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Ichiro Kishimi

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Beschreibung

In der Fortsetzung des SPIEGEL-Bestsellers «Du musst nicht von allen gemocht werden» hadert der junge Mann mit der Umsetzung seiner neu gewonnen Erkenntnisse und einer großen Angst vorm Scheitern: Wie lässt sich das Glück im Leben finden? Wie lassen sich Adlers Prinzipien im normalen Alltag praktizieren? Und was ist «die größte Wahl» im Leben, die man treffen muss, um glücklich und zufrieden zu leben? Auch diesmal wird die leidenschaftliche Diskussion zwischen dem aufgebrachten jungen Mann und dem weisen Philosophen dem Leser völlig neuen Einsichten über sich selbst und das eigene Leben vermitteln.

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Seitenzahl: 340

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Ichiro Kishimi • Fumitake Koga

Du bist genug

Vom Mut, glücklich zu sein

Aus dem Englischen von Renate Graßtat

Über dieses Buch

«Die wahre Herausforderung besteht darin, den Mut zu haben, immer weiterzugehen.»

 

Sie haben den ersten Schritt gemacht. Das war ein großer Schritt. Nun haben Sie allerdings nicht nur den Mut verloren und sind stehengeblieben, sondern versuchen auch noch umzukehren. Wissen Sie warum? Wie lässt sich die Liebe im Leben finden? Und was ist die größte Wahl, die man treffen muss, um glücklich und zufrieden zu sein?

Die leidenschaftliche Diskussion zwischen einem aufgebrachten jungen Mann und einem weisen Philosophen vermittelt völlig neue Einsichten über sich und das eigene Leben, erzählt von Selbstständigkeit und wahrer Liebe – auch der, zu sich selbst.

 

«Kluge Lektüre, die dazu anregt, aktiv sein Glück zu schmieden.» Hamburger Morgenpost über den SPIEGEL-Bestseller «Du musst nicht von allen gemocht werden»

Vita

Ichiro Kishimi wurde 1956 in Kyoto geboren, wo er heute noch lebt. Schon in der Highschool hatte er den Wunsch, Philosoph zu werden. Seit er sich 1989 auf die klassische westliche Philosophie mit dem Schwerpunkt der Platonischen Lehren spezialisierte, erforscht er die Psychologie Adlers, schreibt darüber und hält Vorträge. Außerdem arbeitet er als anerkannter Berater der Japanese Society of Adlerian Psychology mit Jugendlichen in psychiatrischen Kliniken. Er übersetzte ausgewählte Werke Adlers ins Japanische und ist Autor einer Einführung in die Psychologie Adlers sowie zahlreicher anderer Bücher.

 

Fumitake Koga, mehrfach preisgekrönter Autor, wurde 1973 geboren. Er veröffentlichte zahlreiche Bestseller im Bereich berufsbezogener und allgemeiner Sachliteratur. Mit Ende zwanzig begegnete er der Psychologie Adlers und fühlte sich von ihren Vorstellungen, die den herkömmlichen Weisheiten entgegenstanden, sehr angezogen. So besuchte er häufig Ichiro Kishimi in Kyoto, lernte bei ihm immer mehr über das Wesen der Adler'schen Psychologie und machte sich dabei Notizen für das klassische Dialogformat der griechischen Philosophie, das in diesem Buch verwendet wird.

Vorbemerkung der Autoren

Alfred Adler zählte neben Sigmund Freud und Carl Gustav Jung zu den Koryphäen in der Welt der Psychologie – und war doch viele Jahre in Vergessenheit geraten. Im für die griechische Philosophie traditionellen Format des Dialogs zwischen einem jungen Mann und einem Philosophen gibt dieses Buch eine Einführung in das Denken Adlers, von dem es heißt, es sei seiner Zeit um hundert Jahre voraus gewesen.

Die Figuren in diesem Buch sind ein Philosoph, der sich mit der griechischen Philosophie im Zusammenhang mit der Psychologie Adlers beschäftigt, und ein junger Mann, der sein Leben pessimistisch betrachtet. Im vorangegangenen Buch, Du musst nicht von allen gemocht werden, befragte der junge Mann den Philosophen eingehend nach seiner Überzeugung, dass «die Menschen sich verändern können. Und nicht nur das: Sie können auch das Glück finden.» Der Philosoph gab ihm folgende Antwort:

«So etwas wie innere Probleme gibt es gar nicht. Alle Probleme entstehen durch zwischenmenschliche Beziehungen.» – «Man darf keine Angst haben, nicht gemocht zu werden. Es bedeutet Freiheit, von anderen nicht gemocht zu werden.» – «Ihnen fehlen nicht die Fähigkeiten. Ihnen fehlt nur Mut.» – «Es gibt weder die Vergangenheit noch die Zukunft. Es gibt nur ‹hier und jetzt›.»

