Dreizehn. Die Anstalt. Band 2 - Carl Wilckens - E-Book

Dreizehn. Die Anstalt. Band 2 E-Book

Carl Wilckens

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Beschreibung

Godric End, ehemaliger Auftragsmörder auf der Swimming Island, erzählt den Insassen von Zellenblock 13 seine Geschichte: Die Suche nach meiner Schwester führt mich nach Treedsgow. Ich bin halb erfroren und ausgehungert, als ich dort ankomme. Die einst wohlhabende Stadt wird von Banditen beherrscht. In der Nervenheilanstalt Sankt Laplace macht der Leiter fragwürdige Experimente an Menschen. Ich vertraue niemandem, aber ich wage zu hoffen. Ich bin ein Lügner. Ein Dieb. Ein Killer. Um meine Ziele zu erreichen, ist mir jedes Mittel recht. Trotzdem nennt man mich einen Helden. Aber die Wahrheit über mich ist ein scheues und manchmal hässliches Tier. Wer immer noch glaubt, die Magie sei ein Mythos, hat die Zeichen nicht gesehen. Sie war lange verschollen, aber jetzt wagt sie sich langsam hervor und zeigt mir die Welt hinter den Spiegeln. Währenddessen verlöschen die Sterne. Ihr sollt meine Geschichte hören. Von meiner Zeit in Treedsgow und meiner Begegnung mit dem König der Banditen. Von meinen unfassbaren Entdeckungen in der Nervenheilanstalt Sankt Laplace, von der Welt hinter den Spiegeln und dem Untergang der Welt. Finster, bedrohlich und unglaublich mitreißend.

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Carl Wilckens

13

Die Anstalt

Band 2

Wilckens, Carl : Dreizehn. Die Anstalt. Band 2. Hamburg, acabus Verlag 2018

1. Auflage

ePub-eBook: ISBN 978-3-86282-574-5

PDF-eBook: ISBN 978-3-86282-573-8

Print: ISBN 978-3-86282-572-1

Lektorat: Laura Künstler, acabus Verlag

Satz: Laura Künstler, acabus Verlag

Cover: © Annelie Lamers, acabus Verlag

Covermotiv: © pixabay.com

Karte: © Carl Wilckens

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Der acabus Verlag ist ein Imprint der Diplomica Verlag GmbH,

Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.

_______________________________

© acabus Verlag, Hamburg 2018

Alle Rechte vorbehalten.

http://www.acabus-verlag.de

Albenspiegel

„Eine Spur von ihm?“

„Nein, Signore. Er ist meines Wissens auf der Swimming Island. Aber es heißt, sie sei gesunken.“

„Und?“ Der alte Mann im Spiegel legte seine Fingerspitzen aneinander.

„Solche Gerüchte erzählt man sich alle Jubeljahre, Signore. Ich vermute, Raven selbst setzt sie in die Welt. Er taucht unter und kehrt zurück, sobald die Menschen unvorsichtig werden. Manchmal dauert es Monate.“

Der Alte hob die Brauen. „Und?“, fragte er abermals. Er schien zu glauben, dass sein Gegenüber auf etwas Bestimmtes hinauswollte, denn das eine Wort klang diesmal wie eine Herausforderung.

Der Jüngere vor dem Spiegel zögerte. „Ich … habe mich gefragt, ob ich heimkehren dürfte, Signore. Nur für eine Weile.“

„Du hast Godric End nicht gefasst“, sagte der Alte schlicht. „Er hat den Namen unserer Familie beschmutzt, Junge.“

„Ja, Signore.“ Der Jüngere ließ die Schultern hängen.

„Vermisst du deine Familie?“

„Nicht nur sie, Signore.“

„Geht es um Gabriella?“

Der Jüngere schwieg.

„Du wirst sie heiraten, mein Junge. Du wirst in den Rang eines Cavaliere ad Gloria aufsteigen und eines Tages, da bin ich mir sicher, ein bedeutendes Mitglied im hohen Rat sein. Wir haben vollstes Vertrauen in dich. Aber erst musst du deine Aufgabe erfüllen.“

„Ich suche schon seit Jahren, Signore.“

„Hab Geduld, Junge. Sie ist eine wertvolle Tugend.“

„Ja, Signore.“

„Du hast dich doch nicht anderweitig vergnügt?“

„Signore!“ Der Jüngere wurde rot. „Ich bin der mir Versprochenen und dem Namen meiner Familie treu!“

Der Alte nickte zufrieden. „Was wird also dein nächster Schritt sein?“

„Ich weiß von jemandem, der Godric End einst begegnet ist. Vielleicht hat sie Informationen.“

„Wer ist es?“

„Ein Mädchen aus Schwarzwasserhafen. Nach meinen Informationen ist sie jetzt in Treedsgow, einer Hafenstadt im Süden Dustriens.“

Der Alte nickte. „Ich erwarte deinen Bericht, sobald du dort bist“, sagte er. Dann strich er mit der Hand durch die Luft, fast wie ein Abschiedsgruß, und das Bild im Spiegel verlosch.

Blackworth

Stille. Der Abend war angebrochen und die Hunte fuhren nicht mehr. Die Arbeiter hatten ihre Werkzeuge niedergelegt und die Förderbrücken abgeschaltet. Die Rauchwolken über den Schornsteinen verblassten allmählich. Sonnnacht war seit Beginn des Bürgerkriegs der einzige Tag des Viertels, an dem nicht gearbeitet wurde. Als wolle auch er dieser Tradition gerecht werden, stellte der Himmel den Regen ein.

Zellenblock 13 schwieg. Es war ein mehrstimmiges Schweigen, das sich nach dem Mord, der auf dem Zellengang geschehen war, zu den Insassen gesellt hatte. Da waren Männer, die genugtuend schwiegen. Ends Stärke und Grausamkeit, sie waren der Grund dafür, dass er zur Symbolfigur des Bürgerkriegs geworden war. Ihretwegen verspürten sie Hoffnung. Denn die an Grausamkeit grenzende Ungerechtigkeit des Bergmannsadels konnte nur mit ebensolcher bekämpft werden. End mochte behaupten, er habe stets seine eigenen Interessen verfolgt. Aber solange er gegen den Schwarzen Baron kämpfte, so dachten sie, kämpfte er auch für die Interessen des Arbeiters.

Dann waren da Männer, die erwartungsvoll schwiegen. End war zu weit gegangen. Sie fragten sich, welche Konsequenzen sein Verhalten haben würde. Würde der Leiter von Blackworth die Ankunft des Schwarzen Barons überhaupt noch abwarten? Oder würde er End an Ort und Stelle exekutieren? Das würde den Schwarzen Baron zornig stimmen, zweifellos, aber war die Angst vor ihm größer als vor End? Was würde End tun? Ihr Held, der gefangen genommen worden war. Der vergessen zu haben schien, warum er die Arbeiter einst wirklich angeführt hatte. Würde er zu sich selbst zurückfinden, wenn man ihn dazu zwang? Wenn ihm der Tod drohte? Oder würde er einfach sterben und damit den Krieg für den Schwarzen Baron entscheiden?

Die restlichen Männer schwiegen ängstlich. Dieser Mann, der behauptete, End zu sein, war nicht der Held, den sie sich ausgemalt hatten. Sie hatten von ihm gehört. Dass er die Barone in Angst und Schrecken versetzte. Dass er selbst angesichts einer Hundertschaft Soldaten einen kühlen Kopf bewahrte. Und ja, dass er bisweilen grausam war. Er kämpfte wie eine Bestie. Er verlieh den Männern an seiner Seite Mut. Männern, die nie eine Waffe geschwungen, nie mit einem Eisen gefeuert hatten, gab er den Willen, die Soldaten der Königin zu töten. Sie hatten gewusst, dass er vor der Revolution ein Schurke gewesen war. Viele hatten an seinen Absichten gezweifelt, aber für die meisten war er stets ein Mann mit Idealen gewesen. Jemand, der zum Verbrecher geworden war, weil er das Spiel der Barone nicht länger hatte mitspielen wollen. Und war nicht jeder aufständische Arbeiter in den Augen der Barone ein Verbrecher? Aber nach allem, was sie hier gehört hatten, fürchteten sie sich. Nicht vor End, sondern davor, dass alles, woran sie geglaubt hatten, eine Lüge war.

