Dreizehn. Die Mine. Band 5 - Carl Wilckens - E-Book

Dreizehn. Die Mine. Band 5 E-Book

Carl Wilckens

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Beschreibung

Godric End, Anführer der Arbeiter von Onslow, erzählt den Insassen von Zellenblock 13 seine Geschichte. Ich bin der Wiedervereinigung mit meiner Schwester so nahe wie nie. Die Bibliothek von Ad Etupiae birgt das Wissen, um Unmögliches zu vollbringen. Den Hinweisen aus Williams Tagebuch folgend reise ich zu dem Ort, der in die Geschichte des Arbeiteraufstands eingeht: zur Onslow Mine, dem berüchtigtsten Staatsgefängnis Dustriens. Ich hoffe, dort einen Zugang zu Vision, der verborgenen antiken Stadt, zu finden. Ihr sollt meine Geschichte hören. Von Xavier, dem Boss der Mine, und dem, was ich in den Eingeweiden des Berges fand. Von Gwendolyn, die mir half, mich selbst zu bezwingen. Vom Beginn des Krieges und einer dunklen Bruderschaft, die im Begriff war, die Welt ins Chaos zu stürzen.

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Carl Wilckens

13

Die Mine

Band 5

Wilckens, Carl : Dreizehn. Die Mine. Band 5. Hamburg, acabus Verlag 2021

Originalausgabe

ePub-eBook: ISBN 978-3-86282-796-1

PDF-eBook: ISBN 978-3-86282-795-4

Dieses Buch ist auch als Print erhältlich und kann über den Handel oder den Verlag bezogen werden.

Print-ISBN: 978-3-86282-794-7

Lektorat: Laura Künstler, acabus Verlag

Satz: Laura Künstler, acabus Verlag

Cover: © Annelie Lamers, acabus Verlag

Covermotiv: © pixabay.com

Karten: © Carl Wilckens

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Der acabus Verlag ist ein Imprint der Bedey & Thoms Media GmbH, Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.

_______________________________

© acabus Verlag, Hamburg 2021

Alle Rechte vorbehalten.

http://www.acabus-verlag.de

Für Wendy

Inhalt

Die Mine

Personenverzeichnis

Danksagung

Der Autor

Stille und Angst

Die herabstürzenden Splitter des Himmels hatten in Dustrien eine Zerstörung angerichtet, wie es alle Bomber aus der Flotte der Königin nicht vermocht hätten. South Harrow, eine der größten Städte des Landes, war fast vollständig unter einem Trümmer zermalmt worden. Er sah aus wie Glas, hatte jedoch keine Konturen. Gelbe Funken umspielten seine Oberfläche, während er nahtlos in den ihn umgebenden Raum überzugehen schien.

Ein weiteres Fragment des Himmels, groß wie ein Berg, war vor der Südküste des Landes niedergegangen und hatte eine Flutwelle apokalyptischen Ausmaßes ausgelöst. Sämtliche Schiffe im Umkreis von hunderten Kilometern wurden von der Wassermasse verschlungen, ehe sie mit der kinetischen Energie mehrerer heranrasender Kohlezüge das Land erreichte. Donnernd brach sie sich vor der Steilküste, auf der der Leuchtturm von Treedsgow stand, und preschte den Sithwell stromaufwärts wie eine marine Kavallerie. Die Schiffe, die im Hafen der Stadt ankerten, wurden wie Spielzeuge emporgehoben und über die Dächer des Hafenviertels geworfen. Kein Gebäude hielt der Gewalt der Katastrophe stand. Treedsgow sowie Wither, Riverton und Gatling wurden von der Landkarte gewischt wie Schmutzflecken von einer Tischplatte.

Am schlimmsten aber traf es Horizone. Ein verhältnismäßig kleiner Splitter beschädigte den dort befindlichen Elementarreaktor und löste einen Super-GAU aus. Die dabei freigesetzte entrische Energie verwandelte die Stadt in einen Moloch weißglühender Schmelze und zog die Wolken in der Atmosphäre zu sich heran. Ein riesiger, von zuckenden Lichtbögen umspielter Blitz ragte aus der Schmelze in den Himmel hinauf und verschwand im Zentrum des Wolkenstrudels. Gemächlich drehte er sich im Einklang mit dem Wirbel um sich selbst, als tanzten zwei Urgewalten einen langsamen Walzer.

Auch wenn die Folgen der herabstürzenden Himmelstrümmer in allen anderen Städten Dustriens nicht so gravierend waren, kam doch keine unbeschadet davon. Die von Erdbeben begleiteten Einschläge der Splitter ließen zwei der größten Bergwerke von Rust einstürzen. Zahllose weitere Gebäude brachen zusammen, darunter Saint Ergustin, die wohl größte Kathedrale des Landes, sowie große Teile der Zitadelle von Rust.

Das Ereignis beendete den Bürgerkrieg in Dustrien weitestgehend. Die Kirchen füllten sich mit Menschen, und das Volk bat um Vergebung für seine Sünden. Die Besatzungen mehrerer Luftschiffe entschlossen sich einstimmig zu desertieren, und flohen aus dem Land in der Hoffnung, in einem fernen Teil der Welt sicher zu sein. Als der vorerst letzte Splitter auf das Land gestürzt war, senkte sich Stille über Dustrien herab. Hätte die Angst in den Köpfen der Menschen eine Stimme gehabt, wäre wohl lautes Kreischen erklungen. Und wäre die Bedrohung, die von dem Loch im Himmel ausging, nicht so schleichend nähergekommen wie ein Seeungeheuer, das sich im Schutz des dunklen Wassers seiner Beute nähert, hätte man wohl ferne Kriegstrommeln und Hörner, die zum Angriff bliesen, gehört.

Die Angst im Zellenblock 13 von Blackworth lastete dreifach auf den Schultern der Gefangenen. Zum ersten schien das Land selbst reglos wie ein Reh in Alarmbereitschaft zu lauschen. Kein Flüstern tönte in den kahlen Kronen der Bäume, kein Zwitschern aus der Kehle eines Vogels. Die Welt schwieg und wirkte somit wie ein billiges Imitat der Wirklichkeit.

In die Furcht des Landes stimmte die der Gefangenen mit ein: Beim Anblick des aufbrechenden Himmels verloren sie allen Mut, den sie einander hätten zusprechen können. Im Chor des Schweigens, der dabei ertönte, schwang kaum wahrnehmbar die dritte Angst mit – die Sorge um eine sterbende Hoffnung, die ausgerechnet nur der Mann nähren konnte, der alle Zuversicht verloren zu haben schien. Die Gedanken der Gefangenen scharten sich um die Hoffnung wie um ein angeschossenes Tier, das auf dem schmalen Pfad zwischen Leben und Tod balancierte.

Blackworth

Nicht jeder im Zellenblock 13 fand Schlaf in dieser Nacht. Die Stille vertrieb ihn nicht weniger effizient, als es das rhythmische Donnern einer Flugabwehrkanone im Sperrfeuer getan hätte. Im Laufe der Nacht verzogen sich die Wolken und gaben das Loch im Himmel frei. Die Schwärze dahinter war nur vom dunklen Nachthimmel zu unterscheiden, weil darin keine Sterne schienen. Außerdem leuchtete sein Rand so hell und silbern wie der Riss, aus dem es entstanden war. Das Loch ließ den Himmel zweidimensional erscheinen; entlarvte die Tiefe des Universums als Lüge, die Sterne und den Mond als Farbtupfer auf der Innenseite eines sphärenförmigen Gemäldes.

Als der Morgen graute, erlöste Gesang die Gefangenen von der Stille. Obgleich der Mann jeden Ton traf, wie der Sänger feststellte, klang seine Stimme blechern auf der stillen Leinwand, auf die er sie auftrug:

»Wohin geht der Mond, wenn der Himmel verwelkt,

und das Weltall die Sterne verliert?

Wer trinkt das Meer, wenn sich der Meeresgrund wölbt,

und das Land zerreißt wie Papier?«

End schlug die Augen auf. Allem Unheil zum Trotz hatte er den Schlaf der Gerechten geschlafen. Der Grund dafür mochte sein, dass er in der Nacht zuvor kein Auge zugetan hatte, doch es wirkte so, als hätte er nichts vom Untergang der Welt zu befürchten; oder aber, als hätte er nichts zu verlieren.

End erhob sich von der Pritsche und reckte sich. Kurz sah der Sänger seinen muskulösen, von einem Netz aus Narben überzogenen Rücken, ehe sich der Mann in der Zelle gegenüber das Hemd anzog und vor das vergitterte Fenster trat.

»Zuris, mein Gott, warum hast du uns verlassen?

Hast uns – deinen Kindern – den Rücken gekehrt.

Es ist wohl die Strafe, weil wir vergaßen

dein Wort, das uns deine Priester gelehrt.«

»Wer singt da?«, fragte der Sänger und richtete sich auf seiner Pritsche auf.

