8,99 €
Godric End, Symbolfigur des Bürgerkriegs in Dustrien, erzählt den Insassen von Zellenblock 13 seine Geschichte. Ich sah, wozu die uralte Technologie der Segovia fähig ist, und kämpfte gegen die Enerphagen. Es passieren verrückte Dinge um mich herum, und ich bin mir nicht mehr sicher, was davon real ist. Ist es Zufall, dass mir genau jetzt ein Buch in die Hände fällt, das fast so viele Antworten gibt, wie ich Fragen habe? Ich will die Geschichte von Norin, dem Unbezwungenen, mit euch teilen, aus der Zeit, bevor die Synaígie und die Bösen Geister für mehrere Jahrtausende verschwanden. Von seinem Leben in der Stadt der Brücken und einer Bedrohung nie dagewesenen Ausmaßes. Von seiner Reise nach Ad Etupiae, seiner Entdeckung einer verborgenen Stadt und dem Anfang vom Ende der Welt.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Carl Wilckens
13
Der Gletscher
Band 4
Wilckens, Carl : Dreizehn. Der Gletscher. Band 4. Hamburg, acabus Verlag 2020
Originalausgabe
ePub-eBook: ISBN 978-3-86282-778-7
PDF-eBook: ISBN 978-3-86282-777-0
Print: ISBN 978-3-86282-776-3
Lektorat: Laura Künstler, acabus Verlag
Satz: Laura Künstler, acabus Verlag
Cover: © Annelie Lamers, acabus Verlag
Covermotiv: © pixabay.com
Karten: © Carl Wilckens
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Der acabus Verlag ist ein Imprint der Bedey Media GmbH,
Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.
_______________________________
© acabus Verlag, Hamburg 2020
Alle Rechte vorbehalten.
http://www.acabus-verlag.de
Inhalt
Cover
Impressum
Widmung
Karte
Dreizehn. Der Gletscher
Personenverzeichnis
Danksagung
Der Autor
Für Oscar
Staub und Stürme
Ganz Dustrien erlebte in dieser Nacht Momente des Schreckens. Hatte die Wissenschaft in den letzten Jahren den Thron der Religion erobert, fielen die Menschen nun auf die Knie und beteten zu Zuris. Vielerorts nicht sichtbar, weil dunkle Wolken den Blick versperrten, weitete sich der Riss im Himmel aus. Er verzweigte, und ein Netz feiner Äderchen schwebte über Dustrien, das sich mondsilbern vor dem Nachthimmel abhob. Schließlich gab ein herausbrechender Splitter preis, was hinter dem Himmel lag: Dunkelheit.
Die Insassen von Zellenblock 13 sahen weder die herabfallenden Splitter, noch das Loch im Himmel. Wohl aber spürten sie das Beben, wenn ein Bruchstück auf die Erde stürzte. Sie sahen den Putz, der von den Decken ihrer Zellen bröckelte, und atmeten den Staub, der von den Himmelssplittern aufgewirbelt wie eine Kavallerie grauer Geister über das Land galoppierte.
Drei Mal weckte sie das Lärmen der herabstürzenden Trümmer. Beim ersten Mal glaubten sie, ein Donnerschlag hätte sie wachgerüttelt. Die meisten begaben sich in eine andere Position und schliefen weiter. Arwin setzte sich auf, allerdings nur, um einen Blick in die Zelle seines Genossen Ronald zu werfen. Die Gestalt des jungen Mitstreiters der Arbeiterrevolution verharrte reglos auf seiner Pritsche. Lediglich Kenan Rutter fuhr aus dem Schlaf, als hätte ihm jemand einen Dolch ins Bein gestoßen, und blickte starr vor Schreck aus dem Fenster in der Zelle seines Gegenübers. Nachdem er einige Zeit lang vergeblich mit Blicken in der nächtlichen Schwärze gewühlt hatte, ließ er sich mit hämmerndem Herzen zurück auf die Pritsche sinken. Es dauerte lange, bis er sich soweit beruhigt hatte, dass er wieder schlafen konnte.
Bald darauf weckte ihn das nächste Donnern. Dieses Mal wurde es von einem Beben begleitet, das nicht länger dem Wetter zugeschrieben werden konnte. Mehrere bange Sekunden lang fürchteten die Insassen in ganz Blackworth, die ehemalige Fabrik würde über ihnen einstürzen und sie unter ihren Trümmern begraben. Als im Anschluss ein Sturm über das Gefängnis hinwegfegte, der die Zellen mit Staub füllte und die Insassen husten ließ, dachten nicht wenige an Ends unheilvolle Prophezeiung, dies sei das Ende der Welt. Als wäre ein Aschesturm aufgekommen, banden sie sich Stoffstreifen vor Münder und Nasen und verhängten die Fenster mit ihren Hemden. So, wie sie anschließend mit offenen Augen auf ihren Pritschen lagen und darauf warteten, dass jemand ausspräche, was alle dachten, ersetzten sie die bislang natürlich nächtliche Stille durch Schweigen. Nach einiger Zeit begleitete ein beklemmendes Gefühl die Insassen zurück in den Schlaf.
Erst als das Land zum dritten Mal erbebte, brach jemand das Schweigen. Ein Stöhnen drang aus einer der Zellen, gefolgt von den Worten: »Wie soll man sich bei diesem Lärm erholen?«
Arwin setzte sich auf und blickte in die Zelle seines Gegenübers. »Ronald? Du lebst!«
Blackworth
Beben. Zum dritten Mal in dieser Nacht erwachten die Insassen von Zellenblock 13.
Ein Stöhnen drang aus Ronalds Zelle. »Wie soll man sich bei diesem Lärm erholen?«
»Ronald?«, rief Arwin erleichtert. »Du lebst!«
»So gerade eben noch«, erwiderte der Junge. Die Insassen atmeten auf und sprachen ihrem jungen Mitstreiter Mut zu.
»Ich habe Durst«, sagte Ronald mit schwacher Stimme und hustete. »Was passiert da draußen? Es ist, als atmete ich mehr Staub als Luft.«
»Geht mir genauso«, erwiderte Baine. Er zog die Nase hoch und spuckte aus. »Mein Rotz sieht aus wie Zement.«
Der Sänger blickte aus dem Fenster von Ends Zelle. Der Morgen musste in greifbarer Nähe sein, waren doch die Umrisse der Saint Aaron Mountains sowie die Wolkenformationen am Himmel zu erkennen. Rutters Einschätzung nach würde es noch einige Stunden dauern, ehe ihnen das Frühstück gebracht würde. Er warf dem Mann in der Zelle gegenüber einen flüchtigen Blick zu: Godric End, der kaltherzige Revoluzzer des Arbeiteraufstandes. Ein Mann, der so viel Mitleid kannte, wie die Barone verdient hatten: keines. Dunkle Schatten lagen unter seinen Augen. Hatte er überhaupt geschlafen? Wann immer der Sänger aufgewacht war, hatte er End in seiner Zelle sitzen oder stehen sehen. Dennoch war sein Blick so wach, als beugte sich selbst die Müdigkeit seinem Willen. Er starrte an die Zellenwand gegenüber, während er mit der Erinnerung ein Gemälde, das nur er sehen konnte, auf den Beton malte.
»Das sind vermutlich Bomben«, brummte Jed in der Zelle neben dem Sänger.
»Bomben?«, wiederholte Baxter mit skeptischem Blick. »Was gibt es hier, das es zu bombardieren lohnte? Stonefort ist nicht in unserer Gewalt.«
»Noch nicht«, knurrte George in der Zelle bei der Tür.
»Vielleicht haben unsere Leute einen Bomber der Königin erobert und greifen Stonefort an«, sagte Arwin hoffnungsvoll. Die anderen Insassen murmelten zustimmend. »Dann wäre es nur eine Frage der Zeit, bis sie uns befreien.«
»Ihr irrt euch.« Der Sänger sprach leise, doch brachten seine Worte den Rest des Zellenblocks zum Schweigen, als hätte er eine Pistole abgefeuert. Sein Blick und der Ends trafen sich. Ends Augen blitzten, als freue er sich darauf, dass Rutter die Hoffnung seiner Genossen zerstören würde. »Ich habe gestern gesehen, was das Beben wirklich verursacht. Der Himmel fällt auseinander. Seine Bruchstücke stürzen auf das Land herab.«
Betretenes Schweigen füllte den Zellenblock, das schließlich von einem lauten Schnauben aus Storms Zelle unterbrochen wurde.
»Das hast zu lange den Spinnereien von End gelauscht«, sagte der Insasse. »Jetzt glaubst du schon, Dinge zu sehen, die überhaupt nicht wahr sind.«
Baine in der Zelle gegenüber sah mit gerunzelter Stirn zu ihm. »Was tust du da?« Allem Anschein nach war Storm dabei, die Gasleuchte auseinanderzunehmen, die der Synaígiesauger tags zuvor hatte fallen lassen.
»Ich werde das Schloss meiner Zellentür knacken«, antwortete der Insasse, während er den Käfig der Lampe verbog, bis eine der Metallstangen herausbrach. Er trat vor seine Tür und begann, von außen im Schloss herumzustochern. Einige Zeit lang war nur das Klappern seiner fruchtlosen Versuche zu hören, während die übrigen Insassen an jenen Menschen im Zellenblock dachten, der sich bestens darauf verstand, Schlösser zu knacken.
