Dreizehn. Das Tagebuch - Carl Wilckens - E-Book

Dreizehn. Das Tagebuch E-Book

Carl Wilckens

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Beschreibung

Godric End, Symbolfigur des Bürgerkriegs in Dustrien, ist in Gefangenschaft geraten. Für eine Zigarette pro Tag erzählt er den Insassen von Zellenblock 13 seine Geschichte: Ich war elf, als ich zum ersten Mal tötete. Meine Jugend verbrachte ich in einer Drogenhölle ohne Sonnenlicht. Mein einziger Freund war der Hunger. Worte wie Freundschaft, Vertrauen oder Hoffnung bedeuten mir nichts. Das Leben eines Menschen ist für mich nicht mehr wert als das einer Ratte. Ich kann euch töten, ohne mit der Wimper zu zucken. Ich bin mehr Bestie denn Mann und ich giere nach einer Droge namens Perl. Trotzdem nennt man mich einen Helden. Ihr habt von mir gehört, von Godric End, dem Freiheitskämpfer. Aber die Wahrheit über mich kennt ihr nicht. Sie ist ein scheues und manchmal hässliches Tier. Ihr sollt meine Geschichte hören. Die Geschichte von meinem Dasein im Rumpf der Swimming Island, von meiner Zeit als Auftragsmörder und von meiner ersten Liebe. Von der Suche nach meiner Schwester und dem Untergang der Welt.

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Carl Wilckens

13

Das Tagebuch

Band 1

Wilckens, Carl: Dreizehn. Das Tagebuch. Band 1. Hamburg, acabus Verlag 2017

OriginalausgabeePub-eBook: ISBN 978-3-86282-475-5PDF-eBook: ISBN 978-3-86282-474-8Print-Ausgabe: ISBN 978-3-86282-473-1

Lektorat: Laura Künstler, acabus VerlagSatz: Laura Künstler, acabus VerlagCover: © Annelie Lamers, acabus VerlagCovermotiv: texture-954897_1920, www.pixabay.com

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Der acabus Verlag ist ein Imprint der Diplomica Verlag GmbH, Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.

© acabus Verlag, Hamburg 2017Alle Rechte vorbehalten.www.acabus-verlag.de

eBook-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmundwww.readbox.net

Für Jonah,weil er wie 13 das Erste von vielen ist.

Kohle und Stahl

Es regnete. Dieser Tage tat es das oft. Rußgeschwärzte Tropfen lösten sich aus der Wolkenschicht. Donnergrollen rollte von einem Ende des Horizonts zum anderen, gefolgt von zuckendem Wetterleuchten. Neben dem Rauschen des Regens und dem fernen Gewitter war das Surren der Förderbrücken zu hören. Unablässig hoben sie Kohle aus den Minen der Stonefort Colliery. Die schwarzen Brocken wurden in Hunte verladen und auf Schienen direkt zu den Hüttenwerken gebracht. Zahllose Schornsteine ragten aus einem Meer von Fabrikgebäuden. Bäume mit schwarzen Rauchwolken als Krone, die in den Himmel emporstiegen, höher und höher, bis sie sich mit der finsteren Wolkenschicht vereinten. Zwischen den geschwärzten Steinwänden dieser Industrielandschaft kämpften dutzende Gasleuchten gegen die Finsternis an. In ihrem flackernden Schein gingen Gestalten. Menschen, die sich im Gleichtakt der Maschinen bewegten.

Frieden lag über diesem Ort wie eine weiche Decke. Der Frieden einer todgeweihten Welt. Einer Welt, die dafür gekämpft hatte, unterzugehen.

Die Stille wurde jäh unterbrochen.

Eine Dampflokomotive nahte. Blockierte Räder schrammten über stählerne Schienen und verwandelten die Energie der bewegten Masse tausender Tonnen Kohle und Stahl in glühende Hitze. Scheinwerfer tauchten in der Ferne auf. Drei Augen, die Dunkelheit und Regen kaum zu durchdringen vermochten. Jeder Wagon war groß wie ein kleines Haus. Die Lokomotive ein gewaltiger stählerner Kessel. Schornsteine spien Unmengen schwarzen Rauchs in den Himmel. Dampfwolken flankierten die Lokomotive.

Das Gefährt fuhr in das Industriegebiet ein, wobei es unzählige Wagons aus der Dunkelheit nachzog. Jeder war bis zum Rand mit Kohle gefüllt bis auf den letzten. Die Lokomotive kam kreischend zum Stehen. Die Schiebetür des hintersten Wagons wurde von Innen geöffnet. Vier bewaffnete Männer mit Atemmasken stiegen in Begleitung eines Gefangenen aus. Zwei gingen voraus, zwei richteten die Spitzen ihrer Bajonette auf den Mann in Ketten. Sie führten ihn zu einem quaderförmigen Gebäude mit unzähligen Fenstern.

Es handelte sich um Blackworth, eine ehemalige Fabrik, die zu einem Gefängnis umfunktioniert worden war. Hier saßen Bergbauer ein, die es gewagt hatten, sich gegen die Dynastie des alteingesessenen Bergmannsadels aufzulehnen. Menschen, die die Frechheit besessen hatten, als solche behandelt werden zu wollen.

Die Gruppe passierte eine der Gasleuchten. Schummriges Licht erhellte das Gesicht des Gefangenen. Ein junges Gesicht mit dreierlei Arten von Narben. Da waren solche, wie man sie nach Kämpfen davonträgt. Das Regenwasser floss von der Stirn durch eine Kerbe in der Augenbraue, folgte dem Verlauf zweier paralleler Schrammen und gelangte durch eine weitere Kerbe in seiner Unterlippe zum Kinn.

Die zweite Art Narbe war nicht unmittelbar sichtbar. Sie kam zum Vorschein, wenn nichts die Vergangenheit zurückdrängte. Dann wurden die Augen des Gefangenen dunkel, der Blick müde. Es waren Schrammen auf seiner Erinnerung.

Die letzte und tiefste Narbe war unsichtbar. Man konnte sie nur erahnen, wenn man das Gesicht des Gefangenen als Ganzes betrachtete. Den Ausdruck der Leere, den gesenkten Blick und die Schatten in seinen Augen. Die tiefste Narbe schloss seine Haltung, ja sein ganzes Wesen ein. Er ließ die Schultern hängen und den Gang schlurfen. Und hätte er gesprochen, hätte der Rost auf seinen Stimmbändern jedes Wort zerkratzt.