»Ein Arbeiter«, antwortete Baxter in der Zelle neben End, während der Gesang allmählich leiser wurde. »Scheinbar ist die Seite eines Nebengebäudes von Blackworth eingestürzt. Jetzt liegen Trümmer auf den Gleisen. Der Mann hat sie in eine Schubkarre verladen und bringt sie weg.«

»Er soll uns mit seiner geschmacklosen Lyrik verschonen«, sagte Storm schlecht gelaunt. Am Vorabend war es dem Insassen gelungen, das Schloss seiner Zellentür zu knacken. Sein Freiraum war allerdings nur um den Zellengang erweitert worden, hatte sich doch der Rahmen der Tür nach draußen verzogen und sie eingeklemmt. Nachdem End Storm beinahe erwürgt hatte, hatte sich der Insasse wie ein geprügelter Hund in seine Zelle zurückgezogen. Er hatte ein Zahnrad des im Zellengang verteilten Uhrwerks, das zwei Tage zuvor der Synaígiesauger in der Rolle des Essensausgebers fallengelassen hatte, aufgelesen und damit den Schließmechanismus der Tür blockiert. »Glaubt er jetzt auch schon, dass das beschissene Ende der Welt kommt?« Er schnaubte. »So ein Schwachsinn.«

Baine in der Zelle gegenüber warf Storm einen zweifelnden Blick zu. »Sieh dir den Himmel an, Genosse.«

»Was gibt es da schon zu sehen?«

»Komm und sieh ihn dir an!«

Widerwillig erhob Storm sich von der Pritsche und trat auf den Zellengang. Er begab sich vor Baines Zelle und spähte durch dessen vergittertes Fenster nach draußen. »Ich sehe nichts.«

»Du musst in die Hocke gehen.«

Storm beugte sich herab, bis sein Gesicht fast den Boden berührte. »Was soll da sein?«

Baine seufzte. »Da ist ein Loch im Himmel, Mann!«

Storm lachte freudlos und kehrte kopfschüttelnd in seine Zelle zurück. »Der Himmel ist keine Wand. Er kann kein Loch haben.«

»Es ist, wie er sagt, Genosse«, brummte Arwin.

»Gewiss ist da irgendwas, das wie ein Loch aussieht«, räumte Storm ein und legte sich wieder auf seine Pritsche. »Nichts, für das die Wissenschaftler an der Treedsgow University keine Erklärung fänden.«

»Treedsgow gibt es nicht mehr.« Wie immer, wenn End sprach – und seien es so leise Worte, dass sie kaum bis ans andere Ende des Zellengangs drangen –, fing er die Aufmerksamkeit der anderen Insassen.

»Tss«, machte Storm abfällig, sobald er das mulmige Gefühl, das Ends Worte ausgelöst hatten, verdaut hatte. »Bist du jetzt auch unter die Auguren gegangen, von denen es in deinen Märchen nicht mangelt? Mir machst du nichts vor, End. Und jetzt seid still! Jemand kommt.« Storm erhob sich abermals von der Pritsche und bezog neben der Tür zum Zellenblock Posten. In der Hand hielt er die Eisenstange aus dem Gehäuse der Lampe des Synaígiesaugers, mit der er das Schloss seiner Zelle geknackt hatte. Schritte näherten sich auf der anderen Seite.

»Du wirst sterben, Storm«, sagte End gleichgültig den Blick nach wie vor aus dem Fenster gerichtet. Die Gewissheit, mit der er die Worte sprach, jagte dem Sänger einen Schauer über den Rücken.

»Storm …«, sagte er schwach, weil er wusste, dass sein Genosse nicht zur Vernunft zu bringen war.

»Maul halten!«, zischte Storm. Auf der anderen Seite der Tür ertönten Stimmen.

»Was ist los?«

»Die Tür ist eingeklemmt, verdammte Scheiße!«

»Schwächling! Lass mich mal versuchen.«

Schnaufen.

»Wer ist jetzt der Schwächling, hä?« Es folgten mehrere Schläge, als jemand mit Wucht vor die Tür trat.

Schritte entfernten sich. »Was hast du vor?«

»Was schon? Ich hole eine Spitzhacke. Wir müssen den Türrahmen erweitern.« Die Stimmen entfernten sich. Einige Minuten lang, in denen der Sänger überlegte, wie er Storm davon überzeugen konnte, sich in seine Zelle zurückzuziehen, herrschte Stille.

Dann kehrten die Stimmen zurück. »… lassen wir die Scheißkerle nicht einfach verhungern? Der schwarze Baron wird sie eh hinrichten lassen. Das hoffe ich jedenfalls.« Die Gefangenen in den jeweils gegenüberliegenden Zellen warfen einander beunruhigte Blicke zu. Waren das dieselben Essensausgeber wie vom Vortag?

Schnaufen und Schläge am Türrahmen ertönten. Mit grimmiger Miene umfasste Storm die Eisenstange.

»Na bitte!«, rief einer der Männer auf der anderen Seite nach einer Weile. Die Spitzhacke fiel klappernd zu Boden, und die Tür zum Zellengang schwang auf. Storm trat vor, die Eisenstange erhoben bereit, sie seinen Widersachern in die Brust zu stoßen.

Ein Schuss ertönte, und die Insassen zuckten zusammen. Storm stolperte rückwärts in den Zellengang und stürzte. Die Kugel hatte ihn in den Bauch getroffen. Er hustete, und Blut spritzte über sein Kinn. Der Mann, der geschossen hatte, baute sich über ihm auf, richtete den Lauf seines Revolvers auf Storms Kopf und zog wiederholt den Abzug durch, bis keine Kugel mehr in der Trommel steckte. Der Kopf des Gefangenen war zu einer albtraumhaft deformierten Grimasse geworden. Sein Blut hatte die Wände gesprenkelt und war bis zu George gespritzt, der sich mit schreckweiten Augen an die Rückwand seiner Zelle drückte.

»Seht ihr, was passiert, wenn ihr versucht, uns zu verarschen?«, brüllte der Mann, der Storm erschossen hatte, und fuchtelte mit dem Revolver herum. »Er war nicht der Erste, der versucht hat, zu entkommen, nachdem sich eine Zellentür durch das Beben geöffnet hat.« Er rammte den Revolver ins Holster, packte Storm bei den Beinen und schleifte ihn eine Blutspur hinter sich herziehend zur Tür hinaus.

Wie auf einem roten Teppich betraten zwei weitere Männer den Zellengang. Einer davon – ein magerer Kerl mit grauem Bart und müdem Blick – ging in Handschellen. Der Gefängniswärter schloss die Tür der ersten Zelle auf der rechten Seite auf und beförderte den Neuankömmling mit einem groben Stoß hinein.

»Sagt Hallo zu eurem neuen Mitgefangenen«, sagte er, nachdem er die Zellentür ins Schloss geworfen hatte. Sein Blick fiel auf die Eisenstange, die Storm fallengelassen hatte. »Was zum …?« Er hob sie auf, betrachtete sie mit einer Miene, als versuche er sich an einer schwierigen Kopfrechnung, und sah schließlich in Storms Zelle. »Mir scheint, die Tür hat sich gar nicht durch das Beben geöffnet«, rief er seinem Partner zu. Seine Schritte schmatzten auf dem blutverschmierten Boden, als er Storms Zelle betrat, mit der Lampe wieder herauskam und den Zellengang verließ. Er warf die Tür hinter sich ins Schloss und schob den Riegel vor. Niemand wagte, ein Wort zu sagen, ehe sich die Schritte des Wärters entfernt hatten.

»Scheiße, Mann!«, keuchte George schließlich und wischte sich Storms Blut vom Gesicht. »Was ist in sie gefahren?!«

»Storm«, murmelte Ronald.

»Verdammt!«, brüllte Baine und rammte die Faust wiederholt gegen die Zellenwand, dass seine Fingerknöchel bluteten. »Wenn ich hier rauskomme, werde ich diese Mistkerle erwürgen!«

Dem folgten mehrere Minuten betretenen Schweigens.

»Waren das die gleichen Kerle wie gestern?«, fragte Baxter schließlich.

»Ich denke schon«, murmelte Arwin. »Möge Zuris sich der Seele unseres Genossen annehmen.«

»Mit denen stimmt doch irgendwas nicht«, meinte der Sänger mit schwacher Stimme und sah zu End.

Sein Gegenüber wandte sich um. »Sie sind von Hirnmarodeuren befallen. Die Bösen Geister strömen derzeit in großer Zahl durch das Loch im Himmel in unsere Welt.«

»Durch das Loch im Himmel? Also liegt dahinter die andere Seite? Die Welt der Enerphagen?«

End nickte. »Wir befinden uns in einer gewaltigen Synaígieblase. Ihre Innenwand umschließt den ganzen Planeten, ihre Außenwand die Welt der Enerphagen – schwer vorstellbar, ich weiß, aber die vierte Dimension ist nun mal komplex. Jemand hat versucht, uns vor den Bösen Geistern zu beschützen, indem er uns versteckte und sie zugleich in ihrer Welt einschloss.«

»Hey, Neuer«, rief Baine. »Wie heißt du?«

»Bill«, antwortete der Mann. Seine Kehle war eingerostet, seine Stimme farblos. Er räusperte sich und wiederholte seinen Namen mit demselben Ergebnis.

»Kommst du klar?«, forschte Baine nach.

»Der Himmel fällt uns auf den Kopf«, sagte Bill heiser. »Und du fragst, ob ich klarkomme?« Baine hätte wohl in einem Anflug von Galgenhumor freudlos gelacht, hätte sein neuer Zellennachbar nicht so bitterernst geklungen. »Heute Nacht sind alle Insassen im Zellenblock 1 einer nach dem anderen durchgedreht – alle außer mir. Liam zuerst, als er plötzlich anfing, seinen Kopf gegen die Zellenwand zu donnern, bis er das Bewusstsein verlor. Als er wieder zu sich kam, biss er sich die Pulsadern durch und verblutete. Danach war Stuart an der Reihe. Hintereinanderweg nahmen sich meine Zellengenossen das Leben … Truman, Brandon, Walto, Luke, Brook, Arnold und zuletzt Mick. Als ich dachte, dass nun meine Zeit gekommen war, betraten die beiden Wärter den Zellenblock. Teile der Decke waren durch die Erdbeben runtergekommen, und sie wollten uns auf die anderen Zellenblöcke aufteilen. Der Anblick meiner neun toten Genossen ließ sie völlig kalt. Sie lachten bloß und meinten, wer zu dumm zum Leben sei, habe es verdient, zu sterben.« Er brach ab und rang einen Moment lang um Fassung. »Das ist die Apokalypse, nicht wahr? Der Himmel zerbricht, und die Menschen fallen dem Wahn anheim.«

»Ist für das, was in Zellenblock 1 geschehen ist, vielleicht auch ein Hirnmarodeur verantwortlich?«, wandte sich der Sänger beunruhigt an End. Sein Gegenüber antwortete nicht. Wieder einmal starrte er an die Betonwand seiner Zelle, als handelte es sich um ein Panorama. Hatte er Bill überhaupt zugehört? »Hey!«

Erst jetzt schüttelte er den Kopf. »Was der Neue sagt, klingt eher, als wären seine toten Zellengenossen nicht Herren ihrer selbst gewesen. Dazu wäre ein Folkore nicht imstande.«

»Also ein Alb? Oder ein Norn?«

»Alben laben sich nicht am Leid der Menschen«, meinte End. »Und Norn gehen für gewöhnlich subtiler vor. Vermutlich war es ein nicht kategorisierter Enerphag mit instabiler Dunkler-Mana-Aktivität.«

»Müssen … wir damit rechnen, dass er auch hierher in den Zellenblock 13 kommt?«, forschte der Sänger nach.

