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In einer Welt nach dem nuklearen Krieg sind die Driver die letzten Helden, die das Überleben sichern. Einer von ihnen sollte zur Legende werden. Sein Name ist DRIVER 8. "Ein gnadenlos spannendes und fesselndes postapokalyptisches Meisterwerk." – Burt Walker, Autor Neunzehn Jahre sind vergangen, seit ein Atomkrieg die Vereinigten Staaten vernichtete und nur Zerstörung hinterließ. Die Überlebenden haben sich in den wenigen bewohnbaren Gebieten zu kleinen Gruppen zusammengeschlossen. Eine dieser Gemeinschaften, das 'Kollektiv', ist dabei wie Phönix aus der nuklearen Asche aufgestiegen. Sie verdankt ihren Erfolg dem eisernen Regime ihres Gründers, der Nummer Eins. Disziplin, harte Arbeit und Pflichterfüllung bestimmen das Dasein im Kollektiv. Wer seinen Pflichten nicht nachkommt, wird verstoßen. Eine der geachtetsten, aber auch gefährlichsten Aufgaben wird von den Fahrern geleistet. Die 'Driver' durchqueren das Ödland auf der Suche nach Ausrüstung und Rohstoffen, übernehmen Kurierfahrten und erkunden immer weitere Bereiche des untergegangenen Amerikas. Doch nur einer von ihnen sollte zu einer Legende werden, und sein Name ist Driver 8.
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Seitenzahl: 365
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Nun bin ich zum Tod geworden, dem Zerstörer der Welten
– Robert Oppenheimer
This Translation is published by arrangement with G. Michael Hopf
überarbeitete Ausgabe Originaltitel: DRIVER 8 Copyright Gesamtausgabe © 2024 LUZIFER Verlag Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Cover: Michael Schubert Übersetzung: Tina Lohse
Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2024) lektoriert.
ISBN E-Book: 978-3-95835-585-9
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Shadow Mountain Lake, Colorado, Vereinigte Staaten von Amerika
»So, Kinder. Trinken ist äußerst wichtig, wenn man draußen in der Wildnis ist. Trinkt also etwas, bevor wir unsere Wanderung beginnen, und nehmt genug Wasser mit auf den Weg«, sagte Kyle Grant zu der kleinen Kindergruppe im Alter von acht bis zwölf. Heute wollten die kleinen Bewohner des Ferienlagers ihre bisher längste Wanderung unternehmen und Kyle wollte nicht riskieren, dass jemand vor Erschöpfung zusammenklappt. »Eine letzte Sache noch, denkt immer an die Dreierregeln. Drei Wochen ohne Nahrung, drei Tage ohne Wasser und drei Minuten ohne Luft. So lange dauert es, bis man … was?«
Ein junges Mädchen, ungefähr zehn Jahre alt, hob seine Hand.
»Ja, Melody«, sagte Kyle und zeigte auf sie.
»Bis man stirbt. Aber sind das wirklich drei Tage ohne Wasser?«
»Im Durchschnitt schon«, erklärte er. »So, dann geht mal etwas trinken und packt eure Sachen zusammen. Wir treffen uns in fünfzehn Minuten am Anfang des Wanderweges«, sagte Kyle.
Die Gruppe, bestehend aus dreiundzwanzig Kindern und zwei erwachsenen Betreuern, erhob sich und verließ die Hütte.
»Du kannst wirklich gut mit den Kindern umgehen«, sagte Tiffany Powell, die Leiterin des Ferienlagers, breit lächelnd. Sie ging hinüber zu dem Tisch, auf dem Kyle den Rucksack, den er zu Vorführzwecken ausgebreitet hatte, zusammenpackte.
»Ich habe meinen Spaß daran. Ich kann mir keine bessere Art vorstellen, meine zwei Wochen Urlaub zu verbringen«, sagte Kyle, auf dessen markantem und wettergegerbtem Gesicht ein breites Lächeln entstand.
»Wir haben nicht viele Freiwillige und die, die wir haben, reisen normalerweise nicht tausend Meilen auf eigene Kosten an«, sagte sie.
»Wie gesagt, es macht mir Spaß. Im Urlaub am Strand zu sitzen und Cocktails zu trinken, ist ja schön und gut, aber ich finde das hier sehr viel befriedigender.«
»Ich hätte nichts gegen Cocktails am Strand einzuwenden.« Sie lachte und verschränkte ihre Arme. »Die Kinder haben dich sehr gern hier. Ich glaube, sie mögen vor allem die Polizeigeschichten, die du am Lagerfeuer erzählst.«
»Du weißt, die dienen hauptsächlich der Abschreckung«, scherzte er. »Aber sind es wirklich nur die Kinder, die mich gern hier haben?«, sagte er augenzwinkernd.
»Wir wollen nicht unprofessionell werden«, erwiderte sie. »Weißt du was, ich glaube, mit dir hier fühlen sie sich einfach sicher. Es geht doch nichts über einen richtigen Polizeibeamten als Betreuer.«
»Aushilfsbetreuer. Bei besserer Bezahlung wäre ich die ganze Zeit hier, glaub mir«, scherzte er.
»Der Job wäre dir jedenfalls sicher«, flirtete sie.
Die Tür ging auf und ein Mann Ende zwanzig steckte seinen Kopf hindurch. Seinem Gesichtsausdruck nach war er verängstigt.
»Josh, alles okay? Du siehst aus, als wäre gerade jemand von einem Bären gefressen worden«, witzelte Tiffany.
»Tiffany, komm schnell, an der Ostküste ist was passiert. Was Schlimmes.«
Sie setzte sich sofort in Bewegung und fragte: »Was ist denn los?«
»Ein Terroranschlag oder so was, beeil dich«, sagte Josh und verschwand.
Tiffany und Kyle folgten ihm zum Hauptgebäude der Einrichtung. Als sie eintraten, fanden sie eine Gruppe von Leuten vor, die sich vor dem Fernseher versammelt hatten, bestehend aus Joselyn, Andy, George, Gwen, Josh und Vivian. Tiffany schob sich durch die Leute hindurch, bis sie den Bildschirm sehen konnte.
Kyle hatte es da leichter, mit seinen ein Meter neunzig Körpergröße konnte er einfach über die anderen hinwegsehen.
Auf dem Fernsehschirm war eine große Explosion zu sehen, gefolgt von einer Pilzwolke, die in den Himmel stieg.
»Was ist das? Was geht da vor?«, fragte Tiffany.
»Das war Boston«, sagte Joselyn, die Schwimmlehrerin des Lagers.
»Ist das dein Ernst?«, fragte Tiffany.
»Ja, laut den Nachrichten sind Städte entlang der gesamten Ostküste betroffen«, antwortete George, der Naturkundler der Gruppe.
»Mach mal lauter, ich kann nichts verstehen«, sagte Kyle.