Das Haar des Gefangenen war kurz geschoren, kürzer noch als sein stoppeliger Bart. Er war mager. Athletisch, ja, aber ohne ein einziges Gramm Fett. Deutlich zeichnete sich die Muskulatur seines Nackens, seiner Arme, seines ganzen Körpers unter seiner straff gespannten Haut ab. Hunger war einer seiner ältesten Freunde. Angst sein meist verachteter Feind. Er war ein Mörder, gewissenlos, wenn es sein musste. Ein Überlebenskünstler, der nie zögerte. Eine ruhelose Seele am Ende ihrer Suche.

Sein Name war Godric End.

Leiser Gesang schwebte im Zellenblock 13. Die Worte, gesungen in einer fremden Sprache, tauchten hinaus in die Fluten des rauschenden Regens und der surrenden Förderbänder. Dann und wann wurden sie vom fernen Donner überrollt. Die an trockenen Tagen ruß- und staubgeschwängerte Luft zog kühl und verhältnismäßig klar durch die vergitterten Fensteröffnungen. Die meisten Insassen schliefen oder lauschten stillschweigend dem Gesang, als die Tür des Zellenblocks geöffnet und Godric End hereingeführt wurde.

Der Gesang verstummte.

Die Wärter führten End bis zur letzten Zelle auf der rechten Seite des Blocks. Viele Insassen hoben den Blick, als er vorbeigeführt wurde. Keiner erkannte den Gefangenen. End wurde grob in die Zelle und die Tür hinter ihm ins Schloss geworfen. Die Wärter verließen den Zellenblock. Einige Sekunden lang färbte nur das Rauschen des Regens und das Surren der Förderbänder die Stille.

„Hallo Genosse“, sagte schließlich der Mann in der Zelle gegenüber. Es war derselbe, der zuvor gesungen hatte. „Du siehst nicht aus wie ein Mann unseres Schlags. Woher kommst du?“

End schwieg. Er hatte sich auf dem Boden der Zelle niedergelassen und starrte mit leerem Blick auf seine Füße.

„Wieso haben sie dich eingelocht?“, bohrte der Sänger nach. „Hierher stecken sie eigentlich nur politische Häftlinge. Du hingegen siehst eher aus wie ein Landstreicher. Ein Tunichtgut. Ein Dieb. Oder Schlimmeres.“

End schwieg.

Der Sänger trat bis vor die Tür seiner Zelle und kniff die Augen zusammen. „In der Tat siehst du sehr gefährlich aus. Du scheinst mir ein übler Bursche zu sein. Vielleicht bist du der Einzige unter uns, der es verdient hat, hier einzusitzen.“

End schwieg.

„Sag mal, kann es sein, dass …“

„Kannst du ihn nicht einfach in Ruhe lassen?“, kam es rau aus einer anderen Zellen.

„Schon gut, schon gut“, meinte der Sänger. „Ich dachte nur, er ist vielleicht … aber nein, das ist unmöglich.“ Der Sänger kniff die Augen noch enger zusammen, als könne er so die Dunkelheit mit seinen Blicken durchbohren. „Du bist nicht etwa Godric End?“

Aus einer der anderen Zellen drang ein Schnauben. „Hör auf zu schwatzen. End? Es heißt, er sei in Rust und führe das Volk gegen den Schwarzen Baron.“

„Nein“, widersprach der Sänger kopfschüttelnd. „Es heißt, er sei auf dem Weg nach Rust, um unsereins anzuführen.“

„Wer weiß schon, wo End ist“, sagte jemand anders. „Ich habe gehört, er sitzt in dieser Nervenheilanstalt in Treedsgow.“

„Nein, er ist vor langer Zeit gestorben, als die Swimming Island Black Ravens versenkt wurde.“

„Unmöglich! Kennt ihr nicht die Geschichten? Sein Wille ist stärker als der Tod.“

„Geschichten, Junge …“

„Es stimmt! Er hat einen Schuss ins Herz überlebt. Eine Maschine in seiner Brust fördert nun das Blut durch seine Adern. Sein Herz ist so kalt wie das Eisen, aus dem es gemacht ist, sagt man.“

Spöttisches Gelächter hallte durch den Zellenblock.

„Sei nicht albern, Junge. Glaubst du etwa auch die Geschichten über die Flying Island?“

„Flying Island?“, mischte sich jemand weiteres ins Gespräch.

„Angeblich hat End das Schiff Ravens rekonstruiert. Als Luftschiff.“

„Er wird uns alle hier rausholen“, sagte der Junge mit hoffnungsschwangerer Stimme.

„Ist er wirklich der edle Held, für den du ihn hältst? Er hat einst an der Seite Black Ravens gekämpft. Es heißt, er habe seine eigene Schwester ermordet …“

„Nicht seine Schwester. Die Tochter des Schwarzen Barons.“

„Er ist nicht edel“, sagte der Junge. „Ich sagte doch, sein Herz ist kalt wie Eisen. Sein Wille ist stärker als der Tod. Er zögert nie. Er gibt nie auf. Er hat einen Bären mit bloßen Händen getötet. Er wird der Perlkönig genannt. Er kämpft erbarmungslos. Aber er kämpft auf unserer Seite.“

„Hör auf, Reden zu schwingen, Junge. Wir alle wünschten, es wäre so, aber wir müssen den Tatsachen ins Auge sehen. Der Schwarze Baron hat gewonnen. Die Königin wird sich niemals gegen den Bergmannsadel durchsetzen können. Dazu fehlen ihr die Eier.“ Der Insasse lachte freudlos.

„Warum fragen wir End nicht einfach selbst?“, mischte sich der Sänger ein in einem letzten Versuch, den Neuankömmling zum Reden zu bringen. Die Diskussion verebbte. Die jäh eingekehrte Stille richtete ihren fragenden Blick auf End.

Aber End schwieg.

Der Sänger seufzte. „Dann eben nicht“, knurrte er und zog sich in den hinteren Bereich seiner Zelle zurück. Er zog einen Schuh aus, holte eine plattgedrückte Tüte Tabak und eine Schachtel mit Zündhölzern daraus hervor und drehte sich eine Zigarette. Als er ein Zündholz über die Sohle seines Schuhs zog, und die Flamme erwachte, hob End den Kopf.

Ein interessierter Ausdruck trat in seine bislang leeren Augen.

„Kann ich eine haben?“, fragte er mit rostiger Stimme.