»Wär möglich«, entgegnete End.

Seine Teilnahmslosigkeit brachte den Sänger an den Rand der Verzweiflung. »Es muss eine Möglichkeit geben, uns zu schützen«, sagte er händeringend.

»Knoblauch schützt einen vor den meisten Folkloren und nicht kategorisierten Enerphagen«, entgegnete End ungerührt. »Frag mich jetzt nicht, wie wir den auftreiben sollen.«

Wieder löste betretene Stille die Konversation im Zellenblock 13 ab.

»End weiß scheinbar, was hier vor sich geht«, erklärte Baine seinem neuen Zellennachbarn und kratzte sich am Nacken. »Was er erzählt, klingt vollkommen verrückt. Aber nach allem, was passiert ist … lass es mich so sagen: Wenn ich noch meiner eigenen Wahrnehmung glauben kann, dann auch ihm.«

»End?«, wiederholte Bill. »Also ist es wahr? Godric End ist in diesem Zellenblock?« Die anderen Insassen bejahten. »Ich war in Onslow dabei, Mann!«, sagte Bill aufgeregt.

»Ein historischer Tag«, erwiderte End spöttisch.

»End erzählt uns, was wirklich passiert ist«, brummte Arwin. Ihm war anzuhören, dass die Wahrheit ihn nicht glücklich machte.

»In Onslow?«, fragte Bill verständnislos.

»Generell«, entgegnete Jed.

»Kannst du ihm nicht eine kurze Zusammenfassung geben, End?«, fragte Baxter seinen Zellennachbarn.

»Klar«, entgegnete End. Baxter stutzte. Er hatte nicht damit gerechnet, dass End so leicht einwilligen würde. Immerhin kostete es sie eine Zigarette pro Tag, damit er ihnen seine Geschichte erzählte.

»Wenn du auch noch deine Füße in den Zellengang streckst, könnte ich sie dir währenddessen massieren«, fügte End in sarkastischem Tonfall hinzu.

»Ich meinte ja nur …«, sagte Baxter kleinlaut.

»Und wenn du zwei Zigaretten bekommst?«, schlug Jed vor. Nun wirkte End interessiert.

Ehe er antworten konnte, hatte der Sänger seinen Tabakvorrat überprüft. »Dann habe ich vielleicht nicht mehr genug Tabak für den Rest der Geschichte«, meinte er.

»Ich habe Tabak«, meldete sich Bill zu Wort. Der Sänger glaubte zu sehen, wie sich Ends Nasenflügel blähten, als könnte er das Kraut wittern, während der Neuankömmling eine Zigarette drehte. Bill reichte sie an Baine weiter, Baine an Arwin, Arwin an Baxter. Letzterer hielt die Zigarette in den Zellengang, sodass End sie sehen konnte.

»Haben wir einen Deal?« Wortlos trat End vor die Zellentür, steckte einen Arm durch die Gitterstäbe und hielt die Hand auf. Baxter legte die Zigarette hinein, und End zog sich in seine Zelle zurück wie ein Raubtier in eine Höhle, um seine Beute zu verspeisen. Er holte die Streichholzschachtel, die ihm der Sänger am Tag seiner Ankunft in Blackworth zugeworfen hatte, aus der Hosentasche und steckte sich die Zigarette zwischen die Lippen. Dann zog er eines der Zündhölzer über seine Schuhsohle und entzündete den Tabak.

Was noch riefe jenen Ausdruck der Verzückung in Ends Miene wach, wie es der jeweils erste Zug einer Zigarette tut?, fragte sich der Sänger. Nicht viel, vermutete er.

»Ich schätze«, begann End, sobald er die Zigarette aufgeraucht hatte, »du kennst die Geschichten vom Unterrumpf. Du weißt, dass ich dort aufgewachsen bin. Du hast vielleicht auch schon mal gehört, dass ich eine Zeit lang für eine der Banden auf der Swimming Island als Auftragsmörder gearbeitet habe. Und natürlich kennst du die Geschichten davon, wie ich Baron Enoch Ashbee tötete.« End holte einmal tief Luft. »Wovon du gewiss noch nie gehört hast, ist das Tagebuch von William Walker. Du weißt nicht, dass er meine Schwester tot aufgefunden hat – eingefroren in einer Kühltruhe – und versucht hat, sie mithilfe der Alchemie ins Leben zurückzuholen.«

»Alchemie?«, wiederholte Bill. »Soll das ein …« George zischte warnend und legte einen Finger auf die Lippen.

»Du denkst, Böse Geister gibt es nur in den Mythen der Norvolken, und dass Auguren und Alchemisten nicht existieren«, fuhr End fort, als wäre er nicht unterbrochen worden. »Du hast noch nie von Idun gehört, oder dass die entrische Energie, als die wir sie kennen, ein Bewusstsein ist. Und auch wenn die ganze Welt scheinbar mehr über mich weiß, als mir lieb ist, ist doch recht wenig über jenen Abschnitt meines Lebens bekannt, der zwischen dem Untergang der Swimming Island und der Eskalation in Onslow liegt. In Treedsgow stieß ich auf Damon, den Banditenanführer, dem Insomnium, ein alchemistisches Gebräu, zu übermenschlichen Kräften verhalf. Ich lernte Rocío kennen, Damons Exgeliebte und ehemalige Alchemistin, und Roberto Fonti, der zu einem meiner treuesten Verbündeten wurde, nachdem ich ihm und Maria, der ehemaligen Perle eines Lokals namens Fourier, das Leben gerettet hatte. Ich schloss Freundschaft mit Jasper, der zum Preis dafür, dass er mich vorm Tod bewahrte, mehrere Viertel in der Welt der Bösen Geister eingeschlossen war, und machte Bekanntschaft mit Waterstone, Professor für Mathematik an der Treedsgow University. Ich brach in die Nervenheilanstalt Sankt Laplace ein, begegnete den Hibridia und jagte das Hotel Whitehall Nord in die Luft. Ich fand einen Weg ins Universitätsviertel von Treedsgow und half Waterstone bei der Erforschung der segovianischen Technologie – nicht immer aus freien Stücken, pflanzte der Professor mir doch bei der ersten Gelegenheit ein Relikt aus der Antike, eine sogenannte Segovia-Kapsel, in die Brust ein. Ich wurde Zeuge davon, wie mein Spiegelbild lebendig wurde, und entdeckte die vollständig erhaltene Bibliothek von Ad Etupiae im Erdreich unter Treedsgow. Ich las den ersten Teil der Memoiren von Norin, dem Unbezwungenen, und erfuhr, wie die Zivilisation vor tausenden von Jahren ausgesehen hat.« End verstummte. Irgendwie schaffte er es, dem kurzen Schweigen, das er anstimmte, eine Prise Amüsement beizumengen. »Ich weiß, dass dir nun das ein oder andere spöttische Wort auf der Zunge liegt. Schluck es runter, bevor dir eines davon über die Lippen stolpert, oder ich werde nicht fortfahren, ehe ich nicht eine weitere deiner kostbaren Zigaretten bekommen habe.«

Rattle und Cat

Rattle atmete ruhig. Die Hände lagen auf seinen Oberschenkeln, während er neben seinen Brüdern und Schwestern kniete und darauf wartete, dass Meister Dimir die Zwiesprache beendete. Nicht ein Mal öffnete er die Augen, um einen Blick auf das zu werfen, was im dunklen Spiegel zu sehen war. Nicht, dass er neugierig gewesen wäre. Er befand sich in einem Zustand der Meditation, in dem ein Gefühl wie Neugierde nicht existierte. Er lauschte seinem Atem, seinem Herzschlag und dem Klicken der Minenkrebse; dem steten Rauschen des Windes, der einen Weg durch die natürlichen Tunnel und die in den Berg gegrabenen Schächte suchte, und der Stille. Die kühle, feuchte Luft vereinte seine Gedanken zu einem ruhig dahintreibenden Fluss, während der Granitgeruch dieses Ortes mit jedem Atemzug in sein Herz einzog, dessen Schlag längst so ruhig war wie die Erde selbst.

Goldgrüner Lichtschein kündete von einem Minenkrebs, der sich von links näherte; friedliche Lebewesen, sofern man sie nicht bedrohte. Es war schon öfter vorgekommen, dass den Scheren ein Finger zum Opfer gefallen war. Das Tier konnte Rattle jedoch genauso wenig überraschen wie er sich selbst. Solange er das Auge des Einklangs geöffnet hatte, spürte er es, als wäre es ein Teil von ihm.

Dimirs Kleidung raschelte, als er sich erhob. Rattle tauchte aus dem Zustand der Meditation auf und öffnete die Augen. Er befand sich in einer natürlichen Höhle, in deren Zentrum auf einem Podest am Ende einer kurzen Treppe ein über zwei Meter hoher Spiegel stand. Zwei Säulen flankierten ihn und verliehen ihm das Aussehen eines Portals. Sechs oder sieben Minenkrebse grasten in der Höhle, einer vor Rattles Knien, die langen Stielaugen auf ihn gerichtet und mit einem wild wuchernden Kristall auf dem Panzer, dem ein goldgrünes Licht innewohnte: die Hauptlichtquelle in der Onslow Mine.