»Gib End den Kram«, sagte der Sänger schließlich. »Er wird uns im Nu hier rausbringen.«
Storm lachte freudlos. »Lieber lass ich uns alle hier versauern, als dass ich diesem verlogenen Schwein in die Freiheit verhelfe«, sagte er. »Er ist da, wo er hingehört.«
»Hey!«, rief Arwin empört und trat an die Zellentür. »Du willst uns hier versauern lassen? Da haben wir auch noch ein Wort mitzureden.«
Storm hielt in seinem Versuch, das Schloss der Zellentür zu knacken, inne und sah wütend zu dem Mann in der Zelle schräg gegenüber. »Dann sag mir, Arwin: Willst du wirklich, dass dieser Mann wieder auf freiem Fuß ist? Er ist durch und durch falsch. Er hat Charles Rabotnik getötet. Hat unsere Genossen auf dem Gewissen. Und er hat Ronald dieser Bestie ausgeliefert.«
»Aber es hat funktioniert«, erwiderte Arwin kleinlaut, wenngleich mit unsicherer Miene.
»Was haltet ihr davon«, mischte sich Ronald mit schwacher Stimme ein, »wenn wir End weiterreden lassen. Danach können wir eine Entscheidung treffen.« Storm, davon überzeugt, dass nichts, was End sagen würde, seine Meinung ändern konnte, schwieg. Er konnte den Wunsch seines Genossen, der bereit gewesen war, sich für sie alle zu opfern, um dem Synaígiesauger den Garaus zu machen, nicht ausschlagen.
Der Sänger holte die Tüte mit dem Tabak hervor und winkte End damit. Jetzt schien er aus seinem Tagtraum zu erwachen. Er blickte auf.
»Willst du?«, fragte Rutter. Der Staub hatte die Schleimhäute in seinem Mund und Rachen in rissige Wüstenlandschaften verwandelt. Allein der Gedanke, eine Zigarette zu rauchen, verursachte ihm Übelkeit.
End jedoch nickte. Der Sänger drehte ihm die vierte Zigarette und warf sie durch den Gang in seine Zelle. End sammelte sie ein und steckte sie sich zwischen die Lippen, entzündete ein Streichholz an der Schuhsohle und hielt es an die Zigarette. Mit geschlossenen Augen zog er daran und stieß genussvoll den Rauch aus. Der Sänger wandte den Blick ab.
»Wo waren wir zuletzt?«, fragte End mit einer Stimme, rau vom Schlafmangel und Staub. Er schien genauso wenig Lust zu haben, weiterzuerzählen, wie er die Gelegenheit begrüßte, sich von seinen eigenen düsteren Gedanken abzulenken.
»Nikandros hatte dich in die Welt hinter den Spiegeln verbannt«, half ihm der Sänger auf die Sprünge. »Dort begegnete dir Jasper, und mit Rocíos Hilfe gelang es euch, diesem Ort zu entkommen. Nachdem ihr Nikandros besiegt habt, sind du und Rocío in ihr Versteck unter der Kanalisation hinabgestiegen, um den Spiegel mit dem Durchgang zur anderen Seite zu zerstören.«
»Richtig«, sagte End, stieß den Rauch seines zweiten Zuges aus und holte tief Luft. »Dort unten fand uns Aliona, die Hibridia, die ich das letzte Mal in Gesellschaft von Esper, Tybalt, Nathaniel und Fiur im Keller der Nervenheilanstalt gesehen hatte.«
End
Alionas Erscheinung wirkte surreal im flackernden Licht von Waterstones Gasleuchte. Wie hatte ich sie nicht bemerkt? Selbst im Schlaf blieb meine Intuition wachsam, und das seitlich geschlitzte Kleid, das sie trug, war nicht gerade dazu gemacht, sich leise zu bewegen. Vielleicht war ich schlicht übermüdet.
Ich unterdrückte den Impuls, ihr mit der Machete zu drohen. Ich hatte nicht vergessen, wie Esper mit einer simplen Geste mein Herz vergiftet hatte. Doch Aliona war vielleicht die Einzige, die wusste, wie ich Emily zurückholen konnte. Ich stellte mich besser gut mit ihr.
Rocío sah mich und Aliona abwechselnd an. Wie zufällig fiel ihr das Haar über das lädierte Auge, sodass es die Verätzung verdeckte, die sie sich zugezogen hatte, als ihr tragbares Minilabor, eine braune Umhängetasche, in Flammen aufgegangen war. »Kennst du sie?«
Ich nickte. »Das ist Aliona«, sagte ich und begegnete dem Blick der Hibridia. Obwohl es windstill war, wehte der Mantel aus Schatten um ihre Schultern fast so, als triebe er schwerelos im Wasser. »Ich möchte dich etwas fragen.«
»Du möchtest wissen, wie Esper mich ins Leben zurückholte, um selbiges mit deiner Schwester zu tun«, sagte Aliona zu meiner Überraschung. »Lasst mich euch etwas zeigen.« Mit vielsagendem Lächeln nickte sie zu der Treppe zu ihrer Rechten. Rocío und ich sahen uns an. Nur das Licht von Waterstones Gasleuchte stand zwischen mir und der Dunkelheit. Erlosch es, bräche sie über mich herein. Sie würde den menschlichen Teil meiner Persönlichkeit ersticken und mich in eine mörderische Bestie verwandeln, die in jedem eine potentielle Gefahr sah. Obwohl Waterstone uns garantiert hatte, dass das Gas der Leuchte noch einige Stunden vorhalten würde, waren Rocío und ich stillschweigend übereingekommen, sobald wie möglich an die Oberfläche zurückzukehren.
Die Alchemistin schien zu ahnen, was in mir vorging. Mit einer knappen Geste bat sie Aliona zu warten. Obwohl von ihrem Minilabor nicht mehr viel übrig war, fehlte es ihr nicht an dem, was sie brauchte, um das Feuer unter ihrem Kessel zu entzünden und seinen Inhalt in jenen Trank zu verwandeln, der mir die Runenmatrix zeigen würde. Während ich aus der Kelle trank, spürte ich Alionas neugierigen Blick. Sicherheitshalber füllte Rocío ein Glas mit dem Trank, verkorkte ihn und reichte ihn mir. Schließlich nickte ich ihr zu, und wir folgten der Hibridia die Treppe hinab in einen dunklen Gang. Im Schein von Waterstones Lampe bemerkte ich quadratische Öffnungen in der Decke, durch die Erde und Schutt hereingestürzt waren. Nach und nach blühten Runen in dem unterirdischen Bauwerk auf. Solange mich die goldenen Schriftzeichen begleiteten, würde ich ich selbst bleiben, auch wenn Waterstones Gasleuchte verlosch. Erfahrungsgemäß hielt die Wirkung von Rocíos Trank mehrere Stunden an. Im Flüsterton erzählten mir die Runen die Geschichte dieses Ortes. Der Wunsch, stehen zu bleiben und ihnen zu lauschen, wurde nur von meiner Neugierde darauf übertroffen, wohin Aliona uns bringen mochte.
Wir gelangten bald an eine weitere Treppe, die von dem Gang abzweigte. Nach nur wenigen Stufen begann sie, sich in engen Kurven hinabzuschrauben. Befanden wir uns in einem verschütteten Turm? Während wir der schier endlosen Wendeltreppe folgten, sprach Aliona: »Die Stadt, die ihr Treedsgow nennt, wurde auf den Ruinen von Ad Etupiae errichtet, der wohlhabendsten Metropole des antiken Kontinents. Einst gab es hier den Stern von Ad Etupiae. Mit der Götterdämmerung stürzten die Berge rundherum ein und begruben diesen Ort unter sich.« Ich konnte hören, dass sie lächelte. »Ein Jammer, dass ihr ihn nie zu Gesicht bekommen werdet.«
Der Treppengang mündete schließlich in einen Saal, so weit, dass das Licht von Waterstones Lampe nicht ausreichte, um ihn auszuleuchten. Nur anhand der Runen ließ sich erahnen, wo die Wände links und rechts von uns waren. Vor uns …
»Bei Lotin«, flüsterte Rocío. Auch mir stockte der Atem. Was zunächst ausgesehen hatte wie bizarr geformte Arkadengänge, stellte sich als mehrere Dutzend turmhohe Bücherregale heraus. Das Licht von Waterstones Gasleuchte verlor sich in den Gängen dazwischen. Die Auren der Bücher schienen vor goldenen Runen zu bersten. In der Ferne verschmolzen die Schriftzeichen zu einem einzigen goldenen Licht. Vor jedem Zugang zu den Gängen stand eine Kabine, deren Zweck sich mir nicht erschließen wollte. Dahinter versperrte ein Eisengitter den Weg.
»Die Bibliothek von Ad Etupiae«, verkündete Aliona und breitete in feierlicher Geste die Arme aus. Ihre Stimme hallte von den Wänden wider. »Seit Jahrtausenden schützt eine synaígische Formel diesen Ort vor dem Verfall. Meiner Einschätzung nach gibt es immer noch genug Energie, um ihn weitere tausend Jahre zu konservieren.« Sie wandte sich zu uns um. »Wenn ihr an diesem Ort nicht die Antworten auf eure Fragen findet, dann an keinem.«
»Und?«, fragte ich kühl und sah Aliona herausfordernd an. Sie hatte uns zu einem Heuhaufen geführt und mitgeteilt, dass irgendwo dort die Nadel läge, die wir suchten. »Kannst du uns wenigstens sagen, wo das Buch ist, das wir suchen?«
Alionas Augen blitzten dunkel. »Ich habe dir ein Geschenk gemacht, Godric End«, sagte sie und kam bedrohlich langsam näher. »Ich verstoße bereits gegen das Gebot der Neutralität, und zwar aus reinem Wohlgefallen. Wenn du das nicht zu würdigen weißt, vergeude nicht länger meine Zeit.« Direkt vor mir kam sie zum Stehen. Sie war fast so groß wie ich. Ein Geruch nach Nelken umgab sie, so dezent, dass ich mich fragte, ob es ein Parfüm war oder ihr eigener Körpergeruch. Etwas an der Art, wie sie mich anfunkelte, ließ mich ahnen, dass sie gefährlicher war, als sie wirkte. Sie brauchte keine Drohung aussprechen, um mich wissen zu lassen, dass sie mich wie Esper mit einer knappen Geste töten konnte. Allerdings brauchte es umgekehrt auch nicht viel mehr.
