Drei Mädchen und der letzte Hexenprozess - Henry Landers - E-Book

Drei Mädchen und der letzte Hexenprozess E-Book

Henry Landers

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Beschreibung

Ob sich die Zukunft, wie sie Friuli im Jahr 3028 kennt, so ereignen wird, liegt allein in den Händen der drei Mädchen Annabell, Lara und Maya, ihrem Seher Sven sowie seinem Hund Timmy. Denn die Zukunft ist eng mit Dorotheas Schicksal verbunden, die im letzten Hexenprozess 1728 in Berlin ungerecht verurteilt wurde. Nur wenn es den Drei gelingt, Dorotheas Schicksal zu ändern und ihren Fluch abzuwenden, wird die Heilquelle des Gesundbrunnen nicht versiegen. Eine Reise durch die Zeit führt die Drei von Dorotheas Geburt über 1300 Jahre in die Zukunft, in der drei nachhaltig geniale Erfindungen der NI-Bots alle Probleme der Menschheit lösen. Verwunschen. Glamourös. Eine grandiose Reise durch die Zeit

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So zerrissen und verwobenwie unsere Zeit

Ob sich die Zukunft, wie sie Friuli im Jahr 3028 kennt, so ereignen wird liegt allein in den Händen der drei Mädchen Annabell, Lara und Maya, ihrem Seher Sven und seinem Hund Timmy. Denn die Zukunft ist eng mit Dorotheas Schicksal verbunden, die im letzten Hexenprozess 1728 in Berlin ungerecht verurteilt wurde. Nur wenn es den Drei gelingt, Dorotheas Schicksal zu ändern und ihren Fluch abzuwenden, wird die Heilquelle nicht versiegen.

Eine Reise durch die Zeit, führt die Drei, von Dorotheas Geburt, über 1300 Jahre in die Zukunft, in der drei nachhaltig geniale Erfindungen der NI-Indi-Bots alle Probleme der Menschheit lösten.

Das 2. Buch der Science Fantasy-Buchreihe

von Henry Landers. erscheint in zwei Teilen.

Teil 1

Verwunschen. Glamourös.

Eine grandiose Reise durch die Zeit.

Liebe Leser:innen,

Drei Mädchen und der letzte Hexenprozess enthält fiktive

sowie historische Themen die auf manche Leser:innen

verstörend wirken können.

Eine Liste der Themen findet ihr im Anhang.

Seit vorsichtig.

Viele liebe Grüße

Henry

Impressum

Deutsche Erstausgabe 2024 Copyright © 2023 Henry LandersAlle Rechte vorbehalten.

Korrektorat: Vanessa WuzynskiUmschlaggestaltung, Illustration, Layout, Satz: Henry LandersFoto des Autors: © Marco Bußmann

Henry LandersButtmannstraße 13, 13357 [email protected] / www.henrylanders.de

Herstellung und Verlag: BoD - Books on Demand GmbH, NorderstedteBook ISBN: 978-3-759-79849-7

Print on Demand ISBN: 978-3-759-76894-0

Quellen: u. A.

Criminal Collegium: Akta Dorothea Steffin (Originalhandschrift),

Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin, 13. Dezember 1728

Quellenverzeichnis im Anhang

Henry Landers ist geboren und aufgewachsen in Berlin. Als Fotokünstler bereiste er die Welt und sammelte Eindrücke aus vielen Kulturen, die heute in seine Werke einfließen. Das Schreiben allerdings öffnete ihm die Tür zu einer Welt voller Geschichten, wie es das Fotografieren niemals konnte. Henry Landers liebt es, jeden Morgen durch den Humboldt-Hain zu gehen, der ihn die drei Hauptfiguren und die fantastische Welt der Tamanaken entdecken ließ. Während meinen Recherchen für »Drei Mädchen retten die Welt - Wie es begann« wurde ich auf das Schicksal von Maria Dorothea Staffin aufmerksam.

www.henrylanders.de

Prolog

Vergangenheit

Es regnete. Es regnete seit zwei Wochen ununterbrochen, am Tag und in der Nacht. Wie eine Sintflut fiel das Wasser vom Himmel. Kaum ein Dach an diesem Ort war noch dicht.

Es goss in jedes Haus, in jede Kammer. Die Mühle befand sich noch im Bau und die Dächer waren noch nicht abgedichtet. Jeder verfügbare Eimer und jeder Trog wurde in Küchen, Stuben, Kammern und wo es nur Sinn machte, aufgestellt, um das eindringende Wasser aufzufangen.

Die schon nicht mehr ganz so kleine Maria Dorothea Staffin saß auf ihrem Bett. Zum Glück war das Stroh darin noch trocken.

Der Regen prasselte unerbittlich auf die Holzschindeln über ihr. Von überall hallte das hohle Plopp, Plopp, prrrrrrrr, Plopp großer Tropfen durch die Mühle. Dorothea schaute den Tropfen nach, wie sie in den hölzernen Trog vor ihr fielen, aufsprangen und wabbelnde Kreise im Wasser formten. Der Kerzenschein malte schwache, flackernde Konturen in das Dunkel der kleinen Kammer.

Dorothea weinte, schluchzte verzweifelt. In ihren Händen hielt sie ein blutiges Tuch. Mit spitzen Fingern hob sie ihr Kleid, tupfte mit dem Tuch zwischen ihre Beine. Doch das Blut wurde immer mehr. Nie zuvor blutete ihr Körper an dieser Stelle. Sie hatte keine Verletzung erlitten oder Schläge bekommen. Das kann nur die Strafe für eine Sünde sein, dachte sie. Wie sollte sie mit dieser Schande nur weiterleben? Was hatte sie falsch gemacht, dass es Jesus den Heiland nur so erzürnte?

Dorothea bekreuzigte sich. Dann nahm sie das kleine hölzerne Kreuz, was seit ihrer Geburt um ihren Hals hing, und küsste es. Tränen rannen über ihre Wangen, platschten in den Trog und vermischten sich mit dem Regen.

Dorothea wusste nicht, wie alt sie an diesem merkwürdigen Frühlingstag im Jahr 1721 wirklich war. Rechnen hatte sie noch nicht gelernt und ihren Geburtstag kannte niemand. Aber den Ereignissen ihres Körpers folgend könnte sie vielleicht etwas älter als zwölf gewesen sein.

Draußen ergoss sich die Flut aus den tiefhängenden nachtgrauen Wolken. Die Panke, der Fluss an der Mühle, in der sie wohnte, stieg schon seit Tagen an. Doch heute wollte der kleine Fluss zeigen, wie stark er sein konnte.

Am Oberlauf staute er sich bedrohlich an. Einige quer liegende Bäume und aufgeschwemmte Sträucher ließen den Pegel im Flussoberlauf so hochsteigen, bis der Damm unter der Last des Wassers brach. Eine verheerende, meterhohe Flutwelle schoss durch das kleine Flussbett und riss alle Brücken, Boote und Stege mit sich.

Dorothea ahnte davon noch nichts. Für sie war ihre kleine Welt in eine fürchterliche Unordnung geraten. Mit dem blutdurchnässten Tuch in der Hand ging sie auf die Wiese hinter der Mühle, wo sich die Panke teilte, zu ihrem Lieblingsplatz auf der Mühleninsel. – Dort stand sie klatschnass im Regen und hörte ein lautes Krachen und Kreischen von flussaufwärts näherkommen.

Sie stand nur so da und heftete ihren Blick auf die Lücke zwischen den Weiden, aus der der Fluss herkam und lauschte in die Ferne. So ein Geräusch hatte sie noch nie gehört. Weder die Postkutsche, die zweimal täglich durch Wedding raste, war so laut, noch klangen die Kanonen vom nahegelegenen Artilleriefeld so bedrohlich.