Der Sänger hob die Brauen. „Aber klar. Wenn du mir deinen Namen verrätst.“

End erhob sich. Die schweren Ketten seiner Hand- und Fußfesseln klirrten, als er sich auf die Zellentür zubewegte. Der Sänger drehte eine zweite Zigarette, trat vor die eigene Zellentür und hielt sie hoch. Das Papier, in die sie eingewickelt war, war so schmutzig, dass es fast schwarz war.

„Und?“

End schwieg.

„Schade.“ Der Sänger führte seine eigene Zigarette zum Mund, zog daran und blies den Rauch auf den Gang des Zellenblocks. End schloss die Augen und sog den Geruch ein. Die Muskeln unter seiner straffen Haut spannten sich. Kurz schien es, als würde er die Ketten mit der bloßen Kraft seiner Arme auseinandersprengen.

Er öffnete die Augen.

Ein Funkeln lag in seinem Blick, der keinen Zweifel daran ließ, dass ihm das Leben des Sängers in diesem Augenblick weniger wert war als die Zigarette. Obwohl zwei Zellentüren die beiden Männer voneinander trennten, machte der selbstgefällige Ausdruck im Gesicht des Sängers Beunruhigung Platz. Er wich zurück.

„Ich meine ja nur“, sagte er schnell. „Dieser Aufstand ist so gut wie verloren. Unser aller Hoffnung ruht auf End. Mag sein, dass du nicht er bist. Aber es ist nicht zu viel verlangt, mir deinen Namen zu verraten, oder? Schließlich verlangst du eine meiner letzten Zigaretten.“

End musterte den Sänger einige Sekunden lang kühl, und der Mann wand sich sichtlich unter seinem Blick.

„Gib mir die Zigarette“, sagte er schließlich. „Dann geb ich dir meinen Namen.“

Der Sänger zögerte.

„Erst den Namen“, sagte er kleinlaut.

End schwieg und umfasste die rostigen Gitterstäbe seiner Zellentür mit beiden Händen. Der Sänger versuchte, einige Zeit lang seinem Blick standzuhalten und kapitulierte zuletzt mit einem ergebenen Seufzer. Er entfachte ein zweites Zündholz, steckte die Zigarette an und warf sie vor Ends Tür. End hob sie auf, führte die Zigarette zum Mund und zog daran.

Es war guuut.

Der beißende Tabakrauch füllte seinen Rachen. Er inhalierte ihn tief und genoss in vollen Zügen, wie der Ruß seine Lunge peinigte. Er behielt den Rauch einige Sekunden lang in sich und atmete ihn dann sehr langsam durch Mund und Nase wieder aus. Als könnte er sein Glück nicht fassen, betrachtete er den glühenden Stängel. Dann zog er sich in den hinteren Teil der Zelle zurück. Er ließ sich zu Boden sinken und nahm einen weiteren Zug.

„Und?“, fragte der Sänger.

End schwieg.

„Ich hätte es wissen müssen“, sagte der Sänger voller Bitterkeit. „Du bist nicht End. Du bist bloß ein Tunichtgut. Ein Dieb. Oder Schlimmeres. Was sollte ich anderes von dir erwarten, als dass du meine Bezahlung nimmst und mich leer ausgehen lässt? Deswegen sitzt du ja schließlich ein. Deswegen oder wegen Schlimmerem.“

End antwortete nicht. In aller Ruhe rauchte er seine Zigarette auf. Der Sänger zog sich ebenfalls zurück und ließ sich auf seine Matratze sinken. Er drehte sich auf die Seite und kehrte somit der Zellentür den Rücken zu.

Und wieder waren Rauschen und Surren das Einzige, das man vernehmen konnte.

Schließlich wandte End das Gesicht dem Sänger zu und stieß den Rauch seines letzten Zuges aus.

„Ich bin er“, sagte er.

Der Sänger hob überrascht den Blick. „Wer?“

„End. Ich bin Godric End.“

Ein Raunen ging durch den Gang des Zellenblocks. Der Junge schnappte vernehmlich nach Luft.

„Er lügt“, sagte jemand.

„Nein“, flüsterte der Sänger und erhob sich langsam von der Matratze. Den Blick behielt er unverwandt auf End gerichtet, als fürchtete er, er könne sich in Luft auflösen. „Er ist es. Er ist es wirklich.“

„Unsinn. End ist tot.“

„Er ist hier“, sagte der Junge. Seine Worte überschlugen sich fast vor Aufregung. „Er wird uns hier rausholen.“

„Wieso bist du hier?“, flüsterte der Sänger. „Du solltest in Rust sein.“

„Nein“, sagte End. Es war nur ein Wort, aber es hätte nicht mehr Bitterkeit darin liegen können. „Ich sollte hier sein. Wo immer das Schicksal mich haben möchte.“

„Was ist passiert?“

„Verrat.“ Ends Stimme war dunkel. „Das Leben hat mich eine weitere Lektion gelehrt. Ich glaube bloß nicht, dass ich lange genug leben werde, um davon zu profitieren.“

„Verrat? Wer? Sag mir, wer es ist, und ich werde ihn mit den eigenen Händen erwürgen.“

„Ruhig Blut, Junge. Solange du hier einsitzt, erwürgst du niemanden.“

„Wer hat dich verraten, Genosse?“, fragte jetzt auch der Sänger mit gefährlich ruhiger Stimme. „Ich bitte dich, erzähl mir deine Geschichte.“

„Geschichte?“, wiederholte End spöttisch. „Ich glaube nicht an Geschichten. Ebenso, wie ich nicht an den Mond glaube.“

„Er ist verrückt. Ein Spinner, der sich für End hält. Hab ich nicht gleich gesagt, dass er es nicht ist? End ist tot.“

„Was meinst du damit, du glaubst nicht an den Mond? Wir können ihn sehen, wenn sich an windigen Tagen die Rußwolken verziehen. Wie kann man nicht an den Mond glauben?“

„Wir sehen ein silbernes Licht“, sagte End. „Aber ist es ein greifbares Objekt? Oder scheint es bloß durch ein Loch im Universum?“

„Völlig verrückt …“

„Erzähl mir deine Geschichte, Genosse“, bat der Sänger noch einmal. „Ich verlange nicht, dass du an die Vergangenheit glaubst. Ich möchte nur die Wahrheit erfahren.“

In diesem Moment erhellte blauweißes Wetterleuchten den Himmel. Es raste über die Unterseite der Wolken bis zum Horizont, wo es gegen eine unsichtbare Barriere zu stoßen schien und zurückkehrte. Das bislang lauteste Donnergrollen füllte den Zellenblock 13 und die Ohren all seiner Insassen.