Während der Wind immer stärker wehte, wurde den Insassen von Zellenblock 13 klar, dass heute niemand mehr kommen würde. Ein Aschesturm zog auf. Wer nicht an einer Lungenvergiftung sterben wollte, saß dieses Wetterphänomen bei geschlossenen Fenstern und Türen zu Hause aus. Auch die Insassen trafen entsprechende Maßnahmen. Sie banden sich Stoffstreifen vor Münder und Nasen. Jene, die ein Fenster hatten, verhängten es mit ihren Hemden. So auch End. Immer noch schwiegen die Insassen. Erst als der Sturm an Fahrt aufnahm, gaben sie Laute von sich: Sie husteten.

Die Insassen legten sich auf ihre Pritschen, schlossen die Augen und versuchten zu schlafen. Versuchten, den Geruch nach Feuer in der Luft und das Husten zu ignorieren. Versuchten zu ignorieren, dass am anderen Ende des Zellengangs eine Leiche lag. Nur End blieb wach und wartete auf das Ende des Sturms. Nachdem der Wind verstummt war, erhob er sich und zog sein Hemd wieder an. Silbernes Mondlicht fiel in seine Zelle. Der Himmel war so klar, wie schon lange nicht mehr. Aus den Augenwinkeln bemerkte er eine Bewegung. Rutter war erwacht und sah zu ihm.

„Ist dir nie aufgefallen, dass es nur noch wenige Sterne gibt?“, fragte End, ohne zurückzublicken. Der Sänger schwieg.

„Nein?“, fuhr End fort. „Aber den Riss hast du bemerkt …“ In dieser ungewöhnlich klaren Nacht war er besonders gut sichtbar. Eine mondsilberne Linie, die über den Himmel verlief wie ein Riss in Glas. Angeblich war ein Splitter des Himmels auf die Erde gefallen, als er entstanden war, und hatte ein ganzes Dorf unter sich zermalmt. „Es ist eigentlich so offensichtlich“, seufzte End. „Aber das Ende der Welt kommt wohl zu plötzlich. Wir glauben nicht, dass es passieren wird, weil wir es nicht glauben wollen. Hinzu kommt die Angst, dass man uns auslachen könnte. Uns für verrückt erklären könnte. Und nicht zuletzt beschäftigen uns andere Dinge. Geld. Kriege. Hass.“ Er seufzte noch einmal. „Ich bin müde.“ Er stand auf und ging zu seiner Pritsche. Legte sich darauf, kehrte Rutter den Rücken zu und verfiel in Schweigen.

Am nächsten Morgen betrat Jacob Raysome, der Leiter von Blackworth, in Begleitung dreier schwer bewaffneter Soldaten Zellenblock 13. Raysome trug einen billigen Frack, was er wohl durch eine Taschenuhr aus falschem Gold zu kaschieren versuchte. Er hatte sich der Mode entsprechend Koteletten und einen Schnurrbart stehen lassen. Wäre er einer Gruppe aufständischer Arbeiter begegnet, er wäre wohl allein für sein Aussehen massakriert worden. Er warf dem Leichnam des Essensausgebers einen angewiderten Blick zu, während er mit eingezogenem, dickem Bauch an ihm vorbeiging. Vor Ends Zelle außerhalb der Reichweite seiner Hände blieb er stehen. Er musterte seinen Gefangenen nachdenklich, als wüsste er noch nicht, wie er mit ihm verfahren solle; geradeso, als hätte er für die Entscheidung nicht die ganze Nacht lang Zeit gehabt. End würdigte ihn keines Blickes.

„Gefangener End“, sagte der Leiter schließlich gedehnt. „Du wirst in Einzelhaft verlegt. Bis der Schwarze Baron hier eintrifft, kommst du in einer Zelle im Keller unter. Deine Mahlzeiten werden von dreimal täglich auf zweimal reduziert. Und …“ Der Leiter lächelte. „… ich werde den Schwarzen Baron persönlich bitten, dir ein besonders grausames Ende zu bereiten.“ Wütendes Summen ging durch die Zellen von Block 13. Der Sänger hielt die Luft an. Begriffen seine Genossen nicht, was das bedeutete? End trug keine Handschellen mehr. War Raysome wirklich so dumm und würde seine Zelle öffnen? Auch End konnte es offenbar nicht glauben. Erst als der Leiter mit einem Schlüsselbund klimperte, blickte er auf und erhob sich.

„Zurück, Gefangener“, befahl Raysome. „Mit dem Gesicht zum Fenster und die Arme hinter dem Kopf verschränken.“

End gehorchte, ohne zu widersprechen. In dem Moment, da er sich umdrehte, glaubte Rutter ein Licht in seinen Augen zu sehen. Ein violettes Leuchten wie Amethyste im Sonnenlicht. Auch Raysome schien es bemerkt zu haben. Er ließ den Schlüssel sinken. Die Soldaten warfen einander fragende Blicke zu.

„Ich sollte vielleicht kein Risiko eingehen“, murmelte der Gefängnisleiter verunsichert. „Solange End hinter Schloss und Riegel ist, kann er nicht entkommen. Das hat oberste Priorität.“ End wandte sich um. In seinem Blick lag keine Enttäuschung, sondern Spott. „Wir werden dich stattdessen aushungern lassen“, knurrte Raysome, dem der Ausdruck auf Ends Gesicht nicht entgangen war. „Beiße nie die Hand, die dich füttert.“ Ends spöttischer Blick folgte ihm, während er zurück durch den Zellengang ging.

„Gebt in der Küche Bescheid“, sagte Raysome, „und kümmert euch um den hier“, fügte er hinzu und wies kopfnickend auf den Toten, als er sich dieses Mal an ihm vorbeizwängte. Die Soldaten folgten ihm, wobei sie den Leichnam und den Kessel mitnahmen. Die Tür fiel hinter ihnen ins Schloss.

„Ich hasse sie, weil sie mich einsperren. Sie sind nicht der wahre Feind, aber ich hasse sie. Niemand sperrt mich wieder an einen Ort ohne Tageslicht. Wenn sie meine Zellentür öffnen, werde ich sie töten.“

In diesem Moment fing einer der Insassen an, unkontrolliert zu husten.

„Geht es dir gut, Junge?“

„Wie oft habe ich dir gesagt, du sollst mich Ronald nennen?“, fragte der Junge heiser. „Ich bin kein Kind mehr. Ich bin dein Genosse und als solcher will ich sterben.“

„Es ist nur ein bisschen Husten“, entgegnete der Mann in der Zelle gegenüber von Ronald.

„Ich huste Blut, Arwin.“

„Das bedeutet nichts.“

„Es ist schwarz.“

Arwin schwieg schockiert.

„Ich habe Teerhusten und ich werde in dieser Zelle ver­strecken. Erweise mir die Ehre und nenne mich Genosse.“

„Du wirst nicht sterben“, sagte Arwin. Verzweifelte Wut lag in seinen Worten. „Ich lasse nicht zu, dass mein Genosse so stirbt.“

„Danke“, flüsterte Ronald. Betretenes Schweigen kehrte ein.

Nach einer Weile räusperte sich der Sänger. „Uns bleibt eine Stunde, bis sie das Frühstück bringen“, sagte er und warf eine Zigarette in Ends Zelle. „Wenn du jetzt anfängst, teile ich meine Portion mit dir.“

„Lass nur“, sagte End. „Wenn sie dich erwischen, werden sie dich vermutlich erschießen. Außerdem ist Hunger ein alter Freund von mir.“ Er hob die Zigarette auf, zündete sie an und nahm einen Zug. „Wo war ich stehen geblieben?“

End

Während meiner schlimmsten Zeit unter dem Einfluss von Perl erwachte ich einige Male nach einem Rausch in den Grotten des Unterrumpfes. Mich weckte jenes eigentümliche Prickeln in den Fingerspitzen, wenn das Gefühl in die Glieder zurückkehrt. Ich fand mich im Neonlicht biolumineszierender Seepocken wieder. Die Umrisse der von Bewuchs überzogenen Wände und verrottender Kisten verschwammen vor meinen Augen. Mir fiel auf, dass ich zitterte, bevor ich merkte, dass ich fror. Die klamme Kälte dieses Ortes war mir in die Glieder gezogen, so tief, dass sie Teil meines Selbst geworden zu sein schien.