Der Regen wusch Dorotheas Tränen ab und der bedrohliche Schrei aus der Ferne nahm die rätselhafte Pein von ihr.

Ihr Blick war immer noch starr in die Ferne gerichtet. Hinter ihr waren die Wiese, die Mühle und der Hof. Auf der Wiese waren wie immer viele Filzbahnen auf Gestelle gespannt. Der Regen sollte sie waschen.

Keiner sonst war zu sehen.

Nur Dorothea stand immer noch still, wo sie war in ihrem durchnässten, weiten, verschlissenen, sandfarbenen Wollkleid mit den vielen Knöpfen, die ihr braunes Mieder zusammenhielten. Die langen rotblonden Haare fielen triefnass und schwer über ihre schmalen Schultern. Eine Haube musste sie nicht tragen, denn sie war noch nicht verheiratet oder jemandem versprochen. Die Sommersprossen vermischten sich mit den Regentropfen, die über ihr Gesicht flossen. Barfuß war sie die Treppe heruntergestiegen. Die nasse Wiese ragte zwischen ihren Zehen auf. Dorothea fühlte sich plötzlich von allen vergessen. Niemand war da, den sie fragen konnte, was hier passierte.

Das Geräusch kam näher und jetzt sah sie es: Eine hoch aufgetürmte Welle raste durch das enge Flussbett direkt auf sie zu. Wie eine Maus erstarrt, sah sie gebannt auf den Schlangenkopf, der sie jeden Moment verschlingen wird. Keinen Schritt taten ihre Füße und ihre Augen konnten sich vom nahenden Unheil nicht lösen. Und schon ergriff sie die Wucht des Wassers und Dorothea verschmolz in der Flut mit allen Bäumen, Ästen und Holzfetzen, die die Welle mit sich riss. Sie strudelte halb unter Wasser und halb darüber durch die Tür, die sie offengelassen hatte, in das Haus, durch die Kammern und in die Küche.

Kurz schnappte sie gierig nach Luft und verschwand wieder, wedelte ohnmächtig mit ihren Armen, versuchte sich an einem Türpfosten festzuklammern und glitschte davon. Zusammen mit Stühlen und Tischen, Hausrat, und vielen Tüchern und noch mehr Filzbahnen spülte sie die Flut aus der Küchentür ins Freie. Kurz erhaschte sie einen Blick zurück, – das Wasser ließ sie für einen Augenblick auftauchen, um mit weit aufgerissenem Mund tief Luft zu holen. Dorothea sah das Haus, in dem sie seit Kurzem lebte, einstürzen. Es folgte ihr nun, im Fluss, der so stark sein wollte und es tatsächlich auch war.

Ein heftiger Schlag in die Brust ließ Dorothea kurz ohnmächtig dahintreiben.

Sie sah … sie sah, was ihre Augen nicht glauben konnten. Ein warmes Licht, ein Raum voller Geborgenheit. Sie hörte eine Stimme, die fragte:

»Dorothea, Dorothea, bist du es?«

Sie antwortete: »Ja, ich bin’s.«

»Dann ist es gut, meine Schwester. Bleib stark.«

»Wer bist du?«, wollte Dorothea wissen.

»Ich bin du, in einer anderen Welt.«

»Wie hast du mich gefunden?«

»Du hast mich gerufen. Weißt du es nicht mehr?«

Dann erwachte Dorothea aus ihrer Vision, – trieb weiter in dem Fluss, der sie fest umklammerte.

Sie griff nach einem nahen Brett. Unter der Wasseroberfläche aber bohrte sich etwas Spitzes tief in ihr Bein.

Es schmerzte aber nicht so heftig. Es fühlte sich nur so groß und fest im Fleisch ihres Oberschenkels an.

Der Regen hielt unvermindert heftig an. Große Tropfen platschten um sie herum auf die Wasseroberfläche, sprangen fröhlich auf und formten ihre Kreise, die sich mit anderen kreuzten, woraus nur ganz kurz ein schönes Muster entstand. Andere Tropfen machten große Blasen, die neben Dorotheas Kopf für einen Moment neugierig mitschwammen, um dann mit einem leisen Plopp zu platzen. Längst hatte Dorothea sich dem Fluss hingegeben. All ihre Kraft und Wille für Gegenwehr waren verbraucht.

So trieb sie reglos für eine Zeit.

Plötzlich ergriff sie eine starke Hand und zog sie aus dem Wasser. Dorotheas Arme und Beine hingen schlaff an ihr herab. Über ihr sah sie noch kurz das Gesicht einer älteren Frau mit großem Hut in einem weißen Kleid mit großem, verblüffend echt wirkendem Blumenmuster. Dann schwanden ihr die Sinne.

1

GEGENWART

Die Drei

Selbstbewusst und ein wenig erwachsener gingen Annabell, Lara und Maya lässig wie drei junge Leopardinnen fast in Zeitlupe nebeneinander und bogen in die Savanne der Swinemünder Straße ein. In ihren Ferien hatten die Drei ihr bisher größtes Abenteuer erlebt, doch sie konnten sich nur wage, wie an einen fernen, nebligen Traum, daran erinnern. Wie fast jeden Morgen gingen sie durch den kleinen Garten in der Mitte der Swinemünder Straße.

»Ich hatte so einen seltsamen Traum«, sagte Annabell im Überschwang zu Lara und Maya.

»Echt?«, kam es fast im Duett zurück. Sie lachten.

»Ja der war wirklich krass. Wir drei haben die Welt gerettet und waren bei so einem krass coolen Volk, das Tamanaken hieß oder so und im Humboldthain lebte«.

»Irgendwie hatte ich auch so einen merkwürdigen Traum«, erinnerte sich Maya leise, – sagte es nachdenklich mehr zu sich selbst.

»Und du Lara?«, wollte Annabell wissen.

»So genau kann ich mich nicht mehr erinnern. Aber irgendwie war da glaub ich was.« Für den Moment beließen es die Drei dabei, über ihren merkwürdigen Traum nachzudenken und konzentrierten sich lieber auf die vielen duftenden Blumen und herumschwirrenden Insekten, die die Morgensonne mit all ihren Reizen auskosteten.

Was wird der erste Schultag nach den Pfingstferien bringen? Sie wussten es nicht, waren aber zu allem bereit. – Fast allem jedenfalls.

Es ist der 26. Mai 2010 um 07 Uhr und 36 Minuten.

Das wäre eigentlich unwichtig, wenn sich nicht in anderen Zeiten geheimnisvolle Ereignisse zutragen würden, die ebenso einer genauen Datierung und Verortung bedurften.

2

vergangenheit

Dorothea

Ein kleines, spielendes Mädchen sitzt am 26. Mai 1722 um 10:24 Uhr an einem Dienstag, auf den Tag genau 288 Jahre vor dem ersten Schultag nach den Pfingstferien von Annabell, Lara und Maya, auf der nördlichen der beiden Brücken, die die Walkmühleninsel kreuzen.

Sie ist die Tochter des Walkmüllers und hörte auf den schönen Namen Dorothea. Die kleine Dorothea war folgsam, würde sie selbst sagen. Zumindest meistens jedenfalls oder, na ja, oft, würde ihr Vater sagen. Heute allerdings ist das eher nicht der Fall, denn auf der Brücke spielen ist strengstens verboten.

Zur gleichen Zeit näherte sich der Brücke rasend schnell eine schwarze Kutsche – ein Vierspänner mit königlichen Wappen. Verfolgt von einer gewaltigen Staubwolke, peitschte der Kutscher die vier Pferde, als ob ihm der Teufel persönlich im Nacken säße. Weit nach vorn gebeugt, im flatternden schwarzen Cape, trieb er die Pferde mit einer langen Peitsche an.