„Die Wahrheit ist, dass ich nie die Interessen des Arbeiters geteilt habe.“ Ends Stimme knüpfte klar vernehmlich an das Grollen des Donners an. „Ich habe immer nur meine eigenen Interessen verfolgt. Dieser Aufstand hätte niemals zu einem Bürgerkrieg werden müssen. Ich wollte es so. Ich wollte nie Gerechtigkeit. Ich wollte Zerstörung.“

Es folgte betretenes, ja, schockiertes Schweigen. Dann setzte leises Murmeln ein, das allmählich zu einem wütenden Summen anschwoll.

„Warum?“, fragte der Sänger mit heiserer Stimme.

In diesem Moment wurde die Tür zum Zellenblock geöffnet, und die Insassen verstummten recht plötzlich. Zwei Männer betraten den Gang. Schlieren schmutzig schwarzen Regens verunzierten ihre Haut. Beide trugen einen Mundschutz. Einer von ihnen schob einen riesigen Kessel auf Rädern vor sich her, der andere einen Wagen, auf dem sich Holzschalen stapelten. Daran befestigt war eine Leuchte, die mattes warmes Licht in den Zellengang goss. Wortlos passierten die Männer die Zellen und füllten die Holzschalen mit der grauen Masse, die in dem Kessel dampfte. Die Insassen warteten schweigend.

Reglos.

Die Männer hielten kurz inne und warfen einander besorgte Blicke zu. Sie spürten die Anspannung, die in der Luft lag. Niemand hatte sie darüber informiert, dass Godric End in diesem Zellenblock einsaß. Was also, fragten sie sich, war der Grund für das angespannte Schweigen? Führten die Gefangenen etwas im Schilde?

Schneller setzten sie ihre Arbeit fort. Bei Ends Zelle angelangt, füllten sie eine der Holzschalen und stellten sie in Griffweite vor die Tür. Einer der Männer hob den Blick und sah End geradewegs in die Augen. Augen, die das Licht der Leuchte zu reflektieren schienen. Der Mann zuckte zusammen. Die Reflektion in Ends Augen verlosch. Hastig wendeten die Männer Kessel und Wagen und verließen den Zellenblock.

„Warum?“, wiederholte der Sänger die Frage, kaum dass die Tür hinter den Männern ins Schloss gefallen war.

Wieder ließ End sich Zeit mit der Antwort. Er stand auf, zog die Schale herein und kehrte an seinen angestammten Platz zurück. „Kein Besteck?“

„Lass den Unsinn, End“, knurrte jemand mit bedrohlich dunkler Stimme. „Du schuldest uns eine Erklärung.“

„Ich schulde niemandem irgendwas“, sagte End mit kalter Stimme. „Auf diese Weise kommst du bei mir nicht weit, Mann.“ Er tauchte zwei Finger in den Brei und steckte sie sich in den Mund. Andere Insassen folgten seinem Beispiel. Schweigend lauschten sie dem Rauschen und Surren und dem gelegentlichen Donnergrollen, während sie aßen.

„Wirst du uns erklären, was du vorhin gemeint hast?“, fragte der Sänger vorsichtig, sobald End sein karges Mahl beendet und die Schale beiseite gestellt hatte.

End schwieg.

„Ich könnte dir noch eine Zigarette anbieten“, schlug der Sänger vor. End hob den Blick. Der Sänger wickelte etwas Tabak in eines der schmutzigen Papiere ein, hielt den Stängel hoch und hob fragend die Brauen. End nickte knapp. Der Sänger entzündete die Zigarette und warf sie wie schon zuvor vor Ends Zellentür. Wieder rauchte End sie in aller Ruhe auf, ehe er ein weiteres Wort sprach.

„Es war nie mein Ziel, mich für den Arbeiter einzusetzen.“ Leises Flüstern hob an, während die Insassen die Worte an jene weitergaben, die außer Hörweite waren. „Ich habe immer nur die Industrialisierung aufhalten wollen. Ich wollte einen Krieg, der Zerstörung mit sich bringt, keine Aufstände, die Gerechtigkeit fordern.“

„Aber warum?“, fragte der Sänger und hob in fassungsloser Geste die Hände.

„Weil diese Welt untergeht.“ Es wurde sehr still im Zellenblock. „Seht aus dem Fenster. Der Himmel ist schwarz. Die Bäume sterben. Die Vögel fallen tot aus der Luft.“

„Folgen der Umweltverschmutzung“, meinte ein Zelleninsasse. „Das bedeutet aber nicht, dass unsere Welt untergeht.“

„Es gibt noch andere Anzeichen. Welche, die keine logische Erklärung haben.“ Die Insassen warteten schweigend. Aber End ließ die Worte allein im Raum stehen.

„Er meint die Spiegel“, flüsterte der Junge.

„Dieses Phänomen ist schon vor Jahren aufgetreten, Junge“, meinte einer der Insassen. „Es hat nichts mit der Industrialisierung zu tun.“

„Der Junge hat Recht“, widersprach End. „Das Verschwinden der Spiegelbilder war vermutlich das erste Anzeichen. Das erste von dreizehn. Es trat lange vor der Industrialisierung auf, weil diese nicht die Ursache des Untergangs ist. Vielleicht wird uns die Umweltverschmutzung eines Tages die Existenz in dieser Welt unmöglich machen. Aber vermutlich ist die Förderung der Kohle bloß ein Schritt von vielen in Richtung eines viel größeren Übels. Der Untergang der Welt bedeutet nicht unbedingt die Zerstörung unseres Universums. Die Wahrheit ist, dass ich nicht weiß, was es bedeutet.“

„So ein Bockmist! Bloß weil die Spiegel plötzlich nicht mehr funktionieren?“

„Die Spiegel sind bloß ein Zeichen von dreizehn. Wie ich schon sagte. Genau wie die Sternenbilder, die verlöschen.“

„Es verlöschen Sternenbilder?“, fragte der Sänger.