Doch was ich damals verspürt hatte, war keine Kälte. Im Wagon war es kalt. Wirklich kalt. Die Luft war trocken. Wände und Boden überzogen von Eiskristallen. Im Fell meines Mantels und in meinem Bart wucherte Raureif. Lippen, Hände und Füße färbten sich blau. Meine Eier zogen sich so tief in den Unterleib zurück, dass ich fürchtete, sie nie wieder herauszubekommen. Die Kälte näherte sich schleichend wie der Schlaf – ein Geist, der Kopf und Körper betäubt –, zog in meine Glieder ein und ließ meine Gedanken gefrieren.

Ich wurde krank und glühte vom Fieber. Der Schweiß dampfte auf meiner Haut. Ich schlief ein, in einer Ecke des Wagons sitzend, und träumte von Sam. Sie und ich waren allein auf der Swimming Island. Der Ozean war zugefroren und wir steckten fest, tausende Meilen entfernt vom Festland. Es war still und weiß. Sam saß mit dem Rücken zur Wand eines Decks­aufbaus und rührte sich nicht. Sie war vollkommen steif. Ihre Haut blau. Ihre Augen blickten starr geradeaus. Ich setzte mich neben sie und legte den Arm um ihre Schultern, um sie zu wärmen. Doch als ich sie berührte, kippte sie zur Seite. Sie schlug auf dem Deck auf und zerbrach.

Ich schreckte aus dem Schlaf. Die in meinem Körper verbliebene Wärme hatte sich einer Streitmacht auf dem Rückzug gleich ins Herz geflüchtet, während die Kälte unerbittlich vorrückte. Hände und Füße spürte ich nicht mehr. Ich versuchte, mich aufzurichten, doch es schien, als hätte sich Eis in den Gelenken eingenistet. So blieb ich liegen und lauschte dem Rattern des Zuges. Wir waren vielleicht ein oder zwei Tage lang unterwegs, doch die Sekunden verrannen zäh wie kalter Honig.

Wir wurden langsamer. Seit ich in den Wagon geklettert war, hatten wir kein einziges Mal gehalten. Doch jetzt wurden wir langsamer. Noch einmal versuchte ich, mich zu rühren. Meine Gelenke knackten. Ich schaffte es, mich aufzusetzen. Nach einer kurzen Verschnaufpause kam ich auf die Beine. Mit letzter Kraft schob ich die Wagontür auf und kletterte ins Freie.

Es war Nacht. Der Wind wehte mir Schneeflocken ins Gesicht, die an meiner Haut haften blieben. Gasleuchten am Bahnhof spendeten fahles Licht, das Dunkelheit und Schneegestöber kaum zu durchdringen vermochte. Ich sank bis zu den Waden im Schnee ein. Ich konnte kaum drei Schritte weit sehen. War ich am Ziel meiner Reise? Unwichtig. Ich konnte nicht länger im Zug bleiben. Einzig mein Wille hielt mich am Leben. Ich musste mich aufwärmen. Etwas essen und trinken.

Ich bahnte mir einen Weg durch den Schnee. Hörte nur den Wind und das Knirschen meiner Schritte. Auf meinen Schultern bildete sich eine weiße Decke. Ich ließ den Bahnhof hinter mir, und die Dunkelheit wurde zur Bühne meines Deliriums. Schatten huschten durch die Nacht. Sie trugen die Gesichter derer, die ich getötet hatte. Jamaal, mit einem blutigen Loch, wo einst ein Auge gewesen war. Der Alte mit aufgeschlitzter Kehle und angefressenen Ohren. Olli mit bleicher Haut und einem Hass im Blick, der ihm im Tode gefroren war. Unzählige gesichtslose Süchtige und Piraten. Chemo. Black Raven.

Es folgte ein Abschnitt, an den ich mich nicht mehr erinnere; als wäre ich sturzbetrunken gewesen, fand ich mich auf den Straßen einer Stadt wieder, ohne zu wissen, wie ich dorthingekommen war. Und dann sah ich sie. Im fahlen Licht einer Gasleuchte stand Sam mit einem Loch in der Stirn. Die Tränen wurden auf ihren Wangen zu Eis.

„Wo bist du gewesen, Fantasma?“, flüsterte der Wind, ihre Stimme.

Ich streckte den Arm aus und stolperte vorwärts. Vor meinen Augen wechselte sie die Gestalt. Nun stand dort Emily, die Haut weiß wie Schnee, und zitterte. In den Händen hielt sie ein Stück Papier. Sie hatte sich verändert. War zu einer wunderschönen, jungen Frau herangewachsen. Hatte so meine Mutter ausgesehen? Hatte sie dieselbe spitze Nase gehabt, denselben kleinen Mund?

„Emily.“ Meine Stimme war heiser. Emily fing noch stärker an zu zittern. Jäh wandte sie sich um und rannte davon.

Ich stolperte ihr nach.

„Emily!“

Sie verschwand in einer dunklen Gasse. Ich folgte ihr, kam aber nicht weit. Ich stolperte und stürzte. Mein Kopf schlug gegen eine Hauswand. Eine Weile blieb ich im Schnee liegen, während die Welt sich um mich herum drehte. Ich biss die Zähne zusammen. Griff in die Mauerfugen der Wand und zog mich auf die Beine. Wo war Emily?

„Lass uns abhauen, Dave. Der sieht gefährlich aus.“

„Sieh ihn dir an. Der ist fast tot.“

Ich wandte mich um. Meine Bewegungen waren träge. Hinter mir standen zwei Männer. Es bestand kein Zweifel, dass sie alles von den Waffen an ihren Gürteln bis hin zur Kleidung an ihren Leibern zusammengeklaut hatten. Der eine groß und behaart wie ein Bär, der andere klein und viel jünger mit einem Gesicht wie eine Ratte. Hatten sie mir ein Bein gestellt?

Der Bär kam auf mich zu und packte mein Handgelenk. Ich reagierte instinktiv. Ließ den Ellbogen vorschnellen und traf seine Nase. Obwohl mein Angriff kraftlos war, floss Blut.

Der Mann grunzte und drängte mich zurück. Mir fehlte die Kraft, um mich zu wehren. Er zog ein Messer. Metall blitzte auf und brennender Schmerz flammte auf Höhe meines Rippen­bogens auf. Ich sackte in mich zusammen, und der Bär verpasste mir einen Tritt in die Seite.

„Durchsuch seinen Mantel, Eagon.“

„Er hat Zigaretten. Die auch?“

„Egal. Alles. Wow … woher hat der Bursche so viel Kohle?“ Vor meinem verschwimmenden Blick zog die Ratte ein Bündel Banknoten aus den Taschen meines Pelzmantels.

„Was ist das?“

„Eine schwarze Perle. Was weiß ich. Wir werden schon sehen, was die wert ist.“ Der Bär zog mir den Siegelring vom Finger.

„Er hat ein Buch.“

„Nicht schlecht. Der Schlaumeier zahlt gut, wenn es das Richtige ist.“ Der Bär zog meine Pistole aus dem Gürtel, Chemos Machete und auch das Messer. „Gehen wir.“

„Erschieß ihn. Er sieht gefährlich aus.“

„Sieh ihn dir an, du Schisser. Der ist doch schon fast tot. Wieso eine Kugel an ihn vergeuden?“

Die Ratte murmelte etwas, und er und sein Kumpane verschwanden.

Ich blieb liegen und lauschte dem Schnee, der mich unter sich begrub. Es war vorbei. Sie hatten das Tagebuch mitgenommen, meine Waffen und auch das schwarze Perl. Ich hatte nichts mehr. Nicht einmal mehr meinen Willen.

Ein Paar Stiefel erschien in meinem Blickfeld, als wäre die Person, die es trug, aus dem Himmel gefallen. Wieder wurde ich abgetastet, dieses Mal von kleineren Händen. Jemand zog mir den Pelzmantel aus. Der Unbekannte griff mir ins Haar, zog meinen Kopf in den Nacken und tastete meinen Hals ab – wohl in der Hoffnung, dass an dem Lederband, das ich trug, etwas Wertvolles hing. Er wurde enttäuscht, hatte ich doch bloß eine Muschel darauf aufgefädelt.

