Drei freundliche Tage und ein Todesfall - Roland Lange - E-Book

Drei freundliche Tage und ein Todesfall E-Book

Roland Lange

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Beschreibung

Es ist eigentlich unmöglich, und doch entdeckt der Journalist Holger Diekmann in Osterode die junge Frau, in die er sich vor über zwanzig Jahren während der Drei freundlichen Tage verliebt hat! Leider wurde sie nach dem letzten Konzert der Rockband "Paper Plane" von einem Bandmitglied abgeschleppt. Und nun sitzt sie auf dem Marktplatz vor der Eisdiele und ist keinen Tag gealtert! Tatsächlich ist es aber ihre Tochter, die im Harz auftaucht, gerade als die alten Herren von "Paper Plane" ihr Comeback feiern wollen. Sie sucht ihren Vater, den Bassisten der Band! Doch deren neuen Auftritt erleben Vater und Tochter nicht … Ein Fall für Kommissar Behrends, der einerseits in die Welt des Rock'n'Rolls entführt, anderseits in die Abgründe der Zwangsprostitution blicken lässt.

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Inhalte

Titelangaben

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Danksagung

Roland Lange
Drei freundliche Tage und ein Todesfall
Harz-Krimi
Handlung und Figuren sind frei erfunden. Darum sind eventuelle Übereinstimmungen mit lebenden oder verstorbenen Personen zufällig und nicht beabsichtigt.
Alle Rechte vorbehalten,
auch die des auszugsweisen Nachdrucks
und der fotomechanischen Wiedergabe
sowie der Einspeicherung und Verarbeitung
in elektronischen Systemen.
© Prolibris Verlag Rolf Wagner, Kassel, 2018
Tel.: 0561/766 449 0, Fax: 0561/766 449 29
Titelfoto:
© DWP – Fotolia
E-Book: Prolibris Verlag
ISBN E-Book: 978-3-95475-176-1
Dieses Buch ist auch als Printausgabe im Buchhandel erhältlich.
ISBN: 978-3-95475-168-6
www.prolibris-verlag.de
Prolog
Wo mochte das Weltall wohl zu Ende sein? War irgendwann Schluss oder dehnte es sich endlos aus?
Immer, wenn sie, wie jetzt, in den wolkenlosen, sternenübersäten Nachthimmel blickte, dachte sie darüber nach – über den Kosmos und die Unendlichkeit. Und über die Grenzen ihres eigenen Denkens. Sie hatte so viele Fragen. Aber sie suchte nicht nach Antworten. Es genügte ihr, sich in dem Meer aus funkelnden Lichtpunkten am Firmament zu verlieren.
Schon einige Minuten saß sie hier im feuchten Gras und starrte nach oben. Die Zigarette zwischen ihren Fingern war fast bis auf den Filter heruntergebrannt. Sie nahm einen letzten Zug, dann drückte sie die Kippe neben sich auf dem Boden aus. Sie fröstelte und zog die Jacke enger an ihren Körper. Die Kälte der Mainacht machte die frühsommerlichen Temperaturen der vorangegangenen Stunden vergessen.
Herrgott, was waren das für zwei Tage gewesen! Der Zwischenstopp in der kleinen Stadt am Harzrand auf ihrem Trip nach Süden. Erst der Freitag und dieser Kerl, der zwar ganz nett, aber überhaupt nicht ihr Fall gewesen war. Wie eine Klette hatte er an ihr gehangen und nur mit Mühe hatte sie ihn sich vom Hals geschafft. Am Abend darauf das Stadtfest und die beiden süßen Jungs aus der Band, von denen sie und Simone sich hatten abschleppen lassen. Die prickelnde Stimmung, die Erwartung dessen, was unausweichlich kommen musste. Dann die Ernüchterung, als sie erkannte, was für ein Versager der Typ war, den sie abbekommen hatte. Und später wieder raus aus dem gemütlichen Nest und zurück auf die Straße. Sie hatten sich bereits auf eine weitere Nacht unter freiem Himmel eingestellt, da kam doch noch die Rettung. Der Techniker der Band hatte sie aufgegabelt und wieder ins Haus gelassen. Er hatte ihnen eine Schlafmöglichkeit in einem Raum angeboten, der vollgestopft war mit Elektrogeräten, Kabelkisten, Boxen, Regalen, Kanistern mit undefinierbaren Flüssigkeiten. Aber auch mit zwei Matratzen und ein paar löchrigen Decken.
Simone hatte sich hingelegt und war sofort eingeschlafen. Sie selbst hatte eine Weile wachgelegen und war dann durch das Fenster nach draußen geklettert, um eine zu rauchen. Sie war ein Stück am Rand des verwilderten Parks entlanggestreift und hatte sich schließlich ins Gras gesetzt, ans Ufer des kleinen Teiches, mit freiem Blick auf den Himmel und die Weiden und Felder, die sich irgendwo, weit hinten, in der Nacht verloren.
Sie war noch ganz in ihrer Erinnerung versunken, als ein leises Knistern sie aufschrecken ließ. Zuerst vermutete sie ein kleines nachtaktives Tier, eine Maus vielleicht oder ein Frettchen, das durch das trockene Laub in ihrem Rücken huschte. Aber das Geräusch kam gar nicht aus ihrer unmittelbaren Nähe. Es kam aus der Richtung, in der sich das Haus befand. Dahin blickte sie und sah einen Widerschein. Ein schnelles Aufflackern nur, dann war es wieder dunkel. Gleich darauf wiederholte sich das Ganze und danach noch mal und noch mal, in immer kürzeren Abständen. Das Licht wurde heller und größer, das Knistern lauter.
Nun endlich begriff sie. Feuer! In dem Haus, in dem Simone lag und schlief, brannte es! Sie sprang auf und hetzte zurück, kam ins Straucheln, schrammte sich an einem Ast den Arm, taumelte weiter. Brandgeruch breitete sich aus, trieb sie zur Eile. Dann sah sie es genau. Es war das Fenster, aus dem sie gestiegen war und aus dem jetzt der Feuerschein drang.
»Simone!«
Sie hatte das Haus fast erreicht, als sie ein Stück abseits drei Personen bemerkte, die in zwei Autos einstiegen. Sie stoppte abrupt ab, schrie um Hilfe. Doch sie reagierten nicht. Sie konnten sie nicht hören oder wollten es nicht. Die Wagen wurden gestartet, fuhren davon. Warum blieben sie nicht, halfen nicht? Das waren die Männer gewesen, mit denen sie den Abend verbracht hatten – oder? Natürlich, sie mussten es gewesen sein! Auch wenn sie nur schemenhaft zu sehen gewesen waren. Aber die beiden Autos, die hatte sie wiedererkannt!
»Simone!«
Warum konnte sie ihre Freundin nirgends entdecken? Das Feuer hatte sie bestimmt geweckt. Die Haustür, nur mit einer Klinke ausgestattet, war abgeschlossen worden, aber Simone hätte wie sie ja auch durch das Fenster klettern können. Warum lief sie hier nirgendwo herum? Warum antwortete sie nicht?
Sie näherte sich dem Fenster. Es war heiß. Zu heiß! Trotzdem machte sie noch ein, zwei Schritte, versuchte, im Inneren etwas zu erkennen. Flammen leckten an den Kisten, ein hohes Regal aus Metall war umgefallen, hatte sich verkeilt und hing schräg im Raum. Beißender Qualm ließ ihre Augen tränen. Sie blinzelte, meinte, hinter dem Gestell einen menschlichen Körper liegen zu sehen.
»Simone!«
Ihr Schrei verhallte ungehört. Sie machte noch einen Schritt auf das Fenster zu, hob die Arme schützend vor ihr Gesicht. Plötzlich ein Knall. Reflexartig sprang sie zurück. Der Flammenschwall erreichte sie trotzdem, versengte ihr Haare und Haut. Ihre Jacke fing Feuer. Sie stolperte, fiel hin, wälzte sich am Boden. Die Flammen erloschen. Sie rappelte sich auf, begann zu laufen, ignorierte die Schmerzen. Weg! Nur weg!