Provokant furchtlos begegnete ich ihrem Blick. »Du lügst«, sagte ich. »Man muss kein Menschenkenner sein, um zu wissen, dass jemand wie du nichts aus Wohlgefallen tut.« Einige Sekunden lang maßen wir uns mit Blicken. Wie bei meiner ersten Begegnung mit Limbania stellte ich fest, dass die Gefahr, die von dieser Frau ausging, mich nicht einschüchterte, sondern anzog.
Alionas Mundwinkel zuckten. »Oh, Godric«, sagte sie, als spräche sie mit einem Jungen. Sie hob eine Hand und berührte die Kerbe in meiner Augenbraue. »Wenn du wüsstest … Du bist nichts weiter als ein Werkzeug einer höheren Macht. Ein äußerst wichtiges, zugegebenermaßen. Esper bereut bis heute, dich nicht getötet zu haben, als er die Gelegenheit dazu hatte.«
»Du könntest das für ihn erledigen«, entgegnete ich. »Oder irre ich mich?«
»Gewiss könnte ich das.« Aliona zeigte ein süßes Lächeln, das nicht zu ihren Worten passen mochte. »Jeder von uns hat das Töten auf seine ganz eigene Weise perfektioniert. Leider ist es bis heute eine unserer nützlichsten Fähigkeiten. Doch das Gesetz der Neutralität verbietet es mir.«
»Es hat Esper nicht davon abgehalten, mich zu vergiften.«
»Du hast ihn mit einer Waffe bedroht«, erwiderte die Hibridia. »Sein Leben war in Gefahr. Damit hattest du mit dem Gesetz gebrochen. Mein Bruder hat lediglich das Gleichgewicht wiederhergestellt. Nein, ich bin nicht hier, um dich zu töten. Ich bin hier, um dir einen kleinen Schubs in die richtige Richtung zu geben.« Ihre Hand ruhte nun auf meiner Brust. Ihr Gesicht hatte einen mütterlichen Ausdruck angenommen. »Unsere Wege werden sich gewiss wieder kreuzen, Godric. Du bist unsereins ähnlicher, als du ahnst. Freiwillig würdest du in keine Schlacht ziehen. Jedoch verfolgst du deine Ziele mit einer solchen Verbissenheit, dass du nicht merkst, wenn du in die Kriege anderer verwickelt wirst.« Die Hibridia wandte sich ab und verließ den Lichtkreis von Waterstones Gasleuchte. Ich blickte ihrer Gestalt nach, die nach nur wenigen Schritten nahtlos mit der Dunkelheit verschmolz, und lauschte ihren leiser werdenden Schritten und deren Echo. War ich wirklich jemandes Werkzeug? Und wenn schon … Was interessierte mich, wenn mich jemand benutzte, solange ich bekam, was ich wollte? Ich sah zu Rocío, die Aliona mit finsterer Miene hinterher sah. Sie bemerkte meinen Blick und bemühte sich um einen gelassenen Gesichtsausdruck.
»Was für eine Hexe«, kommentierte sie.
Ich hob die Brauen. »Hexe?«
»Hast du sie nicht gesehen? Ihr schwarzes Kleid, die schwarzen Handschuhe, der Lippenstift. Sie sieht aus, als wäre sie auf dem Weg zum Blutfest eines Vampirbarons. Warum putzt sie sich so heraus?«
»Was weiß ich«, erwiderte ich desinteressiert und ließ den Blick über die Bücherregale schweifen. Ich war zu müde, um auch nur einen Gedanken an eine solche Banalität zu vergeuden. »Lass uns nach oben zurückkehren. Ich werde alle Hilfe brauchen, die ich auftreiben kann, um hier zu finden, was wir brauchen.« Waterstone würde diesen Ort gewiss mit Begeisterung auskundschaften. Abgesehen davon brauchte ich Schlaf. Es musste schon weit nach Mitternacht sein. In der vergangenen Nacht hatte ich nur wenige Stunden unruhigen Schlafs in der Welt hinter den Spiegeln gefunden. Die Runen in der Dunkelheit um uns herum flüsterten und kreisten in den Auren ihrer jeweiligen Gegenstände, dass mir schwindelig wurde.
»Ich wette, sie gefällt dir«, sagte Rocío, während wir uns auf den Rückweg machten.
»Hm-hm«, machte ich, ohne auch nur den Sinn ihrer Worte zu verstehen.
»Muss die Art sein, wie skrupellos sie bereit ist zu töten«, fuhr die Alchemistin fort. Sie klang bitter. »Ich wette, ihre Aura ist genauso schwarz wie deine.« Erst jetzt, da sie es erwähnte, fiel mir auf, dass Aliona keine Aura gehabt hatte. Wie verbarg die Hibridia sie?
Rocíos Worte fielen auf keinen fruchtbaren Boden. Das Einzige, was sie erntete, war Schweigen, und so verstummte auch sie.
»Wir müsse weiter nach rechts, denke ich«, sagte sie nach einer Weile frostig.
»Ich weiß. Aber dort ist etwas!« Rocío folgte meinem Fingerzeig und bemerkte scheinbar erst jetzt die pulsierende Aura von etwas auf dem Boden: ein Buch. Schlagartig verflog meine Müdigkeit. Hatte Aliona am Ende doch die Nadel für uns gefunden? Wir traten näher. Der Titel auf dem Einband war in Runenschrift verfasst. Durch das dritte Auge betrachtet leuchtete sie und flüsterte mir ihre Bedeutung zu:
Erwachen
Die Memoiren von Norin, dem Unbezwungenen
Gründer der neuen Welt
Teil 1
Das klang nicht nach einem alchemistischen Rezept. Ich schlug das Buch auf und ein zusammengefaltetes Stück Papier fiel heraus. Ich faltete es auseinander und erkannte, dass es sich um eine Karte von Dustrien handelte. Die Städte waren nicht dort, wo sie sein sollten. Auch die Namen, die mir die Runen zuflüsterten, stimmten nicht mit den Karten überein, die ich kannte. Numium, Tabulon, Noviomaridum, Ad Etupiae …
Letzteres war eine Stadt dort, wo Treedsgow ist. Hatte Aliona nicht erwähnt, dass Ad Etupiae die wohlhabendste Metropole des antiken Kontinents gewesen war? Es musste eine Karte des antiken Dustriens sein.
Ich blätterte um und sah, dass der Inhalt des Buches von Hand verfasst worden war. Ich las die ersten beiden Sätze: Das ist das Ende. Das Ende der Welt, so wie wir sie gekannt haben.
Stirnrunzelnd betrachtete ich noch einmal die Titelseite.
Erwachen …
Möglicherweise erwähnte dieser Norin doch irgendwo, wie man jemanden mithilfe der Alchemie ins Leben zurückholte. Ich klemmte mir das Buch unter den Arm und nickte dorthin, wo sich irgendwo der Zugang befinden musste, durch den wir hereingelangt waren.
Eine halbe Stunde später erreichten wir die Oberfläche und kehrten zurück zum Haus von Professor Waterstone. Rocío zog sich wortlos in das Zimmer zurück, das der Professor ihr zugeteilt hatte, und ich betrat den Raum, den ich mir mit Jasper teilte. Nachdem der Izzianer mehrere Viertel lang in der Welt hinter den Spiegeln gefangen gewesen war, schlief er nun zum ersten Mal wieder auf dieser Seite. Er wälzte sich unruhig hin und her, wobei er unablässig murmelte: »Lass mich raus. Lass mich raus!« Ich boxte ihm gegen die Schulter, woraufhin er sich nach Luft schnappend aufsetzte und hektisch umblickte.
»Du bist nicht mehr auf der anderen Seite«, sagte ich. Jasper murmelte einen Fluch in seiner Muttersprache und ließ sich zurück in die Kissen sinken. Ich verstaute Norins Autobiographie in der Schublade meines Nachttisches, zog mich aus und legte mich ins Bett. Hatte ich bis zu diesem Moment geglaubt, dass ich dringend Schlaf nachholen musste, so begriff ich jetzt, dass ich nicht zur Ruhe kommen würde. Das Geflüster der Auren und die goldenen Schriftzeichen, die sich auch dann nicht ausblenden ließen, wenn ich die Lider schloss, hängten sich an mein Bewusstsein wie Auftriebskörper, die verhinderten, dass es im Meer der Träume versank. Ich dachte an Emily. Wie verzweifelt war meine Hoffnung wirklich? Vielleicht stimmte, was Aliona sagte. Womöglich ließ mir jemand Williams Tagebuchseiten zukommen, um mich für seine Zwecke zu benutzen. Bei diesem Gedanken regte sich mein finsterer Kern. Solange mir dieser jemand zu Emily verhalf, war mir egal, dass er mich benutzte. Sollte die Person mir jedoch falsche Hoffnungen machen, dann Gnade ihr Zuris.
