Dreizehn. Das Spiegelbild. Band 3: Roman (13. Dark Fantasy, Steampunk) - Carl Wilckens - E-Book

Dreizehn. Das Spiegelbild. Band 3: Roman (13. Dark Fantasy, Steampunk) E-Book

Carl Wilckens

0,0

Beschreibung

Godric End, meistgesuchter Widerstandskämpfer Dustriens, erzählt den Insassen von Zellenblock 13 seine Geschichte: Ich stehe im Hafen von Treedsgow. Der Wind zerrt an den Papieren in meiner Hand und Dunkelheit senkt sich über mich herab. Was auf der zweiten Seite von Williams Tagebuch steht, droht mich um den Verstand zu bringen. Die Worte öffnen in meinem Innern die Tore zu etwas Bösem und ich werde wieder zu dem, der ich auf der Swimming Island war. Zu einem Mörder. Zum Redscarf Butcher. Mein Weg führt mich zur Universität und ich helfe, eine uralte Technologie zum Leben zu erwecken. Die Himmelsschiffe, die Gothin bombardieren, die Golems, die für uns auf dem Schlachtfeld kämpfen … sie alle entspringen der jahrtausendealten Technologie der Segovia. Ihr sollt meine Geschichte hören. Von den Fortschritten an der Treedsgow University und von meinem Krieg gegen den König der Banditen. Wie ich beinahe dem Wahnsinn verfiel, von einem Wesen aus reiner Energie und dem Untergang der Welt.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 638

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Carl Wilckens

13

Das Spiegelbild

Band 3

Wilckens, Carl :Dreizehn. Das Spiegelbild. Band 3.Hamburg, acabus Verlag 2019

Originalausgabe

ePub-eBook: ISBN 978-3-86282-702-2

PDF-eBook: ISBN 978-3-86282-701-5

Print: ISBN 978-3-86282-700-8

Lektorat: Laura Künstler, acabus Verlag

Satz: Laura Künstler, acabus Verlag

Cover: © Annelie Lamers, acabus Verlag

Covermotiv: © pixabay.com

Karte: © Carl Wilckens

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Der acabus Verlag ist ein Imprint der Bedey Media GmbH,

Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.

_______________________________

© acabus Verlag, Hamburg 2019

Alle Rechte vorbehalten.

http://www.acabus-verlag.de

Für meine Großeltern Hannelore und Alfons Graefenstein

Asche und Rauch

Der Geruch nach Feuer hing in der Luft. Er kam vom Ruß der Kohlehütten, deren Schornsteine schwarze Wolken gen Himmel spien, während sie Erz zu Stahl verarbeiteten, um daraus Waffen für den Krieg zu schmieden. Vom beißenden Schwefelgeruch aus dem Vulkan Mount Geth, der jüngst zum ersten Mal seit Jahrtausenden wieder angefangen hatte, Feuer zu speien. Und von der Asche der Toten, die der Wind über das Land wehte.

Die Insassen von Zellenblock 13 schliefen schlecht in dieser Nacht. Nicht bloß deshalb, weil sie die zweite Nacht in Folge in der Gesellschaft eines Toten verbrachten. Dreierlei Sorten von Albträumen quälten sie. Da waren jene unter ihnen, die ihren Glauben an Godric End und den Mythos der Unbezwingbarkeit, der ihn umgab, noch nicht verloren hatten. Die nach wie vor hofften, dass er sie befreien und zum Sieg über den Schwarzen Baron führen würde. Godric End hatte geradeheraus gesagt, dass er den Krieg gewollt hatte, nicht um Gerechtigkeit herbeizuführen, sondern Zerstörung. Aber war es nicht ihnen allen so ergangen? Hatten die Barone nicht eine Welt erschaffen, in der für Gerechtigkeit kein Platz war? Was sonst könnte man wollen, als diese Welt zu zerstören, damit sich aus ihrer Asche eine neue, bessere erheben konnte?

Jene Männer durchlebten in ihren Träumen, was am vergangenen Tag geschehen war. Sie fühlten die Hoffnung, die die beiden Ender ihnen gegeben hatten. Doch über ihnen lag der Schatten einer bösen Vorahnung. Das Wissen, dass Raysome ihnen ein Schritt voraus war. In ihren Träumen begegnete er ihnen in der Gestalt seines wahren Wesens. Mit Augen, die vor Raffgier leuchteten, und einem dämonischen Grinsen.

Dann waren da solche unter den Insassen, die sich vor End fürchteten. Nicht bloß deshalb, weil er tötete, ohne Reue zu fühlen. Fast jeder Ender oder Rabotnik, oder wie auch immer sie sich nannten, hatte schon im Kampf gegen die Barone getötet. Der Hass, der sie antrieb, ließ keinen Platz für Reue. Nein, was sie an End fürchteten, war die Aura des Übernatürlichen. Er erzählte Dinge, die sie – hätten sie nicht mit eigenen Augen jenen Schmetterling aus dunklem Mana gesehen – nicht geglaubt hätten. Von Zauberern, die sich Hibridia nannten, von magischen Spiegeln und Alchemie. Die Krähen schienen ihm zu dienen, und er kannte Wege zu töten, ohne die Zelle zu verlassen.

Solche Männer erlebten in ihren Albträumen, wie es den Endern gelang, ihren ehemaligen Helden zu befreien. Dass End seine Zelle verließ, sie mit Augen musterte, die violett glühten, und allen den Tod brachte.

Jene Männer, die von der letzten Sorte von Albträumen geplagt wurden, dachten nicht länger an den Aufstand. Dachten nicht an den Krieg oder an Godric End. Seit sie den Schmetterling aus schwarzem Mana gesehen hatten, kam ihnen zum ersten Mal der Gedanke, dass End die Wahrheit sagen mochte. War das das Ende der Welt? Würde bald der Himmel aufbrechen? Würden die Sterne auf die Erde stürzen, und das Meer über die Ufer treten und sie alle verschlingen? Gab es die dreizehn Zeichen? End hatte behauptet, dass die Spiegelbilder, die verschwanden, eines von ihnen waren. Und der Riss im Himmel? Die Vögel, die starben? Was, wenn sie hier ihre Schlachten führten, blind vor Hass – der Aufstand in Dustrien, der Krieg in den Landen – und nicht bemerkten, dass sie auf ein anderes, viel größeres Übel zusteuerten? Ein Übel, vor dem man nicht fliehen konnte!

Diese Männer sahen in ihren Träumen einen schwarzen Mahlstrom. Er verschlang alles, Menschen, Städte und Berge. Sie sahen, wie der Riss sich über ihnen ausbreitete, bis ein Netz feiner Äderchen den Himmel durchzog. Bei jedem Donnergrollen, das ihr Verstand in den unruhigen Traum wob, löste sich ein Splitter aus dem Himmel und begrub ganze Landstriche unter sich. Der Staub, den sie dabei aufwirbelten, verdunkelte den Horizont. Sie stürzten ins Meer, und turmhohe Wellen fegten über das Land hinweg und hinterließen nichts als Tod und Zerstörung.

Ronald war der Einzige, der jeden dieser Träume durchlitt. Das Fieber schüttelte ihn. Immer wieder erwachte er keuchend, drehte sich auf die andere Seite und glitt in den nächsten unruhigen Schlaf.

Erst am Morgen, noch bevor der Tag begann, bereitete das Surren der Förderbrücken ihren Qualen ein Ende.

Blackworth

Schreie. Die Insassen von Zellenblock 13 hoben die Köpfe. Jene, die eine Zelle mit Fenster hatten – so auch End – standen auf und spähten durch die Gitterstäbe zu dem würfelförmigen Gebäude in der Nähe des Bahnhofs.

»Das Exclamatio«, sagte der Sänger und senkte den Blick. »Sie versuchen, Informationen aus den beiden Endern herauszuholen.«

»Nein«, sagte End heiser. »Nicht schon wieder.« Der Sänger sah zu ihm. Das Schicksal ihrer Genossen schien ihm nahezugehen. End fuhr sich mit beiden Händen über das kurzgeschorene Haar. Sein Blick war unruhig geworden, als hoffte er, in seiner Zelle eine Lösung zu finden. Schließlich ließ er sich mit dem Rücken gegen die Zellenwand fallen, rutschte daran hinab und lehnte die Stirn gegen seine Knie.

Eine Zeit lang war nichts zu hören bis auf das Surren der Förderbrücken und das Schreien der Ender. Dann machte sich ein drittes Geräusch bemerkbar: ein Brummen, dem Surren der Förderbänder nicht unähnlich. Es schien aus dem Himmel zu kommen und wurde mit jeder Minute lauter. Wieder blickten die Insassen aus den Fenstern ihrer Zellen. Am Himmel über den Saint Aaron Mountains waren mehrere schwarze Punkte unter der dunklen Wolkendecke erschienen. Sie flogen in V-Formation wie ein Schwarm Gänsevögel, der nach dem Winter aus dem Süden zurückkehrte; nur dass er gen Osten flog, zur Hauptstadt Dustriens. Bald waren sie so nahe, dass sich erkennen ließ, um was es sich wirklich handelte: fliegende Schiffe. Aus ihren Rümpfen ragten Flügel, unter denen je eine Turbine hing. Schwere Geschütze an Deck und unzählige Kanonenluken kündeten von der brachialen Zerstörungskraft der Himmelsgiganten. Schornsteine spien schwarzen Rauch in die Luft, der sich mit der dunklen Wolkendecke vereinte. Der Lärm ließ das Land erzittern. Waren die Luftschiffe erst genau über einem, übertrafen sie jedes andere Geräusch. Ihre Turbinen verschlangen tosend tausende Liter Luft pro Minute, während ihnen der Lärm wie ein Herold kilometerweit vorauseilte, Tiere in ihre Bauten flüchten ließ und Kinder auf die Straße lockte.