»Der dunkle Spiegel hat gesprochen«, verkündete Dimir feierlich. Er war ein Mann mittleren Alters mit Glatze und Adlernase. Außer der Hose aus dunklem Stoff trug er nur einen schwarzen Umhang, der von einer aus einem Spiegelsplitter bestehenden Schnalle zusammengehalten wurde. »Es ist mir eine Ehre, die Worte von ihm empfangen zu dürfen, die verkündeten, dass wir – das heißt, die Mitglieder unserer Bruderschaft – von nun an sowohl immun gegen den Grubenwahn sind als auch von den Wahnsinnigen nicht länger angegriffen werden.« Ein Raunen ging durch die Reihen der für gewöhnlich stets gefassten Schüler. Sogar Rattles Herz machte einen aufgeregten Hüpfer. Wenn einer der Meister mit seinen Schülern das Heiligtum aufsuchte, dann normalerweise, um in Erfahrung zu bringen, ob der dunkle Spiegel einen der Zöglinge auf die Probe stellen wollte. Rattle hoffte schon seit Langem darauf, einen weiteren Auftrag zu erhalten. Doch Dimirs Worte machten seine Enttäuschung mehr als wett. Der Grubenwahn und die daran Erkrankten stellten keine Gefahr mehr für die Bruderschaft dar! Das bedeutete, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis sie die Onslow Mine verlassen konnten.

»Erhebe dich, Tamora. Gib den anderen Meistern Bescheid.« Eine Schülerin aus den Reihen der Knieenden kam auf die Beine und verließ im Eiltempo das Heiligtum. »Während der dunkle Spiegel nun nach dem schnellstmöglichen Weg sucht, auf dem wir die Mine verlassen können, gibt es einen Auftrag von großer Wichtigkeit, der erledigt werden muss«, fuhr Dimir an den Rest gewandt fort. Noch einmal schlug Rattles Herz schneller. Von großer Wichtigkeit? Wenn der Spiegel ihn dazu berief, diesen Auftrag zu erledigen, wäre er der eindeutige Günstling. Er war mit nur sechzehn Jahren der fähigste Schüler Dimirs; vielleicht sogar der Beste unter allen Schülern. Die vermutlich Einzige, der er nicht das Wasser reichen konnte, war Gwendolyn. Sie hatte einen Weg gefunden, das Auge des Einklangs zu öffnen, den die Meister nicht lehrten – einen, der viel effizienter war als jeder andere. Vor einigen Jahren, als sie noch der Bruderschaft angehört hatte, hatte Rattle ihr ständig am Rockzipfel gehangen. Er hatte alles über ihre Methodik erfahren wollen. Doch dann hatte Gwendolyn beschlossen, dem Spiegel den Rücken zu kehren. Inzwischen konnte Rattle nicht mehr glauben, dass er einst zu ihr – einer Verräterin – aufgeblickt hatte.

Seine somit einzige Konkurrentin war die gleichaltrige Cat. Auch seine Schwester hatte sich die ein oder andere Lektion von Gwendolyn lehren lassen. Tatsächlich war sie so anmaßend gewesen, zu behaupten, sie könne es mit ihm aufnehmen. Rattle hatte sie bloß eines verachtenden Blickes gewürdigt.

»Erhebe dich«, sagte Dimir und legte eine dramatische Pause ein. »Favorit des dunklen Spiegels, Rattle.« Ohne eine Miene zu verziehen, stand Rattle auf und ging an dem Minenkrebs vorbei, der ihm mit den Scheren drohte.

»Erhebe dich …«, wiederholte Dimir, woraufhin Rattle auf halbem Wege zu seinem Meister stutzte. Er war doch längst auf den Beinen. »… Favoritin des dunklen Spiegels, Cat.« Rattle traute seinen Ohren nicht. Der Spiegel hatte zwei Schüler auserwählt? Er warf einen Blick zurück und sah seine Mitschülerin aus den Reihen der knienden Brüder und Schwestern treten. Sie ging barfuß, hatte kein Haar auf dem Kopf und war übersät mit Tätowierungen. Außer einer leichten Hose aus weißem Stoff trug sie wie alle weiblichen Schüler nur eine Brustbinde. Weder ließ ihre Miene erkennen, dass die Worte ihres Meisters sie überrascht hatten, noch gab einer der anderen Schüler einen Laut von sich, als wäre es das Natürlichste auf der Welt, dass der dunkle Spiegel zwei Schüler auswählte. Erst als Cat zu ihm aufschloss, setzte Rattle seinen Weg an ihrer Seite fort. Vor Dimir kniete seine Schwester nieder. Rattle hingegen begegnete dem Blick des Meisters auf Augenhöhe.

»Was hat das zu bedeuten?«, fragte er kalt.

»Der dunkle Spiegel ist unergründlich«, erwiderte Dimir ruhig. Eine unterschwellige Drohung begleitete seine Worte.

»Noch nie sind zwei Schüler aufgerufen worden«, begehrte Rattle auf. »Hält er mich nicht für fähig genug, seine Aufgabe allein zu bewältigen?«

»Es bedeutet«, erwiderte sein Meister und begegnete Rattles Blick mit kühler Ruhe, »dass ihr es mit einem Gegner zu tun bekommen werdet wie noch kein Schüler zuvor. Aber wenn dein Stolz dir verbietet, den Auftrag zu zweit durchzuführen, sei dir gewährt, diese Ehre abzugeben.« Rattle knirschte mit den Zähnen. Obwohl Cat vollkommen reglos und mit gesenktem Haupt vor ihrem Meister kniete, spürte er ihren Spott. Widerwillig folgte er ihrem Beispiel und ging auf die Knie. Mit gesenktem Blick sah er nur noch den Schatten seines Meisters, der sich diffus im Licht eines hinter ihm grasenden Minenkrebses abzeichnete. Er breitete die Arme aus und verkündete feierlich: »Der dunkle Spiegel hat dich, Rattle, und dich, Cat, dazu auserkoren, uns vor einer nahenden Bedrohung zu schützen. Ein Mann, den selbst der Tod fürchtet, wird kommen. Man verbannte ihn einst in die Unterwelt, doch kehrte er als ihr König daraus zurück. Der Einzige, der ihm Angst einflößt, ist er selbst. Er ist ein kaltblütiger Kämpfer, der nie zögert, ein Krieger, der keine Waffen zum Töten braucht, weil seine bloßen Hände keine minder gefährlichen Werkzeuge sind. Er wird zur Onslow Mine kommen und versuchen, zum dunklen Spiegel vorzudringen. Und mit ihm kommt unser aller Ende. Ihr müsst es verhindern. Der Spiegel erwählte euch beide, nicht weil er nicht in eure Fähigkeiten vertraut, sondern weil er unseren Feind respektiert. Nun erhebt euch und bereitet euch auf eure Aufgabe vor.« Rattle und Cat kamen auf die Beine. Hinter ihnen raschelten zwei Dutzend Hosen aus schlichtem Stoff, als sich auch die restlichen Schüler – allesamt kahlköpfig und tätowiert – erhoben.

»Ich werde diesen Kerl alleine erledigen«, sagte Rattle so leise, dass nur Cat ihn hören konnte, während alle zum Ausgang der Höhle strömten.

»Wir werden sehen«, erwiderte sie mit einem provokativen Lächeln, das Rattles Selbstbeherrschung auf eine harte Probe stellte.

End

Das Ticken einer Schrankuhr weckte mich. Meine Orientierung kehrte mit einigen Sekunden Verzögerung zu mir zurück: Ich war auf dem Sofa in Waterstones Wohnzimmer eingeschlafen, als ich die nächste Seite von Williams Tagebuch hatte lesen wollen.

Die Tagebuchseite!

Ich öffnete die Augen und setzte mich auf. Tastete meinen Oberkörper ab und blickte mich hektisch um. Die Seite war nirgends zu sehen. Ich stand auf und riss die Sofapolster herunter. Nichts. Jemand musste sie mir abgenommen haben; Waterstone oder vielleicht Rocío. Gerade wollte ich nach ihnen rufen, da bemerkte ich die Stille. Keine Schritte tönten vom oberen Stockwerk. Keine gedämpften Stimmen sickerten durch die Wände. Nur das Ticken der Schrankuhr war zu hören. War ich allein? Unmöglich. Rocío und Jasper durften das Haus nicht verlassen. Sie waren ungebetene Gäste im Universitätsviertel und würden im Fall Professor Keens, der von Nikandros ermordet worden war, vermutlich verdächtigt werden. Vielleicht waren sie mit Waterstone durch den Zugang im Keller des Professors in die Kanalisation hinabgestiegen, um die Bibliothek von Ad Etupiae zu erkunden.

Dennoch … diese Stille war unheimlich. Auch von draußen hörte ich nichts; weder das Geklapper eines vorbeifahrenden Fuhrwerks, noch das Lachen der Kinder, die auf der Straße spielten – eine Klangszene, die so selbstverständlich war, dass man sich ihrer erst bewusst wird, wenn sie verstummt.

Mit steifen Schritten ging ich zu einem der Fenster. Die Sonne stand tief. Ihr Licht fiel rotgolden ins Zimmer, als stünde ein verfrühter Herbsttag an. Oder endete er? Noch orientierungslos vom Schlaf konnte ich nicht sagen, ob die Sonne auf- oder unterging.