Die mächtigen Räder der lackglänzenden Kutsche machten ein scharfes Geräusch auf der Straße nach Berlin, von zerberstenden Schädeln und Knochen, als ob sie die Erde vergangener Schlachten durchpflügten.

Dorothea saß auf der Brücke in ihr Spiel versunken, ihr Lieblingslied vor sich hin singend und summend. Mit kleinen Steinen und Ästen, die hier vom letzten Sturm zuhauf herumlagen, spielte sie Vater, Mutter und zwei Kinder.

Die Straße zum königlichen Schloss nach Berlin machte kurz vor der Brücke an der Panke eine kleine Kurve. Und die Brücke wiederum machte einen kleinen, aber heimtückischen Hügel in der Straße nach Berlin.

Während die Kutsche von der Seite der Feldmark, von Oranienburg herüberraste, der Kutscher die Gefahr nicht einsehen konnte, sich mit seinem blitzschnellen Gefährt in Sicherheit wog, bis er die Kurve erreichte, mit den Rädern auf der engen Brücke ins Schleudern kam, die Pferde in Todesangst laut wieherten und die Kutsche beinahe von der Brücke in die Fluten zu stürzen drohte, saß dicht neben dem bedrohlichen Spektakel immer noch das kleine Mädchen. Kurz bevor die Staubwolke Dorothea mit Haut und Haaren verschlang, kreuzte sich ihr Blick mit dem des Kutschers für den Bruchteil einer Sekunde.

Unmittelbar neben dem Mädchen gab es einen lauten Rumms, doch das hörte der Kutscher nicht mehr, denn er war froh, die Kutsche samt Passagieren und der wertvollen Fracht nicht in der Panke verloren zu haben und raste weiter, – denn er durfte keine Zeit verlieren.

Nachdem der Staub verzogen war und sich Dorotheas Herz beruhigt hatte, bemerkte sie einen schönen, mit vergoldeten Nieten verzierten Lederkoffer neben sich, der von der Kutsche gefallen war und sie nur um Haaresbreite verfehlte.

Einen Augenblick saß sie da und sah den Koffer an, als ob jeden Moment der Deckel aufspringt und ein, sie konnte sich nicht vorstellen was, aber irgendetwas herausspringen würde.

Nichts tat sich. Der Koffer lag einfach nur da, etwas verstaubt, aber deutlich erkennbar wie ein Ding aus einer anderen Welt, einer wohlhabenden, gebildeten, mächtigen Welt. Blitzschnell beschloss Dorothea, den Koffer als ein Geschenk des Himmels zu sehen, was das Schicksal ihr vor die Füße legte und dass sie mit niemandem teilen wollte.

Das kleine Mädchen hatte ein heimliches Versteck, das nur sie kannte und wo sie niemand finden konnte, wenn sie nicht gefunden werden wollte. An diesem geheimen Ort beschloss sie, den Koffer zu verstecken, bevor jemand Wind davon bekam.

Ihrem Vater wollte sie davon nichts erzählen, denn er war ein ehrfürchtiger königstreuer Untertan und obendrein zwar ein liebenswürdiger Mensch, aber dennoch auch ein rechter Angsthase. In jedem Fall hätte er den Koffer, wem auch immer, zurückgegeben.

Der Koffer war sehr schwer und Dorothea hatte mit beiden Händen ziemlich zu schleppen und musste aufpassen, sich nicht die Füße einzuklemmen, als sie ihn den langen Weg von der Brücke zum hinteren Teil der Mühle trug. Es musste schnell gehen, bevor sie jemand erwischte.

Auf der anderen Seite der Panke tauchten wie aus dem Nichts drei Mädchen und ein Junge in ihrem Alter auf, die sie hier zuvor noch nie gesehen hatte. Sogar ein kleiner Hund war dabei. Dorothea schaute misstrauisch zu den gaffenden Fremden, die ihr dabei zusahen, wie sie den großen Koffer über den Hof schleppte.

Dann plötzlich, nach einem Wimpernschlag, waren sie wieder verschwunden. Dorothea dachte nicht weiter über die Fremden nach, denn sie war höchst beschäftigt und zudem war Eile geboten.

Der erste Teil durch den Garten war geschafft. Jetzt noch die Treppen hochschleppen. Dorothea wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Sie musste sehr vorsichtig sein, dass der Koffer auf den engen Treppenstufen nicht polterte und sie nicht über den Dielenboden im Flur zu ihrer geheimen Dachkammer scharrte. Denn jedes kleinste unnormale Rumpeln oder Krachen schien dem Müller, den Mägden und Knechten der Mühle verdächtig, könnte es doch von einer Fehlfunktion der Walkhämmer stammen, die die gesamte Filzproduktion des Tages gefährden könnte.

In ihrem Versteck angekommen war Dorothea völlig außer Puste und fiel neben dem Koffer mit ausgebreiteten Armen und Beinen ins Stroh. Für einen Moment musste sie neue Kräfte schöpfen.

Dorothea liebte diesen Ort, ihr kleines Geheimnis, von dem niemand sonst etwas wusste. Frisches, duftendes Stroh machte ihn weich und behaglich.

Das klitzekleine Fenster in der Giebelspitze der Walkmühle gab ihren Blick frei auf eine der beiden Brücken über die Panke, an der sie eben noch saß, über die drei wichtige Straßen aus dem Norden des Reiches wie ein halber Stern zusammentrafen, die über die kleine Insel, auf der sie lebte, dicht vor der Mühle vorbei, in der sie wohnte, nach Berlin führte.

Vorbeiströmende Menschen aller Couleur, elegante Kutschen mit prächtigen Pferden und goldenen Wappen, Bauern mit ihren kleinen Schafherden, Ochsenkarren voller Obst und Gemüse, die zum Markt nach Berlin fuhren, Kühe die langsam zur Weide trotteten, Kinder, die laut schnatternde Gänse vor sich hertrieben, und jeden Tag etwas gänzlich Neues ließen Dorotheas Gedanken verträumt umherschweifen.

Ihr Blick reichte von hier aus aber noch viel weiter bis zum Horizont, über die flache Heide bis zum fernen Artillerie- und Exerzierplatz, von dem zweimal in der Woche, an jedem Dienstag und Donnerstag, kriegerisches Kanonengrollen herüber raunte.

All das geschah in dem kleinen Ausschnitt von der großen Welt, der so manchen fernen Wunsch in Dorotheas Fantasie aufflammen ließ.

Doch jetzt lag ein realer Koffer aus einer anderen Welt mit eleganten Dienern, erlesenen Speisen, kunstvoll gebackenen Kuchen, prachtvollen Kleidern, ja sogar mit Parks und Schlösser neben ihr im Stroh.

Entschlossen kniete Dorothea vor ihrer geheimnisvollen Beute, öffnete zuerst mit beiden Händen die widerspenstige rechte Lederschnalle und dann die linke. Geschafft so weit. Langsam hob sie den oberen Teil des Koffers an, immer weiter, bis sich der Inhalt in seiner ganzen Pracht, in jedem Detail und ganz für sie allein zeigte.

3

gegenwart

Die Drei

Die Drei kannten die Swinemünder Straße, seit sie laufen konnten und liebten sie sehr, denn sie war gemacht, um Kindern und Familien Raum der Entspannung zu geben. Eigentlich war die Swinemünder Straße weniger eine Straße im eigentlichen Sinne, sondern eher eine Gartenallee.

Hier fuhren keine Autos, und wo sonst die Straße den Blechkarossen vorbehalten war, erstreckte sich zwischen den breiten Gehwegen ein langer Park mit Büschen, Beeten und blühenden, duftenden Sträuchern.