Meine Gedanken kehrten zu dem Buch zurück. Hatte Aliona es dorthin gelegt? Oder jener Unbekannte, dessen Werkzeug ich war? Vielleicht enthielt es eine Antwort. Ich musste es lesen. Aber erst brauchte ich Schlaf. Schlaf … Schlaf …
Ich stöhnte genervt, als Jasper im benachbarten Bett wieder anfing zu murmeln. Ich setzte mich auf, holte das Buch aus der Schublade und schlug es auf. Unter gewöhnlichen Umständen hätte ich in der Dunkelheit kein Wort lesen können. Durch das dritte Auge jedoch betrachtet schienen die Schriftzeichen von innen heraus zu leuchten. Sie zu lesen, war, wie einer Lesung zu lauschen.
Ich blendete Jaspers von kurzen panischen Schreien durchzogenes Murmeln aus und tauchte ein in die Geschichte von Norin, dem Unbezwungenen.
Erwachen
Das ist das Ende. Das Ende der Welt, so wie wir sie gekannt haben. Eine ganze Zivilisation ist am heutigen Tage erloschen. Ein Volk verschwand für immer vom Angesicht dieses Planeten. Nicht einmal die Naturgesetze sind noch die, die sie einmal waren.
Um zu verstehen, wie es zu alldem kam, ist meine ganze Geschichte von Bedeutung. Mein Name ist Norin. Geboren wurde ich in einem Fischerdorf an der Küste der Einsamkeit in Normar. Mein Vater verdiente sein Brot – wie hätte es anders sein können – als Fischer. Ich habe nicht viele Erinnerungen an ihn. Ein Sommerabend jedoch, wenige Tage nach Beltane, einem normarischen Festtag, ist mir so klar im Gedächtnis geblieben, als hätte ihn jemand synaígisch konserviert. Ich war sechs Jahre alt. Ich saß am Ende des Stegs, an dem das Boot meines Vaters vertäut war, mit zwei Schüsseln von Mutters Eintopf. Meine Beine baumelten über dem Wasser, während ich wartete. Der verführerische Duft der Mahlzeit stieg mir in die Nase, und mein Magen knurrte, doch ich fing nicht an zu essen. Nicht einmal eine Löffelspitze. Ich wartete, bis ich die knarrenden Schritte meines Vaters auf dem Bootssteg hörte. Mit einem erleichterten Seufzer ließ er sich neben mir nieder, strich mir über das blondgelockte Haar und nahm eine der Schüsseln zur Hand. Schweigend aßen wir, während die Sonne vor uns im Meer versank. Die Luft roch nach Salz und war angenehm mild für normarische Verhältnisse. Die Sonne verwandelte das Kalte Meer in einen See aus Lava. Wo am Firmament das Feuerrot einem kühlen Blau gewichen war, zeigten sich die ersten Sterne, die wie diamantene Perlen in einer nachtblauen Felswand steckten. Seevögel zogen an dem flammend roten Ball vorbei und kreischten verzückt, als genössen auch sie das Schauspiel, das die Natur ihnen bot – allabendlich und doch einzigartig. Bald schon würde der Sonnenuntergang den Nordlichtern weichen.
»Dort«, sagte mein Vater, sobald wir aufgegessen hatten, und deutete auf einen Punkt jenseits der Bucht, »beißen die Fische am besten. Sie kommen in der Nacht – fette Heringe, Dorsche, Makrelen. Máedoc hat es mir verraten.« Máedoc, der Druide, lebte in einer Hütte im Fichtenwald unweit vom Dorf. Die Dorfbewohner munkelten über ihn. Manche fürchteten ihn sogar, und trotzdem suchten sie regelmäßig Rat und Heilung bei ihm. Meine Eltern waren vielleicht die einzigen Menschen im Dorf, die ein freundschaftliches Verhältnis zu ihm pflegten.
»Es ist gefährlich, so weit hinauszufahren«, fuhr mein Vater fort, »doch nur eine Nacht jenseits der Bucht und ich hätte für das nächste Rund ausgesorgt.«
Noch am selben Abend fuhr er hinaus, wurde von einem Synaígiegewitter überrascht und kehrte nie mehr zurück. Am nächsten Morgen wartete ich am Bootssteg auf meinen Vater mit einem Beutel voll Äpfeln, die ich mit ihm teilen wollte, bis die Sonne erneut hinterm Horizont versank.
Schließlich vernahm ich knarrende Schritte hinter mir, die zu leicht waren, um die meines Vaters zu sein.
»Hier steckst du«, sagte Laya, meine Mutter. »Warst du den ganzen Tag auf diesem Steg?« So unbekümmert ihre Stimme klang, so tief hatte sich die Trauer in ihren Blick gegraben. Ich antwortete nicht. Meine Mutter nahm mir den Beutel mit den Äpfeln ab und sah hinein. »Du hast nichts gegessen?«, fragte sie.
Ich hob den Blick und sprach die letzten Worte der nächsten zwei Tage. »Wann kommt Papa?« Die grünen Augen meiner Mutter glitzerten im Licht der untergehenden Sonne, und eine Träne rann wie flüssiges Feuer ihre Wange hinab. Sie ließ sich neben mir nieder und legte einen Arm um meine Schultern.
»Der Wind hat ihn verweht, mein Kind«, sagte sie leise. »Er ist jetzt weit weg in Origon und kann nicht mehr zurückkehren. Aber er wird uns nie vergessen.« Ihre Stimme war ruhig, doch ihre Worte klangen so erstickt, als müssten sie sich an den Schluchzern vorbeikämpfen, die in ihrer Kehle steckten. »Gehen wir nach Hause.«
Das Haus, in dem wir lebten, war kaum eine Hütte. Ein einziger, runder Raum mit Strohdach. Mein Vater hatte es mit seinen eigenen Händen erbaut. Ich hockte mich in meine Schlafnische und heftete den Blick auf die Tür. Irgendwann schlief ich ein, ohne einen Bissen zu Abend gegessen zu haben.
Auch am nächsten Tag aß ich kaum. Nach einer Stunde guten Zuredens gelang es meiner Mutter, mich dazu zu überreden, einen halben Apfel zu verspeisen. Als ich auch am zweiten Tag nach Vaters Verschwinden nichts zu mir nehmen wollte, brachte sie mich zu Máedoc, dem Druiden.
»Er isst nicht mehr und spricht kein Wort, seit Gabhan verschwunden ist«, sagte sie verzweifelt, kaum dass wir seine Hütte betreten hatten. Die Behausung des Druiden war nicht größer als unser Zuhause, dafür schien sie doppelt so viele Dinge zu enthalten. Ein langer Tisch beanspruchte eine der vier Wände für sich. Er war überladen mit Werkzeugen zur Verarbeitung alchemistischer Zutaten, Schalen und Glasgefäßen und merkwürdigen Apparaturen. Eine Ecke des Raumes wurde von einem Kamin beansprucht. Über glimmenden Scheiten stand ein Kessel auf drei Füßen. In einer anderen Ecke des Raumes wuchs eine Eiche durch ein Loch in der Decke. Grün gefiltertes Tageslicht zwängte sich an seinem Stamm vorbei ins Hütteninnere. Eine Leiter führte an dem Stamm empor. Die grüne Laubwolke, die die Krone des Baumes bildete, hatte von außen nicht erkennen lassen, dass es dort etwas gab. Ein Baumhaus? Vielleicht auch nicht. Vielleicht war es bloß ein Zugang zum Dach. Einige Äste mit sattgrünen Blättern tasteten sich unter der Hüttendecke entlang. Dazwischen hingen Knoblauchzöpfe und Kräuter zum Trocknen. Es roch nach Lavendel und Thymian.
»Bitte«, sagte meine Mutter. »Ich möchte ihn nicht auch noch verlieren.« Máedocs grünbraune Augen schienen aus dem Schatten seiner buschigen Brauen hervorzustechen, während er mich musterte. Sein langes, waldbraunes Haar fiel ihm bis auf die Schultern herab und ging an seinen Schläfen nahtlos in einen ebenso langen, braunen Bart über. Sein Gesicht hatte so viele Runzeln wie eine Schildkröte. Er war soeben aus dem Wald zurückgekehrt und trug noch seinen Umhang aus Bärenfell. Der Schädel des Tiers lag wie eine Kapuze auf seinem Rücken. In dem Pelz wuchsen Moos und Pilze, auf denen vereinzelt Feenwürmchen hockten. Spinnen krabbelten darin herum und verirrten sich in seinen Bart.
Máedoc wandte den Blick ab und stellte seinen knorrigen Stab in eine Ecke des Raumes. Er hatte ihn vermutlich gerade erst von einem Baum gebrochen, grünten an seinem oberen Ende doch noch drei Blätter. Die knorrigen Stränge, die sich zu dem Stab verflochten, wanden sich an einem Ende um einen kugelrunden Bernstein. Der Druide zog den Bärenpelzmantel aus und hängte ihn an die Wand. Sein Oberkörper war nackt und überraschend muskulös. Auf seiner linken Brust war eine Bärentatze über einem normarischen Knotenmuster tätowiert. Er betrachtete mich wieder, als lese er in einem Buch. Ich wich seinem Blick aus und beobachtete eine Spinne, die soeben hinter seinen Bart flüchtete.