End nickte und sah mit verschwommenem Blick aus dem Fenster. „Elf Wächter sind verloschen.“

„Aber … was macht dich so sicher, dass diese Zeichen den Untergang der Welt bedeuten? Erzähl mir deine Geschichte, Godric End, ich bitte dich.“

End seufzte schwer. „Meine Geschichte ist nicht von Belang. Mit mir ist es bald vorbei. Der Schwarze Baron kommt persönlich hierher, um mich zu richten.“

„Der Schwarze Baron hat Rust verlassen und ist auf dem Weg nach Stonefort?“

„Wenn er mit dem Zug fährt, wird er in einem Viertel hier sein.“

„Nein“, sagte End. „Er wird aufgehalten werden. Seine Reise wird sich um vier Tage verzögern.“

„Woher willst du das wissen?“

„Ich weiß es.“

„Dreizehn Tage“, murmelte der Sänger und prüfte seinen Tabakvorrat. „Eine Zigarette pro Tag. Sollte reichen. Dafür erzählst du deine Geschichte. Was sagst du?“

End blickte den Sänger nachdenklich an. „Worte sind Wind. Wieso würde jemand etwas so Kostbares wie Zigaretten gegen Wind eintauschen?“

„Was kümmert es dich? Bekommst du nicht, was du willst?“ Der Sänger rollte die nächste Zigarette und hielt sie hoch. End musterte sie kurz.

„Einverstanden. Aber wisset: Ihr werdet mir nicht glauben. Ihr werdet spöttisch lachen wollen, den Kopf schütteln und mich einen Narren schimpfen wollen. Lasst es! Denkt euch euren Teil, aber behaltet eure Gedanken für euch. Anderenfalls fahre ich nicht fort, ehe ich nicht eine weitere Zigarette bekommen habe.“

Der Sänger warf die Streichholzschachtel in Ends Zelle. „Ich werde sie nicht mehr brauchen. Lass sie nur die Wärter nicht sehen.“ Die Zigarette folgte. End zündete sie an und wieder rauchte er sie in aller Ruhe auf, ehe er ein weiteres Wort sprach.

„Bevor ich den Aufseher der South Harrow Colliery erschlug, dutzende Arbeiter meinem Beispiel folgten und die Revolte der Arbeiter zu einem Bürgerkrieg wurde“, begann er, „bevor das Militär in eine demonstrierende Menge schoss und die Aufstände eskalierten, ja, bevor ich nach Treedsgow kam und dort ein schreckliches Geheimnis lüftete, bevor die Swimming Island des berüchtigten Captain Black Ravens sank, war ich bloß der Sohn eines sehr reichen Mannes aus dem Bergmannsadel …“

End

Ich war ein unscheinbares Kind. Klein, mager und blass. Kein Vergleich zu heute. Ich hing stets am Rockzipfel meiner Schwester. Emily. Sie war fünf Jahre älter als ich. Wenn es darum ging, Neues auszuprobieren, ließ ich ihr immer den Vortritt. Wenn mich Albträume plagten, fand ich Zuflucht unter ihrer Bettdecke. Sie sorgte für mich. Sie nahm mich in Schutz und spendete mir Liebe, wenn ich mich danach sehnte.

Unsere Mutter war bei meiner Geburt ums Leben gekommen. Emily erzählte, dass sie die schönste Frau auf Erden gewesen sei. Mit einem traurigen Lächeln und stets liebevollen Augen. In meiner Vorstellung war sie ein Engel.

Wir wuchsen in der Obhut von Rico Fonti auf. Fonti stammte aus dem Süden, aus Izzian. Er war ein kleiner Mann. Er hatte dunkles Haar und buschige Augenbrauen, einen Spitzbart und einen kunstvoll gewichsten Schnurrbart. Sein strenger, durchdringender Blick kündete von Klugheit und Bildung. Er galt als einer der besten Lehrer überhaupt. Er beherrschte sieben Sprachen und verfügte über unvergleichliche Kenntnisse in unzähligen Wissenschaften. Lehrer wie er, die ihr Gebiet nicht nur beherrschen, sondern auch lehren können, sind so selten wie wahre Freundschaft. Fonti lehrte uns Lesen und Schreiben, Mathematik, Geschichte, Kultur und Geographie, Astronomie und Astrologie, Mythen, Religion und Philosophie, Naturkunde und Chemie sowie fremde Sprachen und Schriften einschließlich der norvolkischen Runen. Mein Vater bezahlte ihn.

Mein Vater.

Ich hatte ihn nie zu Gesicht bekommen. Ich wusste nur, dass er ein erfolgreicher Mann aus den Reihen des Bergmannsadels war. Reich an Einfluss und Geld. Gewiss trug er einen schwarzen Anzug, rauchte Zigarre und wachte aus der Ferne über mich und meine Schwester. Ich glaubte, dass ich und Emily ihn eines Tages treffen würden, sobald wir ausgebildet waren.

Doch haben wir unsere Ausbildung nie abgeschlossen … Wir blieben nie lange an einem Ort. Fonti erklärte uns, dass wir Erfahrung sammeln mussten. Wir reisten durch Dustrien und verweilten höchstens einen Monat in einer Stadt. Die Metropole Rust bildete da eine Ausnahme, war sie doch um ein Vielfaches größer als gewöhnliche Städte. Wir begegneten vielen Menschen: Händlern und Betrügern, Handwerkern und Bergmännern, Bettlern und Dieben …

Fonti lehrte uns, in diesen Menschen zu lesen. Ihre Mimik und Gestik zu deuten und ihre Absichten zu durchschauen. Er schenkte uns den Blick fürs Detail, und bald sahen wir nicht mehr die Gesichter unserer Gegenüber, sondern Grenzflächen der Kommunikation. Weiteten sich die Pupillen eines Händlers beim Anblick eines Gegenstandes, den er erwerben wollte, bedeutete dies, dass man den Preis in die Höhe treiben konnte. Verhielt sich jemand offen, laut und lustig, hatte er meist etwas zu verbergen. Auch Kleidung verriet viel. Über Reichtum, Bescheidenheit und Selbstvertrauen.

Fonti ließ uns tagelang in der Obhut von Handwerkern und Landwirten, Heilern und Händlern, um deren Berufe kennenzulernen. Schon bald kannten Emily und ich die Bearbeitungsverfahren verschiedener Materialien wie Holz, Stein und Stahl. Wir konnten komplexe Konstruktionen zu Papier bringen und einfache sogar selbst fertigen. Wir erfuhren, welche Pflanzen essbar sind und wie man sie anbaut, welche Kräuter heilen und wie man sie richtig zubereitet.

Emily und ich lernten unverhältnismäßig schnell. In jedweder Hinsicht. Bescheidenheit wäre hier schlicht unangebracht. Lesen, Schreiben und Rechnen beherrschten wir jeweils bereits im Alter von fünf. Mit sieben Jahren stiegen wir in die höhere Mathematik ein. Wir lasen Texte auf höchstem Niveau. Wir kannten uns mit den Kulturen von Ländern aus, von denen viele nicht einmal wissen, dass sie existieren.