»Die Armee der Königin«, sagte Ronald mit schwacher Stimme, die das Brüllen der Turbinen kaum zu durchdringen vermochte.

»Was redest du, Genosse?«, rief Arwin in der Zelle gegenüber. »Das ist schon lange nicht mehr die Armee der Königin. Diese Männer folgen dem Schwarzen Baron.«

»Also haben die Landen gewonnen?«, fragte George in der vordersten Zelle gegenüber von Adam, der am Abend zuvor von dem schwarzen Schmetterling getötet worden war.

»Niemand hat gewonnen«, sagte End. »Die Landen brennen. Das tarmonische Reich ist zerschlagen. Gothin liegt in Schutt und Asche. Aber offiziell, ja, hat die dustrische Streitmacht den Krieg für die Landen entschieden. Nun kehrt sie hierher zurück, um eine letzte Schlacht im eigenen Land zu führen.«

»Wie groß, glaubt ihr, ist das Heer?«, fragte Arwin, der mit geballten Fäusten aus seiner Zelle gen Himmel blickte.

»Der Krieg in den Landen muss es dezimiert haben«, überlegte Baxter.

»Das Heer, das Dustrien zum Festland schickte, war hunderttausend Mann stark«, sagte End. »Selbst wenn etwa die Hälfte in den Landen gefallen ist, zählt es immer noch fünfzigtausend Soldaten.« Auf diese Auskunft hin herrschte betretenes Schweigen.

»Was ist mit den Golems?«, fragte Storm in die Stille hinein. Baine in der gegenüberliegenden Zelle lachte.

»Du klingst wie Ronald«, sagte er spöttisch. »Fängst du gleich damit an, dass End ein Herz aus Eisen hat?«

»Wieso nicht?«, brauste Storm auf. »Wenn nur die Hälfte von dem stimmt, was er erzählt, wäre ein Trupp mechanischer Soldaten noch das kleinste Wunder. Seht euch doch an, was Hazle­wood Industries inzwischen alles auf den Markt gebracht hat. Hätte auch nur einer von euch geglaubt, dass Schiffe den Himmel befahren könnten, ehe ihr es zum ersten Mal gesehen habt?« Baine schüttelte lächelnd den Kopf, schien aber auch nicht zu wissen, was er antworten sollte.

»Es gibt die Golems«, sagte End nüchtern, woraufhin das Lächeln auf Baines Lippen gefror. »Aber sie kämpfen nicht, wenn ich nicht bei ihnen bin.« Wieder herrschte Stille, während das Surren der Flotte allmählich leiser wurde. Auch die Schreie aus dem Exclamatio waren verstummt.

»Wir müssen zusehen, dass wir dich hier rausbekommen«, knurrte Arwin schließlich.

»Du verstehst nicht, Arwin«, sagte End. »Am Ende des Krieges wird niemand gewinnen. Die Energie, mit der wir die Maschinerie antreiben, um uns gegenseitig zu töten, ist nicht endlos. Die Golems und Luftschiffe beziehen sie von einer magischen Barriere, die unsere Welt umgibt. Schon vor Jahren fing sie an, löchrig zu werden. Aber nun steht sie kurz vorm Zusammenbruch.«

»Eine magische Barriere?«, fragte Arwin ungläubig. »Ich dachte, sie werden mit Entrizität betrieben.«

»Ich vermute«, mischte sich der Sänger ein, »wir werden erst dann verstehen, wenn wir Ends Geschichte gehört haben.« Er wickelte etwas Tabak in einen schmutzigen Streifen Papier und warf die Zigarette in die gegenüberliegende Zelle. End hob sie auf und betrachtete sie einen Moment lang nachdenklich. Dann zündete er sie an und zog daran, behielt den Rauch einige Sekunden lang in der Lunge und stieß ihn schließlich langsam und genüsslich aus Mund und Nase aus.

»Wo war ich stehen geblieben? Ach ja. Ich war soeben aus Sankt Laplace zurückgekehrt. Der Einbruch in die Nervenheilanstalt war in einem Fiasko geendet. Emily war nicht dort. Sie war sogar noch vor der Zeit Schwarzbergs von dort geflohen. Dafür hatte Uther, der uns geholfen hatte, in die Anstalt zu gelangen, sämtliche Irren befreit. In Schwarzbergs Turmzimmer traf ich einen Mann namens Esper, einen Magier, der mein Herz vergiftete. Sein Fluch schien zunächst harmlos, doch sollte er mich in den nächsten Vierteln zunehmend peinigen. Im Keller der Anstalt sah ich dann die Hibridia: Esper und vier weitere Magier. Als ich schließlich aus der Anstalt entkam, war das Einzige, das mir der Ausflug gebracht hatte, die nächste Seite von Williams Tagebuch.« Die jüngsten Geschehnisse im Zellenblock hatten Ends Geschichte vorerst aus den Köpfen der Insassen vertrieben. Nun kehrten ihre Gedanken dorthin zurück. End nahm noch einen Zug und fuhr fort: »Ihr fragt euch sicher, was darin stand.« Er seufzte. Etwas Trauriges lag in seinem Blick. »Wie hätte ich ahnen können, dass schon damals der Schwarze Baron seine Finger im Spiel hatte …«

Im Verwunschenen Tal

»Kennst du die sieben Zauberworte? / Bist durch den Mondbrunnen getaucht? / Sahst du längst alle fernen Orte? / Hast den Feenstaub schon verbraucht?« Lias samtene Stimme war so leise, dass sie das Zirpen der Grillen kaum übertönte. Die Vorhänge vor den Hüttenfenstern sperrten das Mondlicht aus. Die Schatten aller Dinge wiegten im flackernden Licht der Kerzen. Dem Kessel über der Feuerstelle entstieg ein angenehm milder Geruch, der an einen Sommerregen erinnerte.

»Nimm diesen Kuss, mein Elfenkind, / im Morgengrauen gehen wir, / wohin wir nie gegangen sind, / und dann zum Schluss, mein Silberprinz, / verrat ich ein Geheimnis dir, / und alles endet und beginnt.« Der Marionettenmann mochte dieses Lied. Als er ein Kind gewesen war, hatte seine Mutter es ihm viele Male vorgesungen. An der Stelle mit dem Kuss hatte sie ihn auf die Stirn geküsst und während der anschließenden Strophe mit dem Finger seine Nasenspitze angestupst.

Doch die Aufmerksamkeit des Marionettenmannes galt allein dem magischen Spiegel in seinem Schoß. Er zeigte Emily in einem Zimmer in Sankt Laplace. Unweigerlich musste er daran denken, wie er sie das letzte Mal gesehen hatte. Sie hatte ohne zu zögern auf ihn geschossen. Hatte seinen Spiegel zerstört und – was noch viel schlimmer war – ihn um ein Haar getötet. Der Marionettenmann ballte die Hände zu Fäusten. Wieso war sie in der Nervenheilanstalt? Was war geschehen, nachdem sie den Spiegel durchschossen hatte? Emily saß auf ihrem Bett. Sie hatte die Beine angezogen und die Arme um die Knie geschlungen. Im silbernen Mondlicht, das durch das vergitterte Fenster fiel, wirkte sie noch blasser, noch kränklicher, als sie vermutlich ohnehin schon war. Ihre Miene war leer. Unzählige Tränen, die ihr über die Wangen geflossen sein mussten, hatten sämtliche Hoffnung aus ihren Zügen gespült. Der Marionettenmann verspürte einen Stich. War es seine Schuld? Hatten seine Taten ihr letztendlich den Verstand geraubt?

Vor dem durch ein Gitter versperrten Durchgang zu Emilys Zimmer rührte sich etwas. Das Gitter bewegte sich zur Seite und ein Mann betrat ihr Zimmer. Dann passierte etwas Seltsames. Das Bild im Spiegel flackerte. So kurz, dass der Marionettenmann glaubte, es sich eingebildet zu haben. Aber es passierte wieder. Dann verrauschte es kurz. Die Augen des Marionettenmannes – sein verbliebenes und das künstliche – blieben auf das Glas gerichtet, während er nach einer Erklärung suchte. Ein Teil seines Denkens blieb hartnäckig dabei, dass er Gespenster sah. Litt er unter den Auswirkungen des Schlafmangels? Es gab nichts, das einen derart mächtigen Gegenstand wie den Zauberspiegel durcheinanderbringen konnte. Hatte er bei der Reparatur einen Fehler gemacht? Er bezweifelte dies. Kaum jemand arbeitete so akribisch wie er. Also was war es dann? Der Einzige, der die Macht besaß, die Verbindung des Zauberspiegels zu stören, war der Wurmgott. Aber das war lächerlich. Der Marionettenmann gab einen leisen Laut von sich, den man wohl als Lachen hätte interpretieren können. Dieser Mann konnte unmöglich der Wurmgott sein. Der Wurmgott musste stets auf der Straße gehen, über der keine Sterne schienen. Dass diese geradewegs durch Treedsgow führte, war ebenso unwahrscheinlich, wie dass die Königin von Dustrien sich in den Marionettenmann verliebte.

»Heut Mittag, g’liebtes Elfenkind, / kehr’n wir ein ins Königsschloss, / und reiten auf des Königs Ross, / noch eh der nächste Tag beginnt.« An dieser Stelle des Liedes hatte das Herz des Marionettenmannes stets schneller geschlagen. Er hatte sich vorgestellt, den König zu treffen und seine bildhübsche Tochter. Hatte davon geträumt, sie zu heiraten. Selbst dann noch, als seine Arme und Beine nicht aufgehört hatten zu wachsen, und er zu einem spinnengliedrigen Monster geworden war.