Kleine, niedrige Mauern aus rotem Stein grenzten die Beete von Buddelkästen, Tischtennisplatten, Bänken und kleinen Sitzhockern ab. Am Abend war hier viel los. Cliquen trafen sich und hingen miteinander ab. Am Tage konnten hier Mütter ihre Kinder frei laufen lassen, um zu spielen und herumzutollen, ohne auf Autos achten zu müssen. Es war hier stiller als anderenorts in der Großstadt, denn der sonst alles dominierende Verkehrslärm war hier weit weg.

Annabell, Lara und Maya liebten es, sich auf den kleinen Wegen zur Schule durch den Park wach zu träumen.

Auf den schmalen Steinplattenwegen gingen sie zwischen den Beeten, umringt von neugierigen, umhersummenden Bienen und Hummeln und unter Bäumen mit singenden Vögeln. Hier verträumte sich der Morgen ganz märchenhaft von selbst, bis die Drei entzückt wieder auftauchten, um den neuen Tag zu erobern.

Es war ein schöner, sonniger, warmer Tag. Kleine weiße Wolken zogen über den blauen Himmel. Die Luft duftete angenehm und war klar. Die morgendliche Frische zog um die kleinen Nasen von drei Mädchen, die noch nicht ahnen sollten, wie überraschend sich der Tag für sie noch entwickeln würde. Erst einmal aber galt es, noch die erste Hürde des Tages zu nehmen.

»Wir haben heute den lang angekündigten Projekttag in Politik und Wirtschaft bei Frau Heidenreich«, sagte Maya betont gelangweilt.

»Ich kann es kaum erwarten«, stöhnte Annabell. »Wieder so theoretische Geschichten, die keinen wirklich interessieren.«

Die Drei wollten sich wie sonst auch zwischen den Grüppchen der Großen aus der zwölften und dreizehnten Klasse hindurchschlängeln, die jeden Morgen vor dem Schulgebäude in der Swinemünder Straße so cool herumstanden, dass die Kleineren immer mit Respekt schnell an ihnen vorbeihuschten.

Die Großen bewegten sich kaum. Sie standen da wie Pinguine auf der eiszeitlichen Savanne, abgeklärt und reif, um bald den nächsten, neuen Schritt in ihrem Leben zu gehen. Doch hier am Diesterweg-Gymnasium waren sie jetzt die Großen, die Erfahrenen, die demonstrativ Gelangweilten, weil sie schon alles an diesem Ort einhundert und einmal gesehen und erlebt hatten.

Selbst jetzt, fünfzehn Minuten vor acht Uhr, brachte sie nichts aus der Ruhe. Sie standen nur so da und zeigten sich. Es war ein Sehen und gesehen werden vor der Kulisse des spacig orange-gelben Schulgebäudes aus der elegant-schrillen Architekturepoche der 70er Jahre mit seinen abgerundeten Hauskanten, den verschachtelten Raum-Kuben und der erhabenen Fensterzeile, die bei Sonnenschein immer mit metallisch glänzend weißen Metalljalousien schattiert wurde.

Ihr Schulgebäude ragte aber auch wie eine schützende Burg auf. Ein Ort, an dem die Schüler sicher waren vor der Welt da draußen, den Erwachsenen und den Idioten, die hier so herumlungerten. Damals war hier im Diesterweg-Gymnasium an der Swinemünder Straße im Brunnenviertel noch alles in bester Ordnung.

Das Oberstufenzentrum, wie es offiziell hieß, war ein architektonisches Vorzeigegebäude, entworfen in dem preisgekrönten Architekturbüro Pysall, Jensen, Stahrenberg & Partner, mit gepflegten Grünanlagen und glänzendem, intaktem Umfeld, – mit der großen Turnhalle und dem weiten Sportplatz. Damit aber nicht genug, denn ganz den Ideen des Namensgebers Friedrich Adolph Wilhelm Diesterweg folgend, wurde hier die gymnasiale Oberstufe reformiert. Um die Selbstbestimmung der Schüler zu fördern, wurden traditionelle Klassenverbände aufgelöst und durch ein Kurssystem ersetzt.

Diese Schule war ein moderner Palast des Lernens aus einer Zeit, in der die Generation der Babyboomer und danach die Generation X aufwuchsen, in der Schulen nur so aus dem Boden schossen, wie einst im alten Preußen an jeder Ecke historisierte Backsteinkirchen in den Himmel wuchsen.

Auf der Sonnenseite der täglichen Schau der kleineren und größeren Eitelkeiten war eine Gruppe von sechs Mädchen ganz besonders gut zu sehen. Auf den oberen der elf Stufen der breiten Freitreppe zum Schulgebäude setzten sie sich effektvoll in Szene.

Sie strahlten wie mächtige Kriegerinnen und das ganz ohne Worte oder Waffen. Ihr Credo war es, elegant und trendy, zudem stark, weiblich und kriegerisch zu sein, wie die heiße Sonne am Tag und der kühle Mond bei Nacht. Ohne viel mehr dabei zu tun, als strahlend sie selbst zu sein mit den besten Noten in Physik, Chemie, Mathe und Biologie, versteht sich, und unermesslich ambitionierten Ideen für ihre Zukunft.

Sie waren verschleierte türkische Mädchen, die mit der pseudocoolen Jeans und T-Shirt Mode ihrer Mitschülerinnen absolut nichts anfangen konnten.

Nur die besten und schrillsten Modedesignerinnen aus Istanbul konnten ihnen Vorbild genug sein.

Keine Frage, diese Sechs aus der Zwölften waren Queens of Fashion. Sie waren Hijabistas. Und die Modedesignerin Zeynep Tosun war ihr unangefochtener Stern am Modehimmel. Zeyneps Collections für Kriegergöttinnen mit sinnlichen Symbolen und weiblichen Formen trafen tief ins Herz der selbstbewussten jungen Damen, die sie zweifelsohne waren.

Jeder in der Schule kannte ihre Namen. Von rechts nach links sind das, wenn ich vorstellen darf: Ece, Zeynep, Simay, Nihan, Tuba und Hatice.

Wie an jedem Morgen, kurz vor Schulbeginn, erschienen die Hijabistas hier auf der großen Freitreppe und niemals auf dem Schulhof, wo die Jungs aus der Neunten, eine möchte gern Schul-Gang, die sich »Back School Boys« nannte, ihr Unwesen trieben, sich gegenseitig anmachten und sich auch mal in die Cliquen der anderen schubsten.

Schon wie die miteinander sprachen, wenn sie so unberechenbar drauf waren, und das waren sie eigentlich fast immer. Zur Verständigung reichten den Jungs dann so krasse Wörter wie: »....« peep, oder »....« peep und am schlimmsten war »....« peep. Okay, heute sind das Wörter, die keiner mehr sagt, aber damals war das, na ja, ich würde vorsichtig sagen, noch nicht so verboten und kontrolliert.

In der Liste der No-Gos rangierte ganz oben der pinkfarbene Schaumgummiball, den die »Back School Boys« »Little Wilson« nannten, und der alle Schüler auf dem Hof, schon wenn sie ihn sahen, in leichte Panik versetzte. Sie kickten den »Little Wilson« mit lautem Rufen der peep-Wörter völlig unberechenbar an jede und jeden auf dem Schulhof, überallhin, wo immer sie nur trafen.

Ihr könnt euch sicherlich vorstellen, dass dann immer besonders die Mädchen in eine helle Aufregung gerieten, was fast immer mit lauten Rufen und nicht selten hysterischem Kreischen ablief.

Nur die rumänischen Mädchen aus der Neunten versuchten den »Little Wilson« zu fangen, und das gelang ihnen ziemlich oft. Dann gab es ein lautes Gerenne und die schnellen kleinen Mädchen warfen sich den Ball hin und her und neckten die Jungs. Am Ende half den fünf »Back School Boys« nur ihr unwiderstehlicher Charme und ein wenig Betteln, um den Ball zurückzubekommen.