Der junge Mann widersetzte sich immer wieder diesem Strom radikaler Aussagen. Als er jedoch Adlers Vorstellung eines Gemeinschaftsgefühls kennenlernte, akzeptierte er am Ende die Worte des Philosophen und beschloss, sich zu verändern.

In diesem Band finden wir uns drei Jahre nach diesen Gesprächen wieder. Der junge Mann ist inzwischen Lehrer geworden und möchte die Lehren Adlers in die Praxis umsetzen. So sucht er wieder den Philosophen auf. «Die Psychologie Adlers ist nur ein Haufen leerer Theorien. Sie versuchen, junge Menschen mit den Ideen Adlers in Versuchung zu führen und zu manipulieren. Ich muss mich von solch gefährlichen Theorien lösen.» Das behauptet er.

Auf welche Weise sollten wir dem Pfad zum Glück folgen, der im vorangegangenen Buch aufgezeigt wurde? Ist die Lehre Adlers, die sehr idealistisch klingt, wirklich eine Philosophie, die sich auch in die Praxis umsetzen lässt? Und zu welchem Schluss gelangt Adler über die «wichtigste Wahl im Leben»?

Dies ist der Abschluss eines zweiteiligen Werkes, in dem die Essenz Alfred Adlers und seiner Psychologie des Mutes untersucht wird. Bitte finden Sie für sich selbst heraus – zusammen mit dem jungen Mann, der an Adler zweifelte und gegen ihn rebellierte –, welche Art von Mut wir benötigen.

Eröffnung

Es hätte ein unbeschwerter und freundlicher Besuch werden sollen. «Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, wenn ich Sie hier irgendwann einmal wieder besuche. Ja, als unersetzlicher Freund. Und ich werde nichts mehr über das Zerfetzen Ihrer Argumente sagen.» Der junge Mann hatte diese Worte bei seinem Abschied an diesem Tag tatsächlich geäußert. Jetzt waren allerdings drei Jahre vergangen, und er war mit völlig anderen Absichten zum Arbeitszimmer des Philosophen zurückgekommen. Der junge Mann zitterte, weil die Ungeheuerlichkeit dessen, was er vorbringen wollte, wie eine schwere Last auf ihm lag, und er wusste nicht, wo er anfangen sollte.

Philosoph: Nun, erzählen Sie mir, was los ist?

 

Junger Mann: Sie wollen wissen, warum ich wieder hierher zurückgekommen bin? Na ja, leider nicht einfach nur, um mit Ihnen ein bisschen Zeit zu verbringen und eine alte Freundschaft aufzufrischen. Ich bin sicher, Sie haben zu tun, und auch ich bin nicht in der Situation, dass ich viel Zeit für solche Dinge hätte. Es ist also etwas Dringendes, das mich hierhergeführt hat.

 

Philosoph: Ja, natürlich, das wird es wohl sein.

 

Junger Mann: Ich habe über alles nachgegrübelt. Ich habe mir sehr viele Gedanken gemacht und war ganz davon besessen und habe alles komplett durchdacht. Dabei bin ich zu einem schwerwiegenden Entschluss gelangt und habe mich entschieden, hierherzukommen und Ihnen das mitzuteilen. Ich weiß, Sie haben viel zu tun, also schenken Sie mir nur für diesen einen Abend Ihre Zeit. Denn dies wird wahrscheinlich mein letzter Besuch sein.

 

Philosoph: Was ist passiert?

 

Junger Mann: Können Sie sich das nicht denken? Es ist das Problem, unter dem ich so lange gelitten habe: «Gebe ich Adler auf oder nicht?»

 

Philosoph: Ah. Ich verstehe.

 

Junger Mann: Ich komme gleich zur Sache: Adlers Vorstellungen sind Unsinn. Einfach nur Unsinn. Ich muss sogar noch weiter gehen und sagen, gefährlicher, sogar schädlicher Unsinn. Wenn Sie selbst natürlich die Freiheit haben zu entscheiden, welchen Ideen Sie anhängen wollen, so möchte ich doch, dass Sie, wenn möglich, ein für alle Mal aufhören, darüber zu reden. Wie ich schon gesagt habe, soll dies heute Abend mein letzter Besuch bei Ihnen sein – in dem Wissen, dass ich mich von Adler verabschieden muss, in Ihrem Beisein und mit diesem Gefühl in meinem Herzen.