Tick … tack …

Ich warf der Schrankuhr einen wütenden Blick zu. Wie sie die Stille in gleichgroße Scheiben schnitt, machte sie mich noch nervöser als die Lautlosigkeit selbst. Ich verließ Waterstones Wohnzimmer, eilte durch den Flur und trat hinaus auf die Straße. Die Stille rührte nicht von Waterstones vier Wänden her, wie ich gehofft hatte. Sie schwebte auch über den Häusern der Stadt wie die Präsenz einer unsichtbaren, gottähnlichen Wesenheit. Kein Vogel zwitscherte, kein Windhauch rührte sich. Dafür hörte ich nach wie vor das Ticken der Schrankuhr.

Ich schickte den Blick die Straße hinauf und hinab. Niemand. Das Licht der tiefstehenden Sonne zeichnete lange Schatten auf das Pflaster. Am Ende der Straße bemerkte ich einen Gegenstand, der aus dem Boden ragte. Ich ging darauf zu und erkannte, dass es ein Schwert war, das in den Fugen des Straßenpflasters steckte. Ich zog es heraus und betrachtete es. Es war eine brutale Waffe aus schwarzglänzendem Stahl. Im goldenen Licht der Sonne wirkte das Material beinahe durchsichtig. Der Knauf des Schwertes war der Totenschädel irgendeines kleinen, menschenähnlichen Lebewesens, seine Schneide gezackt und seine Klinge spitz zulaufend und so breit und lang, dass es die Waffe unhandlich machte; zum Kämpfen ungeeignet. Sie schien eher dafür geschaffen worden zu sein, auf möglichst schmerzhafte und blutige Weise zu töten. Ich drehte sie im Licht der Sonne und bemerkte entlang der Hohlkehle qualvoll verzogene Gesichter knapp unterhalb der dunklen Oberfläche der Klinge; fast so, als banne die Waffe die Seelen ihrer Opfer in den Stahl, aus dem sie geschmiedet worden war.

Tick … tack …

Ich schüttelte den Kopf, wie um das Ticken zu verscheuchen, als wäre es eine lästige Mücke, die um mein Ohr herumschwirrte.

Tick … tack …

Ich schlug mir aufs Ohr …

Tick … tack …

Schlug mir gegen die Schläfe, als hoffte ich, dass Ticken aus meinem Kopf werfen zu können.

Tick … tack …

Wutentbrannt hob ich das Schwert und ließ es senkrecht herabfahren, wie um einen unsichtbaren Feind der Länge nach zu spalten. Die Klinge traf auf die Straße und zerschmetterte das Pflaster. Ein Riss tat sich im Boden auf. Schnell wie ein Blitz weitete er sich aus und verschwand unter der nächsten Hauswand. Eine Sekunde lang schien die Welt den Atem anzuhalten. Dann brach das Haus knirschend entzwei. Die beiden Hälften drifteten voneinander ab, und Gesteinsbrocken regneten in den Riss im Boden, während er immer breiter wurde und meine Beine spreizte. Ich rettete mich auf die rechte Seite, unfähig, den Blick von dem gespaltenen Gebäude abzuwenden. Trümmer und Möbelstücke fielen aus den aufklaffenden Haushälften in die Tiefe.

Weitere Häuser brachen entzwei, während der Riss sich verzweigte. Das Donnern einstürzender Gebäude und ein Chor panischer Schreie aus den Kehlen der Menschen in ganz Treedsgow lösten die Stille ab.

Die Welt zerbrach!

Plötzlich waren die Straßen voller rennender Gestalten. Einige der Segmente, die einst der sichere Boden unter unseren Füßen gewesen waren, sackten herab. Menschen fielen schreiend in die Tiefe. Weitere Gebäude entlang des ersten und größten Risses stürzten ein und gaben den Blick aufs Meer frei. Ein gewaltiger länglicher Strudel ließ ahnen, dass auch der Meeresboden auseinanderbrach.

»Godric? Godric!«

Ich fuhr aus dem Schlaf. Meine Hand fand den Griff der Machete. Ein Traum! Es war bloß ein Traum gewesen! Ich war zurück in Waterstones Wohnzimmer. Der Professor, Rocío und Jasper standen vor mir. Die Alchemistin musterte mich besorgt, der ehemalige Honor aus Izzian belustigt, Waterstone mit gemischten Gefühlen.

»Bist du in Ordnung?«, fragte Rocío.

Ich setzte mich auf, stützte die Ellbogen auf die Knie und fuhr mir durchs Haar, während ich darauf wartete, dass sich mein Herzschlag beruhigte. Nach einer Weile tastete ich meine Kleidung ab und fand in der Brusttasche meines Hemdes, wonach ich gesucht hatte: eine halb aufgerauchte Schachtel Zigaretten.

»Ich wette, er hat von mir geträumt«, sagte Jasper. In seinen blauen Augen blitzte der Schalk. »So, wie der um sich geschlagen hat …«

»Ich habe es eigentlich nicht so gerne, wenn hier geraucht wird«, bemerkte Waterstone spitz, als ich mir eine Zigarette zwischen die Lippen steckte. Ich überhörte ihn, zog ein Streichholz über die Tischplatte seines schicken Wohnzimmertischchens aus Akazienholz und steckte die Zigarette an. Waterstone rümpfte die Nase, während ich mein Gesicht in den Rauch des ersten Zuges hüllte. Erst jetzt schlug mein Herz in normalem Tempo weiter.

»Hat jemand …«, setzte ich an, als ich die nächste Seite von Williams Tagebuch im Spalt zwischen den Sofapolstern entdeckte. Ich zog sie heraus und fing an zu lesen:

35. Blätterfall 1713, Lohntag …

»Ich bin eigentlich hier, um mich mit euch zu unterhalten«, sagte Waterstone bissig. Ich hob den Blick und nahm die Zigarette aus dem Mund.

»Was gibt’s?«

»Wir müssen ein paar Regeln klarstellen«, sagte der Professor händeringend. »Ihr seid erst seit zwei Nächten hier und habt schon die Hälfte der Vorräte aufgebraucht.« Seit zwei Nächten? Ich musste über vierundzwanzig Stunden geschlafen haben.

»Die Hälfte der Vorräte?«, fragte ich und sah zu Jasper. Ich hatte nichts davon gegessen, wie mein knurrender Magen mich in diesem Moment erinnerte, und ich glaubte kaum, dass Rocío die Übeltäterin war.

Der Izzianer hob abwehrend die Hände. »Sieh mich nicht so an. Ich esse normal viel.« Ich hob die Brauen. »Na schön, vielleicht ein bisschen mehr als gewöhnlich. Verzeiht mir, wenn mich der Genuss des Essens etwas überwältigt, nachdem ich viertellang auf der anderen Seite ohne habe durchstehen müssen. Um dich zu retten, wohlgemerkt«, fügte er hinzu. Wenn er glaubte, dass ich mich ihm gegenüber deshalb verpflichtet fühlte, irrte er sich gründlich.

»Aber musst du dich unbedingt an meinem guten Wein vergreifen?«, fuhr Waterstone ihn an. Sein perfekt gerader Schnurrbart erzitterte vor Wut. »Wenn du dich unbedingt be­saufen musst, dann schicke ich June los, damit sie dir Fusel aus dem Hafen besorgt.«

»Meinetwegen«, erwiderte Jasper gelangweilt.

»Und das hier«, fuhr Waterstone, dem der Zorn offenbar Mut verlieh, an mich gewandt fort und pflückte mir die Zigarette aus den Fingern, »… ist ebenfalls nicht erwünscht.« Kurz schien es, als wolle er sie auf seinem Akazientischchen ausdrücken. Dann besann er sich eines Besseren und ging zum Fenster, riss es auf und schnippte sie auf die Straße.

Ich unterdrückte den Impuls, mir die nächste Zigarette anzustecken, und hob in beschwichtigender Geste die Hände. »Einverstanden«, sagte ich mit ruhiger Stimme. »Ich rauche nicht hier drin, und Jasper hält sich zurück.«

»Sagt wer?«, fragte der Izzianer. Ich erwiderte seinen he­rausfordernden Blick mit kühler Miene. Es war offensichtlich, wo­rauf er hinauswollte: Er hatte seine Schuld mir gegenüber beglichen. Ich hatte ihm nichts mehr zu sagen.

»Der Mann, dessen Gastfreundschaft du in Anspruch nimmst«, erwiderte ich. »Andernfalls geh und erkläre dem Konstabler, was du im Universitätsviertel zu suchen hast. Wenn sie dich nicht einbuchten, schmeißen sie dich raus. Damon wird sich freuen, dich wiederzusehen.« Bevor ich Jaspers Leben verschont hatte, war er einer von Damons Gardisten gewesen. Der Banditenanführer war einer der wenigen, die sein Gesicht kannten, das er zu vermummen gepflegt hatte.

Jasper lächelte breit. »War nur Spaß, Mann.«

Ich musterte ihn aufmerksam. Die Zeit hinter den Spiegeln hatte ihn verändert. Das war ein anderer Jasper, der die Ideen von Ehre, die ihm ein Orden aus Izzian – die Honoren – einst beigebracht hatte, in den schwarzen Nebeln der Spiegelwelt zurückgelassen zu haben schien. Wunderte mich das? Auch ich hatte eine Menge von meinem früheren Ich im Unterrumpf zurückgelassen.

»Wäre damit alles geklärt?«, fragte ich an Waterstone gewandt.

»Nicht ganz«, sagte Waterstone und rückte seine Brille zurecht. »Als du da auf dem Sofa gelegen und um dich geschlagen hast, hat Rocío dich Godric genannt. Was hat das zu bedeuten?« Ich warf der Alchemistin einen Blick zu, die ihn mit schuldbewusster Miene erwiderte.

»Na, was schon: Albert Walker ist nicht mein richtiger Name«, sagte ich geradeheraus.

