolgt – die Verschiebung von weltlichen und die Verschiebung von magischen Begrifflichkeiten. Hierbei verstehe ich die Industrialisierung als den Übergang von einer eher naturnahen Gesellschaft hin zu unserer Industriegesellschaft. Der zeitliche Rahmen dieser Veränderung ist die Zeit zwischen 1650 und 1950, der von mir besprochene räumliche Rahmen umfasst Westeuropa sowie Nordamerika.
Diese Verschiebung von Begrifflichkeiten erfolgte in der Weltsicht des Heiden bzw. magisch Tätigen. Und diese Verschiebungen haben Rückwirkungen auf die Arbeit bzw. den Glauben (wobei ich beide Begriffe von den Verflechtungen her für nicht trennbar halte). Daher will ich auf diese beiden Verschiebungen länger eingehen.
a. Verschiebung von weltlichen Begrifflichkeiten
Die Bedeutung von Schrift und Geschriebenem hat sich in den letzten 500 Jahren in unserer Kultur grundlegend verändert. Angefangen bei den für magische Handlungen benutzten Bildern und Piktogrammen über die Silbenschrift und die Runen bis hin zu unserer Schrift hat sich die gesamte damit verbundene Kultur gewandelt.
Früher waren es nur wenige, die in der Lage waren, die geschriebenen Zeichen zu entziffern. Ihnen war auch Macht gegeben, da sie als Geschichtenerzähler, Barden und Priester benötigt wurden. Im Mittelalter war es so, dass die Klöster die Horte der Schreibkultur waren; die wichtigsten (und schönsten) mittelalterlichen Texte sind religiöser Natur.
Auf einer anderen Ebene hat sich auch das Erzählte vom Inhalt her verändert. Statt Sagas und Gedichten, die mündlich überliefert wurden, gab es später die festgefügten Märchen, die in einer bestimmten, unveränderlichen Form in einem Buch festgeschrieben waren.79 Seit der Entwicklung des Fernsehens wird nicht nur die Sprache festgelegt, sondern auch die optische Information (die vorher von der Vorstellungskraft des Zuhörenden ergänzt worden ist) ist festgelegt und damit unveränderbar.
Wenn wir heute Geschichten aus einer Epoche betrachten, in der weite Teile der Bevölkerung Analphabeten waren, dann bedenken wir dieses nicht. In unseren Köpfen ist Analphabetismus die Ausnahme, die Mangelerscheinung. Wir können alle lesen; Bücher und Zeitschriften sind Allgemeingut geworden. Doch wir dürfen nicht den Fehler machen, ähnliche Bilder auf unsere Vorfahren/Vorgänger anzuwenden. Schrift hatte früher einen wesentlich höheren Stellenwert und magische Symbole (wie Siegel etc.) hatten eine wesentlich umfassendere Bedeutung – und sei es nur, weil sie von einer schreibunkundigen Bevölkerung nicht zu reproduzieren waren.
Ein anderer Begriff, der sich – wie der Begriff der Schrift – in den letzten Jahrhunderten in seiner Bedeutung stark verändert hat, ist der des Blutes. Während in mythischen Texten immer noch von Dingen wie Blutsverwandtschaft („Blut ist dicker als Wasser“), Blutschwur80 und Blutsbrüderschaft die Rede ist, so hat heute die Wahlverwandtschaft die Bedeutung der Blutlinie völlig verdrängt. Und statt der matrilinearen Vererbung (über die Mutter) wird heute der Name (und auch die Familie) patrilinear (über den Vater) vererbt.
Seit der Verbreitung von AIDS ist auch unsere Hemmschwelle gegen Blutschwüre höher geworden – es ist nicht nur der ungeschützte Geschlechtsverkehr, der einen infizieren könnte, sondern auch der Austausch von Blut im Rahmen von Ritualen.
Und letztendlich ist es auch die Kommerzialisierung des Blutes und der Blutspende durch die Vermarktung von Blutplasma, das diesen Begriff seiner mythologischen Bedeutung fast entbunden hat. Wer heute ein klassisches Ritual mit Blut oder Blutsbanden liest, wird es sicherlich völlig anders verstehen, als ein Heide/Magier aus dem 13. oder 16. Jahrhundert. Und unsere Hemmschwelle gegen den Einsatz von Blut, immerhin dem Saft des Lebens, in Ritualen ist deutlich angestiegen.