Schließlich wandte Máedoc sich ab und trat vor die Feuerstelle. Er griff nach einem der Holzscheite, die daneben aufgeschichtet lagen, und schob ihn unter den Kessel in die Glut. Dann blies er hinein. Wenig später erwachte eine gelbe Flamme zum Leben. Niemand sagte ein Wort, während Máedoc geschäftig durch seine Hütte eilte, von überallher Zutaten zusammenklaubte und sie in den Kessel über dem Feuer warf; unter anderem eine Locke meines blonden Haares. Schließlich stieg goldener Dampf daraus hervor, begleitet von einem Duft, der mich schwindeln ließ. Er schien mir ein Leben ohne Sorgen zu versprechen. Máedoc schöpfte eine Kelle davon in ein Fläschchen und reichte es mir. Es war warm. Ohne dass er mich dazu hätte auffordern müssen, leerte ich den Trank in einem Zug. Wohlige Wärme breitete sich in meinem Innern aus und verdrängte die Trauer, die sich dort eingenistet hatte, als meine Mutter mir gesagt hatte, dass mein Vater vom Winde verweht worden sei. Die Wärme stieg mir in den Kopf und betäubte mein Denken fast so, als hätte Máedoc mir einen starken Schnaps verabreicht. Ich seufzte erleichtert.
»Hast du Hunger?«, fragte Máedoc. Als wäre das sein Stichwort gewesen, fing mein Magen an zu knurren. Ich nickte. Máedoc führte mich nach draußen zu einem flachen Felsen und bedeutete mir, mich auf einem der Steine niederzulassen, die darum herum angeordnet waren. Dann ging er in seine Hütte und kehrte mit Brot, Käse und Milch zurück. Während ich aß, hörte ich ihn und meine Mutter drinnen reden.
»Es ist gewissermaßen meine Schuld, Laya.« Máedoc klang bedrückt. »Ich war es, der Gabhan sagte, dass er nachts weiter draußen mehr Fische fangen könnte. Es ist vielleicht nur ein kleiner Trost, aber ich würde Norin als meinen Lehrling in Betracht ziehen. Wenn du einverstanden bist, behalte ich ihn die Nacht über hier und stelle ihn gleich morgen früh auf die Probe.« Die Antwort meiner Mutter drang nur unverständlich an meine Ohren, doch sie klang eindeutig überrascht.
»Es ist eine große Ehre«, bestätigte Máedoc, »doch dir muss klar sein, dass er sich auf den Pfad der Druiden begibt. Er wird ein Sonderling sein. Gefragt und doch ausgestoßen. Ich lebe nicht ohne Grund abseits von allen.« Meine Mutter schwieg kurz. Als sie schließlich sprach, stand sie im Eingang zu Máedocs Hütte. Ihre Augen ruhten auf mir und ich verstand jedes Wort.
»Wird er glücklich sein?«
»Nicht glücklicher oder unglücklicher, als er es mit jeder anderen Berufung wäre«, erwiderte Máedoc. »Aber er wird erfüllt sein.« Meine Mutter trat zur mir und strich mir über die Haare. Dann ging sie neben mir in die Hocke und fragte: »Norin, würdest du eine Nacht bei Druide Máedoc bleiben?« Ich nickte. Unter gewöhnlichen Umständen wäre ich nicht einverstanden gewesen – erst recht nicht, nachdem mein Vater verschwunden war, klammerte ich mich doch seither an den Rockzipfel meiner Mutter –, doch Máedocs Trank und mein voller Bauch machten mich müde und sorglos.
Meine Mutter küsste mich zum Abschied auf die Stirn. Máedoc führte mich in die Hütte und bedeutete mir, die Leiter am Stamm des Baumes hinaufzuklettern. Nicht einmal meine Neugier konnte meine Lebensgeister wiedererwecken. Gefolgt von dem Druiden stieg ich durch das Loch im Hüttendach ins Freie, tauchte in die Baumkrone der Eiche ein und gelangte in einen Kokon mit einem runden Fenster. Er sah aus, als hätte ihn ein riesiges Eichhörnchen gebaut. Es roch nach Moos und Laub. Eine leichte Brise ließ die Blätter rascheln und mich noch schläfriger werden, obwohl es helllichter Tag war. Die Ziegel des Schornsteins von Máedocs Hütte, der geradewegs durch den Kokon führte, strahlten behagliche Wärme ab. Ich wollte mich schon auf einem Polster aus Moos zusammenrollen, das mich nebst einer Decke neben dem Schornstein erwartete, als Máedoc mich mit einer Hand auf der Schulter zurückhielt.
»Junge«, sagte er mit ernstem Blick. »Dir mag es jetzt gut gehen. Aber die Wirkung meines Trankes wird nicht für immer anhalten. Dann musst du lernen, mit dem Verlust deines Vaters zu leben. Hast du mich verstanden?« Ich nickte unbekümmert. »Du darfst nicht noch einmal von dem Trank trinken. Hast du auch das verstanden?« Wieder nickte ich. Nichts davon wäre ein Problem, dachte ich.
»Dann ruh dich aus«, sagte Máedoc und stieg die Leiter wieder hinab in seine Hütte. Ich rollte mich in die Decke gekuschelt auf dem Polster aus Moos zusammen und ließ mich vom Flüstern der Eiche davontragen.
Als ich erwachte, war es finstere Nacht. Der Kokon war erfüllt von kühler Nachtluft, doch unter meiner Decke war es behaglich warm. Das Laub der Eiche raschelte. In regelmäßigen Abständen hallte der Ruf einer Waldeule durch die Nacht. Er klang so nahe, dass ich mich fragte, ob der Vogel womöglich in Máedocs Eiche saß. Dann glaubte ich, Schritte zu hören. Das weiche Moospolster unter den Fichten dämpfte sie, doch das Knacken des Reisigs konnte es nicht verschlucken. Jemand schlich durch die Dunkelheit um Máedocs Hütte! Das Rascheln des Eichenlaubs klang nunmehr wie eine Warnung. Ich erhob mich von meiner Schlafstelle und schlich, die Decke um meine Schultern geschlungen, zum Fenster. Vorsichtig spähte ich über den Rand nach draußen. Máedocs Hütte und die kleine Lichtung, auf der sie stand, lagen in silbernem Mondlicht. Dahinter eine Wand aus Dunkelheit, verflochten mit den Stämmen der Fichten. Je länger ich hinsah, desto lebendiger wurde sie. Die Schatten bewegten sich. Gestalten huschten von Stamm zu Stamm. Die Silhouetten von Männern, die gesichtslosen Köpfe Máedocs Hütte zugewandt, wurden sichtbar.
Das Kreischen eines Vogels zerriss die nächtliche Stille, und ich zuckte zusammen. Ich wich vom Fenster zurück und kauerte mich unter der Decke auf dem Polster aus Moos zusammen. Plötzlich zitterte ich. Wo war mein Vater? Vom Winde verweht, hallte Mutters Stimme durch meinen Kopf. Vater war fort und würde nie mehr zurückkehren. Heiße Tränen stiegen mir in die Augen. Ich wollte zu Mutter. Sofort! Ich nahm all meinen Mut zusammen und erhob mich abermals von der Schlafstätte. Kletterte die Leiter ein kurzes Stück hinab durch finstere Nacht und gelangte ins sichere Innere von Máedocs Hütte. Das Schnarchen des Druiden wog durch die Dunkelheit. Ich tastete mich zu seiner Schlafnische. Ich würde ihn wecken und bitten, mich nach Hause zu bringen. Ich streckte eine Hand aus, um das dunkle Bündel, das er bildete, an der Schulter zu rütteln, als meine Augen sich an die Finsternis von Máedocs Schlafnische gewöhnten, und ich sein Gesicht sah. Seine Augen standen offen. Einen schrecklichen Moment lang hielt ich ihn für tot.
Dann schnarchte er wieder. Ich atmete auf und nahm erstmals den Geruch wahr, der an mir vorbei zum offenen Fenster hinauszog. Er war erkaltet. Trotzdem rief er die Erinnerungen an ein sorgloses Leben wach. Es war der Trank, den Máedoc mir vor wenigen Stunden verabreicht hatte. Ich trat vor den Kessel und blickte über seinen Rand. Er war bis über die Hälfte mit jener goldgelben Flüssigkeit gefüllt! Im Dunkeln wirkte sie schwarz wie Pech. Ich blickte mich um und entdeckte auf Máedocs Tisch ein Fläschchen. Du musst lernen, mit dem Verlust deines Vaters zu leben, hörte ich die Stimme des Druiden in meinem Kopf. Mit Händen, die zitterten wie die eines Trunksüchtigen auf Entzug, nahm ich das Fläschchen und kehrte damit zum Kessel zurück. Die Kelle hing noch über dem Rand. Ich nahm sie und schöpfte ein wenig von dem Trank ab. Du darfst nicht noch einmal von dem Trank trinken. Hast du das verstanden? Máedocs Schnarchen wogte mahnend durch den Raum. Irgendwie gelang es mir, das Fläschchen zu füllen, ohne viel zu verschütten. Ich setzte es an die Lippen und verharrte. Ich war drauf und dran, Máedocs Rat zu ignorieren. Meine Augen brannten. Eine Träne lief mir aus dem Augenwinkel die Nase hinab, kam zitternd an meiner Nasenspitze zum Halt und fiel in den Trank. Ich schüttete den Inhalt des Fläschchens zurück in Máedocs Kessel und stellte es wieder auf den Tisch. Entschlossen, den Rest der Nacht im Kokon in Máedocs Eiche zu verbringen, und wenn ich kein Auge zutäte und den furchteinflößenden Geräuschen der Nacht lauschen müsste – das Andenken meines Vaters in Ehren! – trat ich vor die Leiter am Stamm des Baumes.