Und wenn das dort in Emilys Zimmer doch der Wurmgott war? Der Marionettenmann blickte von oben auf die Gestalt herab. Sie und Emily redeten miteinander. Er konnte ihr Gesicht nicht sehen, obgleich es keinen Unterschied machte. Der Wurmgott hatte viele Gesichter. Der Marionettenmann legte den Spiegel vorsichtig auf das Bett und erhob sich von der strohgefüllten Matratze. Er holte einen Zettel, Füllfederhalter und Tintenfass, schrieb mit fein säuberlicher Handschrift Treedsgow auf das Papier und riss es ab. Dann ging er zum Kessel, in dessen Oberfläche der sternenübersäte Himmel des Verwunschenen Tals zu sehen war, und warf ihn hinein.

Das Bild im Kessel blieb unverändert. »Nun mach schon!«, fluchte der Marionettenmann. »Zeig mir den Himmel über Treedsgow.« Wütend trat er gegen das Eisen. Aber außer einem pochenden Schmerz im großen Zeh brachte es ihm nichts. Er wandte sich den zahllosen Schrumpfköpfen auf den Regalbrettern zu.

»Wer von euch nutzlosen Schrumpfköpfen war schon mal in Treedsgow?«, fragte er. Schweigen. »Raus mit der Sprache, oder ich werfe einen nach dem anderen in den Topf, bis ich den Richtigen gefunden habe!« Die Schrumpfköpfe begannen, wild durcheinanderzurufen. »Ruhe!«, brüllte der Marionettenmann. »Der Nächste, der unaufgefordert spricht, landet im Topf.« Wieder Stille.

»Ich glaube, Eric war schon mal dort!«, sagte Carl von seinem Platz ganz oben im Regal.

»Er lügt!«, schrie Eric panisch. Seine leeren Augenhöhlen weiteten sich, als der Marionettenmann ihn aus dem Regal nahm. »Bitte. Wirf mich nicht in den Topf. Ich kann …« Platsch. Eric verstummte, als er im Kessel landete und sich binnen Sekunden darin auflöste. Das Bild im Kessel veränderte sich. Nun zeigte es die Sterne über Treedsgow, und zwar alle Sterne. Auch solche, die mit bloßem Auge nicht zu erkennen waren. Es waren so viele, dass sie beinahe zu einem einzigen silbernen Licht verschmolzen. Nur ein Streifen, der von Norden nach Süden den Himmel zerteilte, war dunkel. Der Unterkiefer des Marionettenmannes begann zu zittern. Also doch! Die Straße, über der keine Sterne schienen, führte geradewegs durch Treedsgow. Er kehrte zum Bett zurück und nahm mit verschwitzten Fingern den Spiegel wieder auf. Der Mann, der vermutlich niemand anderes als der Wurmgott war, reichte Emily soeben ein Lederband, an dem ein Stein hing. Ein Talisman? Was auch immer er von dir will, Emily, lass dich nicht auf ihn ein! Warum sorgte er sich um sie? Wenn der Wurmgott wusste, dass Emily ihm die Tränen gestohlen hatte, sollte er sich lieber Sorgen um sich selbst machen.

Das Mädchen nahm den Talisman und der Wurmgott verließ den Raum, ohne das Gitter hinter sich zu schließen. Emily betrachtete den Stein einige Herzschläge lang unschlüssig. Als wüsste der Spiegel genau, was der Marionettenmann sehen wollte, näherte sich das Bild dem Objekt in ihren Händen. Seine Augen weiteten sich, als er es erkannte. Es war ein Runenstein. Aber nicht irgendeiner, sondern einer von dreien, die den Geisterkönigen gehörten. Auch er besaß einen. Er hing an einer Schnur um seinen Hals und umgab ihn mit einer Aura der Furcht. Der Legende nach steckte in jedem von ihnen ein wenig vom dunklen Mana der Geisterkönige selbst. Besaß man alle drei, machten sie ihren Besitzer zum Herrscher über die Bösen Geister. Es waren diese Steine, die die Geister unter ihren Königen vereint hatten. Bevor alle Geister aus der Welt verbannt worden waren, waren die Norn die Einzigen gewesen, die freiwillig ihren Königen gedient hatten. Sie waren die mächtigste und zugleich seltenste Sorte von Bösen Geistern. Alben hingegen gingen stets ihrer eigenen Wege. Der Marionettenmann war sich nicht einmal sicher, ob sie wirklich böse waren. Sie waren nicht so mächtig wie die Norn, dafür mächtiger als ein Folklore. Und trotzdem waren die Folklore es, von denen damals die größte Gefahr ausging. Sie waren ohne Zahl, und ohne einen Herrscher würden sie über das Land kommen wie ein Schwarm gefräßiger Heuschrecken und es in eine leblose Wüste verwandeln.

Emily legte sich den Talisman um den Hals und erhob sich vom Bett. Sie trat aus dem Mondlicht in den Gang und verschmolz nahtlos mit der Dunkelheit. Trotz aller Sorge kam der Marionettenmann dem Spiegel mit neugieriger Miene so nahe, dass er fast seine große Hakennase gegen das Glas stieß. Das war also die Macht dieses Runensteins. Er machte unsichtbar im Schatten. Trotzdem folgte der Spiegel Emily sicher durch die Flure in ein leeres Büro. Eine Schrankschublade öffnete sich wie von Geisterhand. Ein Schlüssel, der ganz oben auf lag, verschwand und die Schublade schloss sich wieder. Emily verließ das Büro und begab sich auf direktem Wege zum Haupteingang der Anstalt. Das Licht des Mondes fiel auf ihr Gesicht, als sie aus einem der quadratischen Fenster in den Türen hinauf zum Himmel blickte. Sie wartete, bis sich eine Wolke vor den Mond schob. Dann schloss sie die Tür auf, trat hinaus auf das Gelände und floh durch das offene Tor der Festungsmauer. Während sie dem Weg den felsigen Hügel abwärts folgte, schien es, als zeige der Spiegel eine jener Belanglosigkeiten, denen er sich widmete, wenn nichts Interessantes geschah. Nur wenn Emily einen Abschnitt des Weges betrat, wo das Mondlicht durch eine Lücke in den Fichten und Kiefern fiel, sah man sie: eine schattenhafte Gestalt in einem weißen Nachthemd. Als Emily den Fuß des Hügels erreichte, begann sie zu rennen. Ein starker Wind wehte von Norden und warf Wellen in das Meer aus Gras, das die hügelige Landschaft um Treedsgow bedeckte. Ihr dunkles Haar flatterte hinter ihr her. Als sie den Weg zum Stadtrand zur Hälfte zurückgelegt hatte, wurde sie langsamer. Sie duckte sich ins hohe Gras und warf einen Blick über die Schulter. Niemand folgte ihr. Falls jemand in Sankt Laplace bemerkt hatte, dass ihr Bett leer war, suchten sie noch in der Anstalt nach ihr. In normalem Tempo ging Emily weiter. Der Marionettenmann musterte ihr Gesicht. Sie atmete schwer. Ihre Augenbrauen waren kaum merklich zusammengezogen. Das dunkle Mal über ihrer linken Braue stach aus ihrem Gesicht hervor, das weiß wie Schnee im Mondlicht wirkte. In ihrem Blick lagen Angst, aber auch Entschlossenheit. Als sie den Stadtrand erreichte, kündete ein heller Streifen am Horizont den nahenden Morgen an. Emily blieb stehen. Ihre Augen waren auf etwas gerichtet, das der Marionettenmann nicht sehen konnte.

»Was ist da?«, murmelte er. Der Spiegel veränderte die Perspektive und zeigte ihm ein hölzernes Kästchen, das dort stand, wo eine der Straßen Treedsgows in die Graslandschaft mündete: eine Spieluhr. Sie war verschlossen und somit offenbar still. Der Spiegel übertrug ohnehin keine Laute und trotzdem bildete der Marionettenmann sich ein, die gedämpfte Melodie des Kinderliedes, das Lia sang, aus dem Innern des Kästchens zu hören.

»Nimm meine Hand, mein Elfenkind / hörst du die Wellen rauschen? / Die Sonne schon im Meer versinkt / sie und der Mond nun tauschen / den Platz am dunklen Firmament: / ein letzter magischer Moment.« Mit misstrauischer Miene näherte sich Emily der Spieluhr.

»Tu es nicht, Emily«, flüsterte der Marionettenmann. »Es ist eine Falle. Geh einfach.« Der Wurmgott musste der Straße, über der keine Sterne schienen, stets folgen. Wenn sie von Norden nach Süden führte, konnte er nicht mehr hier sein. Doch er konnte etwas auf der Straße hinterlassen haben. Die Schatulle zum Beispiel.

Aber wenn er Emily hätte töten wollen, hätte er es in der Anstalt tun können. Warum half er ihr zu entkommen, nur um sie in eine Falle laufen zu lassen? Das ergab keinen Sinn. Trotzdem hatte der Marionettenmann ein ungutes Gefühl.

Emily ging vor der Schatulle auf die Knie und streckte ihre Hand nach dem Deckel aus.

»Sei nicht dumm, Emily«, sagte der Marionettenmann. Als hätte das Mädchen ihn gehört, verharrten ihre Fingerspitzen wenige Zentimeter davor. Dann ließ sie die Hand sinken. Der Marionettenmann atmete erleichtert auf.