»… Berichten zufolge gab es auch Anschläge an der Westküste. Es ist alles sehr chaotisch, aber es scheint, als sei die Westküste unter Beschuss. Oh, Moment, wir haben neue Videoaufnahmen eines Anwohners vor Ort«, sprach der Reporter.
Die Sendung schaltete zu einem verwackelten Video von Los Angeles in weiter Entfernung. Ein plötzlicher heller Lichtblitz und danach eine gewaltige Pilzwolke, die die gesamte Stadt überrollte.
»Oh mein Gott«, rief Vivian, die Kunstlehrerin, mit Tränen in den Augen.
Plötzlich redeten alle durcheinander.
Kyle stand nur fassungslos da und sah der Wiederholung des Videos zu. Eben war seine Stadt noch dagewesen und im nächsten Moment war sie dahin. Von einem Augenblick zum anderen zerstört von einem Atomsprengkörper.
»Denver. Hat irgendjemand mitbekommen, ob Denver getroffen wurde?«, fragte Joselyn. »Meine Eltern leben dort.«
»Mein Bruder wohnt auch da«, sagte Andy, der Bogen-Experte.
»Uns wird gerade gemeldet, dass Kansas City attackiert wurde. Es scheint, dass die Angriffe an der Ost- und Westküste nun auch im Mittleren Westen stattfinden«, berichtete der Reporter.
»Was sollen wir nur machen?«, fragte Josh.
Alle Augen waren nun auf Tiffany gerichtet.
Tiffany dachte einen Moment lang nach und sagte: »Wir warten ab. Wir unternehmen nichts Drastisches, bis wir genau wissen, was los ist.«
»Aber da draußen herrscht Krieg. Städte werden zerstört«, jammerte Vivian.
»Das ist nicht der richtige Zeitpunkt, um in Panik zu geraten. Unser oberstes Ziel ist es, uns um diese Kinder zu kümmern. Habt ihr das alle verstanden?«, fragte Tiffany.
»Tiffany hat recht. Ich kann in Denver jemanden anrufen, der vielleicht mehr weiß«, sagte Kyle und holte sein Handy hervor. Er wählte eine Nummer und hielt das Gerät an sein Ohr.
Nach einem Klicken bekam er eine Sprachmitteilung zu hören. »Alle Leitungen sind belegt. Bitte versuchen Sie es zu einem späteren Zeitpunkt.«
Kyle versuchte es noch einmal und erhielt wieder die gleiche Nachricht. Er sah zu Tiffany und sagte: »Ich komme nicht durch. Kann es noch jemand versuchen?«
»Ich kriege nur die Mitteilung, dass alle Leitungen belegt sind«, sagte Joselyn.
»Ich auch«, fügte Jacob hinzu.
Auch Tiffany nahm ihr Handy und wählte eine Nummer. »Hier das Gleiche.«
»Versucht mal die Festnetzleitung, vielleicht geht die«, schlug Joselyn vor.
Kyle wählte die Nummer, die er mit seinem Handy zu erreichen versucht hatte, auf dem Hausapparat. Einen Moment später legte er den Hörer wieder auf und sagte: »Leitungen sind belegt.«
»Oh nein. Was bedeutet das?«, fragte Vivian, deren Hände zitterten.
»Das heißt, dass jetzt alle versuchen zu telefonieren, genau wie wir, nichts weiter«, antwortete Kyle, in der Hoffnung, die Anwesenden zu beruhigen, aber tief im Inneren hatte er das beklemmende Gefühl, eben das Ende der Welt live im Fernsehen beobachtet zu haben.
»Hey, schaut mal. Sie sagen was über Europa«, äußerte Vivian.
Josh drehte den Ton auf.
»… Paris, London, Kopenhagen, Berlin – alle zerstört. In vorläufigen Berichten unserer internationalen Korrespondenten in Fernen Osten heißt es, dass die USA Vergeltungsmaßnahmen gegen China, im Besonderen Hongkong, Beijing und andere Großstädte und Militärstützpunkte, eingeleitet haben, als Antwort auf die Angriffe auf nun über zwölf amerikanische Städte«, sagte der Reporter und hielt inne, als er von Emotionen überwältigt wurde. »Ich weiß nicht, wie lange wir noch haben, aber ich bete dafür, dass …« Die Übertragung setzte aus und der Bildschirm wurde blau.
»Welcher Sender war das?«, fragte Kyle.
»Das war Denver«, sagte Tiffany, deren Stimme zu versagen drohte.
Bis auf leises Schluchzen versank der Raum in Schweigen.
»Die Kinder, sie warten auf mich am Wanderweg«, sagte Kyle.
»Geh sie holen. Wenn sie zurückkommen, müssen wir dafür sorgen, dass sie nichts mitbekommen. Wenn ich euch nicht zusammenreißen könnt, lasst es mich wissen«, ordnete Tiffany an und versuchte, die Situation unter Kontrolle zu bekommen.
»Ich kann sie ein bisschen basteln lassen«, sagte Vivian und wischte sich die Tränen von der Wange.
»Ich halte das für keine gute Idee. Du bist ganz aufgelöst, geh lieber in deine Hütte und mach eine Pause«, sagte Tiffany und wandte sich dann Joselyn zu. »Was halten wir davon, wenn sie schwimmen gehen?«
»Okay, ich werde unten am Ufer auf sie warten«, sagte Joselyn und ging los.
Kyle war auf dem Weg zur Tür, als Tiffany ihm hinterherrief: »Ich komme mit.«
Er blieb stehen und wartete.
»Ich weiß ja nicht, wie es dir geht, aber ich habe Angst«, gab Tiffany zu.
»Ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, dass mich das unbeeindruckt gelassen hat, aber du hast das gut gehandhabt da drinnen. Wir müssen einen kühlen Kopf bewahren. Offensichtlich geht die Welt gerade den Bach herunter und wir werden es den Kindern irgendwann beibringen müssen.«
»Ich weiß, daran habe ich auch schon gedacht, glaub mir. Wie erzählt man Kindern, dass die Welt untergegangen ist, ohne dass sie ausflippen?«
»Kaum machbar, die Situation ist scheiße, entschuldige meine Wortwahl, aber es gibt keine einfache Antwort darauf. Aber ich helfe dir, wo ich nur kann. Lass mich einfach wissen, was ich tun kann«, sagte Kyle.
Sie streckte ihren Arm aus und ergriff seine Hand.
Er schenkte ihr ein beruhigendes Lächeln.
Mit seiner Hand in ihrer sagte sie: »Ich kann dir gar nicht sagen, wie froh ich bin, dass du hier bist.«
»Tiffany! Tiffany!«, rief Josh durch die ganze Ferienanlage.
Sie drehte sich um und fragte: »Was?«
»Der Strom ist weg. Nichts funktioniert mehr«, antwortete Josh, der zunehmend verzweifelt klang,
»Das ist ein Ferienlager, richtig?«, scherzte Kyle.
»Warte, der Strom ist wieder da!«, brüllte Josh.