Nun aber sah ich etwas. Ein Blatt Papier im Schnee, beschriftet mit einer vertrauten Handschrift. Das Blatt, das Emily in den Händen gehalten hatte. Eine der dreizehn fehlenden Seiten aus Williams Tagebuch.

20. Ährengold 1713, Ruhenacht

Da war er. Ein Hinweis, der mich vielleicht zu Emily führte. Ein Funke, der meinen Lebenswillen aufs Neue entfachte. Der Fremde fasste mich an der Schulter und drehte mich auf den Rücken. Ich blickte in das Gesicht einer jungen Frau. Sie war klein und hatte Sommersprossen. Ihr Haar war flammend rot und gelockt, ihre Augen gelb wie Bernstein mit schlitzförmigen Pupillen wie bei einem Fuchs. Auf der Stirn trug sie eine Art Fliegerbrille mit runden Gläsern und Messinggestell. Als sie mir in die Augen sah, erschrak sie. Ihr Blick traf den eines Mannes, der hätte tot sein müssen. Die Haut weiß, die Lippen blau. Haar und Bart durchsetzt von Eiskristallen. Blut troff aus einer Wunde an der Stirn, wo ich bei meinem Sturz aufgeschlagen war, und gefror auf der Haut. Doch die Augen – Augen so dunkel wie schwarzes Perl – glühten vor Leben. Die Unbekannte wich zurück, ohne den Blick loszureißen. Dann rannte sie davon, den schweren Bärenpelzmantel hinter sich her schleifend.

Ein weiteres Mal zog ich mich auf die Beine. Mein Herz schlug schneller, widerwillig, wie ein Kind, das zum wiederholten Male wachgerüttelt wird. Ich schlurfte durch den Schnee wie ein wandelnder Toter. Ich brauchte dringend Hilfe. Ein Feuer, an dem ich mich aufwärmen konnte. Wasser oder vielleicht eine heiße Brühe. Doch ich bezweifelte, dass mich jemand ins Haus lassen würde; nicht so, wie ich aussah. Halbnackt und vernarbt, bärtig und blutend, das Haupthaar wegrasiert, von einem Streifen in der Mitte abgesehen.

Als ich an einem Fenster vorbeiging, sah ich ein Licht – eine Kerze hinter dunklem Glas – und eine Erinnerung fand mich. War heute Tausonnnacht? Der letzte kalte Tag des Winters, hieß es. Man zündete eine Kerze an als Zeichen der Gastfreundschaft. Vielleicht hatte ich Glück. In dem Teil meines Hirns, der noch nicht taub vor Kälte war, regte sich etwas. Taumondnacht. 26. Taumond … welchen Jahres? Womöglich waren seit Williams letztem Tagebucheintrag erst wenige Monate vergangen.

Ich trat vor eine Haustür und klopfte. Nichts. Wieder klopfte ich, dieses Mal ohne Unterbrechung. Kurz darauf öffnete sich eine Klappe in der Tür und die Mündung einer Flinte erschien.

„Verzieh dich, Arschloch.“

Ich wich zurück und humpelte davon. Ich konnte unmöglich in Treedsgow sein. Das war nicht die Stadt, die William in seinem Tagebuch beschrieben hatte, sondern eine Stadt voller Diebe und Mörder. Eine Stadt, in der ein versehrter Mann bei Tausonnnacht mit einer Flinte davongejagt wurde.

Wieder folgte ein Abschnitt, in dem ich ohne Erinnerung umherstreifte. Ich fand mich am Hafen wieder. Der Salzgeruch des Meeres vermischte sich mit der Kälte. Gasleuchten entlang der Promenade spendeten blasses Licht. Ich sah noch mehr Kerzen hinter dunklen Fenstern. Rudimente einer Tradition, mehr nicht.

Ich verweilte einen Augenblick und lauschte dem vertrauten Klang der Wellen. Mein Blick verlor sich über dem Meer in Schwärze und Schneegestöber. In weiter Ferne glaubte ich das Heulen einer Riesenpilzmedusa zu hören.

Ich riss den Blick los und da sah ich sie. Ein Mädchen mit blondem Haar. Ihr Blut hatte den Schnee rot verfärbt. Das Grauen war in ihren weit aufgerissenen Augen erstarrt. Die Messerstiche in ihrem Körper dampften.

Ich ging einfach weiter. Hatte nicht die Kraft, mich zu fragen, was geschehen war, oder ob der Mörder noch hier war. Ich betrat einen Bootssteg. Eine Brücke führte in die Öffnung im Rumpf einer Fleute. Das Schiff wirkte nicht alt. Vermutlich ein Nachbau. Hinter den Fenstern des Hecks brannte Licht. Neben der Öffnung ragte ein Schild aus den Planken, auf dem eine Meerjungfrau mit nackter Brust abgebildet war. Darunter hieß es: Zum Meeresgrund. Ein Schiff, das zu einer Taverne umfunktioniert worden war. Ich wankte durch die Öffnung.

Blackworth

Stille. End blickte schweigend aus dem Fenster. Inzwischen war die Sonne aufgegangen. Es passierte nicht oft, dass sich die schwarzen Wolken verzogen. Aber wenn sie es taten, schien die Sonne mit unbarmherziger Hitze herab. Die Temperatur würden bald steigen.

Die Tür zu Zellentrakt 13 wurde geöffnet und zwei Männer betraten den Zellengang. Der eine schob den großen Kessel auf Rädern vor sich her. Wortlos stellte er Schalen mit Brei vor den Zellen ab und sammelte das schmutzige Geschirr vom Vortag ein. Der andere folgte ihm mit einem Behälter, in den er die Notdurft der Insassen kippte. Vor Ends Zelle blieben sie stehen.

„Godric End?“, fragte einer von ihnen. End sah schweigend zu ihm auf. „Wir werden dich hier rausholen“, fuhr der Essensausgeber mit gedämpfter Stimme fort und sein Partner nickte. Der Mund des Sängers klappte auf. „Wir gehören zu den Endern. Wir haben Blackworth infiltriert.“

Ein ungläubiger Ausdruck trat auf Ends Gesicht. „Ihr werdet jetzt meine Zellentür öffnen?“

„Wir können nicht“, flüsterte der andere. „Noch nicht. Nach dem, was du gestern getan hast, achten sie scharf darauf, dass die Essensausgeber nichts bei sich haben, mit dem man ein Schloss öffnen könnte.“

„Aber wir werden heute Mittag etwas hereinschmuggeln. Und falls es nicht funktioniert, versuchen wir es heute Abend wieder. Das ist nicht dein Ende, Godric End. Und das des Aufstandes erst recht nicht.“

„Warum habt ihr euch nicht früher zu erkennen gegeben?“, zischte Rutter empört.

„Wir konnten das Risiko nicht eingehen. Vielleicht gibt es eine Ratte im Trakt.“

„Warum habt ihr es dann jetzt gesagt“, flüsterte End, „wo ihr mich doch nicht befreien könnt?“ Die beiden Männer wechselten einen Blick.

„Wir … wollten nicht, dass du auch uns tötest“, gestand einer von ihnen.

„Narren“, flüsterte End mühsam beherrscht. „Wieso bleibt ihr dann nicht einfach außerhalb der Reichweite meiner Hände? Jetzt trollt euch, bevor ihr noch mehr Verdacht erregt.“ Die beiden Ender wechselten erneut einen Blick und verließen den Zellengang, ohne ein weiteres Wort zu verlieren.

„Ender?“, fragte End den Sänger leise, kaum dass die Tür ins Schloss gefallen war.

„Hast du es noch nicht gehört?“

End schüttelte den Kopf. „Ich dachte, sie nennen sich Rabotniks.“

„Das haben sie auch“, sagte der Sänger und begann, seinen Brei zu essen. „Aber inzwischen nennen sich viele Ender. Sie meinen, dass du sie im Gegensatz zu Rabotnik zum Sieg führen wirst.“ Rabotnik galt nach wie vor als der Erste, der sich weigerte, eine Maschine zu bedienen, die sein Handwerk ersetzte. Er zertrümmerte sie vor fünfzig Jahren mit einem Hammer. Die Soldaten des damaligen Monarchen zerschlugen den Aufstand, und der Kapitalismus setzte seine Ausbeutung fort.