Plötzlich sprang der Deckel auf. Eine schwarze Hand schnellte daraus hervor und packte Emilys Hals. Der Marionettenmann zuckte so heftig zusammen, dass ihm der Spiegel beinahe aus dem Schoß gefallen wäre.

»Nein, nein, nein!« Emily fasste das Handgelenk und versuchte vergeblich, sich aus dem Griff zu befreien. Ihre Fingernägel kratzten über den Handrücken. Ihre Bewegungen erlahmten. Sie öffnete den Mund zu einem Schrei, der nie über ihre Lippen kommen sollte. Das Leben wich aus ihren Gliedern. Die Hand ließ sie los und zog sich in die Schatulle zurück. Emilys schlaffer Leib sackte zur Seite. In ihren leeren Augen spiegelte sich der Morgen.

»Nein!«, flehte der Marionettenmann. Tränen liefen ihm aus seinem verbliebenen Auge. Es waren Tränen der Trauer, nicht der Wut. Wieso wurde ihm erst jetzt klar, dass es ihm nie um die tränenförmigen Edelsteine gegangen war? Auch nicht um den Wurmgott. Er hatte gewollt, dass Emily zu ihm zurückkehrte. Emily, die Einzige, die ihn je wie einen Menschen behandelt hatte. Die ihn angesehen hatte ohne das geringste Zeichen von Abneigung. Im Gegenteil: Sie hatte ihn bewundert. Hatte seine Gesellschaft genossen, egal wie griesgrämig er gewesen war.

Die Schrumpfköpfe schwiegen, während der Marionettenmann in seine Handflächen weinte. Nicht einmal Carl wagte, einen Ton von sich zu geben, und hätte er auch nur ein Wort gesagt, der Marionettenmann hätte ihn, ohne zu zögern, in seinen Topf geworfen. Vorbei war die Zeit, da er vor dem Wurmgott buckelte. Mochte er noch so mächtig und furchteinflößend sein. Es konnte Jahre dauern, bis die Straße, über der keine Sterne schienen, das nächste Mal durch das Verwunschene Tal führte. Der Marionettenmann ließ die Hände sinken und betrachtete seine tränennassen Handflächen. Ihm kam ein tollkühner Gedanke. Was hatte Carl zu ihm gesagt? Wenn du dich ganz dem Studium der Alchemie widmen würdest, statt ständig in diesen Spiegel zu starren, hättest du vermutlich bereits den Stein der Weisen erschaffen. Ach, was rede ich, du könntest selbst Tote wiedererwecken. Emily war tot. Aber das musste nicht so bleiben. Tränen, geweint zum Zeitpunkt des Todes aus Trauer um das Opfer. Physisch gewordener Kummer. Der Marionettenmann erhob sich von seinem Bett, wobei er den Spiegel vorsichtig auf die Matratze gleiten ließ, und ging zu seinem Schrank. Er öffnete ihn mit den Ellbogen und ließ die Tränen von den Handflächen in ein Glas tropfen; behutsam, um die erste Zutat von vielen, die man brauchte, um jemanden von den Toten zurückzuholen, nicht zu vergeuden.

Treedsgow

Ein totes Mädchen lag auf den Straßen von Treedsgow. Vor ihr eine unscheinbare Schatulle. Der Wind kam herbeigeeilt und zerrte an ihrer Kleidung, als wollte er nicht wahrhaben, dass sie tot war. Ein Hase verließ den Schutz der Graswogen und lief zu ihr. Schnupperte an ihrem Gesicht, hüpfte darüber hinweg und fing an zu grasen. Nach einer Weile hob er den Kopf. Alarmiert stellte er die Löffel auf und floh zurück ins hohe Gras. Zwei Männer traten zwischen den Häusern hervor auf die Straße, auf der das tote Mädchen lag. Ihr Anblick überraschte sie nicht im Mindesten. Im Gegenteil: Sie hatten nach ihr gesucht.

»Das muss sie sein«, sagte der eine und beschleunigte seine Schritte.

»Die Schatulle ist auch dort«, meinte der andere. Sie erreichten die Stelle und sahen auf das tote Mädchen hinab. Kein Mitleid lag in ihrem Blick. Keine Betroffenheit zeigte sich auf ihren Gesichtern.

Der stämmigere von beiden hob die Schatulle hoch und hielt sie sich vors Gesicht. »Ich wüsste zu gerne, was drin ist«, meinte er.

»Lass es lieber«, sagte der Hagere, während er einen Stein mit einer Rune aufgefädelt auf einem Lederband über den Kopf der Toten zog. »Der Wurmgott sagte, sein Inhalt sei gefährlich. Gib mir die Schatulle. Du bist stärker und solltest das Mädchen tragen.« Der Stämmige reichte sie ihm. Er ging neben der Toten in die Hocke, um sie hochzuheben, als sein Blick auf ihre Handgelenke fiel. Er hielt inne.

»Was sind das für rote Striemen?«, fragte er. Der Hagere trat mit fragendem Blick neben ihn. Im nächsten Moment hob die Tote die Arme. Die beiden Männer wichen zurück. Die junge Frau wurde wie an unsichtbaren Fäden an den Handgelenken emporgehoben, bis sie mehrere Meter über der Straße schwebte. Dort verweilte sie, die Arme von sich gestreckt wie eine Marionette ohne Spieler.

»Scheiße«, sagte der Hagere mit gehetztem Blick. »Der Wurmgott wird uns den Hals umdrehen.«

Das Tagebuch

3. Blätterfall 1713, Viertmorgen

Erst heute, über zwei Viertel nach meiner letzten Begegnung mit Emily, genehmigte man mir einen zweiten Besuch in der Nervenheilanstalt. Zwei Viertel, in denen die Tränen, die ich in Emilys Wohnung gefunden hatte, unablässig meine Gedanken beherrschten. Inzwischen habe ich gelernt, die Blicke der Spiegelbilder zu ignorieren.

Nachdem ich beim Empfang Emilys Namen genannt hatte, wies man mich an, im Wartezimmer Platz zu nehmen. Obwohl ich der einzige Besucher war, musste ich mich eine geschlagene halbe Stunde gedulden. Anders als beim letzten Mal führte man mich nicht in die Kantine, sondern in ein Büro. Ein kleiner Mann mit einer Melone auf dem Kopf begrüßte mich. Er forderte mich freundlich auf, ihm gegenüber Platz zu nehmen, und ließ sich seinerseits hinter seinem Schreibtisch nieder. Mein Blick fiel auf ein Messingschild auf dem Schreibtisch: Professor P. Rankine, M.D., Ph.D. – Anstaltsleiter. Ich schluckte.

»Bin ich richtig darüber informiert worden, dass Sie Miss Emily End besuchen wollen?«, fragte Rankine.

»Ja, Sir.« Ich verspürte einen Kloß im Hals. Wenn man mich ins Büro des Anstaltsleiters brachte, konnte das nichts Gutes bedeuten.

Rankine räusperte sich. »Sind Sie mit ihr verwandt?«

»Nein, Sir. Sie ist eine Freundin.«

Rankine nahm seinen Hut ab und brachte eine auf Hochglanz polierte Halbglatze zum Vorschein. »Ich bedauere Ihnen mitteilen zu müssen, dass Emily gestern Nacht aus der Anstalt geflohen ist.«

»Was?!«, fragte ich heiser. Oh, Emily, warum?

»Wir suchen sie mit allen verfügbaren Mitteln. Sogar mit Hunden. Aber ihre Spur verliert sich am Rande der Stadt.« Rankine schüttelte mit bedauernder Miene den Kopf. »Dabei war sie auf dem Weg der Besserung. Es tut mir leid.« Er räusperte sich wieder. »Mister Walker, ich werde den Konstabler darüber informieren müssen, dass Sie hier waren. Er hat sicherlich einige Fragen.«

»Schon gut«, sagte ich mit belegter Stimme. »Wir kennen uns schon.« Ich erhob mich. »Einen schönen Tag noch, Doktor.«

»Ich rufe einen Wachmann, damit er Sie hinausbegleitet«, sagte Rankine, während wir uns die Hand schüttelten.

»Das ist nicht nötig. Es ist doch nur den Flur runter.« In Gedanken versunken verließ ich das Büro. Wohin konnte Emily gegangen sein? Versteckte sie sich irgendwo? In der Universität vielleicht? Oder hatte sie Treedsgow noch in derselben Nacht auf einem Schiff verlassen? Ein Flüstern schreckte mich aus meinen Gedanken.

»William.« Einer der Patienten trat aus seinem Zimmer.

»Glenn?«

(Ich kramte in meinem Gedächtnis nach dem Namen. Glenn … aber ja! Jener zwielichtige Freund von Emily. William war damals auf dem Weg zum Fourier gewesen, um sich mit Diane zu treffen – dem Mädchen, dass er im Vollrausch im Hafen kennengelernt hatte. Glenn hatte William davon überzeugt, sich um Emily zu kümmern.)

Es war noch immer unangenehm, ihm in die Augen zu sehen. Dann bemerkte ich, dass sein Blick sich verändert hatte. Nur das linke Auge war von einem so durchdringenden Blau, dass es schmerzte. Das andere schimmerte rötlich.

»Geh heute zu Raum 21 im Keller der Universität«, sagte Glenn.

»Wie bitte?«

Wieder machte der Mann eine jener Gesten, die mich an eine Marionette erinnerten. »Komm allein und sag zu niemandem ein Wort.«

In diesem Moment brach Glenn zusammen, als hätte jemand seine Fäden gekappt, und fing an, unkontrolliert zu zucken. Ich rannte los und gab dem ersten Pfleger, der mir über den Weg lief, Bescheid.