Ein paar andere Begriffe möchte ich nur kurz anreißen. Die Bedeutung des Windes für unsere Kultur hat sich in den letzten Jahrhunderten verändert. Es werden keine Häuser mehr vom Sturm abgedeckt, die wilde Jagd zwischen den Jahren ist nicht mehr zu hören, der Fischfang samt Küstenschifffahrt ist unbedeutend geworden (und damit sinkt auch die Gefahr von im Meer ertrinkenden Familienmitgliedern), wir haben sogar den Wind für die Erzeugung von Strom gezähmt und können Stürme mit ziemlicher Sicherheit vorhersagen. Schon deutsche Gedichte der Romantik, die von den Naturgewalten sprechen, sind für uns heute in ihrer beschworenen Bedrohlichkeit kaum verständlich oder nachvollziehbar.
Auch unser Verhältnis zu Wasserstraßen und Straßen allgemein hat sich völlig verändert. Wir sind es gewöhnt, beim Reisen auch an den Luftverkehr und die Eisenbahn zu denken; die Autobahn stellt eine völlig andere Art der Vorstellung von Transportwegen dar als die Straßen des Mittelalters. Die heutige Streckenplanung kann sich auf stabile Brücken, Fähren und regelmäßige Ozeanüberquerungen verlassen – alles Dinge, die noch vor 100 Jahren eine Ausnahme waren.
Auch unsere räumliche Vorstellung von der Welt (die Landkarte, die wir in unserem Kopf mit uns herumtragen) hat sich deutlich verändert. Orte entlang ausgebauter Verkehrswege sind wesentlich leichter zu erreichen als Orte in entlegenen Gebieten. Der Mensch im Mittelalter dachte eher in konzentrischen Kreisen um seinen Wohnort herum, da seine Fortbewegungsgeschwindigkeit kaum zu steigern war, wenn er bestimmte Routen anderen vorgezogen hätte.
Deutlich wird diese Verschiebung auch an der Veränderung der mythologischen Bedeutung von Straßen. So ist der Wandel von Wegen wie den mittelalterlichen Pilgerwegen oder der Seidenstraße hin zu Strecken wie der Route 66 oder dem Orient Express neben der Veränderung in der Geschwindigkeit auch ein Wandel im gewählten Verkehrsmittel.
Der Schatz als ökonomische Herausforderung hat in den letzten Jahrhunderten seinen mythischen Charakter verloren (man denke nur an den Kessel voller Gold am Ende des Regenbogens). Die wenigen noch mythischen Schätze (Bernsteinzimmer etc.) sind mit eher negativen Erfahrungen verknüpft.
b. Verschiebung von magischen Begrifflichkeiten
Auch bei den magischen Begrifflichkeiten hat sich in den letzten Jahrhunderten einiges am Bedeutungsinhalt verschoben. So hat sich z.B. das Königsheil von Königen/Priestern weg zu öffentlichen Personen (Elvis etc.) hin verschoben. Wo früher noch der König für das Land stand (wie bei den Artus-Sagen), so ist es heute höchstens ein Präsident, der sein Leben für die Unschuld des Landes lassen muss (ich denke hier an Präsident Kennedy, dessen Regierungszentrale nicht umsonst Camelot genannt wurde!).
Auch der Ort der Seele ist im Lauf der Jahrhunderte immer wieder im Körper verlegt worden, ohne dass die Seele irgendwo im Körper wirklich hätte festgelegt werden können. Scheinbar wandert der Ort der Seele – wie der Ort der Utopie – immer hinter den Horizont des gerade Erkennbaren und verbleibt immer genau hinter unserem Horizont.81 Und heute hat sich die Suche nach der Seele hinter den Nahtoderfahrungen etc. versteckt. Die wissenschaftliche Grenze hat sich verschoben, für das Organ Seele bleibt im Körper kein Platz mehr. Aber die Sinnsuche, die sich hinter der Suche nach der Seele verbirgt, braucht weiterhin Raum in unserem Leben.