»Das sind die Notfall-Generatoren. Tue mir einen Gefallen und schalte alles nicht Notwendige ab. Wir müssen Treibstoff sparen«, rief Tiffany ihm zu.
Josh bestätigte die Anweisung mit einer Geste und lief davon.
»Du bist ein richtig knallharter General, beherrscht und souverän«, merkte Kyle an.
Sie zwinkerte ihm zu und sagte: »Ich bin die Älteste von vier Kindern und mein Dad war bei den Marines. Komm, holen wir die Kinder ab.«
DREI WOCHEN NACH DEM KRIEG
»Tiffany, wach auf«, sagte Joselyn und schüttelte sie.
Tiffany öffnete ihre Augen und fuhr hoch. »Was ist los?«
»Josh, er ist abgehauen, mit einem der Pick-ups und dem Rest unserer Vorräte«, sagte Joselyn.
»Was? Wie? Wer hatte Wache?«, fragte Tiffany, während sie ihre Beine aus dem Bett schwang und sich streckte.
»George. Ich habe ihn bewusstlos vorgefunden, als ich meine Schicht antreten wollte. Er meinte, Josh wäre gekommen, sie hätten sich unterhalten, und als er sich umdrehte, bekam er einen Schlag auf den Kopf. An mehr kann er sich nicht erinnern.«
»Wo ist Kyle?«, fragte Tiffany.
»Ich weiß nicht. Ich glaube, er ist noch nicht von seiner Tour zurück.«
»Dieses Arschloch. Ich wusste, man kann diesem Schwätzer nicht trauen«, sagte Tiffany, erhob sich und zog ein frisches T-Shirt an. »Weißt du, was von den Vorräten noch übrig ist?«
»Tiff, er hat alles mitgenommen.«
»Buchstäblich alles?«
»Ja. Er hat die Regale leergeräumt. Er hat George gegenüber erwähnt, er wolle nach Wisconsin, um nach seiner Familie zu suchen.«
Die Scheinwerfer eines Fahrzeugs fielen durch das Fenster.
»Das ist Kyle«, sagte Tiffany und eilte aus ihrer Hütte.
Kyle stieg aus dem Wagen und bemerkte sofort den besorgten Ausdruck auf Tiffanys Gesicht. »Ist was passiert?«
»Josh, er hat sich mit unseren gesamten Vorräten davongemacht«, erwiderte sie.
»Mist. Wie lange ist das her? Vielleicht kann ich ihn noch einholen.«
Joselyn kam dazu und sagte: »Über eine Stunde, der ist schon längst über alle Berge. George meinte, Josh wollte nach Wisconsin.«
»Nun, dann wird das Arschloch es nicht leicht haben. Es gibt Banditen draußen auf den Straßen. Ich bin gerade so welchen entkommen. Es ist inzwischen ziemlich gefährlich da draußen. Die Leute sind verzweifelt.«
»Was sollen wir jetzt machen?«, fragte Tiffany.
Kyle lief zur Ladefläche des Pick-ups und holte eine Tüte Kartoffelchips. »Wir haben die hier.«
»Ich fürchte, wir brauchen mehr als ein paar Chips«, äußerte Tiffany.
Kyle lächelte, drehte sich um, zog einen großen Karton von der Ladefläche und sagte: »Hier sind ungefähr vierzig Tüten drin und in der alten Lagerhalle, die ich abseits des Highways gefunden habe, stehen die gleichen Kisten bis zur Decke gestapelt. Und das ist nicht alles, ich habe Haferflocken gefunden, Cornflakes und Reis. Schätzchen, ich glaube, ich bin auf eine Goldader gestoßen. Das sollte uns eine Weile reichen.«
»Diese Banditen, wie weit draußen bist du ihnen begegnet?«, fragte Tiffany.
»Oh, etwa sechs Meilen nördlich.«
»Wir brauchen Waffen«, sagte sie.
»Sehe ich auch so«, fügte Joselyn hinzu.
»Ich habe ja die Augen aufgehalten, aber ohne Erfolg. Der Waffenladen, an dem ich vorbeigekommen bin, war schon leergeräumt«, erklärte Kyle. »Du hast recht, wir werden uns verteidigen müssen, denn es ist nur eine Frage der Zeit, bis jemand hier auftaucht, der nicht allzu nett ist.«
Das Geräusch schreiender Kinder kam aus einer der Schlafbaracken.
Die drei rannten los.
Kyle erreichte die Baracke als Erster, stürmte durch die Tür und fand dort mehrere Kinder vor, die mit ihren Taschenlampen in die hintere Ecke der Hütte leuchteten. Im Schein der Lampen sah er Vivian, die von der Decke baumelte. »Oh Gott.« Er rannte hinüber zu ihrem leblosen Körper, um zu sehen, ob noch Hoffnung auf Rettung bestand, aber als er sie berührte, wurde ihm sofort klar, dass sie schon eine Weile dort hing.
Tiffany und Joselyn kamen schließlich hinterher. Als sie sahen, wie Kyle sich mit Vivians Leiche abmühte, ging Tiffany zu ihm, um zu helfen, während Joselyn sich um die Kinder kümmerte.
»Warum, Viv, warum?«, fragte Tiffany.
Sie holten ihren Leichnam herunter und legten sie sanft auf den Boden.
Joselyn war mit den Kindern nach draußen gegangen, also konnten sie frei reden. »Werden wir das überleben?«, fragte Tiffany.
Kyle warf ihr einen mitleidigen Blick zu und sagte: »Ja, das werden wir, ich schwöre.«
Sie trat auf ihn zu und legte ihren Kopf an seine Brust. Mit ihren eins fünfundsechzig wirkte sie winzig neben ihm.
Er hob ihr Kinn mit einer Hand und gab ihr einen Kuss auf den Mund. »Ich werde nicht zulassen, dass dir oder den Kindern irgendetwas geschieht, versprochen.«
»Und was jetzt?«
»Wir beerdigen sie und dann sehen wir weiter. Heute ist ein neuer Tag. Ich werde in ein paar Stunden wieder losfahren, um zu sehen, was ich sonst so finden kann.«
»Aber du bist gerade erst zurückgekommen«, sagte sie, als sie ihn fest umarmte.
»Ich muss weitermachen. Wir brauchen Waffen.«
FÜNF WOCHEN NACH DEM KRIEG
Kyle fuhr um die letzte Kurve und blieb vor dem Eingangstor zum Camp stehen.
George kam hinter einer hohen Kiefer hervor und öffnete das Gatter.
Die zwei winkten einander zu und Kyle setzte seinen Weg ins Lager fort. Er war jeden Tag unterwegs gewesen, um die Gegend nach Brauchbarem abzusuchen, aber es wurde immer gefährlicher und er hatte noch immer keine Waffen auftreiben können. Er war erschöpft, frustriert und machte sich langsam Sorgen. Schon bald würden ihnen ihre kümmerlichen Vorräte ausgehen und die Situation wurde immer verzweifelter.