Das war ihnen offiziell ein wenig peinlich, aber eigentlich mochten sie es, mit den flinken rumänischen Mädchen herumzutollen.

Nicht selten, so wie heute auch, endete der Tumult vor der Direktorin, denn Umherrennen und lautes Kreischen waren auf dem Schulhof und in der Schule nicht gestattet. Das wussten alle. Deshalb machte es auch so einen riesigen Spaß, wenn die Situation außer Rand und Band geriet.

Die Aufsichtslehrerin Frau Klein schritt ein und brachte die Jungs zu Frau Oberleitner, der Direktorin.

Die Fünf wussten, dass sie gleich mit einer Aufmerksamkeit belohnt werden würden, die sie jedes Mal in kribbelnde Aufregung versetzte.

Beim Büro der Direktorin angekommen, klopfte Wladimir sanft an die Tür.

Ein rhythmisches: „Ja bitte“ lotste sie herein.

Jamal öffnete die Tür. Die Fünf traten mit gespielter Schüchternheit ein. Wie so oft standen sie auch heute wieder in einer Reihe vor dem Schreibtisch von Frau Oberleitner, mit den vielen Urkunden, Stundenplänen und Postkarten an der Wand hinter ihr.

Was nun passiert, wussten alle in diesem Raum: Frau Oberleitner stand von ihrem Stuhl auf und ging um ihren Schreibtisch herum. Elegant und fast in Zeitlupe setzte sie sich leicht schräg, mit einem hinreißenden seitwärts Move ihres Pos, dicht vor die fünf auf ihren Schreibtisch und schob dabei, ohne hinzusehen, mit der Hand einen dicken Ordner beiseite. Fast beiläufig sagte sie: »Mustafa, Wladimir, Ahmed, Jamal und Philip, ihr wisst, warum ihr hier seid?« Eindringlich sah sie die Jungs, einer nach dem anderen an und machte wie immer eine bedrohliche Pause zwischen jedem Namen, bis einer von ihnen etwas sagen würde.

Frau Oberleitner studierte leidenschaftlich gern Schauspiel in Wien, bevor sie der Liebe ihres Lebens nach Berlin folgte, wo sie von der darstellenden Kunst als Quereinsteigerin in das Lehramt wechselte und ihr Staatsexamen für Pädagogik abschloss, um schließlich bis zur Direktorin aufzusteigen.

Sie wusste genau, wie ein Moment in Szene gesetzt werden wollte, wie sie wirkte, wenn sie etwas sagte, und welche Dramatik die Vielversprechendste für den jeweiligen Moment war, um die Schüler zur Einsicht zu bewegen.

Ihr leichter, warmer Wiener Akzent half ihr im Umgang mit den Schülern sehr. In ihrer blauen, engen Jeans, der weißen, leichten Bluse mit den vielen Knöpfen, der schwarzen hochgesteckten Frisur und einem so angenehmen Duft strahlte sie etwas Selbstbewusstes, Sinnliches und ungeheuer Attraktives aus. Das spürten die Jungs jedes Mal von Neuem, wenn sie ihr so nahe waren wie jetzt und eigentlich genossen sie es, hierher zitiert worden zu sein. Denn eine Frau wie Frau Oberleitner kannten sie weder aus ihrem familiären Umfeld noch von sonst woher im Brunnenviertel.

Wenn keiner der Jungs antwortete, um möglichst cool zu sein, fragte sie immer einen von ihnen, sprach ihn mit seinem Namen und einem besonders durchdringenden Blick an, was den Auserwählten jedes Mal wie ein sanfter Stich ins Herz traf.

Diesmal traf es: »Wladimir …«, den seine Gang nur Wlad nannte, »… was war da wieder los?«

Er musste seinen ganzen Charme aufbringen, um vor der Präsenz von Frau Oberleitner zu bestehen und druckste mit unverkennbarem russischem Akzent: »Wir wollten nur mit unserem kleinen Ball spielen und dann nahmen uns die Mädchen den Ball weg. Na, und dann wollten wir ihn uns zurückholen.«

Schon als er das sagte, merkte Wladimir, wie klein und hilflos er klang. Frau Oberleitner hatte die Sache voll im Griff.

»Und?«, fragte sie Danny ins Visier nehmend.

»Na, dann mussten wir ihnen hinterherrennen.«

»Und Jamal?«

»Wir sollen nicht auf dem Schulhof rennen.«

»Korrekt«, ergänzte sie erneut.

»Was lernen wir daraus, Philip?«

»Wir spielen nicht mit dem Ball auf dem Schulhof.«

»Ganz genau! Merkt euch das.«

»Nun geht, der Unterricht beginnt bald. Und so schnell will ich euch hier nicht wieder sehen. Das nächste Mal gibt es eine Strafarbeit. Den Ball behalte ich zur Sicherheit hier.«

Sie legte ihn in ein Schubfach zu den drei anderen konfiszierten »Little Wilsons«, die dort bereits lagen.

So oder so ähnlich endete der frühe Morgen vor Schulbeginn, nach so mancher mittelgroßen Aufregung, die am Ende alle in eine amüsierte Stimmung versetzte.

Aber selbst, wenn es so richtig zur Sache ging, was zum Glück selten vorkam, trauten sich nicht einmal die Größeren, etwas gegen die Jungs aus der Neunten zu sagen. Denn die Jungs aus der Neunten waren nicht nur die coolsten, cleversten und nervigsten von allen an der Schule, sondern auch die charmantesten und hübschesten und das wussten die Fünf nur zu gut.

Die Mädchen, selbst die aus der Siebten, himmelten die Fünf heimlich an und alle Jungs wollten so sein wie sie.

Ihr Fashion Street Style mit den tiefhängenden, schlabberigen, manchmal löcherigen Baggy Skateboardhosen, ihre Rap-Bermudashorts mit krassen Aufdrucken, dazu ihre unicolor Hoodies, den frechen Pork-Pie-Hüten und coolen Basecaps und selbst mit ihren spießigen Steppwesten und weißen hohen Retro Converse Sneakers setzten die Fünf auf dem Schulhof Maßstäbe in Sachen Outfits.

Schon allein die lässige Art, wie sie sich in den Klamotten bewegten, machte sie zum Kult. Auf dieser Seite der Schule, wo sich die Kleinen versammeln und die Sonne erst am Nachmittag schien, reichte das alles schon aus, um die Alpha-Boy-Group zu sein.

In Sachen Coolness und Cleverness steckten die Hijabistas die kleinen Jungs von der anderen Seite allerdings locker dreimal in die Designer-Taschen.

Die Freitreppe, hier auf der morgendlichen Sonnenseite, wo sich die Großen trafen, war die ideale Bühne für ihre tägliche Show. Farbige Pop-Art-Wellen auf der bemalten, fensterlosen Betonwand hinter ihnen schmückten die Szenerie wie eine prächtig gemalte Theaterkulisse aus. Jeden Tag wählten die Hijabistas einen neuen Style. Niemand wusste, wie sie das machten, denn die Klamotten waren sauteuer, sahen jedenfalls so aus.

Es ist der 26. Mai 2010 um 07 Uhr und 43 Minuten.

Annabell, Lara und Maya näherten sich dem Ende ihrer morgendlichen Traumreise.

Hinter den Büschen und Bäumen des langen Gartens in der Swinemünder Straße tauchte links ihr Gymnasium auf wie eine moderne Festung, oder besser wie eine Raumstation aus einem Stanley Kubrick Film.

Davor spielte sich das Alltägliche ab, wie jeden Tag.

Die Großen standen in kleinen Grüppchen cool wie immer herum.