Auch die Zwerge und Elfen sind nur auf den ersten Blick aus unserer Mythologie verschwunden. Früher stahlen die Hügelvölker oder die Feen Kinder und entführten sie, in ihren Heimen lief die Zeit anders ab als in der realen Welt, und wer für sie arbeitete und ihre Geheimnisse wahrte, der wurde reich belohnt (diese Motive tauchen interessanterweise auch in den Märchen auf, in denen sich jemand für den Teufel verdingt – hier gibt es offensichtlich eine Gleichschaltung Feen/Hügelvolk – Teufel in der christlichen Mythologie). Heute sind es Außerirdische mit schmalen Händen und großen Augen, die unsere Kinder entführen, unsere Frauen schwängern, deren Zeit anders verläuft als unsere und die jene reich belohnen, die mit ihnen zusammenarbeiten. Die Parallelen sind unübersehbar. Aber da wir alle Hügel aufgegraben, alle Wälder abgeholzt haben, musste sich der Mythos halt in kleine Flugscheiben82 zurückziehen, die entweder aus dem Inneren der Erde, von der Rückseite des Mondes oder aus anderen Dimensionen kommen. Eine ähnliche Entwicklung hat nebenbei auch der Hausgeist hinter sich, wobei es einen eigenen Vortrag wert wäre, die Analogien zwischen Schüsseln Milch und Blumen für Hausgeister und Zuwendungen und Eigennamen für Computer herauszuarbeiten …
Eine offensichtliche Veränderung verursachte auch die Entmythologisierung der Drachen nach der Entdeckung der Dinosaurier-Skelette im letzten Jahrhundert. Unsere Drachenmärchen wurden auf einmal als Erinnerungen an eine gemeinsame Koexistenz von Drachen und Menschen gedeutet, viele Darstellungen von Dinosauriern wurden verdrachtusw. Ein schönes Beispiel für diese Entwicklung sind Märchenbucher a la Dinotopia oder Die vergessene Welt von Arthur Conan Doyle – beides Bücher, in denen die genannte Koexistenz beschrieben wird.
Die Veränderungen im Weltbild der Astrologie folgen auch wissenschaftlichen Entdeckungen.
Die letzten drei Planeten [des Sonnensystems, HR] wurden erst seit dem Ende des 18. Jahrhunderts entdeckt, lange nach der Entwicklung der traditionellen Analogien der ersten sieben Planeten: Uranus 1781, Neptun 1846 und Pluto 1930. Jedes Mal erfanden die Astrologen empirische ‚Deutungen‘, die schließlich als verbindlich akzeptiert wurden.83
Die Festlegung einer Definition für den Einfluss der Planeten bzw. für ihre Rolle in der Astrologie dauerte unterschiedlich lange. Beim Uranus waren es noch 33 Jahre, beim Neptun sogar 44 Jahre und beim Pluto nur noch 2 (!) Jahre.84
Auch das Bild von Äther und Sphären/Sphärenklängen sowie unser Verständnis der Sternbilder hat sich deutlich gewandelt. Wo früher die Sternbilder noch exakt standen und wir in den richtigen Häusern geboren wurden, so hat die Verschiebung der Sternbilder inzwischen dafür gesorgt, dass niemand mehr in seinem Haus geboren wird. Und der – vorher mehrmals physikalisch bewiesene Äther – musste genauso (wie die Sphären der Planeten) Federn lassen und darf jetzt nur noch als esoterische Analogie sein Leben fristen.
c. Verschiebung von weltlich/magischen Begrifflichkeiten
Mythos und Wissenschaft befruchten sich gegenseitig. Eine Weiterentwicklung des einen ist ohne eine Weiterentwicklung des anderen nicht möglich. Unser Suchen nach Erkenntnis wird von unseren Träumen gespeist, und unsere Träume beziehen ihre realistischen Grundlagen aus unseren Erkenntnissen.
Es ist daher nicht verwunderlich, dass mythologische Begriffe, welche die Jahrhunderte überstanden haben, immer wieder von Mythos und (!) Wissenschaft weiterentwickelt werden. Das klassische Beispiel hierfür ist der Atlantis-Mythos mit seinen starken Veränderungen im Laufe der Jahrhunderte. Man betrachte nur, welche geographischen Veränderungen Atlantis durchgemacht hat. Vom Mittelmeer über den Atlantik hin zu Grönland und England im Norden, Südamerika im Westen und Westafrika im Süden. Und der Kreis schließt sich, wenn die moderne Forschung Atlantis nach Troja oder Santorin und damit zurück ins Mittelmeer verlegen will.