George hatte mittlerweile seine Jagdkünste eingesetzt, aber seine bisherigen Fänge hatten keinen großen Unterschied bewirkt. Die Gruppe kümmerte sich um dreiundzwanzig Kinder, genauso viele, wie zu dem Zeitpunkt, als die Bomben hochgegangen waren. Nicht ein einziges Kind war abgeholt worden, was mehr als traurig war. Zusätzlich zu den Kindern waren noch sechs Erwachsene übrig. Viele hungrige Mäuler für Kleinwildfänge und die wenigen Nahrungsmittel, die Kyle ergattert hatte. Als Josh vor zwei Wochen sämtliche Vorräte mitgenommen hatte, hatte er sie alle mehr oder weniger zum Tode verurteilt.
Kyle parkte den Wagen, wollte aber noch nicht aussteigen. Gelangweilt machte er das Radio an und suchte die Mittelwellenfrequenzen ab. Er hatte das schon einmal versucht und zuvor nur statisches Rauschen empfangen, aber aus unerfindlichen Gründen probierte er sein Glück erneut. Er betätigte den Sendersuchlauf und sah zu, wie die Zahlen heraufwanderten. Die Anzeige schoss an siebzehnhundert kHz vorbei und begann den Durchlauf erneut bei fünfunddreißig, bis sie schließlich bei sechshundert kHz stehen blieb und eine krächzende Stimme zu hören war. Kyle setzte sich aufrecht hin und lauschte.
»… Regierung … Staaten, wir … Cheyenne … Air … bedürftige … zu den Koordinaten N38.7445°, W10 …«
Er sprang aus dem Wagen und rannte direkt auf die Campleiter-Hütte zu, wo er Tiffany zu finden hoffte.
Joselyn lief ihm mit einigen Kindern im Schlepptau über den Weg.
»Wo ist Tiff?«, fragte er, ohne stehenzubleiben.
»Im Schuppen, glaube ich.«
Er sprintete den kleinen Hügel hinauf und platzte in das kleine Gebäude hinein.
Tiffany sprang erschrocken von ihrem Stuhl, als sie ihn sah. »Du hast mich zu Tode erschreckt!«
»Die Regierung, komm schnell«, sagte er aufgeregt und außer Atem.
»Regierung?«
»Ja, komm mit«, sagte er und versuchte, sie zur Eile zu bewegen.
Sie folgte ihm bis zum Pick-up. Als sie dort ankamen, wurde die Nachricht immer noch ausgestrahlt. »Hör dir das an«, sagte er.
Sie nahm auf dem Fahrersitz Platz und lauschte angestrengt der zerstückelten Botschaft. Mit strahlenden Augen sagte sie: »Wir müssen einen höheren Punkt finden. Vielleicht bekommen wir dort einen besseren Empfang.«
»Gute Idee, rutsch rüber«, sagte er.
»Nein, ich fahre«, erwiderte sie, streckte ihm die Zunge heraus und warf die Tür zu.
Sie rasten eine alte Feuerschneise hinauf, die zum Gipfel des Berges führte. Sie hofften auf ein besseres Signal auf dieser Höhe. Während sie immer höher fuhren, änderte sich an der Übertragung nichts. »Och, komm schon«, grummelte er.
»Vielleicht, wenn wir ganz oben sind, hab ein bisschen Geduld«, sagte sie.
Der waldumsäumte Weg endete und sie befuhren nun den nackten, felsigen Gipfel. Tiffany riss das Lenkrad herum, brachte den Wagen auf dem Bergkamm zum Stehen und wie auf wundersame Weise ließ das Rauschen nach und die Aufzeichnung war klar und deutlich zu verstehen.
Kyle machte das Radio lauter.
»An alle Zuhörer, dies ist die Regierung der Vereinigten Staaten, wir senden auf einer Frequenz von sechshundert kHz von der Cheyenne Mountain Air Force Station. Hilfebedürftige begeben sich bitte zu den Koordinaten N38.7445°, W104.8461°.«
Die beiden sahen einander an. Tiffany schossen Tränen in die Augen und auf Kyles Gesicht erschien ein breites Lächeln. »Soll das heißen, dass wir es schaffen werden? Dass wir überleben?«, fragte sie.
»Ich kann das nicht mit Sicherheit sagen, aber ich bin optimistisch. Wir müssen es auf jeden Fall versuchen.«
»Wir haben den Bus, da passen alle rein.«
»Ich nehme den Pick-up, um Vorräte und Ausrüstung zu transportieren, und wir haben noch eine Menge Diesel. Ich würde sagen, wir riskieren es.«
»Sicher?«
Er dachte einen Moment nach, während die Nachricht wiederholt wurde. Er lächelte breit und nickte.
***
»Alle Kinder sitzen im Bus, zusammen mit Andy und Gwen. Joselyn, du begleitest Kyle im Pick-up. Ich werde mit den Kindern im Bus mitfahren und zu guter Letzt, George, du fährst den Bus«, erklärte Tiffany.
»Bitte sag mir, dass du keiner dieser nervösen Leute bist, die auf langweiligen Fahrten stundenlang quasseln«, sagte Joselyn zu Kyle.
»Ich bin noch schlimmer«, gab Kyle zurück.
»Toll, vielen Dank, Tiff«, stöhnte Joselyn und ging davon.
Diejenigen, die im Bus fuhren, stiegen ein, während Tiffany zurückblieb. Sie ging hinüber zu Kyle, der bei seinem Pick-up wartete. »Ich frage lieber noch mal, du hast die Karte und kennst unsere Route?«
»Ja«, versicherte er.
»Du hast reichlich Sprit. Wir halten nicht an, wenn wir nicht müssen.«
»Alles klar.«
»Bist du gut drauf?«
»Absolut.«
»Gut, ich auch«, sagte sie und bewegte sich Richtung Bus. Sie blieb kurz stehen, bevor sie einstieg und sich umdrehte. »Kyle, eine Sache noch.«
Er wartete.
Sie kam auf ihn zugerannt, sprang in seine Arme und gab ihm einen festen, leidenschaftlichen Kuss. Dann lehnte sie sich eine Armlänge zurück und sah tief in seine blauen Augen.
»Wow, das war nett.«
»Ich liebe dich«, sagte sie.
Da er diese Bekundung nicht erwartet hatte, wusste er nicht, wie er darauf reagieren sollte, also stand er nur entgeistert da.
»Es ist okay, wenn du anders empfindest. Ich wollte es dir nur sagen, das ist alles. Wir machen uns besser auf den Weg.«
***
Kyle bemerkte, wie ihn die Müdigkeit übermannte, als sein Kopf abkippte und ruckartig wieder hinaufschnellte.
»Schlaf mir bitte nicht ein«, warnte Joselyn.