Am Abend betrat ich besagten Raum 21. Den ganzen Tag hatte ich mit mir gerungen. Vielleicht war es die falsche Entscheidung gewesen, nicht sofort zum Konstabler zu gehen.

Der Raum war mit einem Schrank, der bis unter die Decke reichte, einem Tisch, einer großen Truhe und einem Objekt, das ich erst beim zweiten Hinsehen erkannte, ausgestattet: einer länglichen Gefrierkammer. Wieso nur erinnerte sie mich an einen Sarg? Ich trat vor sie und öffnete den Deckel.

Darin lag Emily. Eiskristalle wucherten auf ihrer blauen Haut. Ihre Augen wirkten wie aus Glas. Ich stolperte rückwärts. Wandte mich um und stürzte aus dem Raum. Ich ahnte nicht, dass ich draußen schon erwartet wurde.

Meine Hand zittert. Ich kann nicht mehr schreiben. Ich fürchte, ich verliere den Verstand.

W. D. Walker

End

Die kalte Nachtluft zerrte an den Papieren in meiner Hand. Hohe Wellen brachen an der Kaimauer, und Gischt spritzte mir ins Gesicht. Der Himmel über dem Meer war noch dunkel, doch über der Stadt kündete bereits ein heller Streifen den nahenden Morgen an.

Mein Blick war leer. Ich starrte auf die Zeilen aus Williams Tagebuch. Ich hatte ihren Sinn verstanden, aber sie lösten kein Gefühl in mir aus. Emily war tot. Es war, wie auf eine frische Wunde zu starren und darauf zu warten, dass der Schmerz kommt – in dem Bewusstsein, dass er grausam sein würde. Ich las die letzten Zeilen noch einmal. Eiskristalle wucherten auf ihrer blauen Haut. Emily war tot. William hatte sie gesehen, eingefroren in einer Eiskammer, und hatte es niedergeschrieben mit blauer Tinte auf weißem Papier. Ihre Augen wirkten wie aus Glas. Meine Suche endete hier. Jetzt. Erbarmungslos wurde ich mit dieser Tatsache konfrontiert. Bestand die Hoffnung, dass William nicht die Wahrheit geschrieben hatte? Nein. Wieso sollte er in seinem Tagebuch lügen? Einem Buch, das nur er selbst zu lesen beabsichtigt hatte. Hatte William sich geirrt? Hatte nicht Emily, sondern jemand anders in der Gefrierkammer gelegen? Nein. William hatte sie geliebt. Wie könnte er sie verwechseln?

Der Wind riss mir die Papiere aus den tauben Fingern. Sie schlugen Purzelbäume auf dem Pflaster und schlitterten bis vor ein paar modrige Fässer vor einer Hafenkneipe. Die Beine gaben unter mir nach, und ich sank auf die Knie. Es war vorbei. Der Unterrumpf, die Piraten, Mario, der Metzger … sie hatten meine Welt ins Dunkel gestürzt. Emily war der einzige Lichtblick gewesen, der alles hätte ungeschehen machen können. Heiße Tränen stiegen mir in die Augen. Ihr kleiner Bruder war noch da, irgendwo unter dem Panzer des Monsters, das das Töten aus mir gemacht hatte. Doch nun gab es niemanden mehr, der ihn zurückbringen konnte. Mein Oberkörper sank nach vorn, und ich hieb mit den Fäusten aufs Pflaster. Dunkelheit brach über mir herein. Wäre das schwarze Perl noch in meinem Besitz gewesen, ich hätte es mir auf der Stelle unter die Zunge gelegt.

Ein Schluchzen kam über meine Lippen.

»Hey, Heulpepe«, rief jemand. Ich richtete mich auf und warf einen Blick über die Schulter. Hinter mir war einer von Damons Gardisten. Als er mein Gesicht sah, weiteten sich seine Augen. »Dich kenne ich doch. Damon hat dich in den Ratten­sumpf geworfen. Wie bist du entkommen?« Ich funkelte ihn an. Natürlich war Emilys Schicksal nicht die Schuld des Gardisten. Er war lediglich zur falschen Zeit am falschen Ort. Ich erhob mich und ging auf ihn zu; schnellen Schrittes, aber ohne zu rennen. Der Gardist legte alarmiert eine Hand auf den Griff seiner Pistole. »Komm nicht näher, Arschloch, oder ich jag dir eine Kugel ins Hirn.« Er zog die Waffe und richtete sie auf mich. Im Bruchteil der Sekunde, bevor er den Abzug betätigte, riss ich die Schulter herum; ein riskantes Manöver, das man nur einsetzt, wenn man seinen Gegner kennt. Wenn man weiß, dass seine Reaktionen langsam und seine Schusslinie treffsicher sind.

Oder wenn man lebensmüde ist.

Das Projektil verfehlte mich um Fingerbreite. Im nächsten Moment war ich bei ihm und schlug ihm die Waffe aus der Hand. Noch ehe er seinen Säbel gezogen hatte, ließ ich einen Treffer mit dem Ellbogen auf seiner Nase landen. Es knirschte. Er stöhnte und strauchelte rückwärts. Blut strömte aus seinen Nasenlöchern, über die Lippen und das Kinn. Ich trat ihm gegen den Fuß, und er stolperte und stürzte. Ich ließ ihn auf die Beine kommen, nur um ihn mit einem gezielten Schlag gleich wieder niederzustrecken. Ich spielte mit ihm. Ließ ihn für das bezahlen, was man Emily angetan hatte. Ich trat ihm mit Wucht gegen den Oberschenkel, und er wand sich stöhnend am Boden.

»Bitte«, flehte der Gardist heiser, während er mit schmerz­erfüllter Miene zu mir aufblickte. »Lass mich leben!« Ich gab keine Antwort. Packte ihn am Kragen, hob ihn hoch und schmetterte ihn vor den Pfahl einer defekten Gasleuchte. Stechender Schmerz meldete sich in meiner Brust. Ich biss die Zähne zusammen und verfluchte Esper stumm. Zog meine Machete und sagte: »Lauf.« Er wandte sich um und humpelte davon. Als er etwa fünf Schritte gegangen war, holte ich aus und warf die Machete. Die Klinge wirbelte durch die Luft, durchbohrte sein Herz, und er brach zusammen. Ich ging zu ihm, zog die Waffe aus seinem Leib und wischte sie an meiner Hose sauber. Anschließend stieg ich eine Treppe zu einem niedrig gelegenen Bootssteg hinab, kappte eines der Seile, mit dem ein Fischerboot vertäut war, und kehrte damit zu dem Toten zurück. Ich schlang es ihm um den Hals und schleifte ihn zu der defekten Gasleuchte. Warf das andere Ende des Seils über den Balken, der Mast und Gehäuse miteinander verband, und zog ihn daran hoch. Blut tropfte auf das Pflaster. Ich band das Seil am Geländer des nächsten Bootsstegs fest und ging fort; eine Botschaft für Damon zurücklassend, die im Wind schaukelnd sagte: Ich scheiß auf deine Gesetze. Mir ist egal, ob du die Hafenbewohner tötest. Mir ist egal, ob du mich tötest. Eigentlich wünsche ich es mir sogar. Aber bis dahin werde ich dir das Leben schwer machen.

Ich wollte irgendjemanden dafür bezahlen lassen, was mit Emily geschehen war. Weil mir sonst nichts geblieben war. Limbania hatte die Dunkelheit nicht aus mir herausgeschnitten, als wäre sie ein Tumor, sondern lediglich eingekapselt. Sie war immer noch da – auf einer Insel gestrandet, fern vom Festland, das mein Verstand war. Doch Emilys Tod hatte ihr eine Brücke gebaut.

Zugleich ähnelte Treedsgow dem Unterrumpf stärker denn je. Zwar war da die Sonne am Himmel, doch war die Stadt zur Heimat von Mördern, Drogensüchtigen und Wahnsinnigen geworden. Die Bewohner des Unterrumpfes hatten sich lediglich insoweit vom Hafenvolk unterschieden, als dass sie alles zugleich gewesen waren.

Am Tag nach dem Massenausbruch aus Sankt Laplace ließ der Bürgermeister die Tore zum Universitätsviertel endgültig schließen. Er verstärkte die Wachen auf der Mauer und gab die Anweisung, auf jeden zu feuern, der sich bis auf zehn Schritte näherte.

In der kommenden Zeit tötete ich drei weitere Gardisten und drapierte ihre Körper an öffentlichen Plätzen. Damon reagierte auf die Provokationen mit zunehmender Härte. Ich entzog mich seinen Versammlungen auf dem Marktplatz und beobachtete das Spektakel aus sicherer Entfernung. Nach dem ersten Mord blieb er demonstrativ unbeeindruckt. Er köpfte einen zufällig erwählten Mann aus der Menge und erklärte anschließend, dass er zwar der Henker gewesen sei, der Schuldige sich aber unter den Hafenbewohnern befände. Nachdem er mein zweites Opfer baumelnd an dem Mast eines Schiffes, das vor dem Marktplatz ankerte, vorgefunden hatte, verlangte Damon den Namen des Täters.

»Wer versucht, mir weiszumachen, dass keiner wisse, wer dahintersteckt«, sagte er und sein Zorn verlieh seiner Stimme Nachdruck, »ist der Nächste, den ich in den Tod schicke!« Die Menge schwieg. Niemand wusste, wie ich hieß, auch wenn mich viele inzwischen den Redscarf Butcher nannten. Schließlich nahm Damon drei Geiseln und verkündete, dass er sie allesamt töten würde, sollte einem seiner Männer noch einmal etwas zustoßen. Am nächsten Morgen fand er einen Gardisten mit durchgeschnittener Kehle auf der Türschwelle des Whitehall Nord. Daraufhin köpfte Damon die erste der drei Geiseln vor den versammelten Hafenbewohnern. Die Menge kochte. Die Menschen wüteten, rangen mit den Gardisten, die den Platz umstellten, und verwünschten den Redscarf Butcher. Damon schien zu begreifen, dass der Mörder auf eigene Faust handelte, denn er ließ die anderen beiden Geiseln am Leben.