»Norin.« Ich zuckte zusammen. Ich hatte nicht bemerkt, dass Máedoc aufgehört hatte zu schnarchen. »Was hast du hier zu suchen?« Ich wandte mich um und blickte in sein in Schatten gehülltes Gesicht. Ich öffnete den Mund, eine Ausrede auf der Zunge, als ich bemerkte, dass ich im Begriff war, zum ersten Mal seit dem Verschwinden meines Vaters zu sprechen. Die Worte blieben mir im Hals stecken. Máedoc trat vor, und das silberne Licht des Mondes beleuchtete sein Gesicht. Seine grünbraunen Augen durchbohrten mich. Sein Blick verlangte die Wahrheit.
Ich schluckte. »Ich wollte Euren Trank trinken«, murmelte ich und sah auf meine Fußspitzen.
»Hast du?«, fragte Máedoc mit ernster Stimme. Ich schüttelte den Kopf und blickte auf. »Dann geh wieder schlafen. Morgen unterhalten wir uns.«
Den Rest der Nacht lag ich wach und starrte an die Decke des Kokons. Ich hatte es vermasselt! Máedoc hatte gesagt, dass er mich am Morgen auf die Probe stellen wollte. Doch bevor es überhaupt dazu hätte kommen können, hatte ich dem Druiden einen Grund geliefert, mich fortzuschicken.
Beim ersten Tageslicht stieg ich wieder in Máedocs Hütte hinab. Der Druide war schon auf. Er stand vor seinem Kessel, schöpfte ein wenig von dessen Inhalt mit der Kelle und ließ ihn zurückplätschern.
»Guten Morgen, Norin«, sagte er, ohne sich umzudrehen. »Hast du Hunger?«
»Nein«, sagte ich mit dünner Stimme.
»Ich habe mich gestern mit deiner Mutter unterhalten, wie du vielleicht mitbekommen hast«, sagte Máedoc, hing die Kelle über den Rand seines Kessels und wandte sich um. »Ich habe mit dem Gedanken gespielt, dich als meinen Lehrling anzunehmen, und wollte dich heute auf die Probe stellen.« Der Ausdruck in seinem Gesicht wurde ernst. »Nach dem, was heute Nacht passiert ist, wird das nicht mehr nötig sein.« Ich ließ den Kopf hängen. »Wir Druiden verbreiten die Lehre der Alchemie«, fuhr Máedoc fort. »Die einzige annehmbare Form der Magie. Der Trank, den ich dir gestern gab, war nur eines von unzähligen Rausch- und Suchtmitteln, mit denen Alchemisten zu tun haben. Ich kann niemanden als meinen Lehrling aufnehmen, der solchen Mitteln nicht widerstehen kann.« Mein Unterkiefer zitterte. »Den Ahnen von Normar sei Dank hast du widerstanden.« Ich hob den Blick, und erst jetzt sah ich, dass Máedoc lächelte. Seine braungrünen Augen blitzten. »Es ist nur verständlich, dass du nach dem Verlust deines Vaters noch einmal von meinem Trank kosten wolltest. Dass du es nicht getan hast, zeugt von großer Willenskraft. Zieh dich an, Novize Norin. Es ist Zeit für deine erste Lektion.«
Wenig später verließen wir Máedocs Hütte und traten zwischen die Fichten. Es roch nach Kiefernharz. Dichte Nebelschleier hatten sich zwischen den Stämmen verfangen. Der Atem stand mir in weißen Wolken vorm Mund und mir klapperten die Zähne. In Normar gab es nur selten milde Nächte. Manchmal schneite es sogar im Sommer. Máedoc schien die Kälte nicht zu spüren. Er hatte sich den Bärenfellumhang umgelegt, trug aber ansonsten nur eine Hose. Seine Füße waren nackt und auch die Arme schutzlos der kühlen Morgenluft ausgesetzt.
Unweigerlich musste ich an die Geschichte denken, die man sich im Dorf über den Wald erzählte. Gerüchte über ein Ungetüm von einem Bären, der auf den Geschmack von Blut gekommen war. Man erzählte sich, ein Enerphag habe versucht, sich in seinen Kopf zu schleichen, woraufhin der Verstand des Tieres einen Riegel vorgeschoben und den Enerphagen sozusagen zwischen Tür und Angel eingeklemmt habe. Der Geist saß in der Falle, das Tier wurde wahnsinnig. Man hatte ihm sogar einen Namen gegeben: Maturnus. Wann immer ein Tier aus einem Stall verschwand, und sei es bloß ein Huhn, das von einem Marder gerissen worden war, hieß es, Maturnus sei in der Nacht gekommen.
»Es existieren drei kosmische Elemente«, erklärte Máedoc, während wir gingen, und lenkte mich von meinen düsteren Gedanken ab. »Zum ersten gibt es die Synaígie. Sie ist eine einzigartige Form der Energie. Sie ist das Bewusstsein der materiellen Welt und trägt den Namen Idun. Das Synaígiegewitter, das deinen Vater überraschte, war nichts weiter als ein Gedanke von ihr. Sie kann nicht ohne unsere Hilfe gezielt in der materiellen Welt agieren. Obgleich alles, was existiert, zu ihr gehört, hat sie keine Kontrolle darüber.« Máedoc blieb stehen und blickte zu mir zurück. »Verstehst du mich, Norin?« Ich nickte, obwohl ich mir nicht sicher war. Mein Lehrmeister sah es mir an. Er ging auf die Knie, sodass er mit mir auf Augenhöhe war, und legte mir eine Hand auf die Schulter. Sie war so warm, als wäre er soeben einem heißen Bad entstiegen. »Weißt du, wie dein Inneres aussieht?«, fragte er. Ich schüttelte den Kopf. »Hast du Aberlin mal dabei zugesehen, wie er ein Schwein schlachtet? Oder hast du gesehen, wie dein Vater einen Fisch ausweidet? Solche Organe, die sie herausnehmen, gibt es auch in deinem Inneren. Dein Herz zum Beispiel! Du weißt, dass du ein Herz hast?« Ich nickte. »Es ist Teil deines Körpers, aber du hast keine Kontrolle darüber. Du kannst ihm nicht befehlen, mit dem Schlagen aufzuhören.« Máedoc erhob sich, und wir setzten unseren Weg fort. »Genauso verhält es sich mit der Synaígie. Die materielle Welt ist ihr Körper, aber sie hat keine Kontrolle.« Wir gelangten an einen Steilhang und machten uns an den Anstieg. Schon nach kurzer Zeit atmete ich schwer. Zumindest wurde mir jetzt wärmer. Irgendwo im Nebel krächzte eine Krähe. »Das Wort Synaígie setzt sich aus Synergie und Energie zusammen, weil sie nur mit unserer Zusammenarbeit aktiv werden kann. Wir können durch die Runen mit ihr kommunizieren. Können ihr Befehle erteilen, wenn wir die Runenmathematik beherrschen. Aber machst du auch nur einen Fehler, gehörst du ihr. Dann ist der Norin, den wir kennen, tot.« Wir erreichten das Ende des Steilhangs und traten auf eine Lichtung. Dort, am höchsten Punkt des Hügels, stand ein Steinkreis. Fast schien es, als hielten die Bäume respektvoll Abstand zu ihm. Dahinter endete die Welt abrupt an einer Klippe, an der sich die Wellen des Kalten Meeres brachen. Als wir uns dem Steinkreis näherten, trat eine Gestalt hinter einem der sieben Megalithen hervor: eine Frau in einem weißen Kleid. Ihr goldenes Haar leuchtete im Licht der aufgehenden Sonne. Sie winkte, legte die Hände an den Mund und rief: »Könnt ihr mir helfen?« Schon wollte ich zu ihr laufen, als Máedoc eine Hand auf meine Schulter legte.
»Sie ist nicht das, was sie zu sein scheint«, sagte er. Seine Worte klangen überraschend kühl. »Bleib an meiner Seite, Norin. Du wirst gleich verstehen.« Wir gingen weiter, bis wir nur noch wenige Schritte vom Steinkreis entfernt waren.
»Bitte«, sagte die Frau. »Ich brauche eure Hilfe!« Máedoc ignorierte sie.
»Siehst du die Runen, die dort in die Megalithen gemeißelt sind?«, fragte er mich. Nur mit Mühe konnte ich die Augen vom Antlitz der Frau lösen. Ich folgte Máedocs Blick und bemerkte, dass die Megalithen über und über mit Schriftzeichen bedeckt waren. »Es sind die gleichen Schriftzeichen, die wir für unsere Texte verwenden. Nur hat hier jemand vor langer Zeit versucht, sie zu runenmathematischen Formeln zusammenzusetzen, um mit der Synaígie zu kommunizieren. Sie werden daher auch synaígische Runen genannt. Vor langer Zeit hat hier also jemand versucht, einen Zauber zu wirken. Ich weiß nicht, was sie eigentlich vorhatten, aber das ist, was dabei rausgekommen ist.« Er nickte zu der Frau, die uns abwechselnd ansah.
»Hilfe!«, wiederholte sie und klang dabei auf herzzerreißende Art verzweifelt.
»Guten Morgen«, sagte Máedoc zu ihr. »Wie können wir helfen?«
»Bitte«, sagte die Frau und trat an den inneren Rand des Steinkreises. Es sah so aus, als verhindere eine unsichtbare Barriere, dass sie ihn verließ. »Ich brauche dringend Hilfe!«
»Wie ist dein Name?«
»Bitte helft mir!«
»Woher kommst du?«
»Könnt ihr mir helfen?«
Máedoc sah zu mir. »Ich vermute, sie war diejenige, die sich hier an der Runenmathematik versucht hat«, sagte er. »Vielleicht auch nur eine von einer ganzen Gruppe von Menschen. Offenbar ist ihre Formel fehlerhaft, und nun ist sie Teil von Idun.«
»Hilfe!«
»Iduns Macht beschränkt sich auf den Runenkreis«, fuhr Máedoc fort. »Wie du vielleicht gemerkt hast, ist es Idun nicht möglich, sich mit uns durch sie zu unterhalten. Diese Frau ist vielmehr darauf programmiert, hier zu stehen und um Hilfe zu rufen. Vielleicht gibt es den Menschen noch, der sie einst gewesen ist.«
»Können wir sie nicht befreien?«, fragte ich.