Im Nachbarhaus, das ein gutes Stück entfernt stand, ging das Licht an. Sie registrierte es aus den Augenwinkeln. Keinen Augenblick dachte sie daran, dort Hilfe zu holen. Es war zu spät, Simone tot, tot, tot, hämmerte es bei jedem Schritt in ihrem Kopf. Sie überwand den nahen Bach und hetzte weiter. Über die Wiesen und die Felder. Irgendwohin. Nur weg!
Sie wusste nicht, wie lange sie gelaufen war und wie viele Feldwege sie gequert hatte, als sie in einen Entwässerungsgraben stürzte, sich noch ein kleines Stück über den sumpfigen Untergrund schleppte und dann entkräftet an der Grabenböschung liegenblieb.
In der Ferne heulten Sirenen. Irgendjemand hatte endlich die Feuerwehr alarmiert.
1
24 Jahre später. Ostersamstag.
Es schneite. Bedrohliches Donnergrollen begleitete den Flockenwirbel vor dem Fenster. Wäre Carina abergläubisch gewesen, hätte sie das Wetterphänomen vielleicht als böses Omen gewertet und wäre im Bett geblieben. Hätte Magenprobleme oder eine andere Erkrankung vorgetäuscht, um einem vermeintlich unheilvollen Schicksal zu entgehen.
So aber galt ihr erster Gedanke nach dem Aufwachen nicht der überraschenden Rückkehr des Winters, sondern ihrem bevorstehenden Auftritt. Sofort spürte sie wieder das wohlige Kribbeln in der Magengegend. Seit Tagen fieberte sie dem Konzert entgegen, das sie heute auf dem Festival in der Heide gemeinsam mit Rico spielen würde.
Einige Minuten blieb sie noch liegen, gähnte herzhaft und rekelte sich. Im Geist hörte sie den Applaus, der ihr und ihrem Partner entgegenbranden würde, wenn sie auf die Bühne stiegen. Sie genoss den Moment, von dem sie hoffte, ihn in ein paar Stunden genau so in der Realität zu erleben.
Carina fing ihre träumerischen Gedanken ein, blinzelte zum Wecker hin. Es wurde Zeit. Schwungvoll schlug sie die Steppdecke zurück und tapste barfuß ins Bad ihrer kaum dreißig Quadratmeter großen Mietwohnung unter dem Dach. Sie duschte ausgiebig, danach zog sie sich an. In der Kochnische bereitete sie ihr obligatorisches Müsli zu, eine Fertigmischung aus dem Reformhaus, die sie mit Stücken frischem Obst anreicherte. Sie setzte sich an den kleinen Klapptisch an der Wand und begann zu essen. Aber schon nach den ersten Löffeln bekam sie nichts mehr herunter. Ihr Magen fühlte sich an, als sei er zubetoniert.
Ein Infekt? Jetzt? Kurz vor dem Auftritt? Das wäre ein Desaster! Sie horchte in sich hinein. Nein, sie war nicht krank. Sie hatte Lampenfieber! So intensiv, wie seit Langem nicht. Kein Wunder, denn dieser Tag war ein besonderer Tag, das Konzert eins, in das sie und Rico große Hoffnungen setzten. Sie durften es nicht vermasseln!
Carina machte sich startklar, blickte auf die Uhr. Eine halbe Stunde blieb ihr noch, bevor Rico und Markus sie abholten. Zeit genug für einen Anruf. Das Gespräch mit ihrer engsten Vertrauten würde helfen, ihre aufgewühlten Nerven ein wenig zu beruhigen.
Als es an ihrer Wohnungstür läutete, beendete sie hastig das Telefonat und machte sich auf den Weg nach unten, wo ihre beiden Freunde im Schneegestöber vor dem Caddy mit dem Bandequipment auf sie warteten.
Ein Mal ließen sie sich von dem Navigationsgerät in die Irre führen, wodurch sie sich einen etliche Kilometer langen Umweg einhandelten. Dazu die schlechten Straßenverhältnisse. So wurden aus den errechneten zwei Stunden Fahrzeit von Oldenburg bis an ihr Ziel über drei. Dann erst passierten sie das Ortsschild des kleinen Kaffs irgendwo in der Nordheide, einem Nest mit großem Schützenplatz und noch größerer Festhalle. Vermutlich passten da mehr Menschen hinein, als der Ort Einwohner hatte.
Es hatte aufgehört zu schneien. Die steigenden Temperaturen hatten das winterliche Intermezzo beendet, die dünne Schneedecke war weggeschmolzen. Vor dem Halleneingang waren eine Bratwurstbude und ein Stand mit Fischbrötchen aufgebaut. Typisch Dorf. Getränke gab es drinnen. An einer Theke, die sich über die gesamte Hallenbreite erstreckte, der Bühne gegenüber.
Hier also fand das Oster-Rock & Pop-Festival statt. Von Mittag bis Mitternacht. Schon jetzt tummelten sich etliche Gäste auf dem Platz vor der Halle und unablässig kamen weitere Besucher dazu. Wenn der Zustrom nicht abriss, war der Saal am Abend brechend voll, schloss Carina daraus und wunderte sich. Bei einem Line-up, das außer unbekannten Coverbands nichts zu bieten hatte, mutete es wie Zauberei an, so viele Leute zu mobilisieren.
Um fünf würde sie zusammen mit Rico auf der Bühne stehen und ihr 45-Minuten-Set spielen. Die Seiltänzer nannten sie sich, eine Idee ihres Freundes, der unbedingt die Verbindung zu ihrer gemeinsamen Zirkusherkunft im Bandnamen verankert wissen wollte. Es war ihr erster Auftritt vor größerem Publikum und, so hofften sie beide, auch ein entscheidender Schritt nach oben auf der Karriereleiter. Allerdings waren Carina mittlerweile Zweifel gekommen, ob sich die Talentscouts der Plattenfirmen ausgerechnet hierher in die Walachei verirren würden.
Zwei Jahre lang war sie mit Rico als Straßenmusiker-Duo durch Norddeutschland getingelt. Dann hatte sich Markus zu ihnen gesellt, der sie seitdem begleitete und sich um die Technik kümmerte. Von ihm stammte auch ein Großteil des Equipments, das sie brauchten, um ihr Akustik-Programm aus Deutschrock-Coversongs und ein paar eigenen Stücken in Kneipen oder kleinen Klubs zu spielen. In die Fußgängerzonen zog es sie aber nach wie vor. In Stade, vor einem Buchladen, hatte ihnen im letzten Sommer ein Typ zugehört und sie in der Pause ihres Gigs zum Oster-Rock & Pop-Festival eingeladen. Einen Monat später war ein entsprechender Vertrag eingetrudelt. Bis dahin hatten sie die Einladung nicht wirklich ernst genommen.
Jetzt waren sie also hier. Während die Jungs mit dem Veranstalter die organisatorischen Angelegenheiten durchsprachen, stand Carina im Eingangsbereich der Halle. Sie starrte grübelnd auf einen Zettel mit dem Programmablauf, den jemand an die Wand gepinnt hatte. Ihre Augen hingen an einem Namen, der auf keinem Veranstaltungsplakat aufgeführt war: Paper Plane. So hieß die Gruppe, die kurzfristig für eine Band eingesprungen war, die hatte absagen müssen. Das Revival der Klassik-Rock-Cover-Show aus dem Harz stand etwas kleiner unter dem Bandnamen. Gegen elf Uhr würden Paper Plane als Letzte der zehn Acts auftreten. Sie spielten hauptsächlich Status-Quo-Cover-Songs, aber auch andere Klassik-Rock-Stücke, las sie im kurzen Begleittext. Nicht gerade die Art von Musik, die Carina mochte.
Doch das Repertoire beschäftigte sie in dieser Minute weniger. Vielmehr hatte der Bandname einen dunklen Verdacht in ihr geweckt, gleichzeitig aber auch eine totgeglaubte Hoffnung neu belebt: Konnte das die Band sein, von der ihre Pflegeeltern gesprochen hatten? Die Band, deren Bassist ihr Erzeuger war? Der Mann, den sie nur aus verworrenen Erzählungen kannte? Von dem sie nicht wusste, wie er hieß und wie er aussah, wo er wohnte oder ob er überhaupt noch lebte?