Nachdem ich den vierten Gardisten in einem Fass über die Mauer des Whitehall Nord geworfen hatte, schlug Damon eine andere Richtung ein. Bei der nächsten Versammlung verkündete er, dass es von nun an verboten sei, Waffen bei sich zu tragen. Jeder Bürger, der eine Waffe besaß, die über ein gewöhnliches Küchenmesser hinausging, hätte diese bis Sonnenuntergang im Whitehall Nord abzuliefern. Wer danach noch mit einer Waffe gesehen würde, dem würde eine Hand abgeschlagen.

»Wie sollen wir uns so vor den Wahnsinnigen schützen?«, fragte ein Mann aus der Menge.

Damon lächelte gönnerhaft. »Wir beschützen euch«, sagte er. »Deshalb müssen wir sicherstellen, dass ihr uns nicht gefährlich werdet. Zu eurem eigenen Schutz.«

»Keiner kann meine Familie besser beschützen als ich selbst«, beharrte der Mann.

»Ein wahres Wort.« Damon sprang von dem Stand, den er sich als Podium erwählt hatte, und trat vor den Mann. »Wie heißt du?«

»Willis«, sagte der Mann ein wenig kleinlaut ob der Nähe von Damon, aber nach wie vor mit düsterer Miene.

»Du siehst kräftig aus, Willis. Was ist dein Handwerk?«

»Ich arbeite in den Minen von Minersfort.«

Damon nickte wissend. »Wenn du deine Familie und die Hafenbewohner selbst beschützen möchtest, Willis, kannst du bei mir vorsprechen. Ihr alle könnt bei mir vorsprechen«, fuhr er an die Menge gewandt fort. »Ich werde euch auf die Probe stellen, und wenn ihr mich von eurem Talent und eurer Loyalität überzeugt, werdet ihr die Plätze derer einnehmen, die in den letzten Tagen ermordet worden sind. Als Zeichen meines guten Willens entlasse ich die Geiseln.« Die Hafenbewohner verfluchten Damon. Sie schworen sich, keine gemeinsame Sache mit ihm zu machen.

Doch die Grausamkeit von Schwarzbergs Patienten zwang ihren Stolz bald in die Knie. Schwarzberg hatte etwas Dunkles in ihre Köpfe gepflanzt. Sie schienen nur ein Ziel zu verfolgen, und zwar Chaos und Leid zu verbreiten. Sie kamen an Bedrohlichkeit einem Perlsüchtigen auf Entzug nahe. Zwar verfügten sie nicht über deren Entschlossenheit und Kraft, doch waren sie geduldig und ihr Einfallsreichtum ohne Grenzen. Sie mischten sich unter das Hafenvolk. Gaben sich normal, manchmal gar viertellang, und erschlichen sich das Vertrauen der Menschen. Immer wieder hörte man von blutigen Gräueltaten und von Entführungen oder wurde selbst Zeuge des Moments, da einer der Patienten sein wahres Gesicht zeigte. Keiner wusste, wem man noch trauen durfte. Also wandten sich die Hafenbewohner an Damon. Sie hatten nicht vergessen, was er ihnen angetan hatte. Aber zumindest war seine Grausamkeit nicht willkürlich. Solange man nach seinen Regeln spielte, blieb man am Leben. Damon erweiterte seine Garde um eine stattliche Anzahl an Mitgliedern. Es wurde fast unmöglich, einen seiner Leute zu töten, gingen sie doch nur noch schwer bewaffnet und zu dritt oder zu viert auf die Straße.

Und dennoch akzeptierten nicht alle Damon als ihren hartherzigen Beschützer. Vor allem jene, die durch Damons Schwert einen geliebten Menschen verloren hatten, gründeten eine Organisation und benannten sich nach Charles Rabotnik, dessen Name, nachdem er den ersten Aufstand gegen die Barone angeführt hatte, zu einem Synonym des Widerstands geworden war. Sie weigerten sich, Damons Forderung, ihre Waffen abzugeben, nachzukommen, versammelten sich heimlich in Kellern und auf Dachböden und waren immer wieder in Scharmützel mit den Gardisten verwickelt.

Während dieser Zeit sprach ich mit niemandem. Ich ernährte mich durch Stehlen, von Abfall und Ratten. Fast konnte ich Hunger wieder hören, der mir zuraunte, dass die Dunkelheit zu mir zurückgekehrt war. Nachts streifte ich durch die Stadt, oft über die Dächer. Die Gebäude im Hafen standen dicht beieinander. Auf den rauen Ziegeln fanden meine Sohlen sicheren Halt, und von oben hatte ich einen guten Überblick; anders als in den dunklen Gassen, in denen man stets mit unangenehmen Überraschungen rechnen musste. Tagsüber schlief ich neben einem Schornstein auf dem Flachdach einer Textilfabrik gleich hinter dem Güterhafen. Der, der ich jetzt war, fühlte sich hier draußen in der Gesellschaft von Gaunern und Irren heimischer als in einem wohlbehüteten Bett im Fourier. Ich baute mir aus Decken und Kleidungsstücken ein improvisiertes Zelt, das mich vor Licht und Regen schützte. Jüngst lag der Geruch des Sommers in der Luft. Während ich schlief, klammerte ich mich an Williams Tagebuch wie ein Kind an sein Stofftier; ein Andenken, dem noch der Geruch von Hoffnung anhaftete.

Eines Abends bemerkte ich vom Dach eines zweistöckigen Wohnhauses aus ein eigentümliches Glitzern in einer dunklen Gasse. Ich schritt über das flachgeneigte Dach und spähte über die Kante. Erst da bemerkte ich die dunkle Gestalt. Sie saß auf einem Stapel morscher Kisten, hatte das Gesicht in den Händen vergraben und weinte. Vor ihr stand eine gläserne Statue. Sehr merkwürdig. Allmählich gewöhnte ich mich an die Dunkelheit. In dem Moment, da die Gestalt sich die Augen wischte, erkannte ich sie. Es war Rocío, Damons Geliebte. Hinter mir auf der anderen Seite des Gebäudes flüsterte ein Kirschbaum im abendlichen Wind. Godric End. Ich ignorierte ihn und lauschte Rocíos Schluchzern. Sie wirkte dünner als bei unserer letzten Begegnung. Die Nadel, mit der sie ihr Haar hochgesteckt hatte, konnte nur mit Mühe den Schein eines gepflegten Äußeren wahren. Godric End. Ich überlegte, zu ihr zu gehen. Zögerte. Als wir das letzte Mal zusammen gewesen waren, war ich noch voller Hoffnung gewesen, Emily zu finden. Ich wollte nicht daran erinnert werden, dass diese Hoffnung gestorben war. Godric End. Ich wandte mich wütend zu dem Baum um.

Was?!, formten meine Lippen.

Aliona, flüsterte der Baum. Aliona? Der Name sagte mir etwas. Doch wollte mir nicht einfallen, woher ich ihn kannte. Ich sah wieder zu Rocío und biss mir auf die Unterlippe. Dann fasste ich mir ein Herz und schwang mich über die Dachkante. Ich landete neben der gläsernen Figur in der Gasse. Rocío sprang auf und griff in ihre Hosentasche. Instinktiv legte ich die Hand auf den Griff meiner Pistole. Dann sah ich, dass sie nichts weiter als einen saphirblauen Stein hervorgeholt hatte und ihn mir zwischen Daumen und Zeigefinger entgegenstreckte. Obwohl es dunkel war, brach sich Licht in seinem Innern. Er war so tiefblau, dass mein Blick darin zu versinken schien. Ich versuchte wegzusehen, doch mein Körper gehorchte mir nicht. Meine Arme erschlafften. Mein Mund klappte auf wie der eines sabbernden Idioten. Ich wankte.

Im nächsten Moment schlossen sich Rocíos Finger um das Kleinod und brachen den Bann. Ich keuchte und stolperte rückwärts.

»Was ist das?«, fragte ich heiser – es waren die ersten Worte, die ich seit Vierteln sprach – und starrte auf Rocíos Faust.

»Was willst du von mir?«, gab Rocío zurück, ohne auf meine Frage einzugehen.

»Ich habe dich weinen sehen.«

»Und da wolltest du mich trösten?« Der Spott ließ ihre dunklen Augen blitzen. Sie war hübsch, stellte ich nicht zum ersten Mal fest. Auf eine femininere Art, als Sam es gewesen war, dafür nicht weniger exotisch. Ob das Tattoo in ihrem Gesicht irgendeine Bedeutung hatte?

Ich antwortete nicht, sondern betrachtete die Statue von allen Seiten. Eine kalte Aura umgab sie. Dann wurde mir klar, dass sie nicht aus Glas war. Sie war aus Eis.

»Wie machst du das?«, fragte ich leise. Sie hatte den Mann bis ins kleinste Detail abgebildet: die Schnallen an den Stiefeln, die Narben im Gesicht, ja, sogar jedes einzelne Haar als mikroskopisch dünne Stränge auf dem Kopf. Mein Blick fiel auf das rechte Ohr, dem die halbe Ohrmuschel fehlte. »Das ist Damon!« Bei der Erwähnung des Namens fing Rocío wieder an zu schluchzen.