»Wozu der Deckname? Wer bist du wirklich?«

»Kannst du es dir nicht denken?« Waterstone erwiderte meinen Blick mit ratloser Miene. »Du hast von der Swimming Island gehört, oder?«

»Godric«, murmelte Waterstone und seine Augen weiteten sich. »Du … du bist … Godric End.« Er wurde bleich und wich zurück. »Bei Zuris, ich gewähre einem der meist gesuchten Verbrecher Dustriens in meinem Haus Zuflucht. Dem Mörder von Baron Ashbee!«

»Wusstest du, dass manche mich deswegen einen Helden nennen?«, fragte ich, erhob mich und ging an Watestone vorbei aus dem Zimmer, nicht ohne ihm einen Klaps auf die Schulter zu geben. »Gewöhn dich lieber dran. Ich geh kurz vor die Tür.«

Draußen steckte ich mir zunächst eine neue Zigarette an. An die Hauswand neben der Eingangstür zu Waterstones Wohnung gelehnt, Lungen und Rachen erfüllt mit dem Qualm der herbsten Tabaksorte, die Treedsgow zu bieten hatte, fand ich endlich die Ruhe, Williams nächste Tagebuchseite zu lesen.

Das Tagebuch

35. Blätterfall 1713, Lohntag

Knapp drei Viertel sind vergangen, seit mir ein Junge im Hafen von Treedsgow den Brief von M-Punkt mitsamt Emilys Schleife gab. Ohne dieses blaue Stück Stoff hätte ich mich vermutlich längst in Sankt Laplace eingewiesen. Ich nehme es jeden Abend aus dem Umschlag und halte es in der Faust wie einen Rettungsring, der mich davor bewahrt, in dem Wahnsinn zu versinken, zu dem mein Leben geworden ist.

Ich verbringe viele Stunden im Kellerraum 21. Ich schlafe wenig und schwänze Vorlesungen. Meide meine Freunde und Professoren – sogar Ed. Die einzigen Menschen, die mir derzeit Gesellschaft leisten, sind die tote Emily in der Gefrierkammer und die jüngste Marionette von M-Punkt. Sie mochte einst ein Hilfsprofessor gewesen sein. Ich glaube, ich habe ihn einmal auf den Fluren der Universität gesehen. Nun dient er als Medium für meinen unbekannten Helfer.

Rankine und Glenn – beide ehemalige Marionetten von M-Punkt – sind nun in Sankt Laplace. Das gibt mir eine ziemlich genaue Vorstellung davon, was der Zugriff in den Köpfen der Menschen anstellt. Ich komme aber nicht umhin zu bemerken, dass M-Punkts jüngste Marionette tot zu sein scheint. Sie stinkt. Seit einiger Zeit sammeln sich Fliegen in ihren Augen- und Mundwinkeln, und sie hat eine Schürfwunde auf dem Handrücken, die nicht verheilt.

Das hält sie aber nicht davon ab, sich zu bewegen. Wie an unsichtbaren Fäden schwebt sie neben mir, während ich arbeite. Sagt mir, was ich tun muss, um Emily ins Leben zurückzuholen. Offenbar ist dazu irgendein alchemistisches Zauberwerk nötig, das ich bis vor Kurzem noch belächelt hätte. Ich habe eine Menge Kram aus den Laboren der Universität entwendet. Außerdem besorge ich ganz spezielle Zutaten: Käfer von unter der Rinde eines Baumes, Moos von einem Grabstein eines bestimmten Jahres oder bei Mondlicht gefangene Feenwürmchen. Eine der wohl wichtigsten Zutaten, die mir die Marionette überreicht hatte, ist ein Fläschchen, das einige wenige Tropfen einer durchsichtigen Flüssigkeit enthält.

»Emilys Körper verdirbt«, sagte die Marionette heute zu mir. Ihre Miene war wie immer ausdruckslos, doch ich hatte das Gefühl, dass M-Punkt nicht zufrieden mit meiner Arbeit war.

»Aber sie ist eingefroren«, entgegnete ich erschrocken und warf einen flüchtigen Blick zur Gefrierkammer.

»Die Temperatur ist nicht niedrig genug. Wir müssen sie mit Leben füllen.«

»Mit Leben füllen?«, wiederholte ich atemlos. »Dann ist es schon so weit?« Ich wagte nicht, zu hoffen.

»Wir lassen vorläufig einen Enafagen in ihren Leib einziehen.« Ich runzelte die Stirn und nahm mir vor, das Wort nachzuschlagen. Die Marionette schwebte zu dem Schrank, den ich in den vergangenen Vierteln mit Zutaten gefüllt hatte, und öffnete ungelenk die Türen. Ich vermied es, dem Blick meines Ebenbildes in den Spiegeln an der Innenseite der Schranktüren zu begegnen. Seit ich Emilys tränenförmige Edelsteine in meinen Besitz gebracht habe, werde ich das Gefühl nicht los, dass die Spiegelbilder mich beobachten.

Die Marionette wies mich an, ein bestimmtes Zeichen auf den Boden zu malen. Währenddessen erklärte sie mir, dass sie einen Folkloren mit einer Dunklen-Mana-Aktivität von knapp zweihundert Leukipp beschwören würde – fast schon ein Alb. Keine Ahnung, was sie damit meinte. Anschließend sagte sie etwas in einer fremden Sprache – vielleicht eine Zauberformel? Schwarzer Rauch trat aus dem Spiegel und sammelte sich wabernd unter der Decke.

»Öffne die Gefrierkammer«, wies die Marionette mich an. Widerwillig gehorchte ich. Als hätte der Rauch nur darauf gewartet, zog er in die Kammer ein und verschwand in den Poren von Emilys gefrorener Haut. Ich hielt den Atem an, während ich ihr in die starren Augen sah. Würde sie gleich nach Luft japsen wie jemand, der beinahe ertrunken wäre? Würde sich ihr Blick mit Leben füllen, und sie meinen Namen rufen?

Nichts dergleichen geschah. Emilys Iriden, leblos und kalt, richteten sich auf mich. Ihre Bewegungen waren eckig, als blockierten Eiskristalle ihre Gelenke, als sie eine Hand hob. Von Panik ergriffen, schlug ich den Deckel zu und verriegelte ihn.

W. D. Walker

End

Ich hob den Blick und atmete den Rauch des letzten Zuges aus. Meine Augen fixierten einen Punkt an der Fassade des gegenüberliegenden Hauses, ohne ihn zu sehen. Dass ein Folklore in den Leichnam meiner Schwester eingezogen war, waren höchst beunruhigende Neuigkeiten. Ich erinnerte mich lebhaft an Norins Beschreibung von Tieren, in deren Köpfen ein Enerphag steckte: Mutationen, Haarausfall und offene Wunden, in denen es von Würmern nur so wimmelte, hatten zu den gängigsten Begleiterscheinungen gezählt. Das musste bei Emily nicht auch der Fall sein, war sie doch ein Mensch, zudem tot und gefroren.

Ich las die letzten Zeilen noch einmal. Dass dieser M-Punkt Emilys Leichnam mit Leben gefüllt hatte, mochte erklären, warum sie nicht mehr in der Gefrierkammer war. Nur, wo war er hingegangen? Er konnte wohl kaum durch die Straßen von Treedsgow spaziert sein. Zumal sich die Frage stellte, ob der Verwesungsprozess außerhalb der Gefrierkammer nicht wieder einsetzte.

Wenn ich doch nur die nächste Seite schon hätte. Ich zweifelte nicht daran, dass sie mir früher oder später in die Hände fallen würde. Irgendjemand ließ sie mich finden, vermutlich, weil mein Handeln der Person in die Karten spielte. Solange ich bekam, was ich wollte, war es mir gleich.

Ich schnippte die Zigarette auf die Straße und kehrte zurück in Waterstones Haus. Im Flur begegnete mir Rocío.

»Waterstone und ich haben die Bibliothek von Ad Etupiae erkundet, während du geschlafen hast«, sagte sie. Sie hob die Hand, wie um sich das Haar hinters Ohr zu streichen, das ihr vernarbtes Auge verdeckte. Als würde sie sich auf halbem Wege bewusst, was sie im Begriff war zu tun, wechselte sie die Richtung und kratzte sich am Hals.

»Es gibt ein Register, das es uns erheblich leichter machen wird, uns zu orientieren«, fuhr sie fort. »Wir werden allerdings deine Gabe als Arboris brauchen, da ich nicht alle Runen übersetzen kann.«

Ich nickte knapp. Auch ich kannte die Runenschrift der Segovia nicht. Wenn ich aber Rocíos Trank zu mir nahm, der mein drittes Auge für die Auren aller Dinge öffnete, flüsterten mir die Schriftzeichen ihre Übersetzung zu. Offenbar gehörte dies ebenso zu den Gaben eines Arboris, wie das Flüstern der Bäume im Wind zu verstehen. Ich würde Waterstone nicht aus Gefälligkeit helfen – das war eines der Worte, deren Bedeutung sich mir immer noch entzog. Es war ein unausgesprochener Deal: Er gewährte Rocío und Jasper Zuflucht. Ich übersetzte die Runen und half ihm bei seinen Berechnungen.

»Hast du alles, was du brauchst, um mehr von deinem Trank herzustellen?«, forschte ich nach.

»Mein Kessel ist noch halb voll damit«, erwiderte die Alchemistin. »Solange ich nichts anderes braue, müssen wir ihn nur mit frischem Quellwasser füllen, sobald der Trank zur Neige geht, und vielleicht mit der ein oder anderen Zutat auffrischen. Ich werde mir ein Labor im Keller der Universität einrichten.« Damit meinte sie Raum 21, wo zuvor William gearbeitet hatte. Er verfügte über einen geheimen Zutritt zu einem der unter Treedsgow begrabenen Gänge, der wiederrum mit der Kanalisation verbunden war. So konnte sie ungesehen dort ein- und ausgehen.