End schloss kurz die Augen. „Niemand kann als Sieger aus diesem Krieg hervorgehen“, sagte er. Er erhob sich und ließ sich an der gegenüberliegenden Zellenwand nieder, wo ihm die Sonne nicht das Gesicht verbrannte. Während die anderen aßen, sagte er kein Wort. Sah aus dem Fenster und träumte von einem Leben, das nicht von Dunkelheit und Krieg gezeichnet war.

Er seufzte stumm.

„Ich betrat also Alens Taverne“, nahm er seine Erzählung wieder auf, sobald Ruhe eingekehrt war.

End

Nach nur wenigen Schritten gelangte ich vor eine Tür. Sie hatte kein Schloss, diente allein dazu, den Wind auszusperren. Wärme sickerte durch die Ritzen zusammen mit einem würzigen Geruch, einer Mischung aus Rauch, Schweiß und Suppe. Ich vernahm leises Stimmengewirr und – deutlicher als den Rest – die Stimme eines Mannes.

„Raven hatte seine fünf besten Männer geschickt, um ihn zur Strecke zu bringen. Sie kamen in der Nacht. Fünf Schatten mit langen Messern, die im Mondlicht blitzten, umringten Ends Nachtlager.“ Ich verharrte. „Sie hoben die Waffen und stachen auf die Decken ein.“ Jemand keuchte. „Aber End war vorbereitet. Während seine Mörder auf einen Sack Kartoffeln einstachen …“ Der Erzähler machte eine dramatische Pause.

„… schlich er sich davon“, beendete jemand den Satz.

„Das hätte er tun können. Doch End mied keinen Kampf, denn er gewann sie alle.“

„Natürlich! Er hat einen Bären mit bloßen Händen getötet.“

„Keinen Bären, Dummkopf. Niemand tötet einen Bären mit bloßen Händen. Nicht einmal End. Nein, er hat einen Mann getötet, den man den Bären nannte. Einen Piraten aus Ravens Mannschaft. Er war über zwei Meter groß gewesen, hatte Arme und Beine wie Baumstämme und spitz gefeilte Zähne. Er aß mit Vorliebe rohes Menschenfleisch und selbst Raven fürchtete sich vor ihm.“

Unter anderen Umständen hätte ich wohl noch länger den falschen Tatsachen gelauscht. Rückblickend erscheinen sie mir höchst unterhaltsam. Doch es fehlte nicht mehr viel, bis ich endgültig erfror. Ich schob die Tür auf. Feuchtwarme Luft schwappte mir entgegen, und ich betrat den Saal. Die Gespräche verstummten. Die Gesichter aller wandten sich mir zu. Nur das Knacken eines Feuers und ein brodelnder Kessel waren zu hören. Ich schlurfte am Tresen vorbei zu einem freien Tisch in der Ecke des Saals. Ich ließ mich auf einer Holzbank nieder, schloss für einen Moment die Augen und genoss das Gefühl meiner tauenden Glieder. Murmeln setzte ein. Zweifellos sprach man über mich. Fragte sich, ob ich gefährlich war, groß und schlank und muskulös wie ich war, vernarbt und bärtig und halbnackt. Und gewiss fragte man sich, wie lange ich noch leben mochte. Ich blutete aus der Wunde an meiner Stirn und dem Schnitt, den Dave mir zugefügt hatte. Meine Haut war blau, meine Augen gerötet, meine Bewegungen kraftlos. Eiskristalle funkelten in meinem Bart.

„Guten Abend, Fremder. Ich bin Derek.“

Die Stimme gehörte zu dem Geschichtenerzähler. Ich musste wohl kurz eingenickt sein. Ich hatte nicht bemerkt, dass er gekommen war.

„Woher kommst du?“

Ich öffnete die Augen. Mir gegenüber saß ein Mann mittleren Alters. Er hatte schütteres Haar und einen braunen Stoppelbart, den das Alter stellenweise grau färbte. In der Hand hielt er einen Humpen. Er war Seemann oder war zumindest mal einer gewesen. Woran ich das ausmachte, kann ich nicht sagen. Es ist der Blick eines Menschen, der sich verändert, wenn man einmal mehrere Monate lang auf See gewesen ist.

Als ich nicht antwortete, hob der Mann die Brauen. „Geht es dir gut, Mann?“ Statt einer Antwort fing ich an zu husten. „Alen! Bring ihm eine Suppe“, rief Derek. An mich gewandt fuhr er fort: „Ganz ruhig, Mann. Wir kümmern uns um dich.“

Der Wirt namens Alen stellte eine dampfende Schüssel vor mir ab und legte einen Löffel daneben. Mit tauben Fingern fing ich an zu essen. Ich spürte jeden einzelnen Schluck der fettigen Suppe meine Kehle hinunterrinnen bis in den Magen, wo sie mich von innen heraus wärmte. Derek wartete stumm.

„Einen wie dich habe ich hier noch nie gesehen“, sagte er, als ich die Schüssel geleert hatte. „Ich habe gerade eine Geschichte zum Besten gegeben. Habe versucht, meinem Publikum Angst einzujagen. Und dann kommst du herein und siehst gefährlicher aus, als man es mit Worten beschreiben könnte. Es treibt sich schlimmes Pack in Treedsgow herum, aber du übertriffst sie alle.“

„Woher kommen sie?“ Meine Stimme war ein heiseres Flüstern.

„Flüchtlinge vom Festland. Die Versprochene des Prinzen der Landen ist ermordet worden. Keiner weiß, wie es passiert ist. Aber der Prinz glaubt, es sei auf Geheiß des tarmonischen Monarchen geschehen und hat dem tarmonischen Reich den Krieg erklärt. Nun fordert er bei Gothin seine Schuld von 1644 ein.“ Derek trank einen Schluck Bier. „Aber richtig übel wurde es erst seit dem Beben. Kennst die ehemalige Festung Fort New Port? Dort sperrte man die ganz schlimmen Finger ein. Vor einiger Zeit gab es ein Erdbeben und die Mauern des Forts sind eingestürzt. Und rate mal, wohin es die ganzen Verbrecher, die jetzt auf freiem Fuß sind, verschlägt.“

„Treedsgow“, sagte ich.

Derek nickte nach einem weiteren Schluck Bier. „Genau! Das Geld zieht die Flüchtlinge an. Und die Flüchtlinge die Verbrecher. Hier können sie untertauchen. Und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Treedsgow ist berühmt für sein Kanalisationsnetzwerk. Einst hat es uns den Titel der saubersten Stadt Dustriens verliehen. Nun dient es den Verbrechern als Zuhause.“ Derek musterte mich einen Moment lang. Dann rief er, ohne den Blick abzuwenden: „Alen! Bring meinem Freund ein Bier auf meinen Deckel.“

„Kein Bier.“ Auf der Swimming Island hatte ich mir angewöhnt, keinen Alkohol zu trinken. Es war überlebenswichtig gewesen, ständig auf der Hut zu sein. Ein Bier konnte der Grund sein, warum der Instinkt dich nicht weckte, wenn die Meuchler kamen. Ich erhob mich. Augenblicklich wurde mir schwindelig. Ich wankte, lehnte mich an die Wand und glitt an ihr herab. Wieder packte mich ein Hustenanfall, dass mir die Augen tränten. Mein Magen krampfte sich zusammen und ich erbrach die Suppe. Ich bekam gerade noch mit, wie ich über der Pfütze meines eigenen Mageninhalts zusammenklappte, ehe ich das Bewusstsein verlor.

End

Das Schaukeln des Schiffes ließ mich träumen, in meiner Schlupfkajüte der Swimming Island zu liegen. Ich erwachte in einem Bett. Fernes Meeresrauschen füllte meinen Kopf. Der Schiffsrumpf knarrte und ich hörte das Knacken brennender Holzscheite und das Kratzen eines Füllfederhalters auf Papier.

Ich öffnete die Augen. Das Zimmer lag im Zwielicht. Vorhänge aus dickem Stoff verdeckten das einzige Fenster. Durch einen Spalt fiel ein schmaler Streifen Sonnenlicht, zerschnitt den Raum, das Bett und mich. Staub tanzte durch die Luft.