Ähnliches gilt für Mythen, die – im Gegensatz zum Atlantis-Mythos – in den letzten Jahrzehnten untergegangen sind bzw. massiv an Bedeutung verloren haben, aber vorher einen wilden Wechsel von Bedeutung und Inhalt hinter sich gebracht haben. Das Einhorn wäre ein Beispiel85, ebenso der Vampir86. Faszinierend ist auch die Geschichte des roten Planeten Mars und seiner angeblichen Bewohner. Von Kanälen könnte man da sprechen, und von dreibeinigen Todesmaschinen, von Pyramiden und Marsgesichtern …87
d. Probleme, die daraus entstehen
Wir kämpfen mit dem Phänomen, dass ältere Texte und Rituale für uns unverständlich werden, weil uns der kulturelle Hintergrund/ Gefühlszusammenhang zu ihrem Verständnis fehlt. Das Weltbild ändert sich, ohne dass der an ein Weltbild gebundene Kult die Änderungen nachvollzieht.
Oftmals haben wir zwar das Gefühl, den Text eines klassischen Rituals begriffen zu haben, aber das Verstehen geschieht auf einer sprachlichen und nicht auf einer inhaltlichen Ebene (wir verstehen die Worte, nicht den Sinn). Die oben genannten Erklärungen sollten ausreichen, um diese Behauptung zu untermauern.
Ich will jetzt kurz ein paar Beispiele weltlicher und magischer Natur für die Bindung von einzelnen Begriffen an Religionen/Kulte oder magische Handlungen anführen. Und ich will zeigen, dass wir diese Begriffe zwar weiterhin verwenden (können), aber ohne die ursprüngliche Bindung zwischen Begriff und Bedeutung rekonstruieren zu können.
Weltliche Beispiele
Hierzu gehören die Bedeutung des Feuers bei den Parsen (Feuer spielt für uns schon lange nicht mehr die Rolle als Wärmespender und Waffe, die es früher gespielt hat), die magische Rolle von einzelnen Schriftzeichen (man denke nur an die Runen; durch die faktische Beseitigung des Analphabetismus in der Bevölkerung hat die Schrift überhaupt ihren magischen Charakter verloren) und Piktogrammen (ich meine nicht die Notausgang-Zeichen in öffentlichen Gebäuden, sondern steinzeitliche Jagdzauber an Höhlenwänden), der Verlust des faszinierenden Gefühls für fremde Sprachen in Ritualen (die lateinische Messe hat ihre Ausstrahlung verloren, ebenso aber auch Texte in unverständlichen Sprachen oder der Effekt des Zungenredens), die Naturgewalten verlieren an Bedrohlichkeit (die Wind- und Sturmgötter wie die Wilde Jagd verschwinden aus unserem Bewusstsein, weil die Naturgewalten für unsere Häuser nicht mehr bedrohlich sind und daher nicht mehr beschworen und besänftigt werden müssen), bestimmte Arbeiten verschwinden aus unserem Lebenszusammenhang (der Meergott der Fischer verschwindet aus unserem Kulturzusammenhang, da der Nährstand – und damit auch Fischer und Bauern – in unserem Leben nicht mehr direkt vorkommt; Pferdesegen und Schmiedezauber bleiben unverständlich, weil die entsprechenden Berufe aus unserem kulturellen Umfeld verschwunden sind), halbmenschliche/ tierische Götter verlieren an Bedeutung, weil das sie inspirierende Wesen aus unserem Leben verschwunden ist (so der gehörnte Gott/Hirsch, die Katze88, Wolf/ Hund etc.) und die Priester/Magier sind nicht länger Wächter des Kalenders (daher verschwinden auch die Großkalender wie die Megalithbauten aus den Erfordernissen unserer Kultur – niemand baut mehr selbst Zeitmessgeräte und niemand wird mit religiöser Verehrung bedacht, weil er Jahreszeiten oder Mondfinsternisse vorhersagen kann!).
Der Begriff ist weiterhin da, und er steht auch weiterhin in unseren Ritualen und Texten. Aber wir verwenden ihn in anderer Bedeutung als der, in der er ursprünglich verwendet worden ist. Und daher sind wir nicht in der Lage, das ursprüngliche Ritual mit denselben Worten zu wiederholen, weil die Worte sich in ihrem Inhalt verändert haben.