Gleich werden sich die Drei wie jeden Tag möglichst unbemerkt an den Großen vorbei über den Vorplatz in das Schulgebäude schlängeln. Heute aber war etwas anders, und das werden gleich alle hier bemerken, einschließlich der drei Mädchen selbst, denn es war ihnen anzusehen.

Eine Aura umgab sie.

Ein unsichtbares, aber deutlich spürbares, süßes Leuchten ging von ihnen aus.

Zur gleichen Zeit kamen fünf Jungs aus dem Büro der Direktorin, gingen durch den langen Flur mit den schwarz-weißen Porträtfotografien der Kunst-AG, durchquerten die Galerie in der oberen Etage, von der aus sie kurz ihre Blicke gebieterisch über die noch leere Aula schweifen ließen. Jeden Moment werden sie über die breite Treppe, die die große Halle durchquert, herunterkommen.

»Habt ihr ihre neue Karte auf ihrer Pinnwand gesehen?«, flüsterte Philip zu seinen Freunden nach hinten gewandt.

»Ja, gute Mädchen kommen in den Himmel und böse Mädchen kommen überallhin«, zitierte Wlad frech.

»Fragt sich nur, ob sie hier ist, weil sie ein böses Mädchen ist?«

»Ich schätze eher, weil sie ein gutes Mädchen ist. Schließlich sind wir ja die Engel hier im Schulhimmel.« Alle lachten verdruckst und leise genug, um nicht von Frau Klein gehört zu werden, die sie wenige Meter hinter ihnen gehend zum Hof eskortierte.

Als Annabell, Lara und Maya über den Vorplatz zur Schule gingen, spürten sie, wie sie vor Wohlgefühl nur so platzten. Sie waren so stark, voller Gelassenheit und so viel neugieriger als je zuvor. Den gleichen Schulweg zur gleichen Zeit wie schon immer zu gehen und die gleichen Schüler zu treffen, ließ die Drei plötzlich sehr deutlich spüren, wie anders sie sich heute fühlten.

Sie sahen die Großen jetzt wie durch ein anders geschliffenes Kaleidoskop.

»Werden wir auch so sein, wenn wir in der 12. sind?«

»Vielleicht, aber das werden wir spätestens in ein paar Jahren wissen.« Annabell stellte sich vor, wie es wohl sein mag, so alt zu sein, runzelte die Stirn ein wenig, zog ihre Mundwinkel nach oben und bemerkte noch: »Sieht jedenfalls ziemlich langweilig aus.«

Das klang wie eine Enttäuschung, eine Entzauberung der Großen, zu denen die Drei sonst sehr respektvoll aufsahen. Es war der Blick zurück zu den anderen, die wie Grüppchen von frierenden Kaiserpinguinen dastanden, und zugleich spürten sie in den anderen sehr deutlich ihren eigenen inneren Sprung in ein neues Selbst.

In ihnen kam ein leises, wehmütiges Gefühl des Abschieds auf, was beinahe schon am Morgen den ganzen Tag ruiniert hätte.

Wären da nicht die Hijabistas, die heute wieder in leuchtenden Farben hell aus all den schwarzen und tristen Farbversuchen der Oberklässler hervorstachen.

»Bestimmt werden wir so schillernd cool wie die Hijabistas und tragen krasse Outfits in den abgefahrensten Farben.«

»Einen Hijab brauchen wir dafür aber nicht«, fügte Maya noch betont hinzu.

Unsere Drei fürchteten sich sonst vor den fünf Hijabistas immer ein wenig und machten besser einen Bogen um sie herum, denn sie waren so groß und unerreichbar elegant.

Sie waren die unangefochtenen Königinnen der Schule, denen sich keine frechen Jungen, nicht einmal Lehrer und schon gar nicht drei kleine Mädchen aus der siebten Klasse ungefragt nähern durften.

Heute aber fühlten sich die Drei mutig und stark genug, dass sie ihrer Neugierde nachgaben und ganz dicht an den Hijabistas vorbeigingen.

Die sechs verströmten eine Wolke von reinstem Wohlgeruch, so anziehend wie ein großer, blühender Busch Jasmin im Frühsommer und kaum wahrnehmbar, mischte sich eine behagliche Note Nestgeruch darunter. Magisch zogen die Hijabistas die Drei näher und näher an sich heran, fast, bis sie Aug in Aug mit ihnen waren und ihre Hände die weiten Stoffe zwangsläufig im Vorbeigehen berühren mussten.

Jedes Detail ihrer Kleider war jetzt ganz deutlich zu sehen, die feine Struktur der weichen, fließenden Stoffe in so seltsamen exotischen Farben. Heute war es ein leuchtendes, warmes Gelb mit silbernen Ornamenten aus zwei vertikal parallel zueinander laufenden, gezackten Linien, in deren Mitte zwölf Sterne gleichmäßig in einer Reihe angeordnet waren.

Die Hijabistas liebten Symbole mit tiefgründigen Bedeutungen. Das Zackenmuster mit den Sternen symbolisiert den Weg des Lebens, das Auf und Ab, wie es das Leben schreibt, und den Fluss der Zeit. Darüber wachte das Sonnensymbol.

Ein Gürtel zog das Kleid straff nach hinten an die Taille und schmiegte sich geschmeidig eng an ihren Körper, was ihre jungen weiblichen Formen atemberaubend und für die Jungs wie eine unerreichbare Festung verwirrend zur Geltung brachte. Über ihre Schultern herab floss der Stoff wie eine weit fließende Tunika und verlieh ihnen eine antike, erhabene Eleganz.

Dass sie in den naturwissenschaftlichen Fächern gern die Lehrer korrigierten, wenn sie allzu schief mit ihren Herleitungen lagen, war eines. Die puren Perfektionistinnen waren die Hijabistas allerdings ebenso bei ihrem Make-up. Ihre Haut war matt, makellos weich wie ein Babypo, erhaben, elegant wie Göttinnen und cool wie Models zugleich. Virtuos spielten sie mit Mattifying Primer, Camouflage Concealer und Contour Powder, um alles auf ihrer Haut, was sie persönlich als Makel erachteten, darunter verschwinden zu lassen.

Ebenso beherrschten sie die Kunst des dezenten Finishs mit Highlighter und Blushes. Das alles war aber nur die Bühne für ihre eigentlichen Attraktionen, ihre Main Player, ihre Sendestationen: Augen und Lippen.

Ihre Augen, mehr noch ihren Blick, schärften die Hijabistas mit einem selbstbewusst geführten, tiefschwarzen Kajalstrich, der in einem kämpferischen Lidstrich auslief. Dezent setzten sie farbige Akzente mit ihrer liebsten Eyeshadow Cream in schimmernden Champagner-Creme-Tönen und ließen ihre Wimpern mit tiefschwarzem Mascara emporwachsen.

Ihre Lippen betonten sie mit einer sinnlichen Nude Lip Line und füllten sie dezent mit Liquid Lipstick Nude-Tönen aus, die sie wie eine zarte Blüte auf einer Sommerwiese scheinen ließen.

Die Hijabistas waren einfach cool, perfekt, vollkommen ein wenig unheimlich. Wie sechs Schlangen, die jeden Moment zubeißen wollten, sahen sie die drei kleinen Mädchen an, die in Zeitlupe an ihnen vorbeizuschweben schienen.

Aber Annabell, Lara und Maya waren keine Mäuschen mehr und das wurde ihnen plötzlich sehr bewusst.

Die Hijabistas ihrerseits hatten das Gefühl, dass die drei kleinen, ihnen eigentlich unbekannten Mädchen, die ihnen plötzlich so nahegekommen waren und auf Augenhöhe an ihnen vorbeiflanierten, besonders waren.