Mir war entsetzlich warm, ohne dass ich schwitzte. Jemand hatte mir ein Stück Stoff in den Mund gelegt. Ich wollte es aus­spucken und stellte fest, dass es meine Zunge war. Ich versuchte, mich aufzusetzen, war jedoch an den Hand- und Fußgelenken mit dünnen Hanfseilen ans Bett gefesselt.

„Wasser“, flüsterte ich.

Ein Stuhl scharrte. Sekunden später erschien das Gesicht eines Mädchens über mir. Sie wäre hübsch gewesen … nein, in Anbetracht ihres Alters hätte niedlich es eher getroffen. Doch war da zum einen ein Netz schwarzer Linien, das ihre linke Gesichtshälfte überzog. Im ersten Moment glaubte ich, es seien ihre Adern, die durch ihre Haut schimmerten. Doch bei näherem Hinsehen handelte es sich um etwas auf ihrer Haut. Vielleicht eine Tätowierung?

Dann waren da noch ihre Augen, die zu sehr den meinen ähnelten. Sie waren dunkel wie die Nacht. Zudem lag ein Schmerz in ihnen, der nach Jahren der Einsamkeit Wurzeln in ihrem Herzen geschlagen zu haben schien.

„Du bist wach.“ Sie ging zu einem Tisch, wo sie Wasser aus einer Kanne in einen Becher goss. Allein bei dem Klang schlug mein Herz schneller. Sie kehrte zurück und setzte mir das Glas an die Lippen. Gierig trank ich.

„Mehr?“

Ich nickte.

„Entschuldige die Fesseln.“ Das Mädchen goss ein zweites Glas ein. „Ist eine Vorsichtsmaßnahme. Papa meint, du siehst gefährlich aus.“ Sie sprach mit der Stimme eines Kindes und dem Klang einer erwachsenen Frau. Ich leerte das Glas erneut. Anschließend sagte das Mädchen, es werde seinen Vater informieren, und verließ das Zimmer. Während ich wartete, rief ich mir in Erinnerung, was geschehen war. Ich hatte den Zug verlassen und war im Fieberwahn durch Treedsgow gestreift. Zwei Männer hatten mich ausgeraubt. Hatten mir die Waffen genommen, das Geld, das schwarze Perl und das Tagebuch. Anschließend war eine rothaarige Frau gekommen und hatte mir auch noch den Pelzmantel gestohlen. Ich hatte nichts mehr bis auf die Hose, die ich am Leib trug.

Und eine der fehlenden Seiten des Tagebuchs.

Die Erinnerung kam so plötzlich, dass ich vergaß, dass ich gefesselt war. Ich versuchte, in meine Hosentaschen zu greifen. Die Hanfseile spannten sich und schnitten schmerzhaft in meine Handgelenke. Ich knurrte. Unter anderen Umständen hätte ich die Holzstangen, an die ich gefesselt war, einfach herausgerissen. Ich legte mich zurück und starrte an die Decke. Nach einer Weile überkamen mich erneut Hitze und Durst. Durch windende Bewegungen gelang es mir, die Decke von meinem Leib zu schieben.

Das Mädchen kehrte zurück. „Vater kommt gleich“, sagte sie und sammelte kommentarlos die Decke ein. „Solange müssen die Fesseln bleiben.“ Sie fing an, die Decke zu falten.

„Wie heißt du?“

„Amrei. Und du?“

„Godric.“ Ich biss mir auf die Unterlippe. Angesichts der Tatsache, dass man sich bereits Geschichten über mich erzählte, hätte ich ihr wohl besser einen falschen Namen genannt.

„Ich suche ein Stück Papier, das sehr wichtig für mich ist, Amrei. Kannst du in meinen Hosentaschen nachsehen, ob es dort ist?“

„Du meinst das hier?“ Amrei verschwand aus meinem Sichtfeld und tauchte Sekunden später wieder auf. In der Hand hielt sie die Seite von Walkers Tagebuch.

„Ich habe es gelesen“, gestand sie. „Steht ziemlich verrücktes Zeug drin.“ Ich atmete erleichtert aus. „Willst du es lesen?“

„Später. Nachdem ich mit deinem Vater gesprochen habe.“ Kurz herrschte Schweigen. „Kommen deine Eltern aus den Landen?“, fragte ich.

„Wie kommst du darauf?“

„Dein Name klingt nicht dustrisch.“

„Meine Mutter war aus den Landen.“

„War?“

„Sie starb bei meiner Geburt.“

„Genau wie meine.“

„Oh.“

Wieder schwiegen wir.

„Was ist mit deinem Gesicht passiert?“

Amrei berührte flüchtig die schwarzen Linien. „Ich weiß es nicht“, murmelte sie. „Sie waren schon immer da.“

Ich spürte, dass ich einen empfindlichen Nerv getroffen hatte, und wechselte das Thema. „Wie alt bist du?“

„Zwölf. Am vierunddreißigsten Frühlingsmond werde ich dreizehn. Und du?“

„Ich weiß es nicht.“

Amrei sah überrascht drein. „Du weißt es nicht?“

„Vielleicht achtzehn oder neunzehn.“

„Und dein Geburtsdatum?“

„Ich erinnere mich nicht.“

„Kann man sowas vergessen?“

„Ich habe lange Zeit an einem dunklen Ort gelebt.“

Amreis Blick veränderte sich, und ich wusste, dass ich zu viel gesagt hatte. „Wie ist dein Nachname?“

„Ich habe keinen.“

Wieder schwiegen wir. Ich tat so, als ob ich Amreis scharfen Blick nicht bemerkte.

„Wer hat dir Lesen beigebracht?“, fragte ich.

„Mein Opa. Er hat mir auch das Geigenspiel beigebracht. Aber er ist jetzt tot.“

„Wie ist er gestorben?“

„Wir sind überfallen worden. Als er seine Geige nicht hergeben wollte, haben sie ihn abgestochen und ins Meer geworfen.“

„Wie lange ist das her?“

Das Mädchen zuckte mit den Schultern. „Etwa zwei Monate.“

Schritte näherten sich. Einen Augenblick später betrat Alen, der Wirt, das Zimmer. Er trug eine Schürze und wischte sich die Hände mit einem Lappen sauber.

„Wie fühlst du dich?“, fragte er.

„Durstig.“ Alen warf seiner Tochter einen vorwurfsvollen Blick zu.

„Ich hab ihm zwei Gläser Wasser gegeben“, rechtfertigte sie sich.

„Wie dem auch sei.“ Der Wirt griff unter seine Schürze und zog ein Messer hervor. Für einen Augenblick erinnerte er mich an den Metzger Mario. Ich zuckte zusammen, so stark, dass das Gerüst des Bettes hölzern knarrte.

Der Wirt starrte mich an, unsicher, ob er den Hass in meinen dunklen Augen tatsächlich gesehen hatte. „Ich schneid’ die Fesseln jetzt los“, sagte er gequält, als wünschte er sich, es nicht tun zu müssen. Sekunden später setzte ich mich auf und streckte mich, dass meine Knochen knackten. Der Wirt und Amrei starrten mich an.

„Wie lange habe ich hier gelegen?“

„Zwei Viertel“, sagte der Wirt.

„Welches Jahr haben wir?“

Amrei und ihr Vater wechselten einen Blick. „1714“, sagte Alen schließlich. Mein Herz schlug schneller. William hatte das Tagebuch im vergangenen Jahr geschrieben! Kurz herrschte Schweigen, während ich rechnete. Taumondnacht war am 26. Taumond. Also war heute der neunte Frühlingsmond. Der letzte Eintrag in Williams Tagebuch war irgendwann im Ährengold gewesen, also vor etwa fünf Monaten. Zuletzt hatte William Emily in der Nervenheilanstalt Sankt Laplace besucht. Gut möglich, dass sie immer noch dort war.

„Wohlgemerkt hast du hier gelegen, ohne zu zahlen“, bemerkte der Wirt.

„Ich habe kein Geld. Man hat mich ausgeraubt.“

Alen seufzte. „Ich hatte nichts anderes erwartet.“

„Ich werde es dir zurückzahlen.“

„Klar.“ Alen hatte sich offensichtlich damit abgefunden, kein Korn zu bekommen. Amrei reichte mir ein weiteres Glas Wasser.