Magische Beispiele
Mit magisch meine ich in diesem Zusammenhang Begriffe, die eher nicht der physischen Welt unterworfen sind. Ein typischer Begriff wäre der Begriff der Seele. Im Laufe der letzten Jahrhunderte hat die Seele ihren Platz im Körper verloren. Unsere wissenschaftliche Sichtweise des Körpers lässt keinen Platz mehr für ein unerklärtes Organ, die Seele kann also nicht im Körper materiell existieren. Da wir Menschen aber weiterhin wissen wollen, was hinter der letzten Grenze kommt, verlagern wir unsere Suche nach dem Jenseits in den Bereich der Nahtoderfahrung und verwandeln dadurch die Seele in ein immaterielles Organ89.
Das kleine Volk wird von uns entrückt und unserem Lebenszusammenhang entrissen. Wir glauben nicht mehr daran, dass Kobolde in unserem Haus wohnen, Feen in den Büschen nisten oder Zwerge in unseren Hügeln hausen. Die nichtmenschlichen Völker, seit Jahrhunderten mythologische Partner und Freunde der Menschen, werden uns fremd.
Ebenso verschwinden die Halbmenschen (Werwolf, Vampir, Satyr, Kentaur usw.) – entweder werden sie wissenschaftlich gedeutet und damit entmystifiziert90, entlarvt91 oder aber lächerlich gemacht.
Und letztendlich bleibt die Frage, was mit jenen magischen Wesen geschah, die wir fast komplett aus unserem Bewusstsein verdrängt haben. Es sind überraschenderweise die alchemistischen Figuren, die unser wissenschaftliches 20. Jahrhundert ausgemerzt hat. Wo verbergen sich Phönix, Basilisk, Greif, Einhorn und Salamander vor unseren Blicken?
e. Alternativen für die Zukunft
Wenn wir einen Verlust der Bindung von alten Bildern an magische Energie postulieren oder einfach behaupten, dass eine Veränderung der gesellschaftlichen Umstände auch in einer Veränderung der für Religion und Kult benutzten Bilder resultieren muss, so ist es unumgänglich, dass wir uns überlegen, welche Alternativen sich im Umgang mit dieser Situation bieten. Es gibt drei unterschiedliche Alternativen, die ich kurz vorstellen will.
1. Wir bleiben stur bei den alten Bildern, obwohl sie an Macht verlieren werden. Ich würde dies die Vogel-Strauß-Politik nennen, weil sie die Veränderung der Umstände einfach ignoriert und die Rückkehr in ein goldenes, mythisches Zeitalter zu postulieren scheint, in dem alles gut war und Magie immer funktioniert hat.
Leider ist es so, dass die hier verwendeten Bilder weiterhin an Macht verlieren werden. Die Bindung zwischen Bild und Bedeutung wird schwächer, das Band zwischen mentaler, magischer Assoziation und weltlicher Bedeutung wird immer dünner werden, bis es eines Tages zerreißt. Und umso mehr Bänder zerreißen, umso dünner und schwächer wird der Strang, der Mythos und Kult, der Glauben und Religionsausübung, Theorie und Praxis miteinander verbindet.
Die Ausbildung von neuen Funktionsträgern ist in dieser Alternative sehr schwierig, da die verwendeten Bilder schwächer sind als auf der Hand liegende Alternativen aus der Gegenwart. Potentielle Schüler werden sich – außer sie sind unheilbar romantisch … – eher für eine der anderen Alternativen entscheiden.
Die Zukunft für diese Alternative ist sehr fraglich, da sie immer in der Gefahr leben wird, konservativ statt konservierend zu arbeiten und in die volkstümelnde (faschistische?) Ecke abzurutschen.
2. Wir suchen uns völlig neue Bilder. Ich nenne dies die coole Lösung, weil sie immer versucht, einem magischen Zeitgeist hinterherzuhecheln, der genau einen Schritt vor uns herläuft.
Doch die hier benutzten Bilder haben eventuell nur kurzzeitig Macht; sie gelten zwar für unsere Zeit, aber nicht für die vorgehergehende Epoche und wahrscheinlich auch nicht für die folgende Epoche.