 

Philosoph: Und hat es einen Auslöser dafür gegeben?

 

Junger Mann: Ich werde das der Reihe nach und in aller Ruhe durchgehen. Zuerst einmal: Erinnern Sie sich an diesen Tag vor drei Jahren, als wir uns das letzte Mal gesehen haben?

 

Philosoph: Natürlich erinnere ich mich. Es war ein Wintertag, und überall lag glitzernder weißer Schnee.

 

Junger Mann: Ja, genau. Der Abendhimmel hatte ein wundervolles Blau, und es war Vollmond. Von Adlers Ideen beeindruckt, machte ich an jenem Tag einen großen Schritt nach vorn. Ich gab meine Arbeit in der Universitätsbibliothek auf und fand eine Stelle als Lehrer in meiner alten Grundschule. Ich dachte, es wäre schön, eine Art Erziehung in die Praxis umzusetzen, die auf den Lehren Adlers beruht, und sie so vielen Kindern wie möglich nahezubringen.

 

Philosoph: Ist das nicht eine wundervolle Entscheidung?

 

Junger Mann: Sicher. Ich brannte damals vor Idealismus. Ich konnte doch solche großartigen, weltverändernden Ideen nicht einfach nur für mich behalten. Ich musste sie auch anderen Menschen vermitteln. Doch wem? Da gab es nur eine Schlussfolgerung: Die Erwachsenen, die nicht mehr unberührt und unverdorben sind, brauchen nichts über Adler zu erfahren. Seine Vorstellungen werden sich weiterentwickeln, wenn man sie den Kindern vermittelt, die eine neue Generation aufbauen werden. Das war die Mission, der ich mich verschrieben hatte. Das Feuer in mir brannte lichterloh.

 

Philosoph: Ich verstehe. Sie können darüber nur in der Vergangenheit sprechen?

 

Junger Mann: So ist es. Das ist jetzt Geschichte. Aber bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Ich habe nicht die Hoffnung in meine Schüler verloren. Und auch bei der Erziehung habe ich nicht aufgegeben. Ich habe nur einfach bei Adler die Hoffnung verloren – was bedeutet, ich habe bei Ihnen die Hoffnung verloren.

 

Philosoph: Und warum?

 

Junger Mann: Nun, darüber sollten Sie einmal nachdenken und sich das selbst fragen! Adlers Vorstellungen sind in der realen Gesellschaft völlig nutzlos, sie sind nur abstrakte, leere Theorien. Vor allem das Erziehungsprinzip, das lautet: «Man darf nicht loben und nicht tadeln.» Und diesem Grundsatz bin ich treu gefolgt, wissen Sie. Ich habe niemanden gelobt und auch niemanden gerügt. Es gab kein Lob für die volle Punktzahl in Tests oder dafür, ordentlich aufgeräumt zu haben. Ich habe niemanden gerügt, der seine Hausaufgaben vergessen hatte oder in der Klasse laut war. Und was, glauben Sie, war das Ergebnis?

 

Philosoph: Die Klasse war nicht mehr zu bändigen?

 

Junger Mann: Ganz genau. Aber wenn ich jetzt an das alles zurückdenke, war das nur eine natürliche Folge. Es war meine Schuld, dass ich auf einen so billigen Schwindel hereingefallen bin.

 

Philosoph: Und was haben Sie dann gemacht?

 

Junger Mann: Für die Schüler, die schlimme Sachen machten, habe ich natürlich den Weg strenger Zurechtweisung gewählt. Ich weiß, Sie werden sich darüber lustig machen und mir sagen, das sei eine dumme Entscheidung gewesen. Aber sehen Sie, ich bin niemand, der sich viel mit Philosophie abgibt und in Tagträumen verliert. Ich bin Pädagoge, ich habe mit realen Situationen zu tun, ich bin für das Leben von Schülern und für ihr Schicksal mit verantwortlich. Denn die Realität vor uns steht nicht still – sie bewegt sich ständig, von einem Moment zum anderen. Man kann sich nicht einfach zurücklehnen und nichts tun!

 

Philosoph: Und welche Wirkung hat das?

 

Junger Mann: Wenn ich sie weiterhin zurechtweise, wird das natürlich nicht gut sein. Denn sie achten mich nicht mehr – ich bin nur ein Softie für sie. Ehrlich gesagt, manchmal beneide ich sogar die Lehrer vergangener Zeiten, als körperliche Züchtigung noch erlaubt war oder sogar die Regel.