»Ich habe ihn geliebt«, brach es aus ihr heraus, das Gesicht in den Händen verborgen. »Ich wäre bereit, alles für ihn zu geben, würde er mich nur so behandeln wie früher.« Sie schluchzte und fuhr fort: »Damals hatte er nur Augen für mich. Wir haben stundenlang miteinander geredet. Er versprach mir, seine Königin zu werden. Aber jetzt … bin ich nicht mehr für ihn als seine Insomniumversorgerin.«

»Insomnium?«, fragte ich.

»Es ist der Trank, den ich für ihn zubereite«, erklärte Rocío schniefend und wischte sich die Augen. »Er versetzt dich in den Zustand eines Mondsüchtigen und verleiht dir die Gabe, dich wie ein Tänzer zu bewegen. Als hättest du jede Handlung einstudiert wie eine Choreographie. Er entkoppelt unser Denken von unseren Bewegungen und verleiht uns vollkommene Geschicklichkeit, wo uns zuvor der eigene Kopf behinderte. Inzwischen verteilt Damon den Trank auch an seine Männer. Und weil ihm die Produktion nicht schnell genug ging, stellte er mir einige Assistenten zur Verfügung. Dabei wies er diese Hure an, mich zu beobachten. Er ließ meine Formel stehlen.« Plötzlich glühten Rocíos dunkle Augen vor Zorn. Sie las einen Stein vom Boden auf, rief: »Meine Formel, du Wichser!« und schleuderte der Statue den Stein ins Gesicht. Er riss Damon das unversehrte Ohr weg und einen Teil seiner Wange. Der Anblick verschaffte mir Genugtuung. Rocíos Zorn war so schnell verflogen, wie er gekommen war. Sie sank zurück auf die Kisten und fing wieder an zu schluchzen. Ich ließ mich auf dem Boden nieder und lehnte mich mit dem Rücken gegen eine Mauer. Trost spenden war nicht meine Stärke. Ich wartete, bis Rocíos Tränen versiegt waren, und wartete noch ein bisschen länger, während sie mit leerem Blick zu Boden sah.

»Rocío?« Schweigen. »Warum hast du mich damals nicht an Damon verraten?« Es tat gut, sich zu unterhalten.

Rocío ließ sich Zeit mit der Antwort. »Weil ich erkannte, dass du wichtig bist.«

»Du hast es erkannt? Woran?«

Sie zuckte die Schultern. »Ich beschäftige mich viel mit Spirituellem. Schärfe meine Sinne durch magische Tränke …« Durch Drogen, korrigierte ich sie in Gedanken.

»Inwiefern bin ich wichtig?«

Wieder zuckte sie die Schultern. »Ich weiß vieles, aber die Zukunft kenne ich nicht.« Erneut schwiegen wir, und es war nur das ferne Rauschen der Wellen und das Flüstern des Kirschbaumes zu hören. Aliona.

»Aliona«, murmelte ich.

»Was?«

»Aliona!« Ich erhob mich. »Ich erinnere mich!«

»Wovon redest du?«

»Aliona war eine der Hibridia.« Eine von fünf Magiern, die ich im Keller der Nervenheilanstalt belauscht hatte. Schwarzberg wollte sie dazu bewegen, sich dem Wurmgott anzuschließen. Als sie sich ihm verweigerten, befreite er sämtliche Patienten im Keller. Was hatte Esper, ihr Anführer, gesagt? Weil ich dich aus den Kerkern von Noviomaridum befreit habe. Weil ich Tybalt davor bewahrte, in den Feuern von Maridmagus zu brennen. Weil ich Nathaniel sein Gesicht zurückgab und Aliona von den Toten zurückholte.

»Von den Toten zurück«, sagte ich und sah zu Rocío. »Hast du schon mal von den Hibridia gehört?« Rocío erwiderte meinen Blick mit verwirrter Miene.

»Wieso fragst du mich das?«

»Sag schon«, drängte ich. »Kennst du die Hibridia?«

»Jeder kennt die Märchen der Hibridia«, erwiderte sie. Ich hob die Brauen. »Naja, jeder, der unter halbwegs normalen Umständen aufgewachsen ist.«

»Da bist du bei mir an der falschen Adresse«, entgegnete ich. »Was sind sie?«

»Angeblich halb Menschen, halb Dämonen«, sagte Rocío. »Es gibt Dutzende Märchen von ihnen. Sie treten mal als Engel in Erscheinung, die einem nicht helfen, mal als Dämonen, die einem nichts tun.«

»Aber es gibt sie wirklich!«, sagte ich.

Rocío schüttelte den Kopf und eine Strähne ihres dunklen Haares fiel ihr ins Gesicht. »Sie sind eine Erfindung, um Kinder zu belehren. Die bekannteste Geschichte ist die von Sem und Levi: zwei Brüder, die sich um das Erbe ihres Vaters streiten. Sem fängt schließlich an, Zuris um Gerechtigkeit zu bitten. Levi versucht, einen Pakt mit der dunklen Seite zu schließen. Ihnen beiden begegnen die Hibridia: Tybalt spricht als Engel zu Sem, Nathaniel als Dämon zu Levi. Sie machen ihnen klar, dass nicht das Erbe, sondern ihre Einigkeit das einzig Wertvolle ist. Die Moral ist meist, dass es keine Macht gibt, die uns gut oder böse werden lässt. Wir entscheiden durch unsere Taten, was wir sind.«

»Du verstehst nicht, Rocío. Ich habe die Hibridia gesehen! Sie waren in Sankt Laplace, als wir dort waren!«

Rocío runzelte die Stirn. »Ich bin gerade nicht zu Scherzen aufgelegt, weißt du?«

»Wieso fällt es dir so schwer, mir zu glauben?«, fragte ich und blickte sie herausfordernd an. »Du bist doch diejenige, die Voodoo-Puppen erschafft, Eisskulpturen bis ins kleinste Detail herbeizaubert und einen Stein besitzt, der jeden, der ihn sieht, in einen sabbernden Idioten verwandelt.«

»Du meinst meinen Blickfänger?« Rocío lächelte bescheiden. »Aber das ist bloß Alchemie. Nichts weiter.«

»Mir erscheint es wie Zauberei. An der Universität sind die klügsten Männer und Frauen Dustriens versammelt. Aber ich wette, sie könnten sich keinen Reim auf das machen, was du tust.«

Rocío lachte leise. »Weil es keine Wissenschaft ist, Dummkopf. Es ist Kunst.«

»Ich schwöre dir, Rocío, sie waren da. Esper, der mit dem Auge auf der Stirn, war einer von ihnen! Du hast selbst gesehen, wie er seine Kleidung und seinen Stab aus dem Nichts herbeizauberte.« Rocío erwiderte meinen Blick mit verunsicherter Miene. »Da war außerdem Fiur in einem Kranz aus Feuer. Tybalt, Nathaniel und … Aliona.«

»Worauf willst du hinaus?«

»Was weißt du über Aliona?«, fragte ich.

Rocío dachte kurz nach. »Nicht viel. Man nennt sie Aliona, die Auferstandene, weil sie von den Toten zurückkehrte.«

»Ist es möglich, jemanden von den Toten zurückzuholen?« Rocío begegnete meinem Blick mit trauriger Miene.

»Nein«, sagte sie. »Es tut mir leid, Godric, aber das sind nur Geschichten. Die Toten bleiben tot.«

»Aber die Hibridia sind keine Geschichten. Hast du die Schmetterlinge nicht gesehen, als du in den Keller gekommen bist?« Nachdem Schwarzberg die Gefangenen befreit hatte, hatte einer der Hibridia eine ganze Wolke der Tiere beschworen. Schmetterlinge aus schwarzem Mana.

Rocío blickte mich zweifelnd an. »Es war dunkel.«

Ich unterdrückte einen Fluch. »Ich muss die Hibridia finden«, sagte ich und ballte entschlossen die Hände zu Fäusten. »Vielleicht haben sie Treedsgow nicht verlassen.«

»Godric«, sagte Rocío leise. »Die Toten bleiben tot.«

»Du verstehst das nicht! Ich finde die fehlenden Seiten von Williams Tagebuch. Jemand lässt sie mich finden. Es muss einen Grund dafür geben. Emily lebt womöglich schon wieder!«

»Williams Tagebuch?«

»Es ist das Tagebuch eines ehemaligen Studenten aus Treedsgow. Er hat meine Schwester gekannt. Er … hat sie tot aufgefunden.« Ich rief mir die letzten Zeilen der zweiten Seite in Erinnerung. Ich ahnte nicht, dass ich draußen schon erwartet wurde. Wer hatte vor Raum 21 im Keller der Universität auf William gewartet? Vielleicht Aliona? Mir war klar, dass es eine verzweifelte Hoffnung war, an die ich mich klammerte. Aber das war immer noch besser als gar keine Hoffnung. Eines war jedoch klar: Die Geschichte ging weiter. Ich hatte noch nicht alle Seiten des Tagebuchs gefunden. Ich fuhr mir mit der Hand durchs Haar. Hätte ich doch bloß die Seite noch, um nach weiteren Hinweisen zu suchen.

»Das Buch, das Eagon und Dave bei sich hatten«, sagte Rocío, als fiele es ihr wie Schuppen von den Augen. »Natürlich. Ich habe gleich gesehen, dass es nicht für sie bestimmt war! Dein Name steht in seiner Aura. Es gehört zu dir, Godric End. Früher oder später wird es immer zu dir zurückfinden, genau wie die fehlenden Seiten dich finden.«

»Du glaubst, es hat einen eigenen Willen?«, fragte ich skeptisch.