Ihre Mutter hatte sie nicht fragen können, die war fünfzehn Monate nach ihrer Geburt gestorben. Und ihre Pflegeeltern hatten ihr jahrelang von ihrer Familiengeschichte mehr verschwiegen als offenbart. Immer nur Andeutungen. Alexandra, ihre Mutter, habe auf einem Stadtfest die Bekanntschaft mit den Musikern einer Rockband gemacht. Nach dem Konzert habe sie mit den Bandmitgliedern noch gefeiert. Danach war sie schwanger gewesen. Mit ihr, Carina. Wilde Zeiten damals. Sex and Drugs and Rock’n’Roll eben. Das hatte ihr Pflegevater nicht nur einmal zu ihr gesagt und dabei bekümmert gelächelt. Es hatte stets geklungen, als wolle er eine üble Geschichte, die er vor ihr geheim hielt, in versöhnlichem Licht erscheinen lassen. Als fürchte er, sie könne die Wahrheit nicht ertragen. Genau darüber aber war Carina wütend gewesen. Sie hatte immer geahnt, dass im Zusammenhang mit ihrer Zeugung etwas passiert sein musste und sie hatte nicht aufgehört, bohrende Fragen zu stellen. Sie hatte nicht glauben wollen, nur das zufällige Produkt einer netten, harmlosen After-Show-Party zu sein. Schließlich hatte sie von ihrem Pflegevater doch noch erfahren, was in jener Nacht wirklich geschehen war. Dabei hatte er auch Osterode, die Kleinstadt am Harz erwähnt, und er hatte gesagt, dass die Band den Worten ihrer Mutter zufolge wohl aus der Gegend stammte. Von dem Namen der Gruppe hatte sie jedoch nie etwas gehört.
Paper Plane! Aus dem Harz! Schwarz auf weiß stand es da. Konnte das vielleicht der Bandname sein? War das die Gruppe, die 1993 auf dem Stadtfest gespielt hatte? In Osterode? Aber wieso sollte es genau diese Band gewesen sein? Vermutlich gab es im Harz heute wie damals so einige Rockgruppen.
Sie schaffte es nicht, sich abzuwenden und alles als fixe Idee abzutun. Vielleicht waren sie es ja doch. Aber existierte die Band knapp fünfundzwanzig Jahre später immer noch? Wenn ja, wie alt mochten die Typen jetzt sein? Die fünfzig hatten sie vermutlich längst überschritten. Carina musste unversehens schmunzeln. »Now they’re too old to Rock’n’Roll and they’re too young to die«, fiel ihr die Textzeile eines Jethro-Tull-Songs ein. Vielleicht hatte die Band das Stück ja im Programm. Es würde passen.
Dann spürte Carina, wie sich alles um sie herum zu drehen begann. Das war doch nicht möglich, dass sie ausgerechnet hier, auf diesem Festival in der Pampa ihrem leiblichen Vater begegnete! Wie sollte sie das aushalten, den Mann zu sehen, der für ihr jahrelang andauerndes Seelenchaos mit verantwortlich war? Ihm vielleicht im Backstage-Bereich gegenüberzustehen? Wie sollte sie ihm begegnen, was zu ihm sagen? »Hallo, ich bin’s, deine Tochter! Schön, dass wir uns endlich mal kennenlernen.« War es das? Sollte sie so auf ihn zugehen und hinnehmen, dass er sie garantiert nur begriffsstutzig anglotzte? Sie vermutlich sogar auslachte? Oder sollte sie ihm besser gleich eine reinhauen? Auf ihn einprügeln und ihn all die Schmerzen spüren lassen, die er ihrer Mutter zugefügt hatte, ebenso wie ihr? Ja, auch ihr! Weil er so verantwortungslos gewesen war, mit einer Frau zu schlafen, ohne sich auch nur einen Gedanken über die möglichen Konsequenzen zu machen! Und jetzt bekam sie plötzlich die Chance, dem Mann, einem zwielichtigen Phantom, leibhaftig gegenüberzutreten, sofern sie sich nicht nur in eine absurde Vorstellung verrannt hatte. Sie wusste nicht, was sie denken sollte. Auf jeden Fall verdiente der Typ ihre Prügel. Und gleichzeitig wünschte sie sich, ihn in die Arme schließen zu können – ihren richtigen Vater!
»Hey, Carina, kommst du?« Es dauerte ein paar Sekunden, ehe die Stimme in ihr Bewusstsein drang. Sie wandte sich um. Hinter ihr stand Rico und grinste. »Es wird Zeit. Wir haben hier einen Job zu machen, erinnerst du dich?«
Sie nickte und trottete geistesabwesend neben ihm her nach draußen. Während sie um die Halle herum zum Backstage-Bereich gingen, hingen ihre Gedanken weiterhin an der Runnig Order und an einem Bandnamen: Paper Plane.
Ihr Auftritt war eine einzige Katastrophe gewesen. Carina hatte sich einfach nicht konzentrieren können. Sie hatte die Einsätze verpasst, ganze Textzeilen vergessen, etwas, das ihr sonst nie passierte. Immerhin war das Publikum tolerant oder bereits angeheitert genug gewesen, um ihr die Patzer zu verzeihen. Sie hatten freundlichen Applaus geerntet, Pfiffe oder Buhrufe waren ausgeblieben. Mehr hatten sie nicht erwarten dürfen, das wusste Carina.
Rico war das eindeutig zu wenig gewesen. »Verdammt, was war los mit dir?«, fauchte er, kaum dass sie die Bühne verlassen hatten. »Du hast totalen Mist gebaut!«
Markus stand etwas abseits und fummelte an irgendeinem Kabel herum. Er mischte sich nicht ein und schwieg. Wie fast immer, wenn es nicht um seine Technik ging. Er war zwar dabei und sie nannten ihn ihren Freund. Dennoch gehörte er nicht richtig dazu. Sie hielten ihn auf Distanz, ließen sich von ihm in nichts reinreden. Er akzeptierte das. Nur so konnte es zwischen ihnen funktionieren.
»Ach, so schlecht waren wir nun auch wieder nicht«, versuchte Carina sich zu rechtfertigen. »Die Leute haben geklatscht.«
»Vermutlich wollten sie nett sein. Begeisterung klingt anders. Du hast doch sonst nicht solche Aussetzer! Und komm mir bloß nicht mit Lampenfieber! Du hast nicht das erste Mal auf ’ner Bühne gestanden. Mann, das wäre unsere Chance gewesen, weißt du das? Jetzt können wir weiter durch die Fußgängerzonen tingeln. Oder glaubst du, uns engagiert nach der Blamage noch mal einer?«
»Keine Ahnung.« Carina zuckte hilflos mit den Achseln. »Ich ... verdammt, mir geht es ziemlich dreckig. Kein Lampenfieber. Ich fühle mich schon eine ganze Weile echt beschissen.« Das war noch nicht mal gelogen. Seit sie den Namen der Band gelesen hatte und einer möglichen Begegnung mit ihrem Vater entgegensah, drehte sich in ihrem Kopf ein Karussell und ihr Körper spielte verrückt.
»Und warum hast du nichts gesagt? Was ist denn bloß los?« Ricos Ärger machte der Sorge Platz. So war er. Immer sorgte er sich um sie. Wie ein großer Bruder, was er ja in gewisser Weise auch war, obwohl sie gerade mal zwei Jahre Altersunterschied trennten. Seit sie denken konnte, war Rico da gewesen. Sie waren gemeinsam aufgewachsen, hatten gespielt, die kleine Schulbank im Zirkuswagen gedrückt, Pläne geschmiedet, sich hin und wieder heimlich geküsst. Ein Paar waren sie trotzdem nicht. Sie hatten etliche Dinge zusammen gemacht und vieles miteinander geteilt – aber eben nicht alles. Auch nicht diese eine Sache. Rico wusste kaum etwas über die Vergangenheit ihrer Mutter und noch weniger über die ihres Vaters. Das war bis heute ein Geheimnis geblieben zwischen ihr und ihren Pflegeeltern. Carina hatte nicht die Absicht, es jetzt zu lüften.