»Ich bin fit.«
»Nein, bist du nicht. Wir sollten rechts ranfahren.«
»Nein, nein, wir liegen so gut in der Zeit.«
Joselyn nahm das kleine Funkgerät in die Hand. »Tiff, Joselyn hier. Wir müssen den Fahrer wechseln.«
»Okay, wir können hier an den Seitenstreifen fahren, gleich hinter dem Straßenschild«, antwortete Tiffany.
»Klingt gut«, erwiderte Joselyn. Sie warf Kyle einen Blick zu und sagte: »Du hast es gehört, Großer, fahr rechts ran.«
Kyle gab es nur ungern zu, aber Joselyn hatte recht. Er brachte den Pick-up am Straßenrand zum Stehen und der Bus hielt gleich dahinter an. Er stieg aus, lief auf die Beifahrerseite und stieg wieder ein. Joselyn rutschte einfach über die Sitzbank auf die Fahrerseite.
»Kannst du glauben, dass ich dieses Ding noch nie gefahren bin?«, sagte sie, als sie einen Gang einlegte.
»Jetzt kriege ich Angst.«
»Ich meinte damit nicht, dass ich nicht fahren könnte, nur, dass ich hier noch nie am Steuer gesessen bin. Ich arbeite schon seit drei Jahren in diesem Camp und hatte nie die Gelegenheit.«
»Wo kommst du her?«, fragte Kyle und machte es sich auf seiner Seite bequem.
»Denver.«
»Sorry. Warum habe ich das nicht gewusst?«
»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Die ganze Sache ist scheiße. Ich verstehe einfach nicht, warum jemand einen Krieg anfangen wollen würde, vor allem einen, der die Welt in Schutt und Asche legt. Ich meine, wer tut so etwas?«
»Dumme Leute, Politiker und so. Die gleichen Leute, die jetzt in ihren sicheren Bunkern hocken. Vielleicht treffen wir ja welche in Cheyenne Mountain und geigen ihnen unsere Meinung, was meinst du?«, scherzte Kyle.
»Du lenkst sie ab und ich trete ihnen zwischen die Beine.« Sie lachte.
»Oh ja, die haben ganz bestimmt einen kräftigen Tritt in die Eier verdient.«
»Glaubst du, dort gibt es warmes Wasser?«
»Schätze schon.«
»Das ist eine Sache, die mir wirklich fehlt, eine heiße Dusche.«
»Die dir fehlt? Die du dringend nötig hast, meinst du wohl«, alberte Kyle und wedelte mit einer Hand vor seiner Nase herum.
Joselyn grinste ihn verschmitzt an und streckte ihm ihren Mittelfinger entgegen. »Schei…« Die Windschutzscheibe zersplitterte und eine einzelne Kugel traf Joselyn ins Gesicht und trat aus ihrem Hinterkopf wieder aus. Ihr lebloser Leib sackte gegen das Lenkrad und riss es ein gutes Stück nach links. Der Pick-up neigte sich plötzlich nach rechts, bis er auf die Seite kippte und begann, sich zu überschlagen. Kyle wurde nach der zweiten Umdrehung aus dem Wagen geschleudert, landete rollend auf dem Asphalt und blieb zehn Meter weiter liegen. Der Wagen preschte durch die Leitplanke und purzelte einen steilen Abhang hinunter.
George trat das Bremspedal durch, um den Pick-up und Kyle nicht zu treffen.
Die Kinder begannen zu schreien und zu weinen.
»Halt den Bus an!«, rief Tiffany.
Mehrere Geschosse durchschlugen die Windschutzscheibe, eines traf George am Kopf, ein anderes am Hals. Er fiel nach rechts um und landete im Treppenschacht vor der Eingangstür.
Die Kinder heulten vor Schreck auf.
Tiffany setzte sich hinters Lenkrad und brachte den Bus zum Stehen. Dann drehte sie sich zu den Kindern, die immer noch lauthals weinten und schrien. »Alle hinten raus, sofort!«
Andy, der ganz hinten saß, stand auf und öffnete den Notausgang, um festzustellen, dass dort bereits drei mit Gewehren bewaffnete Männer auf sie warteten.
»Tu ja nichts Unüberlegtes«, warnte einer der Männer.
»Nein, nein, glaubt mir. Wir sind nicht bewaffnet. Wir haben Kinder im Bus«, sagte Andy.
»Komm raus, schön langsam, das gilt für alle, los, los. Hände hoch und keine Mätzchen. Das ist die letzte Warnung, mach nichts Dummes oder ich mach dich alle.«
Andy sprang zuerst heraus. Ein zweiter Mann packte ihn und stieß ihn zu Boden.
Eines nach dem anderen kamen die Kinder heraus, gefolgt von Gwen und schließlich Tiffany. Genau wie Andy mussten sich alle mit dem Gesicht nach unten auf die Straße legen. Tiffany drehte ihren Kopf zur Seite und konnte unter dem Bus entlang Kyle sehen, der immer noch auf dem Asphalt lag. Sie betete, dass er aufwachen und sie retten würde.
Mehrere Männer bestiegen den Bus und begannen, die Sitzreihen nach etwas Brauchbarem abzusuchen. Einer kam zurück und rief: »Nichts weiter als ein paar beschissene Tüten Chips.«
»Wenn ihr nach Lebensmitteln sucht, das war alles im Pick-up«, sagte Tiffany.
»Ist das so?«, sagte der erste Mann. Er warf einen kurzen Blick auf seine Leute und fragte: »Wo ist Mike?«
»Die Straße runter auf Position«, antwortete einer der Männer.
»Der Trottel hat meinen Befehl missachtet. Ich hatte ihm gesagt, er soll auf die Reifen schießen. Aber nein, er muss natürlich den Fahrer erwischen. Jetzt liegt alles, was wir brauchen, da unten in der Schlucht.«
»Es war nicht ganz umsonst, Ray«, sagte einer der Männer. »Wir haben dreiundzwanzig Kinder, zwei Frauen und diese Schwuchtel hier.«
»Ja, das wäre bestimmt toll, wenn wir Kannibalen wären, du bekackter Idiot«, knurrte Ray.
»Nein, du verstehst nicht. Vielleicht können wir sie eintauschen oder so, hm?«
Ray dachte einen Moment nach und dann, als wäre ihm ein Licht aufgegangen, rief er plötzlich: »Ladet ein, Jungs.«
»Okay, ihr habt’s gehört, zurück in den Bus«, brüllte einer der Männer und richtete sein Gewehr auf sie.
Andy und Tiffany standen als Letzte in der Reihe, während die Kinder wieder einstiegen.
Ray kam herüber, musterte Andy kurz und sagte: »Wer zum Teufel will so einen Schwächling haben?«
Die anderen Männer lachten.
Andy warf sich auf die Knie und bettelte um Gnade. »Bitte tut mir nichts.«
Ray zerrte ihn zur Seite, zog seine Pistole und schoss Andy in den Kopf.
Tiffany kreischte. »Wer seid ihr? Ihr verdammten Monster!«
»Na, du bist ja ein vorlautes Ding«, sagte Ray, holte mit seinem Arm aus und verpasste Tiffany eine schallende Ohrfeige.