Rocío schnalzte verneinend mit der Zunge. »Es hat eine Bestimmung. Es ruft nach dir. Allerdings …«, fügte sie hinzu und erschauerte, »… haftet ihm auch etwas Dunkles an. Ein unsensibler Mensch würde von alldem nichts merken. Doch ist er auch nur ein kleines bisschen empfänglich für die Schwingungen des Spirituellen, würde er seine Bestimmung erfüllen – oder es vernichten.«

»Wie könnte jemand seine Bestimmung erfüllen?«

»Es ist eigentlich ganz einfach«, entgegnete Rocío. »Alles besitzt eine Bestimmung. Jeder Gegenstand. Jedes Lebewesen.«

»Also glaubst du, dass alles vorherbestimmt ist?«, fragte ich.

Rocío schüttelte den Kopf. »Ich rede von einer Bestimmung, nicht von einer Vorherbestimmung. Es handelt sich um etwas Gegenwärtiges. Alles, was ein Bewusstsein hat, kann die Bestimmung – seine eigene, die eines anderen Lebewesens oder die eines Gegenstandes – mit Gewalt ändern. Je schwächer das jeweilige Schicksal ausgeprägt ist, desto einfacher ist es. Geh zum Strand, nimm einen Stein und wirf ihn ins Meer. Es war nicht die Bestimmung des Steines, ins Meer geworfen zu werden. Es war seine Bestimmung, am Strand zu liegen. Nachdem du ihn ins Meer geworfen hast, ist seine Bestimmung am Grund des Meeres.«

»Was hat das mit dem Tagebuch zu tun?«

»Das Tagebuch hat eine feste Bestimmung«, sagte Rocío. »Man kann es mit einem Gegenstand von persönlichem Wert vergleichen. Jemand stiehlt ihn. Anschließend quält ihn sein Gewissen. Er braucht den Gegenstand nur anzusehen, um den Diebstahl zu bereuen. Fast kann er ihn nach seinem rechtmäßigen Besitzer rufen hören. So ähnlich ist es mit dem Tagebuch. Wenn jemand es in Händen hält, der nicht du ist, braucht er nur seine Augen zu schließen und seiner Bestimmung zu lauschen. Ein Leichtes, wenn man mit der spirituellen Welt vertraut ist. Ich habe es in den Geigenkasten gelegt, weil ich auch in seiner Aura deinen Namen las. Ich dachte, falls es dir gelingen sollte, dem Rattensumpf zu entkommen, dass du ihn stehlen würdest. Nun, ich habe mich nicht getäuscht.«

»Das klingt alles ziemlich … verrückt«, sagte ich vorsichtig.

Rocío lächelte wissend. »Verrückter als du und deine Hibridia?« Darauf wusste ich keine Antwort. »Wenn du möchtest, lade ich dich auf einen Trank ein«, fuhr Rocío fort. »Dann würdest du verstehen.«

Ich schüttelte den Kopf. »Sobald ich Aliona gefunden habe vielleicht«, entgegnete ich. Wenn jemand wusste, ob die Hibridia noch in Treedsgow waren, dann sicherlich Roberto. Er gehörte zur Familie Fonti und war nach Dustrien gekommen, um mich zu finden. Man hatte ihn in vielen Disziplinen ausgebildet, unter anderem darin, Netzwerke aus Informanten zu spinnen. Er hatte schon mehrfach unter Beweis gestellt, wie gut er über vieles, was in Treedsgow vor sich ging, Bescheid wusste.

»Ich verstehe«, sagte Rocío. »Eine Sache noch, Godric.« Ich hob die Brauen. Sie holte tief Luft und fragte: »Hast du Damons Männer getötet?« Ich sagte nichts. Ein Blick genügte, damit Rocío verstand. »Es war nicht immer leicht, Damon nicht zu verraten, dass du noch lebst. Ich hätte es wohl getan, hätte er sich mir gegenüber nicht wie ein Arsch verhalten.« Schweigend wartete ich auf das, worauf sie hinauswollte. »Mord ist eine gewalttätige Änderung der Bestimmung eines Lebewesens, die irreversibel ist«, sagte sie mit großem Ernst. Kam sie mir jetzt etwa mit Moral? »Jeder Mord hinterlässt eine Narbe in der Aura des Täters.« Ich erwiderte Rocíos Blick mit ungerührter Miene.

»Wie sieht meine aus?«, fragte ich, als fürchtete ich mich nicht vor der Antwort.

Rocío trat näher. Sie hob die Hände und ihre filigranen, oliv­farbenen Finger tasteten durch die Luft, die mich umgab. »Ich habe noch nie in einer Aura wie deiner gelesen. Sie hat so viele Narben, dass ich es nicht glauben kann.«

»Du weißt, wer ich bin?«

»Godric End.«

»Du kennst meine Geschichte?«

»Ich denke, du könntest Frieden vertragen«, flüsterte Rocío und blickte zu mir auf.

»Den werde ich erst finden, wenn ich wieder mit meiner Schwester vereint bin.« Einen Moment lang sagte keiner etwas, während wir in den Augen des anderen lasen. Dann stellte Rocío sich auf die Zehenspitzen und reckte den Hals. Ihre Lippen fanden die meinen, hauchten nur einen flüchtigen Kuss darauf, so zart wie der Flügelschlag eines Schmetterlings, während ihre Hände noch immer wenige Zentimeter über meinen Armen schwebten. Ihr Atem schmeckte nach Sommer. Schmeckte wie das Sonnenlicht, als ich es nach all den Jahren im Unterrumpf zum ersten Mal wiedersah.

»Wer seid ihr?«, rief jemand hinter uns. Rocío löste sich von mir und sah an mir vorbei. »Warum lungert ihr hinter meinem Haus herum?« Ich wandte mich um. Hinter uns stand ein Mann mit kahlem Schädel, bewaffnet mit einem Nudelholz. Er hatte die gläserne Statue offenbar noch nicht bemerkt. »Verschwindet oder ich rufe die Gardisten.« Zum ersten Mal, seit ich von Emilys Tod erfahren hatte, war mir zum Lächeln zumute. Der Kerl wusste ja nicht, dass er dem Redscarf Butcher gegenüberstand.

»Gehen wir.« Rocío und ich gingen an dem Mann vorbei.

»Nichts für ungut«, sagte der, ohne uns auch nur einen Moment lang aus den Augen zu lassen. »Aber ihr könntet genauso gut zu den Irren aus Sankt Laplace gehören.« Jäh veränderte sich sein Gesichtsausdruck. Seine Augen wurden dunkel. Er fing an zu grinsen und entblößte zwei Reihen nadelspitzer Zähne. Das Misstrauen war wie aus seinem Gesicht gewischt. Rocío bemerkte es nicht. Er schwang das Nudelholz nach ihrem Kopf. Ich stieß sie zur Seite und zog meine Machete. Das Nudelholz fuhr herab und erwischte mich am Musikantenknochen. Vibrierender Schmerz durchlief meinen Arm, und ich ließ meine Waffe fallen. Der Mann wandte sich mir zu und warf sich mit zuckenden Augäpfeln und irrem Grinsen auf mich. Ich wich seinem nächsten Schlag aus, ergriff sein Handgelenk und drängte ihn zurück. Er fletschte die Zähne und stemmte sich gegen mich. Mit der freien Hand verpasste ich ihm einen Schlag in den Magen. Er gab keinen Laut von sich. Ich packte ihn am Hals und riss ihn in die Höhe. Für gewöhnlich versuchten meine Feinde sich zu wehren, wenn ich sie auf diese Weise in die Zange nahm. Sie fingen an zu strampeln und an meiner Hand zu zerren und zu kratzen. Doch er hing bloß da und grinste mich an.

Im nächsten Moment durchzuckten stechende Schmerzen mein Herz. Ich stöhnte und ließ den Mann los. Stolperte zurück und griff mir an die Brust. Was hatte Esper mit mir angestellt? Ich tastete nach dem Griff meiner Pistole. Dann war Rocío neben mir. In der Hand hielt sie ihren Blickfänger, der mich unvermittelt in seinen Bann schlug. Den Irren allerdings nicht, wie ich am Rande meines Bewusstseins wahrnahm. Wieder holte er mit dem Nudelholz aus. Rocío stieß ein leises Kreischen aus und ließ den Stein in der Faust verschwinden. Ich stolperte aus seinem Bann. Das Nudelholz fuhr herab und traf meine Rechte, mit der ich soeben die Pistole aus dem Halfter gezogen hatte. Das Eisen flog mir aus der Hand und fiel klappernd zu Boden. Mit der Linken zog ich eine zweite Pistole und schoss dem Irren zwei Löcher in die Brust. Erstaunlich wenig Blut trat aus den Wunden. Mein Gegner senkte überrascht den Blick, dann hob er den Kopf und fing wieder an zu grinsen. Einen Moment lang war ich zu überrascht, um irgendwas zu tun. Der Mann hob das Nudelholz und stürmte auf mich los. Ich riss die Pistole hoch und schoss ihm in die Stirn. Er stolperte und fiel der Länge nach zu Boden.

Rocío und ich starrten auf den Leichnam. Der Schwefelgeruch des Schießpulvers biss uns in die Nasen. Das Grinsen des Irren war noch nicht verblasst. Eine schwarze Substanz lief aus dem Loch in seiner Stirn. Sie schien weder flüssig noch gasförmig zu sein und löste sich auf, kaum dass sie den Boden berührte.

Rocío erholte sich zuerst von dem Schock. »Wie konnte er das überstehen?«, flüsterte sie. »Du hast ihm zwei Mal in die Brust geschossen.«