„Es tut mir leid, Mann, aber wenn du kein Geld hast, musst du hier raus. Ich kann kaum das Schutzgeld zahlen.“

„Schutzgeld? An wen?“

„An Damon und seine Männer. Das Gesinde, das sich in der Kanalisation eingenistet hat.“

„Wer ist dieser Damon?“

Alen zuckte die Achseln. „Er lässt sich nicht blicken. Alle haben Angst vor ihm. Der Anführer der Halsabschneider eben.“

„Verstehe.“ Ich erhob mich und winkte Amrei, damit sie mir die Seite des Tagebuchs gab. Anschließend folgte ich Alen zur Tür. „Weißt du etwas über die Nervenheilanstalt von Treedsgow?“, fragte ich ihn, während wir einen dunklen Flur entlanggingen.

„Sankt Laplace? Nicht viel. Man erzählt sich viele Schauer­geschichten, weiß aber natürlich nicht, was davon wahr ist. Es gibt einen neuen Anstaltsleiter dort. Ein ehemaliger Professor der Universität.“

„Frag Derek“, schlug Amrei vor. „Er weiß immer etwas.“

„Derek kann sicher viel erzählen“, murrte Alen. „Das heißt aber nicht, dass er viel weiß. Ich kann ihn nicht leiden“, fügte er nach kurzem Zögern hinzu. „Die Leute mögen seine Geschichten, aber ich muss sie mir jeden Tag anhören. Er labert viel und weiß wenig. Wiederholt, was er so hört, erfindet so manches dazu und sagt ständig Das weiß keiner.“

„Kommt er jeden Tag?“

„Er lebt hier.“ Alen seufzte. „Die Fleute hat mal ihm gehört. Ich hab sie ihm abgekauft und eingewilligt, dass er auf Dauer hier wohnen darf und drei Mahlzeiten am Tag bekommt. Ich habe die Schulden immer noch nicht abbezahlt. Das schlechteste Geschäft meines Lebens.“ Alen öffnete eine Tür, und ich folgte ihm in den menschenleeren Saal. Amrei blieb im dunklen Flur zurück und schloss die Tür hinter uns. „Da ist er ja schon.“

„Was tut er?“ Derek spähte durch eine Tür hinterm Tresen.

„Rumlungern. Er will wissen, ob das Mittagessen fertig ist.“ Mit erhobener Stimme fuhr der Wirt fort: „Geduld, Derek. Gegessen wird wie immer um zwei.“ Derek zuckte zusammen, als hätte man ihn bei etwas Verbotenem ertappt. Er sah mich und seine Miene hellte sich auf.

„Hallo, mein Freund“, rief er. „Hast du dich gut erholt?“ Er schlenderte um den Tresen herum. „Derek, bring unserem Gast doch auch eine Suppe. Ich zahle.“

„Glückwunsch“, murmelte der Wirt mir zu. „Du hast gerade eine Gratismahlzeit gewonnen. Dafür wirst du dir sein Gelaber anhören müssen.“ Alen verschwand durch die Tür hinterm Tresen. Derek und ich ließen uns an einem der Tische nieder. Der Seemann lehnte sich zurück und faltete die Hände über dem Bauch.

„Wie heißt du, Fremder?“

„Albert.“ Die Erinnerung an den Namen meines Vaters war in just dem Moment zu mir zurückgekehrt. Albert End. Falls Amrei etwas anderes behauptete, würde ich es einfach abstreiten.

„Wo kommst du her, Albert? Du siehst aus wie ein schlimmer Finger. Bist du auch aus Fort New Port geflohen?“

„Ich komme aus dem Landesinneren“, log ich. „Ich bin Söldner. Vor einiger Zeit erhielt ich einen Brief von meiner Schwester.“ Ich winkte mit der Seite des Tagebuchs. „Sie hatte einen Unfall und wäre fast gestorben. Fälschlicherweise hat man sie des Selbstmordversuches bezichtigt und nach Sankt Laplace gebracht.“ Alles an mir, von meinem Haarschnitt bis zu meinen abgewetzten Stiefeln, sprach dafür, dass etwas an der Geschichte nicht stimmte. Doch Derek hatte sein Stichwort vernommen.

Er sog zischend die Luft ein. „Sankt Laplace? Eieiei.“ Er wartete wohl darauf, dass ich fragte, was er meinte. Als ich schwieg, fuhr er fort: „Die Nervenheilanstalt ist ein schlimmer Ort. Es gibt einen neuen Anstaltsleiter, einen Hirnforscher aus der Universität, der schlimme Dinge mit den Patienten anstellt.“

„Was denn für Dinge?“

„Das weiß keiner.“ Ich begriff schnell, was Alen gemeint hatte. Derek klang, als wüsste er genauestens Bescheid. Hätte ich nicht gehört, wie er völlig falsche Tatsachen über mich verbreitete, hätte ich ihm vielleicht geglaubt. „Deine Schwester ist nicht die Erste, die unrechtmäßig dorthin gebracht wurde. Sie brauchen stets neues … Übungsmaterial.“ Derek zeigte ein dümmliches Lächeln, das er wohl geheimnisvoll glaubte.

„Woher weißt du das?“ Die Tür hinterm Tresen ging auf und eine Küchenhilfe mit zwei dampfenden Schalen in den Händen betrat rückwärts den Saal.

„Jeder weiß es“, entgegnete Derek.

„Aber keiner unternimmt etwas dagegen?“, fragte ich, während die Küchenhilfe zunächst die Schalen vor uns abstellte und dann zwei Löffel aus ihrer Schürze fischte.

„Was sollte man schon unternehmen?“, fragte Derek, schöpfte einen Löffel Fischsuppe und blies darauf. „Die Anstalt ist eine Festung. Schwer bewacht und umgeben von einer Mauer. Zum Schutz der Insassen, behaupten sie natürlich.“

„Und der Bürgermeister?“

„Hat keinen blassen Schimmer“, schmatzte Derek. „Sitzt ja hinter seiner eigenen sicheren Mauer.“

„Mauer?“

„Weißt du es nicht? Er hat eine Mauer um das Universitätsviertel bauen lassen, als immer mehr Flüchtlinge und Verbrecher kamen.“ Die Küchenhilfe betrat abermals den Saal und legte je einen Brotkanten neben unsere Teller. Auch ich nahm den Löffel zur Hand und begann zu essen. Die Suppe war gut; heiß und schmeckte stark nach Pfeffer.

„Hast du die Anstalt mal gesehen?“, fragte ich in der Hoffnung, Fakten aus Derek herauszubekommen.

„Nur aus der Ferne“, meinte Derek und tunkte sein Brot in die Suppe. „Sie liegt nördlich der Stadt auf einer Anhöhe.“ Er biss von dem Brot ab und rief mit vollem Mund zum Tresen: „Helen! Bring mir und meinem Freund doch ein Bier.“

„Kein Bier“, entgegnete ich.

Derek hob die Brauen. „Kein Bier?“

„Ich habe schlechte Erfahrungen mit Alkohol“, log ich. Derek musste ja nicht wissen, um welche Droge es sich wirklich handelte.

„Ein Söldner, der keinen Alkohol trinkt“, brummte er. „Hat man sowas schon gesehen?“

„Kein Bier für Albert“, sagte er zu der Küchenhilfe Helen, als sie wenig später zwei Krüge auf den Tisch stellte. „Schütte das hier zurück ins Fass und bring ihm Wasser.“

„Kann man die Patienten besuchen?“, fragte ich, sobald Helen gegangen war.

„Das weiß keiner“, meinte Derek und trank einen Schluck Bier. „Aber du willst da auch gar nicht rein.“ Und er fing an zu erzählen. Von Experimenten am menschlichen Hirn. Von Geschrei, das nachts zur Stadt herüberwehte und einem selt­samen blauen Licht in einem der Türme der Anstalt. Von Männern und Frauen, die dorthin verschleppt worden sind („Genau wie deine Schwester!“) und von Ausbrüchen der Patienten. Ich hörte nur mit halbem Ohr zu und aß meine Suppe. Ich wollte mir sobald wie möglich selbst ein Bild von der Anstalt machen. Doch im Moment konnte ich es kaum erwarten, allein zu sein, um endlich die Tagebuchseite zu lesen. Vielleicht enthielt sie einen Hinweis über Emilys Aufenthalt.