Die Hand traf sie mit so viel Wucht, dass sie stolperte, gegen den Bus stieß und zu Boden fiel. Sie rollte herum und erhaschte einen Blick auf Kyle, der sich inzwischen regte. Er sah kurz auf, gerade lang genug, dass sie Augenkontakt herstellen konnten. Da sie nicht wollte, dass ihn das gleiche Schicksal ereilte wie Andy, schüttelte sie ihren Kopf und gab ihm zu verstehen, er soll liegen bleiben.
»Tyrone, pack das hübsche Ding auf den Rücksitz. Es ist Zeit, die Widerspenstige zu zähmen«, sagte Ray.
Auf das Geheiß seines Anführers zerrte Tyrone Tiffany auf die Beine und schob sie in den Bus.
Ray rief zu seinen Männern: »Okay, ihr Mistkerle. Gute Arbeit. Wir fahren zurück zur Ranch und feiern ein bisschen!«
Der Bus sprang an.
Kyle versuchte, sich zu bewegen, aber sein Körper verweigerte die Zusammenarbeit. Er hob seinen Kopf ein winziges Stück, als der Bus vorbeifuhr und die Reifen das zerbrochene Glas seines Pick-ups in den Asphalt pressten. Er hob seinen geschunden, blutenden Arm und krächzte: »Tiffany.« Unfähig, noch länger bei Bewusstsein zu bleiben, wurde ihm schwarz vor Augen.
***
»Wer ist das, Dad?«, fragte der kleine Junge.
»Ich kenne seinen Namen nicht, aber das spielt keine Rolle, er ist ein Mensch in Not«, sagte der Mann, der vor Kyle aufragte, der immer noch auf der Straße lag. »Ihr zwei bringt diesen Mann in den Van«, befahl der Mann.
Zwei weitere Männer kamen herüber, hoben Kyle auf und brachten ihn zu einem großen Lieferwagen. Sie legten ihn vorsichtig in den Innenraum. Der Junge und sein Vater stiegen auch mit ein.
Kyle öffnete seine Augen, aber alles, was er sehen konnte, waren zwei verschwommene Gestalten über ihm. »Tiff …«
»Was sagt er, Dad?«, fragte der Junge.
»Klingt, als würde er nach jemandem rufen.«
Der Junge lehnte sich nah an seinen Vater heran und flüsterte: »Wenn die Vorräte knapp sind, warum retten wir ihn? Du sagst immer, die Bedürfnisse vieler übersteigen das Bedürfnis weniger.«
»Mein Sohn, das ist eine gute Frage. Ich habe diesen Mann gesehen und aus irgendeinem Grund hatte ich das Gefühl, er müsste gerettet werden.«
»Noch ein Esser mehr«, sagte der Sohn.
»Er kann die Hälfte meiner Ration haben.«
»Ich verstehe es immer noch nicht.«
»Weil du mit deinem Verstand denkst. Ich denke mit etwas anderem. Ich weiß nicht, wer er ist oder wo er herkommt. Ich weiß nicht, ob er ein guter oder ein böser Mann ist. Aber irgendetwas sagt mir, dass wir ihn brauchen. Ich mag mich irren, aber ich verlasse mich auf mein Bauchgefühl.«
»Aber …«
Der Vater hob seine Hand. »Mehr kann ich dazu nicht sagen. Warten wir ab, wie es sich entwickelt. Entweder stellt er sich als der Retter unserer kümmerlichen Gruppe heraus oder er wird derjenige sein, der ihr ein Ende bereitet. In diesem Moment würde ich auf das Erste tippen.«
Der Fahrer setzte sich ans Steuer und fragte: »War’s das für heute?«
»Ja, bring uns nach Hause.«
»Okay, nächste Haltestelle: Eagle.«
Das Ödland (ehemals Golden, Colorado) Neunzehn Jahre nach dem Krieg
Kyle starrte auf die Schatten, die sich auf der Betonwand abzeichneten. Wer waren sie? Haben sie gelitten oder war es sofort vorbei?, fragte er sich, als er die Hand ausstreckte und die dunklen Flecken berührte. Es waren nicht die ersten Schatten, die er gesehen hatte, und es sollten auch nicht die Letzten sein, aber er fragte sich jedes Mal: Wie war das möglich? Er erinnerte sich an die Geschichten über Nagasaki und Hiroshima und wie die Schatten der Menschen in die Wände und Gehwege eingebrannt worden waren. Es war eine Sache, darüber zu lesen, aber eine ganz andere, es mit eigenen Augen wahrzunehmen.
Ein starker Wind fegte an ihm vorbei. Er drehte sich um und blickte hinaus in die karge, tote Landschaft. In allen Richtungen, so weit das Auge sehen konnte, waren die einst so prächtigen Wälder dem Erdboden gleichgemacht und die Bäume lagen wie ausgebrannte Streichhölzer darnieder. Was die Natur im Laufe von Jahrhunderten erschaffen hatte, hatte der Mensch innerhalb von Sekunden ausgelöscht.
Kyle genoss seine Ausflüge ins Ödland. Es war stets gefährlich, aber dort, zwischen den Überbleibseln des Krieges, fand er Ruhe und Frieden. Er war noch nie so weit ins Ödland vorgedrungen wie an diesem Tag. Tatsächlich hielt er nun den Rekord unter den Drivern und würde ihn auch für eine ganze Weile behalten, da die anderen diese Gegend nicht besonders mochten und wussten, dass Kyle stets bereit war, diese Touren für sie zu übernehmen. Die anderen bevorzugten leichteres Terrain und mieden die Orte, an denen sich einst größere Städte befunden hatten.
Er trat auf das zerbröckelte Fundament des Hauses. Seine Augen huschten umher, bis er das gefunden hatte, was er suchte … eine Treppe, die in einen Keller führte. Andere Driver übersahen meistens die Keller. Nicht Kyle. Sie waren häufig unangetastete Schatzkammern. Ein Haufen Schutt, größtenteils die verschmorten Überreste des Hauses, blockierte den Weg. Sorgfältig und methodisch räumte er ein Stück nach dem anderen beiseite, wobei er darauf achtete, seinen Schutzanzug nicht zu beschädigen. Geduld war hier von großem Vorteil und zum Glück hatte er reichlich davon. Im Ödland herrschte ein anderes Tempo. Eile führte häufig zu Fehlern und in dieser Umgebung konnten diese tödlich enden.
Sobald die Treppe frei war, trat er die Stufen hinunter, aber kam nicht weit. Eine große Brandschutztür versperrte ihm den Weg. Er fasste den Türknauf an und drehte ihn. Zu seinem Glück war die Tür unverschlossen, aber sie öffnete sich nicht. Er stemmte sich mit seinem vollen Gewicht dagegen und drückte.