Aber die Theorie genügte Fonti nicht. Eines Tages verkündete er, dass wir Dustrien verlassen würden. Da war ich elf, meine Schwester sechzehn Jahre alt. Wir reisten nach Grey Heaven und verbrachten die Nächte in einer Hafenherberge, während unser Schiff abreisebereit gemacht wurde.

An unserem letzten Tag lagen Emily und ich nebeneinander auf einer Wiese unter einer Ulme. Es war ein Fleck Natur inmitten der grauen Hafenstadt. Das Gras wuchs hoch und verbarg uns vor Blicken. Das Sonnenlicht wärmte uns die Gesichter. Unsere Köpfe berührten sich fast, und wir lauschten dem Flüstern des Baumes.

Bäume erzählten uns Geschichten. Wenn der Wind durch ihre Kronen strich, verwandelte sich das Rauschen in unseren Ohren in Worte. Die Bäume berichteten von Dingen, die wirklich geschehen waren. Von Geheimnissen. Es mag unglaublich erscheinen, aber es ist wahr. Einige Male hatten wir auf diesem Wege erfahren, dass etwas am Fuße eines Baums vergraben lag. Wertsachen, Diebesgut … Aber viel interessanter waren die Geschichten, die die Bäume erzählten. Fedlum, die Ulme, unter der Emily und ich an jenem Tage lagen, war über dreihundert Jahre alt. Ich glaube, ihm war nicht klar, dass wir lauschten. Wenn Bäume flüstern, ist es etwas zwischen Reden und Denken. Sie können sehr direkt sein, aber die meiste Zeit lassen sie einfach ihre Gedanken schweifen. Der Wind, der durch ihre Äste streicht, ist ihr ausströmender Atem. An windstillen Tagen scheint es, als holten sie nach jedem Satz tief Luft. Im Winter schliefen sie und nur selten murmelten sie im Schlaf.

Wie die meisten Bäume fürchtete Fedlum sich vor Menschen. Viele seiner Freunde waren ihnen zum Opfer gefallen. Doch er mochte ihre Kinder. Seine Gedanken verweilten einige Zeit bei zwei Jungen, die sich gegenseitig die Mutprobe auferlegten, hoch hinauf zu klettern. Dann ließ er die Erinnerung an ein junges Liebespaar Revue passieren, das im Schatten seiner Krone heimliche Küsse tauschte.

Jäh dachte er wieder an die Kinder. Ein dünner Ast brach, und einer der Jungen stürzte in die Tiefe.

Ich schreckte hoch und sah zu meiner Schwester.

„Dem Jungen ist nichts passiert“, sagte sie. Sie setzte sich auf und strich mir durchs Haar. Das tat sie oft. „Komm, gehen wir. Signore Fonti sucht uns bestimmt schon.“ Wir standen auf.

„Wer als erster am Hafen ist …“ Sie fing an zu rennen.

„Das ist unfair.“ Ich beeilte mich, ihr zu folgen. Natürlich war Emily schneller. Sie hatte längere Beine und war schon zwischen den Häusern jenseits der Wiese verschwunden, noch ehe ich dieselbe Strecke zur Hälfte zurückgelegt hatte.

Das war das letzte Mal, dass ich sie sah.

Als ich die Straße Zur See erreichte, war sie bereits weit voraus. So schnell ich konnte, folgte ich der abschüssigen Straße.

„Vorsicht, Junge“, riefen die Menschen, einige verärgert, andere lachend. Je näher ich dem Hafen kam, desto intensiver wurde der Geruch nach Fisch und der Geschmack von Salz in der Luft. Schon konnte ich die Fregatte sehen, die Fonti für unsere Abreise vorbereiten ließ. Der Name des Schiffes leuchtete in goldenen Lettern auf dem Rumpf: Seven Worlds. Wieder spürte ich dieses Ziehen im Magen, das der Gedanke an das bevorstehende Abenteuer verursachte. Welche Wunder uns wohl erwarteten?

Dann bemerkte ich das Schiff am Horizont. Etwas damit stimmte nicht. Ich wurde langsamer. Es schien noch weit weg zu sein und trotzdem war es ungewöhnlich groß. Es hatte viele Masten. Die Segel waren allesamt gehisst und blähten sich im Wind. Mit beachtlicher Geschwindigkeit kam es näher.

Und bald erkannte ich, weshalb es aus der Ferne so seltsam ausgesehen hatte. Das Schiff war groß. Dreimal so groß wie das größte Schiff, das ich je gesehen hatte. Mit gepanzertem Rumpf und sechs Schornsteinen.

Ich blieb stehen. Weitere Menschen folgten meinem Beispiel und gafften.

Vor dem vordersten Segel entrollte sich eine riesige Flagge und offenbarte das Schlimmste: das weiße Skelett eines Raben, der auf schwarzem Grund dahinflog. Das Wappen des Piratenkapitäns Black Raven.

Ein Seufzen ging durch die Menge. Nicht wenige machten auf dem Absatz kehrt und rannten. Gebannt beobachtete ich, was sich im Hafen abspielte. Ein kleines Dampfschiff hatte abgelegt und ergriff die Flucht. Sein Schornstein spie panisch Rauch in den Himmel. Vom Schiff Black Ravens ertönte ein Warnschuss. Der Dampfer dachte nicht daran, seine Geschwindigkeit zu drosseln.

Im nächsten Moment folgte das Krachen dutzender Kanonen. Wasserfontänen spritzten auf, und der Rumpf des kleinen Gefährts wurde von Kugeln durchlöchert. Innerhalb kürzester Zeit versank der Dampfer im Meer.

Vielleicht wusste der Offizier der Hafenverteidigung nicht, dass man mit Black Raven besser einen friedlichen Kompromiss fand. Vielleicht verlor er beim Anblick des sinkenden Dampfers auch schlicht die Nerven. Jedenfalls war dies der Moment, da er den Befehl gab, das Feuer zu eröffnen. Die dürftige Bemannung auf den Verteidigungsanlagen des Hafens richtete ihre Geschütze auf den Feind aus. Vereinzelte Schüsse ertönten.

Langsam richtete das Schiff seine Steuerbordseite zum Land aus. Silberne Lettern auf dem gepanzerten Rumpf offenbarten den Namen des Gefährts: Swimming Island.

Wenige Sekunden lang blickten die zu Schreck erstarrten Bürger Grey Heavens in die schwarzen Mündungslöcher von über sechzig Kanonen.