»Bist du so weit?« Rico sah zu Markus hinüber, der nur kurz nickte. »Okay, dann lass uns verschwinden.« Er wandte sich Carina zu. »Ist besser, wenn du so schnell wie möglich nach Hause kommst und dich hinhauen kannst. Hier verpassen wir sowieso nichts mehr.«
»Aber ich möchte lieber ...« Sie sprach nicht weiter, schluckte die letzten Worte hinunter. Jetzt, wo Rico zum Aufbruch drängte, wäre sie gern geblieben, wollte nicht fahren, ohne ihren Vater gesehen zu haben. Ohne sich wenigstens vergewissert zu haben, dass es sich tatsächlich um jene Paper Plane handelte, die Band, in der er den Bass spielte. Konnte sie jemanden fragen, ob sie schon eingetroffen waren? Den Veranstalter vielleicht. Der kannte sicher auch die Mitglieder der Band mit Namen. Aber wenn sie nach dem Mann suchte, würde Rico davon Wind bekommen. Jetzt, da er wusste, dass sie sich schlecht fühlte, würde er sie nicht mehr aus den Augen lassen, bis sie zu Hause in ihrem Bett lag, um sich auszukurieren. Unmöglich, ihn daran zu hindern.
»Was?«, fragte Rico mit scharfer Stimme. »Was möchtest du lieber?«
»Nichts. Gar nichts.« Sie winkte müde ab. »Kommt schon. Fahren wir.«
Sie musste sich eine andere Gelegenheit suchen, um ihren Vater kennenzulernen. Aber wollte sie das überhaupt? Sie horchte kurz in sich hinein. Doch, sie wollte! Sie wusste, dass sie, nachdem sie die Running Order des Festivals gelesen hatte, den Gedanken an ihren Erzeuger nicht mehr aus dem Kopf bekommen würde. Und jetzt, wo sie eine erste Spur hatte, sollte es ihr gelingen, ihn ausfindig zu machen. Allein. Ohne Rico im Schlepptau. Ihre ganze Hoffnung knüpfte sie an den Bandnamen – Paper Plane!
2
Anfang Mai.
Vor wenigen Minuten hatte Holger Diekmann das Osteroder Rathaus, das Kornmagazin, verlassen. Er war als Pressevertreter zu einem Gespräch zwischen Angehörigen der Stadtverwaltung und Mitgliedern des Tourismusvereins eingeladen worden. Wieder einmal hatte das leidige Thema »Belebung der Innenstadt« auf der Tagesordnung gestanden. Viel Neues würde er dazu auch dieses Mal nicht in seinem Online-Magazin »Burgblick« berichten können. Außer von den festen Absichten, dem guten Willen und den teils recht kreativen Ideen, dem demografischen Faktor und dem Verfall von leer stehenden Häusern in der Altstadt die Stirn zu bieten, gab es nur wenig zu schreiben. Konkrete Vorhaben ließen nach wie vor auf sich warten. Also weiterhin keine rosigen Aussichten.
Er war die Rinnepassage entlanggetrottet und trat soeben durch den Torbogen hinaus auf den sonnendurchfluteten Marktplatz. Es war angenehm warm, ein herrlicher Frühlingstag. Die Plätze draußen vor den Bäckereifilialen waren überraschend gut besetzt. Auch vor der Zotta-Eisdiele gab es kaum noch einen freien Stuhl. An dem Tisch, der ihm am nächsten stand, saßen zwei Frauen, die seine Aufmerksamkeit auf sich zogen. Er blieb stehen, kniff die Augen zusammen, sah genauer hin. Angela Raabe erkannte er, obwohl sie ihm den Rücken zugewandt hatte. Ihr extravagantes Äußeres und ihre schwarze Löwenmähne verrieten sie. Aber Angela war es auch nicht, die sein Herz plötzlich höher schlagen ließ, sondern die junge Frau, die ihr gegenübersaß.
Bilder tauchten vor seinem geistigen Auge auf, die knapp vierundzwanzig Jahre zurücklagen. Von einer Sekunde zur anderen waren die Tage von damals in seinem Gedächtnis wieder präsent, ebenso wie das Mädchen, das ihn so verrückt gemacht hatte. Er erinnerte sich an den Nachmittag, als er sie angebaggert hatte und daran, wie sie auf ihn eingegangen war, ihn aufgeheizt und Stunden später, kurz vor dem Ziel, hatte abblitzen lassen. Die junge Frau bei Angela am Tisch – für einen Moment hatte er tatsächlich geglaubt, sie sei es.
Die damals erlittene Demütigung schmerzte immer noch. Und auch die Erinnerung an den Abend danach. Sie hatte so getan, als kenne sie ihn nicht.
Diekmann schüttelte den Kopf, wandte sich ab. Doch anstatt weiterzugehen, hinüber zur Drogerie, um Rasierschaum und Deo zu kaufen, wie er es vorgehabt hatte, blieb er im Schatten des Torbogens stehen. Er nahm den Fotoapparat, richtete ihn auf den Tisch vor der Eisdiele und zoomte die junge Frau heran. Ein paar Sekunden lang betrachtete er sie. Als sie plötzlich lachte, musste er heftig schlucken. Es war das gleiche verführerische Lachen, das ihn damals hatte schwach werden lassen.
Aus der sicheren Deckung heraus machte er einige Fotos von der jungen Frau, dann packte er den Apparat zurück in die Tasche. Er verließ seinen Standort, steuerte auf die Drogerie zu, erledigte die Einkäufe.
Als er auf den Platz trat, zögerte er einen Moment. Statt in Richtung Kornmagazin zurückzugehen, in sein Auto zu steigen und nach Hause zu fahren, wandte er sich nach links. Er brauchte nur ein paar Schritte, dann hatte er die Tische vor der Eisdiele wieder im Blick. Die junge Frau war verschwunden. Angela saß allein und genoss ihren Caffè Latte oder was immer sich in dem Glas vor ihr befand.
Diekmann ergriff die Gelegenheit, ging hinüber, tat überrascht: »Mensch, hallo, Angela! Grüß dich!«
Sie kannten sich persönlich, hatten sich schon bei verschiedenen Anlässen getroffen und miteinander geplaudert, meist bei offiziellen Veranstaltungen, auf der das Unternehmerehepaar Angela und Klaus Raabe anwesend gewesen war. Und Diekmann als Pressevertreter. Klaus Raabe war Immobilienmakler, hatte eine eigene Firma. Angela war seine tatkräftige Partnerin.
»Hey, Holger, wie geht’s?« Sie schob ihre Sonnenbrille ein Stück nach unten, blickte ihn über den Rand hinweg an, lächelte. »Na, wieder den Sensationsnachrichten auf der Spur?«
»Wenn wir hier in Berlin oder New York wären, dann vielleicht.« Grinsend zog er einen der freien Stühle vom Tisch ab. »Darf ich?«, fragte er und setzte sich, ohne die Antwort abzuwarten.
»Aber gerne doch«, entgegnete Angela Raabe etwas verspätet mit spöttischer Miene.
»Aaah ...« Diekmann reckte sich der Sonne entgegen. »Was für ein herrliches Wetter, nicht? Du machst es richtig. Viel zu schade, um sich den Tag mit Arbeit zu verderben. Was sagt denn dein Klaus dazu, dass du hier sitzt und sein sauer verdientes Geld ausgibst?«
»Holger, Holger, du altes Lästermaul. Immer die gleichen dummen Sprüche.« Sie drohte ihm mit dem Zeigefinger – eine nicht ganz ernst gemeinte Geste. Auf ähnliche Art und Weise waren sie schon oft in ein Gespräch eingestiegen.