Die Tür knarzte, gefolgt von einem pfeifenden Luftzug. Das verriet ihm, dass dieser Raum seit Jahren nicht betreten worden war, vielleicht sogar seit dem Tag, an dem der Krieg begonnen hatte. Kyle trat zurück. Er zog seine Taschenlampe hervor und schob die Tür vollständig auf. Er leuchtete schnell den Raum ab, bevor er eintrat, und bestätigte seine Vermutung, dass seit Langem niemand hier gewesen war. Der Raum war ein Zeitzeugnis einer vergangenen Epoche, gut erhalten unter einer dicken Staubschicht. Da er es für ungefährlich hielt, trat er weiter hinein.
Als Erstes fiel ihm auf, dass der Keller als Wohnraum genutzt worden war. In der hinteren Ecke zu seiner Rechten stand eine Couchlandschaft. An der Wand davor hing ein 50-Zoll-Flachbildfernseher. Rechts davon erspähte Kyle einen Billard-Tisch.
Er schwenkte den Lichtstrahl nach links. Dort entdeckte er eine Waschmaschine und einen Trockner. Kleidungsstücke baumelten an einer Wäscheleine, die an einem Stützpfeiler befestigt war.
Kyle ging geradewegs auf die Geräte zu. Er nahm einen Wäschekorb und begann, die Bleiche und Reinigungsmittel einzusammeln. Mit Blick auf die Kleidungsstücke hielt er inne.
»Schauen wir doch mal, ob ihr sauber seid«, sprach er zu sich selbst. Er nahm das Strahlenmessgerät, das an seinem Mehrzweckgürtel hing, schaltete es ein und führte es an den Kleidern entlang. »Hm, besorgniserregende Werte. Prima.« Erfreut zog er jedes Wäschestück von der Leine und stopfte sie in den Korb.
Neben der Waschmaschine stand ein großer Metallschrank und lockte ihn. Er öffnete die Türen und wusste, er hatte einen Volltreffer gelandet. Batterien, Glühbirnen, Handtücher, Papiertücher und das vielleicht begehrteste Gut, Toilettenpapier. Er räumte den Schrank bis auf eine Schachtel mit Nagellack leer. Bevor er es sich anders überlegen konnte, drehte er sich noch mal um und steckte auch den Nagellack ein.
Nachdem er die linke Hälfte des Raums inspiziert hatte, wandte er sich der rechten Hälfte zu. Als Erstes entfernte er die Batterien aus den Fernbedienungen.
Dann durchsuchte er eine kleine TV-Bank, fand aber nichts von Wert.
In seiner Aufregung begann er zu schwitzen und Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn. Abgesehen von einem Loch im Schutzanzug gab es kaum etwas Schlimmeres als einen beschlagenen Visor, der die Sicht deutlich einschränkte. Er sah auf seine Uhr. Zwei Stunden bis Sonnenuntergang. Er hatte die Zeit vergessen. Nun würde er es vor Einbruch der Dunkelheit nicht mehr zur östlichen Grenze des Kollektivs zurückschaffen und er wollte nicht riskieren, nachts unterwegs zu sein.
Da er nicht dringend erwartet wurde, beschloss er, die Nacht im Keller zu verbringen und in aller Frühe aufzubrechen. Er trat einen Schritt zurück und ließ sich auf die Couch fallen.
Eine Staubwolke wallte um ihn herum auf.
Auf dem Couchtisch sah er einen Stapel Magazine liegen. Er nahm das oberste in die Hand, eine Ausgabe von Women’s Health, und wischte die Staubschicht darauf ab. Er musste kichern, als er das Deckblatt sah: Lass 10 kg schmelzen für die heiße Sommerfigur. »Zehn Kilo zu verlieren ist heutzutage nicht mehr schwer.« Er grinste. Gluten-frei und vegan: Für dein gesundes Selbst! Da brach er in Gelächter aus, denn seit die Bomben gefallen waren, war er niemandem mehr begegnet, der glutenintolerant war oder sich vegan ernährte.
Er legte eine Pause ein, um sich abzukühlen, und blätterte durch das Magazin, wobei seine dicken Gummihandschuhe an den dünnen Seiten kleben blieben und sie zerrissen. Er verlor bald das Interesse und legte das Magazin beiseite. Er lehnte sich zurück und holte tief Luft. Neugierig darauf, was sich noch in den dunkleren Ecken des Kellerraums verbergen mochte, leuchtete er mit seiner Taschenlampe in diese Richtung.
Das Licht verdrängte die Dunkelheit.
Langsam leuchtete er umher, bis er plötzlich etwas entdeckte. Er stand auf und ging hinüber.
Dort, auf dem Boden in einem Kreis verteilt, lagen die knochigen Überreste von vier Menschen. Wieder einmal fragte er sich, wer sie gewesen sein mochten.
Nach der Größe zu urteilen, handelte es sich um zwei Kinder und zwei Erwachsene. Wenn dies eine Familie war, wessen Schatten waren dann da oben in die Wand gebrannt? Großeltern? Nachbarn? Freunde?
Sein Lichtstrahl blieb an einem dicken, pinkfarbenen Buch hängen, das neben einem der kleineren Skelette lag. Er bückte sich, hob es auf und wischte den Staub ab. ›Mias Tagebuch‹ stand darauf geschrieben. Er blickte wieder hinab. »Hi Mia. Was dagegen, wenn ich dein Tagebuch lese? Ich verspreche, ich verrate niemandem davon. Ich möchte nur wissen, was hier passiert ist.« Er hielt inne, als rechnete er mit einer Antwort, und erhob sich wieder. Einen Moment später drehte er sich um und ging zurück zur Couch.
Wieder machte er es sich bequem, öffnete das Buch und blätterte zu dem Datum, an dem die Bomben herabgeregnet waren, oder wie Nummer 1, sein Anführer es nannte, der Reboot. Nummer 1 hatte diesen Namen gewählt, da er sein Leben als Computerprogrammierer verbracht hatte. Er predigte gern, dass der Reboot etwas Gutes für die Menschheit war, woraufhin Kyle jedes Mal die Augen verdrehte. Wie konnte der Tod von Milliarden von Menschen etwas Gutes sein?
Kyle fand die Seite, die er suchte und begann zu lesen.
19. August. Ich sollte mich fertig machen, um ins Kino zu gehen, aber stattdessen hocke ich im Keller mit meiner nervigen Schwester und meinen Eltern. Im Fernsehen hat jemand gesagt, dass Bomben an der Ostküste runtergekommen sind, Atombomben. Dad sagt, wir sollen uns keine Sorgen machen. Denver ist bestimmt kein Ziel. Ich gebe zu, ich habe Angst, aber es kotzt mich ziemlich an. Heißt das, dass ich den Tanz zum Schulbeginn verpasse? Das geht gar nicht. Heute wollte ich Hudson fragen, ob er mit mir da hingehen will. Warum passiert so was? Ich hasse mein Leben.