»Leider nein«, antwortete Máedoc mit trauriger Miene. »Wenn wir uns ihr nähern, wird sie uns packen und in den Steinkreis ziehen. Und dann werden wir selbst Iduns Sklaven sein. Ich wache schon seit Jahren über diesen Ort. Diese Frau dort wird nicht älter und ihr Kleid wird nie schmutzig. Ihr Haar sieht stets aus, als hätte sie es eben erst mit erlesenen Seifen gewaschen. Die Zeit fügt ihrer Schönheit kein Leid zu.«
»Wer hat die Megalithen hierhergebracht?«, fragte ich.
»Niemand«, sagte Máedoc. »Orte wie diesen gibt es viele auf der Welt. Sie stehen auf den Ley-Linien, den synaígischen Kraftlinien unseres Planeten. Es sind Stätten, an denen sich Iduns Substanz konzentriert.« Er legte mir eine Hand auf die Schulter und zwang mich mit sanfter Gewalt, mich abzuwenden.
End
Ich hob den Blick und betrachtete nachdenklich Jaspers dunkle Gestalt.
»Nein«, murmelte der Izzianer und riss den Kopf hin und her. »Nein, nein, nein.«
Dass dieser Norin von einem Druiden ausgebildet worden war, der sich mit der Alchemie auskannte, war schon mal ein Schritt in die richtige Richtung. Von Normar und der Küste der Einsamkeit hatte ich noch nie gehört. Das Druidentum stammte aus Norsee. Vermutlich hatte das Land in der Antike schlicht anders geheißen.
Ebenfalls sehr interessant war, was Máedoc über jene Orte auf diesen Ley-Linien zu erzählen gewusst hatte. Im Rattensumpf, jenem Komplex aus Gängen unterhalb der Kanalisation, in dem das Etwas lebte, hatte ich einen sonderbaren Ort gefunden: einen Tümpel, an dessen Grund ein Kristallsplitter lag, der silbern leuchtete wie das Mondlicht. Rund herum wuchsen Blumen mit violett biolumineszierenden Blütenblättern und riesige Pilze. Ob es sich auch um einen Ort auf einer solchen Ley-Linie handelte? Es gab zwar keine Megalithen, doch war er definitiv von magischer Natur.
Ein wenig beunruhigend fand ich, was mit der Frau im Steinkreis geschehen war. Nikandros hatte durchblicken lassen, dass es sich bei der Synaígie um entrische Energie handelte. Nachdem Waterstone mir die Segovia-Kapsel ins Herz gepflanzt hatte, war mein Körper mehrmals damit geladen worden. War ich nun ebenfalls in Gefahr, dieser Idun zum Opfer zu fallen?
Ein Gähnen zwängte sich an meiner Beklommenheit vorbei. Ich senkte den Blick und verlor mich wieder zwischen den Zeilen.
Erwachen
Wir verließen die Lichtung auf demselben Wege, auf dem wir gekommen waren. In gleichen Abständen hallten uns die Hilferufe der Frau nach, als wäre sie ein Vogel, der turnusmäßig wieder und wieder denselben Ruf ausstieß. Schweigend gingen wir den Hügel hinab. Inzwischen hatte die aufgehende Sonne den Nebel zum größten Teil aufgelöst. Obwohl ich in dem überall gleich aussehenden Wald nichts fand, an dem ich mich orientieren konnte, merkte ich schnell, dass wir nicht zu Máedocs Hütte zurückkehrten. Das Meer lag stets zu unserer Rechten; so weit entfernt, dass mein Blick auf seinem Weg dorthin vor eine undurchdringliche Wand aus Fichtenstämmen stieß, und doch nah genug, dass wir das Rauschen der Wellen hören konnten. Auf unserem Weg begegneten uns an der Zahl drei Rehe. Die seltenen Male, da ich einem dieser scheuen Tiere begegnet war, waren sie davongeprescht, kaum dass sich unsere Blicke getroffen hatten. Mit Máedoc an meiner Seite jedoch standen sie ruhig da und ließen mich so nahe herankommen, dass ich sie streicheln konnte. Auch Hasen schienen keinen Grund zu kennen, uns zu fürchten. Mehrmals streichelte ich ihnen über die Löffel und musste mich anschließend beeilen, um zu dem Druiden aufzuschließen.
Schließlich erreichten wir den Waldrand und näherten uns dem Dorf. Schutzlos dem Wind ausgesetzt begann ich wieder zu frieren. Das Kreischen von Möwen und vereinzelte Rufe aus dem Dorf wehten zu uns herüber. In der Nähe eines Bootssteges am nördlichen Ende des Hafens stellte Máedoc sich an den Strand und blickte reglos wie eine Statue aufs Meer hinaus. Ich wollte schon fragen, worauf wir warteten, als er wieder zu sprechen begann: »Ich sagte dir vorhin, dass es drei kosmische Elemente gibt. Das erste, die Synaígie, hast du nun kennengelernt. Das Zweite sind die Enerphagen; genaugenommen ihre Substanz, das dunkle Mana. Auch sie erlauben uns, Magie zu wirken, indem wir mit den Norn – einer bestimmten Sorte sehr mächtiger Enerphagen – einen Pakt schließen. Sie erfüllen dir jeden Wunsch, sofern es sich um eine Bösartigkeit handelt. Du kannst sie nicht bitten, jemandes Krankheit zu heilen.«
»Warum nicht?«, fragte ich.
»Es liegt nicht in ihrer Natur«, erklärte Máedoc. »Du kannst jemandes Ernte verderben lassen, ihn eine Woche lang vom Pech verfolgen lassen, ja, du kannst jemandem sogar den Tod wünschen. Aber je größer der Dienst ist, den dir ein Norn erweist, umso teurer wirst du dafür bezahlen. Du stehst ab diesem Moment in seiner Schuld und du kannst dich darauf verlassen, dass er sie einfordern wird.«
»Und wenn ich nicht bezahle?«
Máedoc blickte zu mir herab. »Dann entsenden sie ihre Schergen, die Folklore. Kleine Enerphagen, die sich in jeden Winkel deines Lebens einnisten. Sie machen dich krank und schicken dir Alpträume. Du wirst im wahrsten Sinne des Wortes vom Pech verfolgt.«
»Kann man die Enerphagen nicht irgendwie bekämpfen?«, fragte ich.
»Warum willst du gegen sie kämpfen?«
»Weil sie böse sind«, erwiderte ich überrascht über die Frage. »Sie bringen nur Schlechtes in unsere Welt.«
»Da ist richtig«, stimmte Máedoc zu. »Aber sie tun es auf unseren Wunsch hin. Die Trinität – das ist die Einheit ihrer drei Könige – wacht darüber, dass die Enerphagen sich nur in unsere Welt einmischen, wenn wir es ihnen durch einen Pakt gestatten. Es ist die Niedertracht derer, die sich mit ihnen einlassen, die uns Schlechtes bringt. Wir wissen wenig über diese Wesen und die Welt, aus der sie kommen. Womöglich würden wir einen Krieg gegen sie verlieren.« Máedoc verfiel in Schweigen. Eine Zeit lang, während der ich zusehends unruhig wurde, stand er wieder bloß da und blickte zum Meer hinaus. In seinen Augen spiegelten sich die Wellen.
»Worauf warten wir?«, fragte ich schließlich.
»Hab ein wenig Geduld«, sagte Máedoc. Ich verharrte an seiner Seite, während ich mich unablässig umblickte. Schließlich lief ich dorthin, wo das Meer den Sand glattstrich, und fing an, vor dem heranschießenden Wasser davonzulaufen. Ich entdeckte einen Donnerkeil im Sand, sammelte mehrere Muscheln und interessant aussehende Steine ein und setzte mich an den Strand zum Spielen. Die Sonne stieg höher, der Wind flaute ab und allmählich wurde mir wärmer.
Dann bemerkte ich eine Bewegung auf dem Bootssteg. Ich hob den Kopf und sah Otis, den Trinker. Er war wie immer unrasiert, sein langes Haar schmutzig und verfilzt. Seine Kleidung sah aus, als hätte er sie schon seit mehreren Runden nicht abgelegt, und in der Hand hielt er die obligatorische Flasche Met.
Ich spürte Máedocs Blick auf mir. Ich ließ meine Fundsachen liegen und lief zu ihm.
»Du kennst Otis, nehme ich an«, sagte Máedoc und nickte zu dem Fischer, der soeben das Ende des Stegs erreicht hatte und in sein Boot kletterte. Ich nickte. »Weißt du, wie er zum Trinker geworden ist?«
»Er hat seine Tochter verloren«, sagte ich.