Diekmann bestellte einen Cappuccino, dann setzte er das belanglose Geplauder mit Angela fort, bis er die Gelegenheit fand, sie auf die junge Frau anzusprechen, die vor Kurzem noch auf seinem Platz gesessen hatte.
»Wer war denn die junge Dame, mit der du dich vorhin so angeregt unterhalten hast?«, fragte er. »Ich habe euch zusammen gesehen, als ich zur Drogerie rübergegangen bin.«
»Also doch keine so zufällige Begegnung zwischen uns beiden«, stellte Angela scharfsinnig fest. »Du hast nur einen Grund gesucht, mich nach der Kleinen auszufragen, stimmt’s?« Sie zog eine Zigarette aus der Schachtel, die auf dem Tisch lag, zündete sie an und machte einen tiefen Zug. »Naja, war ja auch ein hübsches Ding. Wusste gar nicht, dass du in deinem Alter noch auf Frischfleisch stehst.«
»Also, bitte, Angela. Nur weil ich eine junge Frau gut aussehend finde, muss ich ja nicht gleich was mit ihr anfangen wollen.«
»Möchtet ihr Kerle das nicht alle?«, fragte sie zurück. Ihm entging nicht der giftige Unterton. »Besonders, wenn sie so knackig und unverbraucht sind? Da seid ihr doch richtig scharf drauf.«
»Nun mach aber mal halblang«, wehrte sich Diekmann, »ich kann das sehr gut trennen. Wieso bist du denn plötzlich so sauer? Ich wollte lediglich wissen, ob sie eine Bekannte von dir ist. Und ja, ich fand sie richtig hübsch.« Er legte den Kopf schief. »Du brauchst mir natürlich nicht darauf antworten.« Er hoffte, dass sie es trotzdem tat, ohne dass er ihr das wahre Motiv für seine Neugier nennen musste.
»Im Grunde geht es dich doch einen feuchten Dreck an, mit wem ich hier sitze und über was wir uns unterhalten. Jeden anderen hätte ich zum Teufel gejagt. Du hast Glück, dass ich dich mag. Also okay, ich wollte nicht so heftig reagieren. Sorry.« Angela hob entschuldigend die Hände. »Es ist nur ... ich bin derzeit ein bisschen angefressen. Wegen Klaus. Seit er und die Band auf diesem Revival-Trip sind, kommen seine Starallüren wieder hoch. Mit all dem ganzen Drum und Dran. Sauftouren nach den Proben, Groupies ... er bildet sich ein, dass es ohne das kein echtes Comeback ist. Zum Glück redet er bisher nur davon. Ich fürchte aber, er meint es ernst und wartet nur auf die Gelegenheit. Und dann treffe ich dieses Mädchen hier vor der Eisdiele, setze mich zu ihr, möchte nur ein bisschen plaudern, weil ich sehe, dass sie ein Foto der Band neben sich liegen hat. Sie gibt sich als Volontärin von so ’nem neuen Szeneblatt aus, sagt, dass sie sich für Paper Plane interessiert und eine Story über ihr Revival machen will. Über damals, als sie hier in Osterode der Mega-Kracher waren, und wie die Leute das finden mit dem Comeback. All so ’n Scheiß eben. Ich habe ihr kein Wort geglaubt. Das ist nur ’ne geile Tussi, die hinter den Jungs her ist.« Sie schluckte. »Ist das eigentlich normal, dass diese kleinen Schnittchen scharf auf so alte Knacker sind?«
Diekmann zuckte mit den Schultern. Er hatte Angela beobachtet. Sie wollte schockiert wirken, besorgt, dass ihr Mann auf Abwege geriet. Doch das nahm er ihr nicht ab. Sie spielte ihre Rolle zwar gut, aber nicht gut genug. Andererseits, warum tat sie überhaupt so betroffen? Er kannte sie nicht als Frau, die sich von einem Mann zum Narren halten ließ. Sie war selbstbewusst und stark. So, wie er sie einschätzte, hatte sie ihren Klaus im Griff und nicht er sie. Steckte etwas anderes hinter ihrer Komödie? Aber was? Was beunruhigte Angela so an einer jungen Frau, die nur Informationen für eine Reportage in einem Szeneblatt sammelte?
»Gibt es einen Grund, dass du ihr nicht geglaubt hast? Hat sie dir einen Presseausweis gezeigt oder irgendeine Legitimation, dass sie für dieses Magazin arbeitet? Wie heißt das Blatt überhaupt? Und ihr Name? Hast du sie danach gefragt?«
Angela blies genervt den Zigarettenrauch aus. »Nein, verdammt, das habe ich nicht. Weder nach einem Ausweis noch nach ihrem Namen. Aber sie heißt Carina. Hat sich unaufgefordert vorgestellt, ganz freundlich. Carina Irgendwas ... Habe nicht richtig hingehört.«
»Und das Magazin?«
»SODA, hat sie gesagt. Fand ich witzig. Klingt irgendwie nach Getränkefirma, oder? Hat aber angeblich was mit Coversongs zu tun und ist ’ne Abkürzung. Die Songs der Anderen oder so ... Ja, so soll das Blatt heißen. Kennst du es?«
Diekmann schüttelte den Kopf: »Nee. Nie gehört.«
»Ist ja auch egal.« Angela winkte ab. »Die hat sowieso nur Mist erzählt.«
Diekmann führte sich wieder das Bild der jungen Frau vor Augen. Journalistin? Auf der Suche nach einer Story für ihr Blatt? Über eine Provinzband mit einem recht überschaubaren Bekanntheitsgrad, die es noch mal wissen wollte? Nein, wirklich glauben konnte er das auch nicht. Wen sollte so etwas schon interessieren? Aber was sonst verbarg sich hinter der Frau? Wer war die Fremde, die ihn mit ihrem Lachen so verdammt an das Mädchen von damals erinnerte?
»Und du meinst tatsächlich, diese Carina hat dich unter einem Vorwand über die Band ausfragen wollen, um sich an die Kerle ranzumachen? Du denkst, sie ist nur eine billige Nutte, die mit den Jungs ins Bett steigen will?«, fragte er.
Angela schielte wieder über ihre Sonnenbrille hinweg. »Ja, das denke ich. Aber weißt du was, Holger? Eigentlich ist es mir scheißegal!« Sie lachte auf.
Diekmann nickte. Ja, das war die Angela, wie er sie kannte. »Hätte mich auch sehr gewundert, wenn es anders wäre«, sagte er grinsend und handelte sich einen abfälligen Seitenblick von ihr ein.
3
Sir Toby war tot.
Hauptkommissar Ingo Behrends hätte nie geglaubt, dass er einmal einem Hund hinterhertrauern würde. Dennoch war es so. Seit er den krebskranken Setter vor drei Wochen hatte einschläfern lassen, fehlte ihm etwas. Die Spaziergänge in die Feldmark vor seiner Haustür zum Beispiel. Dabei hatte er nie ein Tier haben wollen und Sir Toby nur aus Mitleid zu sich genommen, damals, nach der Trennung von seiner Freundin, als der Hund ins Tierheim abgeschoben werden sollte. Wie sehr man sich doch an so ein Vieh gewöhnen konnte!
Katrin vermisste Sir Toby ebenfalls. Das wusste Behrends, obwohl sie es nicht zeigte. Es ist dein Hund, hatte sie immer gesagt und so getan, als beträfe sie das Tier gar nicht. Dabei hatte sie sich ebenso um den Setter gekümmert, wie er, nein, sogar viel mehr. Und jetzt versuchten sie seit seinem Tod beide, sich vorzumachen, dass es ihnen besser ginge – kein Gassi gehen, keine Fressenszeiten einhalten, keinen Hundesitter suchen, wenn Not am Mann war. Der reine Selbstbetrug!
»Hier, guck mal.« Es war Maike de Baer, die ihm die Fotos auf ihrem Smartphone zeigte. Ein Wurf schwarzer Mischlingswelpen mit unterschiedlich verteilten hellen Zeichnungen. Ein braun-geflecktes Kerlchen war auch darunter. Die Mutter, eine rot-weiße Hündin mit eindeutigem Settereinschlag blickte gequält in die Kamera, während die Kleinen an ihren Zitzen saugten. »Die gehören der Nachbarin meiner Freundin. Sieben Wochen alt. Niedlich, findest du nicht?«
»Ja, sicher ...« Behrends wusste nicht, worauf Maike hinauswollte.