Kyle sah hinüber in die dunkle Ecke und leuchtete Mia an. »Schade, dass du deinen Tanz verpasst hast.« Er runzelte die Stirn und las weiter.
Mom rastet immer mehr aus und Dad läuft nur noch nervös auf und ab. Ich hoffe, Oma und Opa kommen bald. Dad hat sie noch erreichen können, aber jetzt funktionieren die Telefone nicht mehr und ich bekomme keine Nachrichten mehr. Meine Schwester weint. Sie tut mir leid … zumindest ein bisschen.
Der Fernseher ist ausgegangen und der Strom ist weg. Ich habe nur noch das Licht, das durchs Fenster kommt. Ich habe jetzt offiziell Angst. Was ist nur los?
Kyle presste kurz seine Lippen zusammen und sagte: »Das Ende der Welt, Schätzchen, das Ende der Welt.«
Da draußen war gerade ein Lichtblitz. Mom sitzt neben mir und hält Olivia, die nicht aufhört zu weinen. Der Boden wackelt und …
Er wollte wissen, wie sie ausgesehen hatte, und blätterte auf der Suche nach einem Foto durch das Buch. Nichts. Die Erfindung des Smartphones hatte es den Leuten leicht gemacht, Fotos zu schießen, aber niemand hatte sich die Mühe gemacht, sie auszudrucken. Die fotografische Geschichte einer gesamten Generation war durch den Reboot dahin.
21. August. Ich weiß nicht, warum ich das noch aufschreibe. Niemand wird es jemals lesen. Dad behauptet immer noch, dass alles gut wird, aber Mom sagt was anderes. Nach dem Erdbeben vor zwei Tagen ist Dad rausgegangen, um zu sehen, was passiert ist. Er ist gleich zurückgekommen und hat gesagt, das Haus ist weg. Eingestürzt. Er meint, der Keller hat uns das Leben gerettet. Das einzige Fenster an der Rückwand ist angeknackst, aber sonst ganz. Dad sagt, wir müssen nur abwarten und dass die Polizei oder die Feuerwehr kommt, um uns zu helfen.
Kyle schüttelte den Kopf und dachte: Wie traurig.
25. August. Olivia ist letzte Nacht gestorben. Der Rest von uns ist krank. Dad sagt immer noch, dass die Polizei oder die Regierung kommen wird. Er und Mom streiten die ganze Zeit. Ich weiß, dass Dad lügt. Er will nur nicht, dass wir uns Sorgen machen. Ich habe Angst. Ich will nicht sterben. Warum ist das nur passiert?
Kyle blätterte um. Die nächste Seite war leer, genau wie die darauffolgenden Seiten. Er blätterte den Rest des Buchs durch. Nichts. Der fünfundzwanzigste August war ihr letzter Eintrag. Sie muss kurz darauf gestorben sein, vermutlich Strahlenvergiftung, dachte er.
Er legte das Buch auf den Couchtisch und sah hinüber zu der Familie. »Tut mir leid, was euch zugestoßen ist.« Er legte sich der Länge nach auf die Couch und schloss seine Augen. Gedanken an Mia und ihre Familie schwirrten durch seinen Kopf. Er stellte sich den Vater vor, besorgt um seine Familie, aber hilflos. Für einen Elternteil musste dies das allerschlimmste Gefühl sein. Während er tief in Gedanken schwelgte, schlief er ein.
***
Ein lautes Scheppern drang von oben herab.
Kyle öffnete seine Augen, aber es war stockdunkel. Die Nacht war hereingebrochen und hatte sämtliches Licht geschluckt.
Schritte und unverständliche Stimmen waren oberhalb der Treppe zu hören.
Er setzte sich weit genug auf, dass sein Arm über die Rückenlehne der Couch reichte. Dann zog er seine halbautomatische Pistole aus dem Holster an seinem Bein und richtete sie auf die Tür.
Die Schritte wurden lauter und schienen sich der Tür zu nähern.
Wer auch immer gerade die Treppe hinunterlief, würde von einem Schwall Kugeln empfangen werden. Im Ödland wurde erst geschossen, bevor man Fragen stellte. Eine Sekunde lang fragte er sich, ob es ein anderer Driver sein konnte, verwarf den Gedanken aber schnell. Er war der Einzige, der sich so weit hinauswagte. Es mussten Generierte sein, eine umherstreifende Bande von Kannibalen, die am Rand der bewohnbaren Zonen lebten. Sie waren fürchterlich anzusehen, aber auch nicht zu unterschätzen. Ihr Name stammte von dem Wort ›degeneriert‹ und im Laufe der Zeit waren sie schlicht als die Generierten bekannt geworden.
Der Türknauf drehte sich.
Kyle hielt sich bereit, Pistole im Anschlag.
Die Tür flog auf.
Ohne zu zögern, betätigte Kyle einige Male den Abzug.
Ein Schrei ertönte, gefolgt von dem unverwechselbaren Geräusch von etwas Schwerem, das zu Boden fiel.
Kyle rührte sich nicht.
Das Klatschen von Füßen und Geschrei hallte im Treppenaufgang und nahm schnell ab. Wer auch immer da war, war auf der Flucht.
Kyle stand auf, schaltete seine Taschenlampe ein und richtete den Strahl auf die Tür. Dort sah er einen Jungen in einer kleinen Blutlache liegen. Kyle eilte hinüber und blieb mehr als eine Armlänge entfernt stehen.
Der Junge, nicht älter als fünfzehn, hob seinen Kopf und ächzte: »Hilfe.«
Kyle sah ihn an und schüttelte den Kopf. Er war erstaunt, dass die Generierten sich ohne jegliche Sicherheitsvorkehrungen gegen die Strahlung, die immer noch vorlag, so weit ins Ödland trauten. »Idioten.«
Der Junge hob eine zitternde Hand. »Hilfe, bitte.«
Kyle neigte seinen Kopf und dachte kurz daran, ihm zu helfen, aber das änderte sich, als er die Halskette sah, die der Junge trug. »Wer hätte gedacht, dass Ohren mal in Mode kommen würden?« Die Kette war nichts weiter als ein Stück Schnur, aber was daran aufgefädelt war, zeugte von der Grausamkeit der Generierten und ihren Gepflogenheiten. Sie trennten jedem ihrer Opfer ein einzelnes Ohr als Trophäe ab. Kyle ging auf ein Knie und sagte: »Wenn ich dich ansehe, ohne irgendetwas über deine Sorte zu wissen, sehe ich nur einen Teenager. Ein Junge, der nach Hilfe ruft, verängstigt und schwach.«
Der Junge begann zu husten und spuckte eine beträchtliche Menge Blut aus. »Bitte.«
»Ich zähle hier, äh, vier Ohren. Wow, du hast vier Leute umgebracht, gut für dich. Erzähl mal, schmeißt ihr eine Party, wenn ihr eine bestimmte Anzahl erreicht?«, spottete Kyle.
Lauter hustend rief der Junge: »Hilfe!«