»Gib mir eine Stunde, dann können wir runtergehen«, sagte ich entschlossen. Ich verspürte das dringende Bedürfnis, mich über Waterstones Vorräte herzumachen, die noch nicht zwischen Jaspers Kiefern verschwunden waren. »Konnte Waterstone sich damit abfinden, wer ich wirklich bin?«

Rocío zuckte die Achseln. »Er war nicht gerade glücklich darüber. Aber scheinbar bist du von so großem Wert für ihn, dass er es sogar hinnehmen würde, wenn du Black Raven selbst wärst.« Wenn er wüsste, dass ich Raven getötet hatte …

»Wo ist der Professor jetzt?«, wollte ich wissen.

»Er hat das Haus verlassen«, sagte Rocío überrascht. »Du müsstest ihn eigentlich gesehen haben.« Vermutlich war ich so sehr in Williams Tagebuchseite vertieft gewesen, dass ich ihn nicht bemerkt hatte. Meine Alarmbereitschaft ließ in letzter Zeit zu wünschen übrig. »Er wollte noch mehr Leute einweihen, damit sie uns helfen, die Bibliothek zu katalogisieren«, fügte Rocío hinzu. Ich blies die Wangen auf. Vermutlich wollte er sein Kollegium informieren. Nicht, dass ein Trupp aufgeblasener Professoren mich davon abhalten könnte, mich dort umzusehen. Aber sie würden es definitiv versuchen und die Suche nach der Nadel im Heuhaufen zusätzlich verkomplizieren.

»Hat er gesagt, wen?«, forschte ich nach.

»Er sprach von einem Kerl namens Miel«, antwortete Rocío. Ich atmete auf. Miel war ein harmloser Student und einer von Waterstones Vertrauten. Er war außerdem ein Bewunderer meiner Person in der vermeintlichen Rolle des Widersachers von Damon, dem Banditenanführer, und würde gewiss schweigen.

Ich bemerkte, dass Rocíos Mundwinkel zuckten. »Was ist so witzig?«

»Nichts.« Sie winkte ab. »Es ist nur so, dass da, wo ich herkomme, Miel ein Frauenname ist.«

»Woher kommst du?«

»Selvenien«, antwortete Rocío.

»Selvenien?«, wiederholte ich verblüfft. »Das liegt auf der anderen Seite der Welt. Wie kamst du nach Dustrien?«

»Eine lange Geschichte«, sagte Rocío mit wegwerfender Handbewegung. Mehrere Erinnerungen aus dem Unterricht von Rico Fonti fanden mich: Selvenien war zu achtzig Prozent von Dschungel bedeckt. Über die dort lebenden Stämme war außer der Arbeit eines Naturforschers namens August von Tradescant nicht viel bekannt. Fonti hatte uns die Berichte von Tradescant, der mehrere Monate lang von Gemeinschaft zu Gemeinschaft gereist war, gegeben. Emily hatte sie mit Begeisterung gelesen, ich eher widerwillig. Dementsprechend war nicht viel davon hängengeblieben; wohl aber, dass in den meisten selvenischen Gemeinden Narben viel über die Umstände verrieten, von denen sie herrührten. Ich konnte nur mutmaßen, dass Rocíos verätztes Auge nicht gerade von Ehre kündete.

»Wie geht es deinem Auge?«, fragte ich unvermittelt.

Rocío zuckte kaum merklich zusammen. »Besser«, war ihre knappe Antwort.

»Darf ich mal sehen?« Sie rührte sich nicht; auch dann nicht, als ich die Hand hob und ihr Haar zurückstrich. Blickte nur aus traurigen Onyxaugen zu mir auf. Die Haut um ihr linkes Auge sah aus wie geschmolzenes Wachs. Ihre Tätowierung – ein Mosaik aus Recht- und Dreiecken – war in diesem Bereich verzerrt. Auch wenn ihre versenkte Augenbraue in ein paar Vierteln nachgewachsen wäre, würde Rocío nicht zu ihrer einstigen Schönheit zurückfinden. Trotzdem war sie nicht hässlich, wie ich fand. Der Rest der olivfarbenen Haut ihres Gesichts war immer noch makellos. Was die Narbe ihr an Schönheit nahm, fügte sie ihr an Charakter hinzu – etwas, auf das ich im Allgemeinen mehr Wert legte. Immerhin wäre meine erste Liebe, die Piratin Sam, auch nicht als Kandidatin für die Perle des Fouriers in Frage gekommen. Sie war eine gute Kämpferin gewesen und bei nur wenigen Auseinandersetzungen verletzt worden. Auf der anderen Seite war sie auch keinem Streit aus dem Weg gegangen. Ich hatte mich bei jeder Narbe an ihrem Körper gefragt, welche Geschichte dahinterstecken mochte, und es nicht erwarten können, sie auf weitere zu erkunden.

Ich hob die Hand und berührte behutsam die versehrte Haut. Nein, Rocío gefiel mir mit diesem Makel besser als vorher. Einige Sekunden verstrichen in Schweigen, während derer ich erwog, sie zu küssen. Unweigerlich dachte ich an ihren Blick, als Nikandros ihr in der Gestalt meines Spiegelbildes begegnet war und ihr gesagt hatte, dass er Damon getroffen hatte. Ihre Augen hatten sich mit dunkler Trauer gefüllt. Sie hatte geglaubt, dass Nikandros Damon getötet hatte. Dass sie noch etwas für ihn empfand, ließ sich auch dadurch nicht von der Hand weisen, dass sie sich von Nikandros hatte küssen lassen. Er hatte Rocíos Aura durchleuchtet und ihr gesagt, was sie hören wollte: dass ich kein Leben mehr nehmen würde.

Ich zog die Hand zurück, und Rocíos Haar fiel ihr wieder vors Gesicht. Ich fürchtete mich nicht vor ihrer Zurückweisung. Ich wusste schlicht, dass sie den Mann nicht wollte, der ich war. Ich konnte ihr nicht versprechen, ein anderer Mensch zu werden. Nur Emily wäre dazu in der Lage, Licht ins Dunkel meines Wesens zu bringen. Ich war seit Jahren über Leichen gegangen und würde, um meine Schwester zurückzubringen, jetzt keine Umwege machen.

»Lass dir von jemandem einen Ratschlag geben, der seit seiner Kindheit mit einem Gesicht voller Narben gestraft ist«, sagte ich. »Sei stolz auf sie.«

»Du hast gut reden«, erwiderte Rocío bitter, tat einen Schritt zurück und senkte den Kopf. »Deine Narben sind alle sauber verwachsen.«

»Sauber verwachsene Narben haben in Dustrien eine andere Bedeutung als in Selvenien«, hielt ich dagegen. »Ich habe die wenigsten in einem ehrenvollen Kampf davongetragen.« Der Unterrumpf hatte mich vergessen lassen, was Ehre bedeutete. »Entschuldige mich. Ich frage Jasper, ob er uns begleiten wird. Wenn er sich langweilt, verbringt er zu viel Zeit in Waterstones Vorratskammer.« Meine Worte trieben den Anflug eines Lächelns auf Rocíos Lippen.

Sie nickte. »Er hat was davon gemurmelt, er hätte schwarze Nebel von der anderen Seite im Haar, und ist die Treppe hoch.«

Was das zu bedeuten hatte, erfuhr ich wenige Minuten später, als ich das Badezimmer im ersten Stock betrat. Jasper stand vor dem Waschbecken, das mit seinem Haar gefüllt war, eine Zigarette zwischen den Lippen und eine Rasierklinge in der Hand, mit der er über den inzwischen kahlen Kopf schabte.

»Hey Godric! Gut, dass du kommst«, sagte er, wobei die Zigarette in seinem Mund tanzte. »Hab ich hinterm Ohr noch was?«

»Hast du sie noch alle?«, fragte ich wütend.

»Was?«, entgegnete Jasper herausfordernd. »Sind meine Haare, oder? Darf ich mit machen, was ich will.«

»Deine Haare sind mir scheißegal«, sagte ich und war mit einem Schritt bei ihm. Ich pflückte ihm die Zigarette aus dem Mund und warf sie ins Waschbecken. »Waterstone hat sich klar ausgedrückt, was das Rauchen im Haus angeht.«

»Ist ja gut«, sagte Jasper gelassen und hob in kapitulierender Geste die Hände. »Jetzt sag schon, sind da noch Haare? Ist ganz schön schwer, sich den Schädel ohne Spiegelbild zu rasieren.« Erst jetzt bemerkte ich, dass Jaspers Ebenbild im Spiegel über dem Waschbecken fehlte. Das machte Sinn, war es doch im Diesseits unterwegs, seit Jasper sich für mich geopfert hatte. Mein Spiegelbild hingegen war dort, wo es hingehörte. Scheinbar setzte die Physik, die für die Existenz eines solchen verantwortlich war, nur so lange aus, wie der Enerphag lebte, der es gemimt hatte. Ich legte eine Hand an das kühle Glas und begegnete dem Blick meiner dunklen Augen. Es waren Augen, die viel Leid gesehen hatten – das meiste davon hatte ich anderen zugefügt. Sie waren dunkel. Traurig. Mörderisch. Aber es waren meine Augen.

Zum ersten Mal, seit mein Spiegelbild angefangen hatte, sich merkwürdig zu verhalten, hatte ich die Gelegenheit, mich ausgiebig selbst zu betrachten. Seit Amrei, die Tochter des Besitzers der Taverne Zum Meeresgrund, mir die Haare geschnitten hatte, waren sie einige Zentimeter länger geworden. Verglichen damit wuchs mein Bart, den ich mir alle drei Tage rasieren musste, wenn ich nicht wie ein Vagabund aussehen wollte, wie Unkraut. Zum ersten Mal musterte ich meine Narben kritisch hinsichtlich ihrer Ästhetik: die Kerbe in meiner Augenbraue, die beiden parallelen Schrammen und der Schnitt in meiner Unterlippe. Sie waren nicht dezent, verunstalteten mein Gesicht aber auch nicht, soweit ich das beurteilen konnte. Nicht einmal mein angefressenes Ohr. Ich wusste aber auch um die Narben an anderen Stellen meines Körpers, für die wulstig noch gar kein Ausdruck war.