»Welchen würdest du nehmen?«, fragte sie.
»Ähm ... Moment mal, du willst dir doch nicht etwa einen Hund anschaffen?« Er zog überrascht die Augenbrauen hoch. Maike war absolut kein Hundetyp.
Sie schüttelte den Kopf. »Ich nicht. Aber wie wäre es mit dir? Jetzt, wo Sir Toby nicht mehr da ist. Ich sehe ja, wie du ihm hinterhertrauerst. Ist am besten, wenn du dir gleich wieder einen Neuen ins Haus holst. Dann kommst du schneller über den Verlust hinweg. Und so ’n kleiner Wicht macht bestimmt ’ne Menge Spaß.«
»Vergiss es!«, wehrte er vehement ab. »Das werde ich mir auf keinen Fall antun!«
»Warum nicht?« Maike ließ nicht locker, wischte auf dem Display ihres Smartphones herum. Ein weiteres Bild erschien. Eine Einzelaufnahme. Schwarze Knopfaugen, weiße Blesse, weiße Strümpfe an den Vorderpfoten, grau gepunktet. Ein Anblick zum Verlieben. »Der hier ist noch zu haben. Die anderen sind so gut wie weg. Werden ganz tolle Hunde, sagt die Besitzerin. Hat sie sogar von einer ausgewiesenen Fachfrau bestätigt bekommen.«
»Na, die muss es ja wissen«, brummte Behrends. »Aber nee, ich habe gar nicht die Zeit, mich um so einen quirligen Racker zu kümmern.« Er konnte seine Augen nicht von dem Foto lassen.
»Und Katrin?«, fragte Maike. »Sie ist doch so tierlieb.«
»Die hat auch so schon genug zu tun. Sind schließlich wie Babys, die kleinen Viecher. Muss ständig jemand für sie da sein. Also, verrat mir mal, wie das gehen soll.«
»Wenn ihr euch die Arbeit teilt? Ist ja nicht so lange. Mit der Zeit wird der ruhiger und passt sich euch an.«
Behrends schnaubte. »Sag mal, bekommst du Provision?«
Maike schloss die Bildansicht. »Überleg es dir«, entgegnete sie nur.
»Soll ich dir mal was Schönes zeigen?« Katrin hatte abgewartet, bis Behrends es sich am Abend mit einer Flasche Köstritzer vor dem Fernseher gemütlich gemacht hatte. Sie schob ihm ihr Smartphone hin.
Er erkannte das Foto sofort wieder. »Woher hast du das?« Die Frage war völlig überflüssig. Es gab nur einen Absender. Katrin und Maike kannten sich, was die gegenseitige Kenntnis ihrer Handynummern einschloss. Wollte ihn die Kollegin also durch die Hintertür überrumpeln?
»Ich habe mit Maike telefoniert«, bestätigte Katrin seine Ahnung. »Ist niedlich, der kleine Kerl, findest du nicht?«
»Jetzt erzähl du mir bloß nicht, dass du scharf auf einen neuen Hund bist. Sir Toby hast du auch nur geduldet ... sozusagen.«
»Behrends, das ist unfair! Ich habe ihn mindestens so gemocht wie du. Und gekümmert habe ich mich eindeutig mehr um ihn. Du hattest ja so gut wie nie Zeit für den Hund.«
»Ich ...« Sein Protest versiegte im Ansatz, als sie sich mit treuherzigem Blick zu ihm auf die Couch setzte und sich an ihn kuschelte.
»Schau mal, so ein Hund ist ja auch irgendwie eine Bereicherung, findest du nicht? Du hockst dich nach Feierabend nicht gleich vor die Flimmerkiste, wirst nicht faul und träge, trinkst weniger Bier und nimmst nicht wieder so zu, wie damals, vor deiner Reha.«
»Und so ganz nebenbei haben wir noch einen Helfer im Garten, der außer Fressen und Saufen keinen Lohn beansprucht, dafür aber die Rabatten in aller Gründlichkeit bearbeitet. Eine echte Win-win-Situation. Mann, Katrin! Überleg einfach mal, was das bedeutet! Das wird Stress ohne Ende!«
»Ach, Schatz ...« Sie streichelte ihm die Wange. »Wir können ihn uns doch wenigstens mal ansehen. Und wenn wir dann meinen, er ist nichts für uns, lassen wir es.«
Behrends wusste genau, was das bedeutete: Einen Welpen anschauen, das hieß, zusehen, wie er unbeholfen herumstolperte, ihn im Arm halten, den warmen Körper fühlen und streicheln, das kleine Herz spüren, wie es pochte, in diese treuherzigen Baby-Knopfaugen blicken ... Es war ein verdammter Fehler, es zu tun!
»Na schön«, seufzte er, »ansehen kostet ja nichts.«
4
Carina hatte endlich etwas in der Hand. Eine Handynummer und die vage Hoffnung, dass die noch gültig war. Sie hatte sich mehr von ihrer Recherche erhofft. Aber besser ein mageres Ergebnis als gar keins. Wenigstens hatte sie recht schnell herausgefunden, dass es sich bei Paper Plane tatsächlich um die Band handeln musste, mit deren Musikern sich ihre Mutter seinerzeit eingelassen hatte.
Ihre weiteren Nachforschungen im Internet waren dann allerdings nur von mäßigem Erfolg gekrönt gewesen. Eine rudimentäre, im Aufbau befindliche Homepage mit einem amateurhaften aktuellen Gruppenfoto als Titelbild und ein paar Auftrittsfotos aus vergangenen Zeiten, das war alles, was sie an Informationen über die Band Paper Plane gefunden hatte. Außerdem eine Facebook-Seite, die gerade erst ins Netz gestellt worden war und nur wenige Textzeilen zum bevorstehenden Band-Revival in der Heimatstadt enthielt. Dazu wieder die Fotos, die sie schon von der Homepage kannte. Sie hatte an die angegebene Mailadresse geschrieben, aber keine Antwort erhalten. Daraufhin hatte sie beschlossen, nach Osterode zu fahren und ihr Glück direkt vor Ort zu versuchen. Allein. Rico hatte sie nicht in ihre Absichten eingeweiht. Er wäre mit ihr mitgekommen. Das hatte sie unbedingt vermeiden wollen. Was sie erledigen musste, ging nur sie etwas an. Und ihre beste Freundin. Ihr vertraute sie sich in fast allen Dingen an. Sora, Schwester, wie sie sie liebevoll nannte, hörte ihr zu, ohne sie zu bedrängen. Sie gab ihr Ratschläge, nahm ihr aber keine Entscheidung ab. Und sie war, genau wie sie selbst, daran interessiert, dass ihre Verbindung ein Geheimnis zwischen ihnen blieb.
Seit zwei Tagen war sie nun schon in der Stadt, hatte sich ein Hotelzimmer genommen. Vielleicht war sie zu optimistisch gewesen, hatte geglaubt, sie brauche bloß jemanden auf der Straße anzusprechen und nach Paper Plane zu fragen, und sofort würde man sie mit Informationen über die Band zuschütten, Privatadressen und Telefonnummern inklusive. Wie naiv von ihr! Niemand schien sonderlich viel von den Musikern zu wissen, obwohl das Comeback der Band und der bevorstehende Auftritt bei den Drei freundlichen Tagen, dem Osteroder Stadtfest, durchaus Gesprächsthema waren und auf Plakaten angekündigt wurden. Einige derjenigen, die sie gefragt hatte, erinnerten sich noch an die glanzvolle Zeit von Paper Plane in den neunziger Jahren. Sie schwärmten von der Wahnsinnsstimmung, die die Jungs auf ihren Konzerten entfacht hatten. Andere wiederum, hauptsächlich Personen in ihrem Alter, kannten die Band nur vom Hörensagen und von den Schwärmereien ihrer Eltern. Aber kein einziger von ihnen konnte ihr mehr zum Privatleben der Musiker sagen als deren Namen, mancher noch nicht mal das.