»Weißt du auch, wie er sie verloren hat?«, fragte Máedoc. Ich schüttelte den Kopf. »Er musste sie einem Enerphagen überlassen.« Der Druide seufzte. »Gwaeddan. Ein gutes, unschuldiges Mädchen. Sie wäre jetzt in deinem Alter. Ich habe keine Ahnung, ob sie noch lebt oder nicht.«
»Welchen Pakt hat Otis geschlossen?«
»Er ließ jemanden töten«, sagte Máedoc. »Vor drei Jahren entdeckten er und ein Fischer namens Jennalyn eine Höhle am Fuße der Steilklippe. Darin fanden sie eine mit Juwelen gefüllte Schatulle. Sie wollten den Schatz aufzuteilen – Hälfte, Hälfte. Aber noch in derselben Nacht machte Jennalyn sich mit der Schatulle davon. Otis, blind vor Wut, beschwor einen Norn und verlangte von ihm, dass er Jennalyn tötete und ihm die Juwelen zurückbrachte. Der Norn erfüllte den Auftrag binnen vierundzwanzig Stunden. Wenig später verlangte er seinen Preis. Otis ertrug es nicht lange, sich ihm zu verweigern. Nachdem der Norn seine Tochter mitgenommen hatte, fuhr er weit hinaus – weiter noch als dein Vater – und versenkte die Schatulle im Meer.« Máedocs Worte versetzten mir einen Stich.
»Woher weiß Otis, wie man einen Norn beschwört?«, fragte ich.
»Es ist allgemein bekannt«, antwortete Máedoc. »Du malst ihr Zeichen mit Kohle oder Kreide auf den Boden und sprichst drei Mal ihren Namen. Anders als bei der Runenmathematik hat ein Fehler keine schlimmen Folgen. Ein falsch aufgemaltes Zeichen führt allenfalls dazu, dass der Norn nicht erscheint. Sobald er da ist, kannst du es dir noch anders überlegen. Einmal ausgesprochen, was du von ihm verlangst, ist der Pakt besiegelt. Voraussetzung ist allerdings, dass du jemand bist, der etwas zu verlieren hat. Ein mächtiger Enerphag wird sich nicht mit jemandem abgeben, der nicht mehr als sein Leben zu bieten hat. Besitzt du Reichtum und gibt es Menschen, die du liebst, sieht das schon ganz anders aus.« Máedoc wandte sich um und schickte sich an, den Hafen zu verlassen. Ich warf Otis, der soeben einen tiefen Schluck aus seiner Flasche nahm, einen letzten Blick zu, und folgte dem Druiden zwischen die Häuser des Fischerdorfes. Máedoc ignorierte die Blicke der Dorfbewohner, die ihm auswichen, wenn er näherkam, und ihm folgten, sobald er vorüber war.
»Bevor ich zum dritten und letzten Element komme, lass uns deine Mutter besuchen«, sagte der Druide. »Sie wird wissen wollen, wie es dir geht.«
Rauch stieg aus dem Schornstein der Hütte meiner Eltern. Ich rannte darauf zu und klopfte an die Tür. Meine Mutter öffnete und hieß mich mit einer Umarmung willkommen. Sie roch nach frisch gebackenem Brot. Während ich an ihr vorbei das Hütteninnere betrat, wandte Laya sich an Máedoc.
»Hat er gegessen?«, fragte sie besorgt.
»Nein«, sagte Máedoc und klang belustigt, »aber es sieht ganz danach aus, als würde er jetzt ein ausgiebiges Frühstück nicht ablehnen.« Er nickte zu mir, der ich Posten vorm Herd bezogen hatte.
Meine Mutter deckte den Tisch und ich aß, als wollte ich die ausgelassenen Mahlzeiten der vergangenen Tage wettmachen. Währenddessen berichtete ich von der Frau oben beim Steinkreis und den Tieren, die sich von mir hatten streicheln lassen.
»Also hat er deinen Test bestanden«, schlussfolgerte meine Mutter und sah zu Máedoc.
Der Druide nickte. »Er wird in der nächsten Zeit bei mir bleiben. Keine Sorge, Laya«, fügte er hinzu, als er ihren bekümmerten Gesichtsausdruck bemerkte. »Er kann dich immer besuchen und jede Nacht von Healthhain auf Last bei dir verbringen. Es gibt Vieles, das ich ihm beibringen muss, und dafür brauch ich ihn in meiner Nähe.« Laya nickte und sah zu mir. Ihre Augen glitzerten im Feuerschein des Ofens.
»Ich bin sehr stolz auf dich, mein Kleiner«, sagte sie und strich mir eine meiner Locken hinter die Ohren. »Du siehst deinem Vater mit jedem Tag ähnlicher.« Ihre Worte stimmten mich glücklich und traurig zugleich.
Nach dem Essen verabschiedeten wir uns von meiner Mutter und machten uns auf den Weg zurück zu Máedocs Hütte. Die Vorstellung, eine weitere Nacht im Kokon in Máedocs Eiche zu verbringen, bereitete mir Sorgen. Ich rief mir in Erinnerung, dass morgen schon Healthhain war.
»Das dritte kosmische Element«, setzte Máedoc an, sobald wir das Dorf verlassen hatten, »ist die materielle Welt. Materie ist die Substanz, aus der alles gemacht ist: Wiesen und Bäume, Berge und Meere, Menschen und Tiere. Auch sie birgt Magie. Oft ist sie so alltäglich, dass wir sie nicht mehr als solche wahrnehmen. Der Sonnenaufgang zum Beispiel. Das Nordlicht. Das Leben in seiner Vielfältigkeit. Sieh aufmerksam hin, Norin. Wie viele wundersame Geschöpfe hat die Natur hervorgebracht? Solche, die fliegen oder unter Wasser leben. Manche groß und ungestalt wie die Baumriesen, andere klein und filigran wie ein Schmetterling.« Er hielt die Hand auf, und wie auf Zuruf kam ein Tagpfauenauge herbeigeflogen und ließ sich auf der Handfläche nieder.
»Sind Baumriesen echt?«, fragte ich. Ich hatte noch nie einen gesehen und war mir nicht sicher, ob sie nicht bloß ein Märchen waren wie Nome oder Trolle.
»So echt wie die Bergriesen«, sagte Máedoc, während wir wieder in den Fichtenwald eintraten. Er deutete auf die Stämme, die uns umgaben, und sagte: »Jeder Baum hat das Potential, zu einem Baumriesen zu werden. Viele sind noch zu jung für die Transformation. Manche ziehen das ruhige Leben, das sie jetzt führen, vor. Wieder andere haben schon ein Leben als Baumriese hinter sich. Im hohen Alter schlagen sie wieder Wurzeln, musst du wissen.« Staunend betrachtete ich die Bäume ringsum. Der Gedanke, dass sie denken konnten – auch die Eiche in Máedocs Hütte – hatte etwas ungemein Beruhigendes. »Es gibt aber auch jene Sorte von Magie, die verborgen ist«, fuhr Máedoc fort. »Sie lässt sich nur dann entfesseln, wenn man die Dinge richtig verarbeitet, zum Beispiel in einem Kessel. Genau damit befasst sich die Alchemie. Sie lehrt, wie man sich die Magie der materiellen Welt zunutze macht. Wir Druiden haben uns ihr verschrieben, Norin. Sie ist die einzige Form der Magie, die keine Opfer fordert. Bedienst du dich der Runenmathematik, endest du als Iduns Werkzeug. Gehst du einen Pakt mit einem Enerphagen ein, verkaufst du dich an sie. Es ist eine Sünde, sich dieser Elemente zu bedienen.« Ein Schatten lag über Máedocs Gesicht, als er sich zu mir umwandte und mich eindringlich ansah. »Es sind die ersten beiden Gebote der Druiden: Bediene dich niemals der Synaígie. Schließe niemals einen Pakt mit einem Enerphagen. Verstößt du gegen eines unserer Gebote, Norin, werde ich dich aus dem Kreis der Druiden verbannen. Du wirst niemals wieder mein Lehrling oder der eines anderen Druiden sein können, geschweige denn eines Tages selbst zu unsereins gehören. Hast du verstanden?« Der Ausdruck in seinem Gesicht war so ernst geworden, als hätte ich mich bereits gegen den Kodex der Druiden versündigt. Allein der Gedanke schien eine Wut in ihm zu entfachen, die nur darauf wartete, entfesselt zu werden. Ich schluckte schwer und nickte. Niemals würde ich dem Druiden Anlass geben, von mir enttäuscht zu sein.
Máedocs Lehre begann ebenso faszinierend wie anspruchsvoll. Oft streiften wir durch den Wald, wo der Druide mich die Namen von Pilzen und Kräutern lehrte. Er machte mich auf die Düfte von Blüten und Blättern aufmerksam und riet mir, sie mir gut einzuprägen. Häufig verströmten Tränke solche oder ähnliche Gerüche, die einen Hinweis darauf gaben, ob man auf dem richtigen Weg war. Er lehrte mich, welche Pflanzen heilen konnten, welche giftig waren und welche Zutaten man aus ihnen gewinnen konnte. Ich füllte das Loch, das mein Vater hinterlassen hatte, mit Wissen. Solange mein Kopf beschäftigt war, war dort kein Platz für Trübsal. Es war sicher nicht die beste Art, mit dem Verlust umzugehen. Aber vorerst funktionierte es. Voller gespannter Erwartung, die verborgene Magie aller Dinge kennenzulernen, stürzte ich mich auf alles, was der Druide mir auftrug. Doch der Tag, an dem ich zum ersten Mal einen Trank brauen würde, lag noch in weiter Ferne, so schien es. Ich müsse zunächst einmal die Grundlagen erlernen, erklärte Máedoc am ersten Tag meiner Ausbildung. Dazu gehörte zu meiner Überraschung auch, dass ich lesen und schreiben lernte. Die Normaren gaben ihr Wissen traditionsgemäß mündlich von Generation zu Generation weiter. Doch gab es auch Alchemisten aus anderen Kulturen, wie ich schnell begriff, die ganze Bücher mit ihren Erkenntnissen füllten.