 

Philosoph: Das ist keine einfache Situation.

 

Junger Mann: Wohl wahr. Nur damit es keine Missverständnisse gibt, möchte ich erwähnen, dass ich mich nicht von meinen Gefühlen überwältigen lasse oder wütend werde. Ich weise nur zurecht, auf eine vernünftige Weise, als letztes Mittel der Erziehung. Man könnte vielleicht sagen, ich verschreibe ein antibiotisches Mittel mit dem Namen «schwerer Tadel».

 

Philosoph: Und dann dachten Sie, Sie müssten sich von Adler verabschieden?

 

Junger Mann: Na ja, ich habe das nur erzählt, um Ihnen ein klares Beispiel zu geben. Adlers Ideen sind wirklich großartig. Sie erschüttern das eigene Wertesystem und geben einem das Gefühl, als würde sich der bewölkte Himmel über einem lichten; als hätte sich das eigene Leben verändert. Sie scheinen jenseits aller Kritik zu sein, sogar eine universelle Wahrheit. Doch der eigentliche Punkt ist: Sie gelten nur hier, in diesem Arbeitszimmer. Haben Sie erst einmal die Tür geöffnet und sind in die wahre Welt da draußen eingetaucht, dann sind Adlers Vorstellungen einfach zu naiv. Die Argumente, die er vorbringt, sind völlig unbrauchbar und rein idealistisch. Sie haben sich einfach Ihre eigene Welt zurechtgebastelt, die hier in Ihrem Arbeitszimmer Ihren eigenen Zwecken dient, und sich in Tagträumen verloren. Sie wissen überhaupt nichts von der richtigen Welt und den Massen von Menschen, die dort leben!

 

Philosoph: Ich verstehe … Und dann?

 

Junger Mann: Eine Erziehung, in der weder gelobt noch getadelt wird? Die die Autonomie befürwortet und die Schüler sich selbst überlässt? Das ist nichts anderes als die Aufgabe der beruflichen Pflichten als Lehrer und Erzieher. Von jetzt an werde ich den Kindern auf eine Weise begegnen, die sich völlig von der Sichtweise Adlers unterscheidet. Es geht mir nicht darum, ob es «richtig» ist oder nicht, denn ich habe keine andere Wahl. Ich werde loben und auch tadeln. Und natürlich werde ich auch hart bestrafen.

 

Philosoph: Nur zur Klarstellung: Sie werden Ihre Tätigkeit als Pädagoge nicht aufgeben, oder?

 

Junger Mann: Keineswegs. Den Weg des Pädagogen werde ich niemals verlassen. Denn das ist der Weg, den ich gewählt habe. Er ist nicht einfach ein Job für mich, sondern eine Lebensweise.

 

Philosoph: Es ist sehr beruhigend, das zu hören.

 

Junger Mann: Sie glauben also, das ist nicht Ihr Problem? Wenn ich weiterhin als Pädagoge arbeite, muss ich Adler hier und jetzt aufgeben! Wenn ich das nicht tue, verzichte ich auf meine erzieherische Verantwortung und lasse meine Schüler im Stich. Damit drücke ich sozusagen Ihnen das Messer an die Kehle. Was haben Sie nun dazu zu sagen?

• • •

Philosoph: Erlauben Sie mir zuerst eine Richtigstellung. Sie haben vorhin das Wort «Wahrheit» benutzt. Aber ich stelle Adler nicht als absolute, unveränderliche Wahrheit hin. Man könnte sagen, dass ich so etwas wie ein Rezept für Brillengläser verschreibe. Ich glaube, dass sich das Gesichtsfeld vieler Menschen durch diese Linsen erweitert hat. Auf der anderen Seite gibt es wahrscheinlich auch andere, die meinen, ihre Sicht sei sogar verschwommener geworden als zuvor. Ich habe nicht vor, diesen Menschen die Linsen von Adler aufzuzwingen.

 

Junger Mann: Dann laufen Sie also vor ihnen davon?

 

Philosoph: Nein. Sehen Sie es einmal so: Keine andere Denkform ist so leicht misszuverstehen und so schwer richtig zu begreifen wie die Psychologie Adlers. Die Mehrheit derjenigen, die behaupten, Adler zu kennen, verstehen seine Lehren falsch. Sie besitzen nicht den Mut, sich einem wirklichen Verständnis anzunähern, und sie versuchen erst gar nicht, auf die Landschaft zu schauen, die sich hinter seinen Gedankengängen entfaltet.

 

Junger Mann: Adler wird missverstanden?