Wie verführt oder besser noch gebannt von ihrer Aura, die sie ins Staunen versetzte, blickten sie ihnen hinterher.

Und tatsächlich sprachen die Hijabistas zueinander.

»Wer sind die Drei? Habt ihr die Mädchen hier schon einmal gesehen?«

»Nein, die müssen neu sein, aber wir sollten sie nicht aus den Augen verlieren.«

»Stimmt! Interessant, ich spüre ein krass cooles Potenzial.«

»Wir sollten sie auf dem Schirm behalten und die Süßen vielleicht eines Tages fördern.«

Dann verstummten sie wieder und richteten ihre Blicke in die unendliche Ferne. In Gedanken bewegte sie vielleicht die Idee von Cohl Furey und ihren komplexen Oktonions*(Anhang) oder sie entwarfen ihre Kollektion für die kommende Woche, oder sie entwickelten gar einen neuen Raumschiffantrieb für eine neue, leichtere Raketengeneration.

Für jeden war zu sehen, wie sich ihre Gedanken mit etwas Höherem beschäftigten, wofür der Platz vor ihnen und die Schule hinter ihnen um eine kosmische Dimension zu klein waren, um ihr Interesse zu wecken.

Die Drei gingen schnurstracks auf den Eingang der Schule zu. Immer noch zitterten ihre Knie nach der Begegnung mit den Hijabistas ein wenig.

Sanft wurden Annabell, Lara und Maya von den bunten Wellenornamenten rechts am großen Rund der Fassade zum Eingang ihrer Schule gelotst. Mit den großen Rot-, Orange-, Gelb-, Violett- und sogar leuchtend Matchagrünen Formen, könnten sie aus einem Fantasy Anime Film entsprungen sein.

Die von außen so poppig strahlende Schule transformierte, je mehr man sich ihrem Eingang näherte, zu einem schützenden und wehrhaften Festungsportal. Es bestand links aus einem orangefarbenen Kubus, in dessen Inneren sich die Bibliothek befand.

Auf der gegenüberliegenden Seite war der wehrhafte Eingang von einer in Beton gegossenen Bastion befestigt. – Das war die bunte Kulisse mit den Wellenornamenten, vor der die Hijabistas täglich Hof hielten.

Überbaut waren die Flanken des Portals von der oberen Etage, deren glatte graue Unterseite die Decke bildete. Zusammen formten das Ensemble ein zwei Etagen hohes, brutal und mächtig wirkendes Portal, das zu einer Trutzburg führen könnte, – oder wie ein Tunnel zu einem geheimnisvoll verborgenen Eingang.

Nach vielleicht zehn Metern endete der Tunnel jedoch abrupt, um sich in einem smaragdgrünen kleinen Lichthof zu öffnen, der den verborgenen Eingang an seinem Ende in ein weiches Licht taucht.

Neugierige, schmale Fensterreihen umrundeten den kleinen Hof dunkel, geheimnisvoll über mehrere Etagen, bis er sich wie ein Atrium zum Himmel öffnete.

Das magische Grün tauchte den Ort in ein zwiespältiges, mystisches Licht. – Für die einen war es ein schützendes, vertrautes Grün, wie es der Wald verschenkt. – Auf all jene aber, die sich dem Eingang mit unlauteren Absichten näherten und etwas im Schilde führten, musste die Farbe überaus bedrohlich wirken. Denn der Torbogen, der so fröhlich, knallorange und bunt einlud hereinzukommen, ähnelte auf den zweiten Blick aus der Nähe eher dem Torravelin einer Burg.

Vielleicht ähnelte es sogar der Grabenschere eines Festungsportals, von dem aus potenzielle Belagerer, wenn es schlimm kam, in Schach gehalten werden konnten, um sie wehrlos den eigenen Bogenschützen auszuliefern.

Die Drei durchschritten das Portal wie an jedem Tag, ohne über all das nachzudenken.

Unbemerkt blinzelten die dunklen Fensterreihen im smaragdenen Atrium einen Willkommensgruß zu den drei Mädchen. Ganz in der Tiefe des Fundaments der Schule grummelte es sanft wie der Seufzer eines Riesen.

Beide knallorangefarbene Schultüren, mit ihren Halbrundfenstern, öffneten sich wie von Geisterhand schnell genug, um die Schritte der Drei nicht zu bremsen, aber langsam genug, um ihrem Eintreten etwas sehr Würdevolles zu verleihen.

Annabell hüpfte ein paar Schritte voraus, drehte sich zu ihren Freundinnen um und ging ein paar Schritte rückwärts, hob ihre Arme, machte eine grazile Geste und sagte: »Habt ihr die Hijabistas gesehen? Wie machen die das nur?«

»Was meinst du?«, gab Annabell beiläufig zurück.

»Na, die sehen immer so unglaublich perfekt und cool aus.«

»Jetzt wo du es sagst. – Die müssen jeden Morgen Stunden im Bad verbringen«, resümierte Maya.

Kurz schwiegen die Drei und dachten jede für sich darüber nach, was sie selbst so morgens im Bad veranstalteten und wie lange sie dafür brauchten.

Die Schultore wurden vom Hausmeister nun weit geöffnet und für den täglichen großen Ansturm mit dem allgemeinen Johlen, Schubsen und Protestieren der Schülerinnen und Schüler vorbereitet. Im Moment herrschte hier aber noch die Ruhe vor dem Sturm.

4

VERGANGENHEIT

Dorothea

Gespannt hob Dorothea den Deckel des Koffers vorsichtig und ließ das schwache Licht der Kammer langsam in ihn hinein fließen. Sorgfältig geordnet und in höchster Handwerkskunst hergestellte Dinge zeigten sich. Der Sturz konnte ihnen wie es schien nichts anhaben. Alles lag an seinem Platz und war bestechend ordentlich sortiert.

Schüchtern zeigten sich elegante Schachteln, Hefte und Bücher die aus einer anderen für Dorothea unerreichbaren Welt stammten und die plötzlich zum Greifen nahe vor ihr lagen.

›Der Koffer konnte einem Lehrer bei Hofe gehört haben‹, spekulierte Dorothea. Ihr blick fiel auf ein beschriebenes weißes Papier das mit der Prägung eines Wappens versehen, auf die Innenseite des Deckels geklebt war. Was die von Hand geschriebenen höchst kunstvoll verschlungenen Buchstaben bedeuteten, konnte Dorothea gerade so entziffern. Denn ein wenig lesen hatte sie schon von dem alten Soldaten gelernt, der hier zweimal in der Woche als Lehrer vorbeikam, um die Kinder im Umkreis der Domäne zu unterrichten.

»Sophie Magdalena Friederike Beatrix Johanna Wilhelmina

Freiherrin von Danckelmuth

Hauslehrerin der Königlichen Familie«

Im Koffer befanden sich: ein versiegeltes Empfehlungsschreiben adressiert an seine Allerdurchlauchtigste Majestät Friedrich Wilhelm König in Preußen, »Grimms Märchen«, »Lesen und Schreiben lernen«, »Deutsch für Kinder«, »Magische Beschwörungsformeln – Eine Welt in der Welt« und einige Schreibfedern in einem schönen perlmuttbesetzten Etui, ein kleines Kästchen mit 20 Tintenfässchen, ein beachtlicher Stapel Schreibblöcke, ein leeres, in Leder gebundenes Tagebuch mit königlichen Wappen sowie eine didaktische Anleitung wie Buchstaben in Schreibschrift geschrieben werden.

Der Koffer entpuppte sich als ein wahrer Schatz. Dorotheas Augen leuchteten und vor lauter Rührung rannen einige Tränen über ihre Wangen. Das lange rotblonde Haar rahmte ihr genussvoll strahlendes Gesicht ein, und zwischen ihr und dem Koffer verwob sich augenblicklich eine magische Verbindung.