Dann eröffnete die Swimming Island das Feuer. Rauch hüllte innerhalb weniger Sekunden das Piratenschiff ein. Die Kugeln zertrümmerten die im Hafen ankernden Schiffe und Bootsstege. Sie zerfetzten die Bäume, die entlang der Promenade wuchsen, rissen Löcher in Gebäude und brachten Türme zum Einsturz. Sie durchschlugen die Bürger Grey Heavens, die zu dumm gewesen waren, sich nicht in Sicherheit zu bringen, und die dürftige Anzahl an Soldaten, die sich bis dahin im Hafen eingefunden hatte. Ihre Leiber wirbelten umher oder wurden brutal zu Boden gerissen. Blutige Fetzen sprühten durch die Luft wie rotes Konfetti.

Das Donnern der Kanonen wollte nicht enden. Längst lag der Hafen in Schutt und Asche. Leichen überall. Wie durch ein Wunder war ich noch am Leben. Ich konnte nicht begreifen. Mein Kopf war leer, meine Augen weit aufgerissen.

Emily.

Der Gedanke an meine Schwester brachte mich zur Besinnung. Sie war vermutlich schon auf der Seven Worlds gewesen, als der Beschuss begonnen hatte. Der Rauch der Kanonen war inzwischen herübergezogen und hatte das Hafenbecken und die Fregatte verschlungen.

Ohne nachzudenken, rannte ich los und tauchte in den Nebel ein. Beißender Schwefelgeruch drang in meine Nasenlöcher. Meine Augen tränten. Ich sah nur noch verschwommene Schatten und wurde langsamer.

Dann kehrte Stille ein. Grabesstille. Die Kanonen schwiegen. Niemand regte sich. Nur das Schwappen des Wassers an der Kaimauer war noch zu hören.

„Emily?“

Ich spitzte die Ohren. Nichts. War Emily vielleicht beim Anblick der Swimming Island geflohen? Oder war sie auf der Fregatte gewesen, als der Angriff begonnen hatte? Gab es die Seven Worlds überhaupt noch? Nun, nur eines war sicher: Emily war noch am Leben. Eine andere Wahrheit konnte ich nicht akzeptieren.

Gerade wollte ich ein weiteres Mal den Namen meiner Schwester rufen, da vernahm ich Stimmen. Stimmen und das Platschen von Rudern. Die Silhouetten mehrerer bemannter Boote schälten sich aus dem Nebel.

„Hoffe, da ist noch einer am Leben“, sagte jemand mit meckernder Stimme. „Hab schon viel zu lange niemanden mehr ausgeweidet.“

Ein Knurren war die Antwort.

Der erste stieß ein Lachen aus, das ebenso meckernd klang wie seine Stimme. „Na und? Ich will auch meinen Spaß.“

Das erste Boot stieß an die Kaimauer, und mehrere Gestalten kletterten an Land. Ich huschte davon und duckte mich hinter einen Trümmer. Mit klopfendem Herzen musterte ich die Silhouetten. Eine von ihnen war riesig, gewiss über zwei Meter groß, und doppelt so breit gebaut wie ein gewöhnlicher Mann. Auf seinen Schultern hockte ein Zwerg. Daneben zeichnete sich die Figur eines hageren Mannes ab, der in der einen Hand eine Sichel, in der anderen eine Pistole hielt. Ihm folgte ein Mann, der aussah wie ein Metzger: Er trug eine Schürze. In der Hand hielt er ein Hackmesser.

Schon legten weitere Boote an, und eine große Zahl an Gestalten sammelte sich im Hafen. Keine ähnelte der anderen.

„Also dann“, rief jemand. „Sehen wir nach, was es hier zu holen gibt.“ Die Menge setzte sich in Bewegung. Ich duckte mich tiefer, drückte das Gesicht an den kalten Stein und hoffte, dass meine Gestalt nahtlos mit dem Trümmer verschmolz.

„Wen haben wir denn da?“ Die Stimme war ein dunkler Bass. Eine Hand packte mich am Kragen, zog mich zurück und warf mich rücklings zu Boden. „Einen Glückspilz.“ Der Mann, der mich entdeckt hatte, war ein Koloss. Jeder seiner Oberarme dicker als meine Körpermitte. Seine Haut war schwarz, seine wulstigen Lippen zu einem gnadenlosen Lächeln verzogen. Sein Haar hatte er sich bis auf einen schwarzen Streifen in der Mitte wegrasiert.

Eine zweite Person erschien in meinem Blickfeld. Der Mann hatte kurz rasiertes Haar. Die Gesichtshaut war zur Hälfte geschmolzen, das rechte Auge milchig. In seinem unversehrten Auge lag ein irrer Glanz. Ein breites Grinsen tat sein Übriges.

Er hob eine Sichel. „Kann es kaum erwarten, ihm den Bauch aufzuschlitzen“, sagte er und lachte meckernd. Er beugte sich zu mir herab, packte mein Handgelenk und zog mich auf die Beine. „Sieh gut her, Kleiner. Nicht viele haben die Ehre, mal einen Blick auf die eigenen Eingeweide zu werfen.“ Ohne zu überlegen, ohne zu zögern, packte ich den Griff der Pistole, die aus dem Gürtel des Irren ragte. Ich zog sie heraus, richtete ihren Lauf auf das Gesicht des Schwarzhäutigen und feuerte. Die Kugel verwandelte sein Auge in ein blutiges Loch. Der Mann taumelte mit einem auf komische Weise überraschten Gesichtsausdruck rückwärts und fiel.

Der Irre schrie und schlug mir die Pistole aus der Hand. „Du kleines Stück Scheiße!“, brüllte er und erwischte mich mit der Hand so heftig im Gesicht, dass ich stürzte. Ich schmeckte Blut. „Jamaal. Dafür wirst du leiden …“ Er hob die Sichel.

„Malaka!“ Eine Frau kam aus dem Nichts und verpasste dem Irren einen Faustschlag ins Gesicht. „Wir haben noch eine Rechnung offen.“

Der Irre heulte vor Wut und Schmerz auf und warf sich auf seine Gegnerin. Kurz rangen die beiden miteinander. Wie gebannt beobachtete ich die junge Frau. Sie konnte kaum älter als Emily sein! Sie hatte ihr blondes Haar an einer Seite des Kopfes wegrasiert und sich verschlungene Ranken mit Blättern, die wie Augen aussahen, in die Haut stechen lassen. Ihre Bewegungen waren wild, kraftvoll und elegant. Schnell hatte sie ihren Gegner entwaffnet. Die Sichel fiel klingelnd zu Boden. Die Frau trat dem Irren mit Wucht vor die Brust, und der stolperte rückwärts und stürzte.