Dann jedoch war sie von einer Frau angesprochen worden, als sie draußen vor einer Eisdiele auf dem Osteroder Marktplatz gesessen und sich einen Früchtebecher gegönnt hatte. Der Ausdruck mit dem Foto der Band, den sie immer bei sich trug, hatte gut sichtbar neben dem Eisbecher gelegen. Die Frau musste ihn bemerkt haben und war zu ihr an den Tisch getreten. Angela, so ihr Name, hatte sich als großer Fan von Paper Plane zu erkennen gegeben und sie im Glauben, es mit einer Gleichgesinnten zu tun zu haben, sofort geduzt. Sie hatte sich zu ihr gesetzt und sich einige Minuten überschwänglich über die Band und ihre musikalischen Qualitäten ausgelassen. Wie ein Teenager. Eine Frau, die ihr Alter auch mit ihrem jugendlichen Outfit nicht wirklich verbergen konnte. Auf mindestens vierzig Jahre hatte Carina sie geschätzt.
Schließlich hatte sie sich selbst als Volontärin eines Szeneblattes ausgegeben, mit dem Auftrag, eine Story über die Band zu schreiben. Angela war begeistert gewesen und hatte sich als Interviewpartnerin aufzudrängen versucht. Carina war nicht darauf eingegangen. Stattdessen hatte sie nach der Adresse des Bassisten gefragt. Torsten Dreyer hieß der. Mit einem Schlag war es mit der Auskunftsfreudigkeit ihrer Gesprächspartnerin vorbei gewesen.
»Torsten? Keine Ahnung, wo der wohnt.«
Angela hatte abwehrend die Arme vor der Brust verschränkt, Carina misstrauisch gemustert und ihrerseits begonnen, Fragen zu stellen. Was sie denn von ihm wolle, ob er für ihre Reportage eine besondere Rolle spiele oder ob sie eine Bekannte von ihm sei.
Carina hatte ihre vorbereitete Geschichte zum Besten gegeben. »Nein, ich kenne Torsten Dreyer nicht. Also, nicht wirklich.« Sie hatte versucht, arglos zu klingen. »Wir sind uns nur kurz über den Weg gelaufen. Ostern. Auf dem Festival oben in der Heide. Ich war dort und wollte da schon ein Interview mit den Jungs machen. War eher eine spontane Idee von mir. Ich hatte meine Volontärsstelle nicht sicher und dachte, ich könnte damit bei meinem zukünftigen Chef punkten. Torsten Dreyer hatte mir versprochen, nach dem Gig meine Fragen zu beantworten. Tja, leider ist daraus dann nichts mehr geworden. Nach dem Auftritt bin ich weder an einen der Jungs noch an irgendwelche Kontaktdaten rangekommen. Aber so schnell gebe ich nicht auf. Torsten Dreyer schuldet mir dieses Interview. Und jetzt bin ich hier. Ganz offiziell.«
Angela hatte nur bedauernd mit den Schultern gezuckt und gemeint, es tue ihr leid, doch sie könne ihr nicht helfen. Ihre Unterhaltung war noch einen Moment um die Band gekreist. Belangloses Geplauder, nicht mehr. Sogar ein gemeinsames Selfie hatte Angela von ihnen gemacht. Als nette Erinnerung an ihre Bekanntschaft, hatte sie dazu erklärt, und weil sie doch beide glühende Fans von Paper Plane seien. Brauchbare Hinweise hatte Carina jedoch nicht erhalten und war schließlich gegangen.
Am Abend des nächsten Tages hatte sie mehr Glück gehabt. Im Hølmen, einem kleinen Schweden-Bistro in der Nähe des Osteroder Friedhofs, hatte sie sich wieder nach Paper Plane und deren Mitgliedern erkundigt. Eine Kellnerin hatte auf einen älteren Mann namens Gerald Körner verwiesen, der allein in einer Nische gesessen hatte, in die Lektüre eines Buches versunken. Tatsächlich kannte der Mann den Bassisten der Band, hatte er auf ihre Frage hin behauptet und auch, dass er seine Handynummer besitze, von der er aber nicht hatte sagen können, ob sie noch gültig war. Carina hatte nicht gewusst, was sie von dem Mann halten sollte. Er war ihr irgendwie abwesend vorgekommen. Nicht gerade unfreundlich, hatte er jedoch nur das Nötigste gesagt. Wie jemand, der anderen Menschen die Antworten gab, die sie hören wollten, um sie dann möglichst schnell wieder loszuwerden. Trotzdem hatte sie sich die vermeintliche Handynummer von Torsten Dreyer auf einer Serviette notiert. Ihren Dank und die Frage, ob sie ihm ein Bier spendieren dürfe, hatte er mit einer müden Handbewegung abgetan und dabei bereits konzentriert in sein Buch geblickt. Das war vor etwa zwei Stunden gewesen.
Jetzt war es kurz nach zehn. Carina saß in ihrem Hotelzimmer auf dem Bett. Sie hatte die Ziffern von der Serviette in ihr Smartphone eingetippt. Doch dann zögerte sie, die Verbindung herzustellen. Sicher war Torsten Dreyer nicht begeistert, um diese Uhrzeit von einer ihm fremden Person gestört zu werden. Oder er schlief bereits. Und dieser Typ im Hølmen – je länger sie über den nachdachte, desto weniger glaubte sie, dass er mit dem Bassisten befreundet gewesen war. Im besten Fall gab es für die Nummer, die er ihr angedreht hatte, keinen Anschluss. Oder sie gehörte jemand anderem, den sie gleich aus dem Bett klingeln würde ...
Alles Quatsch, was sie sich da einredete! Die Wahrheit war, dass sie nun, so nahe vor dem Ziel, Angst bekam. Angst davor, dass sich am Ende der Leitung tatsächlich Torsten Dreyer melden würde und sie ihm erklären müsste, wer sie war und warum sie ihn sehen wollte. Was, wenn er einfach auflegte und gar nicht bereit war, sich mit ihr zu treffen? Es würde sie nicht einmal wundern. Nach allem, was damals passiert war, hatte er vermutlich kein Interesse daran, dass jemand an der Vergangenheit rührte, und sei es die eigene Tochter.
Carina stöhnte leise auf, starrte auf das Display. Ihr Daumen bewegte sich in Richtung des grünen Buttons mit der Aufschrift »Anrufen«. Kurz, bevor sie ihn berührte, zuckte sie zurück. Sie öffnete in einer hektischen Bewegung die Hand, als handele es sich bei dem Smartphone um ein glühendes Holzscheit. Das Gerät glitt zwischen ihre gekreuzten Beine auf die Bettdecke. Sie musste das nicht tun! Sie brauchte nicht mit ihm telefonieren, ihn treffen, ihn zur Rede stellen. Warum packte sie nicht einfach ihre Sachen, fuhr nach Hause in ihr altes Leben und vergaß Torsten Dreyer? Für immer! Gleichzeitig wusste sie, es würde nicht funktionieren. Erst wenn sie ihm gegenüber gestanden hatte, könnte sie wieder ruhig schlafen. Wenigstens sollte sie alles versucht haben, um ihn zu treffen. Das war das Mindeste.
Sie nahm das Smartphone auf, aktivierte das in den Ruhemodus gegangene Display. Die eingetippte Nummer stand noch immer dort, starrte sie an, war nicht auf Nimmerwiedersehen verschwunden, ebenso wenig, wie die vollgekritzelte Serviette neben ihr.
Sie gab sich einen Ruck, drückte den grünen Button, führte das Smartphone zum Ohr, hielt die Luft an und wartete. Ihr Herz schlug wild, hämmerte laut in das nachtstille Zimmer hinein.
Das Freizeichen. Es dauerte. Eine Ewigkeit. Viel zu lange. Er nahm nicht ab. Wahrscheinlich schlief er tief und fest und hörte nichts. Ein leiser Seufzer der Erleichterung. Sie wollte die Verbindung unterbrechen, da meldete sich eine verwaschene Stimme: »Ja, Dreyer. Wer ist dran?«
Heilige Scheiße! Er war es!