Ich tauchte jäh aus meinem Anblick auf, als mir der Geruch verbrannten Haares in die Nase, und Rauch aus dem Waschbecken stieg. Jaspers Haare hatten Feuer gefangen. Ich fluchte und drehte den Hahn auf. Die Flammen verloschen, und während ich mit den Händen die Rauchschleier vertrieb, übersah ich beinahe die verschwommene Gestalt, die sich im Spiegel der Oberfläche näherte. Ich wich zurück und zog meine Machete. Noch nie war etwas Gutes aus den Spiegeln gekommen, und ich hatte keinen Grund, anzunehmen, dass es jetzt anders wäre.

»Scheiße!«, rief Jasper erschrocken aus, als sich die verschwommene Gestalt von der anderen Seite gegen das Glas warf und ein Netz aus Rissen die Oberfläche überzog. Ich spannte die Muskeln an bereit, zuzustoßen, sobald der Neuankömmling durchbräche. Wieder warf sich die Gestalt gegen das Glas. Dieses Mal brach sie in einem Schauer aus Scherben hindurch, stolperte über die Armaturen des Waschbeckens und schlug auf dem Badezimmerboden auf. Fassungslos blickten Jasper und ich auf die junge Frau hinab, die stöhnend vor Schmerz zwischen den Scherben lag. Ich hätte ihr wohl, ohne zu zögern, die Machete in den Leib gerammt, hätte ein Geigenkasten, den sie umklammerte wie ihren erstgeborenen Sohn, und ein Netz schwarzer Linien, das ihre linke Gesichtshälfte überzog, nicht allen Grund zur Annahme gegeben, dass ich sie kannte. Sie musste seit ihrem Verschwinden mehrere Jahre gealtert sein, doch es bestand kein Zweifel.

»Amrei?«, fragte ich und ließ die Machete sinken.

Blackworth

Gesang. End verstummte und blickte lauschend zum Fenster.

»Wohin geht ein Lied, wenn seine Töne verklingen

mit dem Stoß ins Horn zum letzten Krieg?

Wer lauscht der Seele, wenn sie anfängt zu singen

von den Dingen, die uns Zuris verschwieg?

Zuris, mein Gott, warum hast du uns verlassen …«

»Der schon wieder«, knurrte Baine, erhob sich von seiner Pritsche und trat vor das vergitterte Fenster. »HEY! Verschone uns mit deinem Gesang, Bursche!« Der Arbeiter ließ sich nicht beirren. Baine schnaubte wütend und wandte sich um. Nahm seine Holzschale auf und schlug damit gegen die Gitterstäbe. »HEEEY!« Das verhinderte nicht, dass der Mann die letzte Zeile des Refrains theatralisch langgezogen ausklingen ließ. Wohl aber provozierte es die Insassen der Zellenblöcke 12 und 14, ebenfalls brüllend mit ihren Schalen gegen die Gitterstäbe zu schlagen.

»Diese Idioten«, schimpfte Baine und trat vom Fenster zurück.

Die Tür zum Zellengang wurde geöffnet, und die beiden Gefängniswärter traten ein – dieses Mal in der Rolle der Essensausgeber einen fahrbaren Kessel vor sich.

»Wer hat Lust auf Brei?«, fragte einer von ihnen mit schadenfrohem Lächeln. Die Insassen erhoben sich und stellten ihre Schüsseln vor die Zellentüren. Die Essensausgeber füllten zuerst Georges Schüssel. Anschließend spuckte der, der Storm erschossen hatte, hinein.

George verzog das Gesicht.

»Was war das?«, frage der Essensausgeber mit einer Miene, als hätte George ihm die Schüssel aus der Hand geschlagen. Er wandte sich an seinen Partner. »Der hat gerade dreingeblickt, als wäre ihm der Brei nicht gut genug.«

»Der Spaßvogel meinte gestern schon, er würde lieber Steak essen.«

Der Essensausgeber zog die Pistole. »Ist das so? Willst du lieber Steak, Arschloch?«

George sah hilfesuchend zu Bill, der seinem Blick auswich. »Brei ist gut, denke ich«, murmelte er.

»Soll das ein Witz sein?«, fragte der Essensausgeber aufgebracht und richtete seine Pistole auf den Insassen. »Du willst lieber Brei statt Steak essen?« Einige Sekunden verstrichen in Schweigen, während derer George starr vor Schreck auf den Lauf der Pistole starrte.

»Ich … ich … ich …«, stammelte er schließlich. Der empörte Ausdruck auf dem Gesicht des Essensausgebers wich urplötzlich einem Lächeln, so trügerisch wie die Ruhe im Auge eines Sturms.

»Ich mach nur Spaß, Mann«, sagte er in einem Tonfall, als hätte es auf der Hand gelegen, und steckte die Pistole zurück ins Holster. »Sag nicht, du hast dich eingeschissen.« Er lachte, während er die Kelle zur Hand nahm und Bills Schale füllte, die ihm sein Partner hinhielt. George brachte ein nervöses Lächeln hervor.

Jäh ließ der Essensausgeber die Kelle zurück in den Kessel fallen. Er zog die Pistole, richtete sie auf George und feuerte zwei Mal. Der Insasse schrie auf. Das erste Projektil war in die Wand eingeschlagen. Das zweite hatte ihn am Oberarm getroffen. Mit schmerzerfüllter Miene sank er an der Rückwand seiner Zelle herab und presste die Hand auf die Wunde.

»Hat hier noch jemand ein Problem mit dem Essen?«, fragte der Wärter in die erschrockene Stille hinein, nur unterbrochen von Georges Wimmern. »Nein? Gut.« Nacheinander füllten er und sein Partner die Schüsseln der Insassen, bis sie schließlich bei Ends Zelle angelangten.

»Wen haben wir denn da?«, fragte der Essensausgeber, der auf George geschossen hatte, in lauerndem Tonfall. »Wenn das nicht Godric fucking End ist. Willst du auch Brei?« Die Kelle verharrte über der Schüssel. End begegnete dem Blick des Essensausgebers und schwieg. »Antworte.« End sagte nichts. Das lauernde Lächeln auf den Lippen des Wärters schmolz. Sein Unterkiefer zitterte. Er knallte die Kelle auf den Boden, sodass Brei durch den Zellengang spritzte, zog abermals die Pistole und richtete sie auf End.

»Denkst du, ich werde dich nicht abknallen, weil du Godric fucking End bist?«, brauste er auf. »Sag mir, ob du Brei willst. Jetzt!« End erhob sich und trat auf die Zellentür zu, den Blick auf das Gesicht des Essensausgebers gerichtet, als suche er etwas darin. Der Sänger hielt den Atem an. Wieder einmal wusste er nicht, ob End deshalb so gelassen wirkte, weil er wahrhaftig nichts zu befürchten hatte, oder weil es ihm egal war, ob er lebte oder starb.

»Du hast es so gewollt!« Der Finger des Essensausgebers legte sich an den Abzug.

End hob die Hand – eine knappe Geste, als bäte er nur um einen kurzen Moment – und der Essensausgeber verharrte.

»Bettelkönig, Königsmord. Tod im Feuer, Drachenhort«, sagte End leise, den Blick noch immer auf das Gesicht des Essensausgebers gerichtet. Der wutverzerrte Ausdruck des Mannes verschwand. Die Pistole in seiner Hand zitterte. »Schwelende Liebe und glühender Hass. Ehrbare Diebe und ein eckiges Fass.« Der Mann steckte die Pistole weg und sammelte fahrig die Kelle ein.

»Lass uns abhauen«, murmelte er. Er wandte den Kessel, schob ihn zurück zur Tür des Zellengangs, und er und sein Partner verschwanden.

»Wie schlimm ist es, Genosse?«, fragte Baine, der mit besorgter Miene in Georges Zelle schräg gegenüber blickte.

»Es blutet wie verrückt«, stöhnte George panisch.

»Zieh dein Hemd aus und reiß es in Streifen«, riet Bill. »Drück den Stoff fest auf die Wunde.« Keuchend und am ganzen Leib zitternd kämpfte George sich aus dem Hemd. »Lass mich dir helfen.« George reichte das Hemd durch den Zellengang an Bill weiter, der Streifen für Streifen zurückreichte.

»Nicht!«, warnte Bill, als George das erste durchtränkte Stück Stoff von der Wunde nehmen wollte. »Leg den nächsten drüber und übe Druck aus.« Während George darum kämpfte, die Blutung zu stillen, nahm, wem noch nicht der Appetit vergangen war, seine Schüssel auf.

»Iss, Ronald«, forderte Arwin den jüngsten Insassen von Zellenblock 13 auf.

Ronald hustete. »Ich habe keinen Hunger.«

»Du musst zu Kräften kommen.«

»Wozu? Zögert doch ohnehin nur das Unausweichliche hinaus.«

»Ich habe auch keinen besonderen Hunger, nach dem, was hier passiert ist«, murmelte Baxter. »Mir graut jetzt schon vor dem Mittagessen.«

»Wie hast du sie vertrieben?«, wollte der Sänger wissen und sah zu End. »Mit diesem Reim?«

»Nicht irgendein Reim. Es waren die dunklen Runen, mit denen sich die Hirnmarodeure bannen lassen.« Der Sänger ballte hoffnungsvoll die Hände zu Fäusten. Er wusste aus Ends Erzählung, worum es sich bei dunklen Runen handelte. Sie waren das Pendant zur Runenmathematik. Während sich mit Letzterer die Synaígie programmieren ließ, waren die dunklen Runen künstlerischer Natur. Wenn man die Richtigen kannte, ließen sich damit die Enerphagen kontrollieren.

»Hättest du sie nicht erledigen können?«