„Mach lieber, dass du wegkommst“, sagte eine leise Stimme nahe bei meinem Ohr. Ich zuckte zusammen. Ohne dass ich es bemerkt hatte, hatte sich eine kleine Frau von hinten genähert. Ihre Haut war so dunkel wie Jamaals. Ihre Augen leuchteten. „Sam hat dir das Leben nicht aus Nettigkeit gerettet, sondern weil du dich um Jamaal gekümmert hast. Noch einmal hilft sie dir nicht aus der Klemme.“

„Ella, Negrita“, rief die Frau, die die Schwarzhäutige Sam genannt hatte. Der Irre lag stöhnend zu ihren Füßen. „Gehen wir.“ Das schwarze Mädchen und Sam gingen davon.

Ich kam auf die Beine. Der Nebel hatte sich etwas gelichtet. Soldaten waren zur Verteidigung des Hafens eingetroffen. Brüllend stürzten sich die Piraten in den Kampf. Schüsse krachten. Männer schrien. Ich sah, wie der Riese den Zwerg auf seinen Schultern packte und ihn im Rennen mitten unter die Feinde warf. Er landete auf einem der Soldaten und stieß ihm einen Dolch in den Hals. Ich sah, wie der Metzger einem Gegner das Beil in den Hals rammte und ihm fast den Kopf von den Schultern trennte. Sah, wie ein Mann eine schwarze Kugel mit brennender Lunte mitten unter die Soldaten warf, wo sie nach wenigen Sekunden in einer Wolke aus Rauch und Blut explodierte. Es folgten Schreie, die von grausamen Schmerzen kündeten, vom Leiden und Sterben, eine Symphonie des Grauens.

Der Verrückte am Boden stöhnte erneut und holte mich in die Realität zurück. Er richtete sich halb auf und funkelte mich aus dem gesunden Auge an. Die linke Hand presste er auf den Bauch, mit der rechten tastete er nach der Sichel. Speichel troff ihm von der Unterlippe.

Ich wandte mich ab und rannte davon.

„Lauf!“, schrie der Irre. „Mir entkommst du nicht.“ Ich hörte, wie er stöhnend auf die Beine kam und die Verfolgung aufnahm. Bald gelangte ich an die Kaimauer und lief einfach weiter auf einen Bootssteg. Zu spät wurde mir klar, dass ich in eine Sackgasse lief. Schon ertönten die Schritte meines Verfolgers auf dem hölzernen Untergrund.

„Ich werde dich ausweiden!“

Der Steg endete vor einem Schiff, das wie durch ein Wunder den Angriff der Piraten überlebt hatte – wenn auch nicht ohne Schaden zu nehmen. Nostalgie hieß es auf dem Rumpf. Ich rannte über die Brücke hinauf zum Hauptdeck. Überall lagen Schiffstrümmer. Zersprengte Fässer, deren Inhalt sich auf dem Boden verteilte: Tee, Korn, Gewürze, Schmucksteine …

Ich riskierte einen Blick über die Schulter, stolperte über eine Leiche und wäre beinahe gestürzt. Mein Verfolger war mir dicht auf den Fersen. Ich rannte zum Hauptmast, der einen Meter über dem Deck abgeknickt war, und kletterte hinauf. Der Mast musste mit der Spitze irgendwo aufliegen, führte er doch aufwärts. Sein Ende verschwand im Trüben. Ich lief weiter. Mein Atem ging pfeifend. Der beißende Nebel brannte in meinen Lungen.

Bald erkannte ich, wohin der Mast führte. Es war das Deck der Swimming Island. Das Krähennest der Nostalgie hatte sich in der Reling des Piratenschiffes verhakt. So hätte ich mühelos auf das Hauptdeck gelangen können. Aber spätestens dort hätte mein Verfolger mich eingeholt. Panisch suchte ich nach einer anderen Fluchtmöglichkeit. Mein Blick fiel auf das Segel. Es hing in Fetzen vom Rah. Das Tauwerk der Takelage hatte sich darin verheddert, und das Segel sich in einer Luke im Schiffsrumpf der Swimming Island verfangen.

Ich zögerte nicht. Ich war damals ein Feigling, aber die Angst trieb mich zu einer mutigen Tat. Ich sprang. Im Fallen glitten meine Hände über das Segel und ich bekam eines der Taue zu fassen. Ein Ruck ging durch meine Arme. Mein Verfolger stieß einen überraschten Laut aus.

„Glaubst du, so entkommst du mir?“, brüllte er. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie auch er sprang. Er flog nah an mir vorbei, während seine Hände hoffnungslos über das glatte Segeltuch glitten. Ich betete, dass er ins Wasser stürzte. Dann verriet mir ein neuerlicher Ruck, dass auch er Halt gefunden hatte. Kurz fürchtete ich, das Segel könne sich von der Luke im Schiffsrumpf losreißen. Doch es hielt. Ich vergeudete keine Zeit und kletterte durch das Durcheinander aus Tauen, Spieren und Segeltuch. Ich spürte ein Rucken, das durch die Seile ging, und wusste, dass mein Peiniger die Verfolgung erneut aufgenommen hatte. Ich fühlte mich wie eine Fliege, die einer wahnsinnigen Spinne ins Netz gegangen war.

Unter großer Anstrengung erreichte ich die Luke und zwängte mich an der dahinter befindlichen Kanone vorbei aufs Batteriedeck. Zwielicht und klamme Kühle umfingen mich. Der Geruch von Rost lag in der Luft. Oder war es Blut?

Ich rannte zum anderen Ende des Raums. Als ich einen von Öllampen notdürftig beleuchteten Gang betrat, hörte ich, wie mein Verfolger laut fluchend mit der Kanone rang. Ich rannte weiter, obwohl meine Oberschenkel brannten, als stünden sie in Flammen. Meine Schritte hallten laut auf dem eisernen Boden. Irgendwo tief unten im Schiffsrumpf ertönte ein stählernes Stöhnen. Ratten schlüpften aus Spalten in den Wänden, begleiteten mich ein Stück, fiepten und quiekten und verschwanden wieder. Hinter mir eilten die gekreischten Flüche dem Irren voraus, überholten mich und verloren sich in den Tiefen des Schiffes.