„Ich muss gehen“, sagte ich, als ich den Teller geleert hatte, und erhob mich. „Danke für die Mahlzeit, Derek.“

„Es ist kalt draußen“, meinte Derek und musterte meinen nackten Oberkörper.

„Danke“, wiederholte ich bloß. Der Seemann nickte, und ich verließ die Taverne.

Verglichen mit der Kälte im Zugwagon war es ein milder Tag. Der Schnee war geschmolzen. Ein sanfter Wind wehte und trug den Geruch des Frühlings heran. Der Himmel war klar, von wenigen Wolkenfetzen abgesehen. Die Sonne wärmte meine Haut und tränkte die Meeresoberfläche in grünes Licht. Das Rauschen von Wind und Wellen und das Knattern der Segel übertönten jeglichen Laut aus Richtung der Promenade. Nur dann und wann waren Kinder zu hören, die Glocke eines fahrenden Händlers oder die Rufe von Männern, die Kisten durch den Hafen trugen.

Ich ließ mich auf einem Fass neben dem Eingang der Taverne nieder und holte die Tagebuchseite hervor, die ich zusammengefaltet in die Hosentasche gesteckt hatte. Ich faltete sie ausei­nander und fing an zu lesen.

Im Verwunschenen Tal

Der Abend senkte sich herab. Die Grillen zirpten, und ein Rotkehlchen verkündete zwitschernd das Ende eines weiteren Tages des immerwährenden Frühlings. Der Geruch nach feuchter Erde hatte sich verändert. Er roch wie Morgentau. Wie Geborgenheit und Frieden. Hasen grasten auf einer Blumenwiese, ein Fuchs trank aus einem gluckernden Bach und überall im Unterholz des Waldes raschelte und quiekte es. Die Bewohner des Tals waren schon eine Weile nicht von jener dürren Gestalt gestört worden, die die Angst wie einen unsichtbaren Mantel um ihre Schultern trug.

Der Marionettenmann hatte fast alle Essensvorräte aufgebraucht. Er hatte seine Hütte seit mehreren Tagen nicht verlassen – er wusste selbst nicht, seit wie vielen. Er stand vor dem Tisch und stützte sich mit den Händen an der Kante ab. Seine Augen juckten vor Müdigkeit; insbesondere das rechte ließ ihm keine Ruhe. Vor ihm lagen die Splitter des Zauberspiegels wie ein abstraktes Puzzle. Lia, einer seiner Schrumpfköpfe, sang indessen ein langsames Lied. Obwohl sie keine Kehle mehr hatte, war ihre Stimme immer noch so schön wie zu der Zeit, bevor er sie vergiftet hatte. Sie hätte ihm diese Abfuhr besser schonend beigebracht. Ihr Gesang füllte die Gedanken des Marionettenmannes, der mit dumpfem Blick auf die Stelle des Mosaiks starrte, an der ein winziger Splitter fehlte. Er blies resigniert die Wangen auf und rieb sich die Augen. Ohne diesen Splitter konnte er den Spiegel nicht in seinen ursprünglichen Zustand versetzen. Er suchte schon seit Tagen danach. Hatte die strohgefüllte Matratze seines Bettes umgekrempelt, den Hüttenboden systematisch mit bloßen Händen abgewischt und sogar seine eigene Kleidung unter die Lupe genommen. Der Splitter schien sich in Luft aufgelöst zu haben. Konnte er durch die Wucht des Projektils zu Staub zermalmt worden sein? Der Marionettenmann hob den Kopf und sah aus dem Fenster. Der Himmel färbte sich allmählich tiefblau. Die Luft im Tal war klar und hoch oben blinkten so viele Sterne, dass es schien, als könne man bis ans Ende des Universums sehen. Vielleicht war es an der Zeit, ernten zu gehen. Die Nachtluft würde seine Gedanken klären. Der Zauberspiegel war einzigartig. Er war mächtig und vermutlich mehr wert als ein Stein der Weisen. Der Marionettenmann wäre wahrscheinlich den Rest seines Lebens damit beschäftigt, wollte er einen neuen erschaffen. Das Schlimmste aber war, dass er dem Wurmgott gehörte. Wenn er zurückkehrte – das nächste Mal, wenn die Straße, über der keine Sterne leuchteten, durch sein Tal führte – würde er ihn grausam bestrafen. Der Gott der Würmer war immer grausam zu ihm.

„Warum ist er mein Gott?“, fragte der Marionettenmann sich selbst. „Ich bin kein Wurm.“

„Im Vergleich zu ihm ist jeder ein Wurm“, sagte Carl von seinem Platz hoch oben im Regal. Der Marionettenmann zuckte zusammen. Hatte er laut gedacht? Es wurde Zeit, dass er ging. Eilig suchte er alles, was er für die Ernte brauchte: eine Sichel, ein Messer, einen Kescher, eine Zange, eine magische Flöte, verschiedene Zaubertränke, mehrere Gläser in unterschied­lichen Größen und seinen Beutel. Wenig später fiel die Tür seiner Hütte hinter ihm ins Schloss. Der Marionettenmann blähte die Nasenflügel und sog die kühle Abendluft ein. Er roch den Frieden und seine Laune sank.

Auf der Blumenwiese hoben die Hasen alarmiert die Köpfe und flüchteten in ihren Bau. Auch der Fuchs hob den Blick und huschte durch das Unterholz davon. Die Grillen verstummten. Das Rotkehlchen schwieg.

Der Marionettenmann atmete erneut ein. Schnupperte die Angst. Seine Mundwinkel hingen nun nicht mehr ganz so weit herunter, was man bei ihm wohl als Lächeln werten konnte. Er war kaum drei Schritte weit gegangen, als er sich erneut das juckende Auge rieb und jäh begriff, wo der fehlende Splitter war.

Das Tagebuch

20. Ährengold 1713, Ruhenacht

Gestern besorgte ich mir Schutzhandschuhe, eine Schutzmaske, wie man sie beim Gasschmelzschweißen trägt, und Gehörschutz. Ich nahm die Dinge aus dem Labor von Professor Hunt – ein Delikt, für das man mich ohne Weiteres der Universität verweisen kann. Umso mehr verärgerte es mich, dass Emily mir nicht hatte verraten wollen, wozu ich diese Dinge benötigte.

(Ich rief mir in Erinnerung, was Emily zuletzt zu William gesagt hatte: „Unter dem Fensterbrett meines Schlafzimmers findest du eine Schatulle. Öffne sie und sieh, was dort drin ist. Aber trag auf alle Fälle die Schutzkleidung!“)

Ich wusste nicht, wovor ich mich mehr fürchten sollte: vor der Gefahr, die vom Inhalt der Schatulle ausging … oder dass ich nur ein Stück Schnur und einen vergammelten Apfel oder sowas darin finden würde.

Heute Morgen machte ich mich auf den Weg zu Emilys Wohnung. Ich fand den Schlüssel in einer Mauerfuge des Gebäudes, wie sie es mir beschrieben hatte. In ihrem Wohnzimmer holte ich die Schutzkleidung aus meinem Rucksack. Mit klopfendem Herzen betrat ich das Schlafzimmer. Das verdunkelte Glas der Schutzmaske machte mich fast blind. Ich tastete mich zum Fenster vor. Mit beiden Händen fasste ich das Fensterbrett und versuchte, es anzuheben. Es rührte sich nicht. Das Herz wurde mir schwer. Dann existierten das Versteck und die Schatulle also nur in Emilys Vorstellung. Ich klappte die Schutzmaske hoch und erst da sah ich den Riss. Ein Teil des Brettes war abgebrochen. Ich zog daran und er ließ sich herausnehmen. Darunter kam ein Fach zum Vorschein, in dem eine hölzerne Schatulle lag. Jemand hatte Runen in ihren Deckel geschnitzt. Mein Herz schlug wieder schneller. Ich nahm die Schatulle heraus und auch den kleinen Schlüssel, der darunter lag. Setzte mich aufs Bett und schloss sie auf. Anschließend klappte ich die Maske herunter und den Deckel auf.