5
Noch Minuten, nachdem er aufgelegt hatte, saß er da und starrte ins Dunkel. Er hielt ein gefülltes Whiskyglas in der Hand, trank aber nicht. Wie gelähmt, war er zu keiner Bewegung fähig.
Er hatte gewusst, dass er den Anruf bekommen würde. Angela hatte ihn vorgewarnt und sich gleichzeitig über ihn lustig gemacht. Er müsse diese Carina bei dem Konzert in der Heide ja mächtig beeindruckt haben, dass sie ausgerechnet mit ihm ein Interview habe führen wollen. Und dann habe er sein Versprechen nicht eingehalten und so ein schnuckeliges Mäuschen einfach sitzenlassen. Schämen solle er sich! Sie wird deine Nummer garantiert herauskriegen, hatte Angela noch angefügt. Das Mädchen ist ziemlich aufdringlich, die lässt nicht locker. Die nicht!
Für ein Szene-Magazin namens SODA arbeite sie, hatte sie angegeben. Er kannte kein Magazin, das so hieß. Das war mit Sicherheit ebenso gelogen, wie die Geschichte von dem Interview, das er ihr Ostern angeblich versprochen hatte. Er hatte auf dem Festival niemandem etwas versprochen. Weder einer Volontärin noch sonst jemandem. Und das Mädchen von dem Selfie, das Angela in Osterode aufgenommen und ihm geschickt hatte, kannte er schon gar nicht. Sie erinnerte ihn an jemanden, aber es fiel ihm nicht ein, an wen. Aber die Kleine war, zugegeben, ein scharfes Teil, und es war ihm egal gewesen, unter welchem Vorwand sie sich an ihn hatte ranmachen wollen. Geärgert hatte er sich nur, dass Angela ihr seine Nummer vorenthalten hatte. Junge, hübsche Weiber waren ihm stets willkommen. Das wusste sie doch! So hatte er nur hoffen können, dass diese Carina pfiffig genug war, ihn trotzdem aufzuspüren. Ein Interview? Ha! Wenn sie das tatsächlich haben wollte, würde er es ihr gerne geben. Mal sehen, welchen Preis sie dafür zu zahlen bereit war.
Dann war es passiert. Er war gerade nach Hause gekommen. Von der Pokerrunde. Ziemlich früh, denn er hatte wieder verloren. Eine Summe, die ihm richtig wehtat. Es war nicht das erste Mal. In den letzten Wochen hatte er mehr Geld verspielt, als nachkam. Es wurde langsam eng für ihn. Er sollte die Finger besser von den Karten lassen, anstatt sich um Kopf und Kragen zu spielen. Seine besorgten Freunde aus der Band hatten ihm den Rat gegeben. Doch das konnte er nicht. Und von einer Therapie wollte er erst recht nichts hören! Er würde schon klarkommen und irgendwann auch wieder gewinnen. Das Gequatsche eines oberschlauen Seelenklempners brachte ihm überhaupt nichts. Das würde er sich sparen.
Mit einem Glas und der noch halb vollen Whiskyflasche hatte er sich in einen der Sessel im Wohnzimmer geworfen. Etwas gegen den Frust tun. Whisky half ihm da meist sehr gut. Auch wenn er dann am nächsten Morgen den schmerzenden Kopf mit Alka Seltzer bekämpfen musste.
Als er sich das zweite Glas eingeschenkt hatte, war der Anruf gekommen. Eine ganze Weile hatte er gebraucht, um das vibrierende Smartphone aus seiner Hosentasche zu fummeln. Er hatte die angezeigte Nummer nicht gekannt und doch sofort gewusst, dass sie es war, diese Carina. Die etwas von ihm wollte, vermutlich genau das, worauf auch er Lust hatte. Trotz seines desolaten Zustandes war er augenblicklich rattenscharf geworden und hatte das Gespräch angenommen.
Seine Erregung war so schnell verflogen, wie sie gekommen war. Dazu hatte es nur einen Satz von ihr bedurft: Er sei vermutlich ihr Vater und sie wolle sich unbedingt mit ihm treffen. Er hatte geglaubt, sich verhört zu haben und ihr an den Kopf geworfen, wenn es darum ging, mit ihm zu ficken, dann solle sie das direkt sagen und nicht so einen Scheiß labern, von wegen Vater und so. Aber die Frau am anderen Ende hatte sich nicht beeindrucken lassen, sondern auf ihrer Behauptung beharrt und angefangen, ihm zu erklären, wie sie auf ihn gekommen sei. Er hatte nicht hingehört, irgendwelche unverständlichen, gurgelnden Laute von sich gegeben und einfach aufgelegt.
Als es kaum eine Minute später wieder geläutet hatte, war er nicht mehr drangegangen. Stattdessen hatte er versucht, ein wenig Struktur in das Gedankenchaos zu bekommen, das diese Carina in ihm verursacht hatte.
Er sollte ihr Vater sein? Wie das denn? Wie kam das Mädchen dazu, so etwas zu behaupten? Zumindest hatte sie nicht so geklungen, als sei das nur eine Anmache von ihr gewesen. Doch wann hätte er eine Frau geschwängert haben sollen, ohne davon zu wissen? Und wo? Vor allen Dingen aber, wer könnte diese Frau gewesen sein, verdammt noch mal? Sein Kopf glich einer leeren Kiste. Nirgends ein brauchbarer Hinweis, einfach nichts.
Er musste Klaus und Angela anrufen. Sofort. Mit dem ersten klaren Gedanken seit Minuten schaffte er es, sich aus der Starre zu lösen. Er nahm hastig einen Schluck aus dem Whiskyglas und stellte es auf dem Tisch ab. Das Smartphone lag neben ihm auf der Sessellehne. Seine Finger wischten über das Display, suchten und fanden die richtige Nummer. Er wählte. Klaus meldete sich nach dem zweiten Läuten.
»Ich soll ihr Vater sein!«
Einen Augenblick Stille am anderen Ende. Dann: »Was? Wovon redest du? Bist du besoffen?«
»Dieses Mädchen. Carina.« Er unterbrach sich, hustete, hatte sich am eigenen Speichel verschluckt. Es dauerte einen Moment, schließlich fand er die Stimme wieder. »Angela hat gesagt, sie wird anrufen. Gerade eben hat sie es getan und behauptet, dass ich ihr Vater bin. Ich kapiere das nicht.«
»Du? Ihr Vater?«, platzte es aus Klaus heraus. Dann dessen dröhnendes Lachen, sodass er das Smartphone ein kleines Stück von seinem Ohr weghalten musste. »Und du hast ihr natürlich geglaubt!«
»Es klang nicht gerade so, als ob sie mir Scheiße erzählt«, jammerte er.
»Nee, is klar«, höhnte Klaus. »Mann, jetzt komm mal wieder runter. Du bist ja echt von der Rolle. Hast du mal daran gedacht, dass das auch nur eine ihrer Maschen war, um dich zu knacken? Angela hat dir gesagt, dass die ganz schön penetrant ist. Hast du dir vielleicht mal überlegt, wie sie auf die Idee gekommen sein könnte, dass du ihr Vater bist?«
»Habe ich. Mir ist nichts eingefallen.«
»Kein Wunder.« Unwilliges Schnauben am anderen Ende. »Wann und wo sollst du sie denn gezeugt haben? Wer ist ihre Mutter? Warum hat die sich nie bei dir gemeldet in all den Jahren?«
»Verdammt, ich weiß es nicht!«, greinte er.
»Du hast sie nicht danach gefragt?«
»Nein! Ich war so perplex. Sie wollte mir irgendwas erklären, aber ich habe nicht zugehört und einfach aufgelegt.«
Klaus stöhnte auf. »Mann, wie bescheuert kann man eigentlich sein? Bist du wieder so zugeschüttet, dass in deiner Birne nur Chaos herrscht?«
»Ich ...«