Dorothea zeigte den Koffer nicht ihrem Vater, denn so ehrlich wie er war, hätte er den Koffer nur seinem Besitzer zurückgegeben. Für Dorothea aber war er ihr Seeräuberschatz, ihr Treibgut, ihr Geschenk des Himmels, das nun nur ihr ganz allein gehörte.

5

GEGENWART

Die Drei

Plaudernd durchschritten die Drei die Eingangsschleuse mit den doppelten orangefarbenen Toren und den streng geometrischen Halbkreisfenstern, die sich zu einem Kreis zusammenfügten, wenn sie zu Unterrichtsbeginn und am Abend wieder geschlossen wurden.

»Los, wir gehen gleich ins Computerkabinett«, rief Maya ihren Freundinnen zu und drehte sich dabei einmal voller Überschwang mit ausgestreckten Armen im Kreis.

»O ja, wenn wir schon so einen langweiligen Tag haben, dannnn ...« Annabell stoppte und schwieg bedeutungsschwanger.

»Dann wollen wir auf unseren Lieblingsplätzen sitzen«, vollendete Lara ihren Satz.

»Super Idee, schnell, bevor die anderen kommen!«, war Maya sofort einverstanden.

Es war 15 Minuten vor acht und in zehn Minuten wird die Schulglocke zum Hereinkommen läuten. Dann wird eine Lawine von Schülern von allen Seiten in die Schule strömen, was immer mit reichlich viel Geschrei und Gerangel vonstattenging.

Annabell, Lara und Maya schlüpften flink an der Aufsichtslehrerin, die am Eingang postiert war, vorbei, gingen durch die Aula und rannten die weite Treppe zur oberen Etage hinauf.

Von dort kommen ihnen auf der Mitte der Treppe fünf Jungen entgegen, die gerade eben von der Direktorin eine kleine Zurechtweisung zum Verhalten auf dem Schulhof erhielten und von einer Aufsichtslehrerin zum Schulhof eskortiert wurden.

Während sie aufeinander zugingen, wurden die drei langsamer. Die Jungs musterten die Mädchen sehr aufmerksam. Die Mädchen erwiderten ihre Blicke. Auf der gleichen Höhe angekommen, blieben sie auf der Treppe beinahe stehen.

Ihre Blicke verschmelzen für eine kurze Ewigkeit miteinander, bis die Jungs so ein seltsames Knistern spüren. Sie lösen sich abrupt, als ob sie aus einem Tagtraum aufwachen, und gingen weiter.

»Wow, habt ihr die Lütten aus der Siebten gesehen?«, fragte Wlad seine Freunde.

»Krass Alter, ja, die sind echt abgefahren anders, Mann«, erkannte auch Ahmed sofort.

»Echt! Was ist denn mit denen passiert?«, prustete Philip und konnte seinen Augen kaum glauben.

»Waren die schon immer so groß? Und wie süß die Chicas jetzt sind. Ich glaub, ich verliebe mich sofort«, mauzte er mit verdrehten Augen und fasste sich theatralisch ans Herz.

»Laber keinen Unsinn, Alter. Die sind noch viel zu klein für dich.«

»Nein Mann, die sind heiß.«

Für so Zeugs hatten die Drei kein Ohr, denn die Jungs konnten echt nervige Idioten sein.

Noch war hier in der Aula alles ruhig.

Der Teppichboden auf der Treppe und im gesamten Schulgebäude schluckte aber sogar im Hochbetrieb fast jeden Schall und so sah es selbst in den hektischen Minuten vor dem Unterrichtsbeginn so aus, als würde hier ein Film ablaufen, bei dem die Soundeffekte vergessen wurden. Denn das sonst so übliche laute Füßetrampeln, was sonst in den Fluren und Treppenhäusern eines Schulgebäudes vervielfacht zwischen Beton und Steinwänden widerhallte, fehlte hier einfach, weil es von den hölzernen Wandverkleidungen und den weichen Teppichböden wohltuend absorbiert wurde.

Die fünf Jungs sahen noch einmal zu den Mädchen auf, die mit gezielten Schritten über die Galerie zum Computerkabinett gingen.

Schweigend schlenderten die »Back School Boys« nach ihrem Auftritt im Direktorenzimmer für die letzten Minuten vor dem Unterricht auf den Hof.

Annabell, Lara und Maya bogen flink in den Flur ein, in dem rechts beängstigende, surreale, schwarz-weiße Fotocollagen von der Wand auf sie schauten. Grade zu, wo der Flur um die Ecke bog, befand sich der Raum, in dem sie heute den ganzen Tag verbringen sollten. Die Tür, die mit großen, geschwungenen, kalligrafischen Ornamenten in Grün und Rot bemalt war, ist noch geschlossen.

Eine Handbreit rechts neben der Türklinke prangte ein Pfeiler wie ein magisches Torwächter-Totem, das sich mit großen kubistischen Mustern schmücken ließ. Es war ringsherum mit poppigen, gelben, blauen, roten, grünen und braunen Dreiecken umwoben.

Ganz oben, gleich daneben, wachte in der Ecke zur Decke die chromglänzende Pausenklingel wie ein allsehendes Auge. Sie schien die Wächterin der Zeit hier in dieser Schule zu sein.

Die Klassenräume und den Flur verband ein langes Band von Fenstern. Allerdings waren sie so hoch unter der Decke platziert, dass sie den Blick in die Klassenräume nicht freigaben. Sie ließen aber ein weiches Licht in den sonst fensterlosen Flur herüberschwappte.

Maya öffnete die Tür zum Computerkabinett.

Die Drei mochten diesen Raum schon immer, und auch an diesem Tag versüßte er ihnen die Zeit während der langweiligen bevorstehenden Projektarbeit.

Der Raum war ein lichtdurchfluteter Ort mit einer riesigen, von der Decke bis zum Boden und von der rechten zur linken Wand reichenden Fensterfront, die die gesamte Wand zur Terrasse ausfüllte. Hier standen auf jedem Tisch zwei Flachbildschirme, mit Tastaturen und Computermausen die auf Mauspads chillten und auf neugierige Schülerinnen und Schüler wartete.

An der rechten Wand neben der großen grünen Kreidetafel hingen weitere Tafeln mit Magneten und gelben Stickern.

Auch hier war es noch still wie in einem, nein, nicht wie in einem Grab, eher wie in einem Wald, wo jedes leise Piepsen und Summen gut zu hören war. Vor den Fenstern, die auf die hintere Seite des Schulhofes führten, standen sehr alte mächtige Platanen, die am Vormittag ihren sanften Schatten ausbreiteten.

Gleich rechts neben der Tür im Computerkabinett stand der Bruder des Totem-Pfeilers fast wie sein Zwillingsbruder.

Er war aber nicht wie sein Pendant im Flur ein naturgöttliches Totem, sondern erinnerte eher an ein altes, magisches, ägyptisches Symbol, an einen Djed-Pfeiler mit vier horizontalen farbigen Banderolen in Blau, Rot, Gelb, Grün verziert, die sich wie eine magische Beschwörung dreimal wiederholten. Wohlwollend wachte er von dort über den Klassenraum.

Fast schien es, als ob die Schule ein großer Organismus wäre, der im Verborgenen sein Eigenleben führte. – Der wie ein Myzel jede Faser, jeden Stein und jedes Glas als ein schützender Gedanke durchzog. – Der sich aus der Natur von allen Zeiten speist, die schon immer da war und nie enden wird.

Von alldem ahnten die Drei jetzt allerdings noch nichts. Sie wussten nur, wie gern sie in ihre Schule gingen und wie sicher und wohl sie sich hier fühlten.

6

VERGANGENHEIT

Christoph

Es ist der 26. Mai 1722,