 

Philosoph: Ja, genau. Wenn jemand mit den Ideen Adlers in Kontakt kommt und sofort sehr tief berührt ist und sagt: «Das Leben ist jetzt einfacher», versteht er Adler grundlegend falsch. Denn wenn man wirklich versteht, was Adler von uns erwartet, ist man wahrscheinlich eher geschockt von der Radikalität.

 

Junger Mann: Sie wollen also sagen, dass auch ich Adler missverstanden habe?

 

Philosoph: Ja, nach allem, was Sie mir gesagt haben, scheint es mir so. Damit sind Sie jedoch keineswegs allein. Es gibt viele Adlerianer (Psychologen, die nach Adlers Lehren praktizieren), die ihn zu Beginn missverstehen und dann die Verstehensstufen erklimmen. Es scheint mir, als hätten Sie die Leiter noch nicht gefunden, auf der Sie diese Stufen hinaufsteigen können. Ich fand sie auch nicht gleich, als ich jung war.

 

Junger Mann: Hmm. Sie hatten also auch eine Zeit, in der Sie nicht mehr weiterwussten?

 

Philosoph: Ja, die hatte ich.

 

Junger Mann: Dann möchte ich, dass Sie mir den Weg zeigen. Wo ist diese Leiter des Verstehens, und was ist das eigentlich? Was meinen Sie überhaupt mit «Leiter»? Wo haben Sie sie gefunden?

 

Philosoph: Ich hatte Glück. Weil ich ein «Hausmann» war und mit der Erziehung eines Kindes beschäftigt, als ich Adler kennenlernte.

 

Junger Mann: Was meinen Sie damit?

 

Philosoph: Durch mein Kind verstand ich Adler, und mit meinem Kind konnte ich mein Wissen in die Tat umsetzen und auf diese Weise vertiefen. Ich erhielt den sicheren Beweis für seine Lehren.

 

Junger Mann: Und genau das möchte ich von Ihnen wissen! Was haben Sie verstanden? Und was ist das für ein sicherer Beweis, den Sie erhalten haben?

 

Philosoph: Mit einem Wort: Es war «Liebe».

 

Junger Mann: Was haben Sie gesagt?

 

Philosoph: Das muss ich sicher nicht wirklich noch einmal wiederholen, oder?

 

Junger Mann: Haha, das ist wirklich lustig! Liebe – das, worüber man nicht zu sprechen braucht? Sie sagen, wenn ich den wahren Adler kennenlernen will, muss ich die Liebe verstehen?

 

Philosoph: Wenn Sie über dieses Wort lachen können, verstehen Sie es noch nicht wirklich. Die Liebe, die Adler meint, ist die härteste Aufgabe überhaupt – und eine, die den meisten Mut erfordert.

 

Junger Mann: Also bitte! Sie wollen mir jetzt also wie ein Prediger etwas von Nächstenliebe erzählen. Das will ich mir nicht anhören.

 

Philosoph: Sie haben gerade erklärt, dass Sie im Bereich der Erziehung in einer Sackgasse sind und Adler misstrauen. Und dann beteuern Sie wortreich, dass Sie Adler verurteilen und nicht wollen, dass ich weiter über ihn rede. Was regt Sie denn so auf? Ich nehme an, Sie haben gedacht, die Lehren Adlers wären eine Art Magie. Als könnte man einfach einen Zauberstab schwenken, und kurzerhand würden alle Wünsche wahr. Wenn das so ist, sollten Sie sich wirklich von Adler verabschieden. Sie sollten das falsche Bild von Adler aufgeben, das Sie gehegt haben, und den richtigen Adler kennenlernen.

 

Junger Mann: Nein, das stimmt nicht! Zuerst einmal habe ich nie erwartet, dass Adler ein Zauberer wäre oder irgendetwas in der Art. Und zweitens haben Sie, glaube ich, selbst einmal gesagt: «Jeder kann von diesem Moment an glücklich sein.»

 

Philosoph: Ja, das habe ich auf jeden Fall gesagt.

 

Junger Mann: Aber sind solche Worte nicht ein klares Beispiel für Zauberei? Sie warnen die Menschen: «Fallen Sie nicht auf dieses Falschgeld herein», und gleichzeitig teilen Sie anderes Falschgeld aus. Ein klassischer Betrügertrick!

 

Philosoph: Jeder kann von diesem Moment an glücklich sein. Das ist eine unbestreitbare Tatsache, keine Zauberei oder irgendetwas in der Art. Sie können, wie jeder andere auch, Schritte auf das Glück zu unternehmen. Doch das Glück kann man nicht genießen, wenn man bleibt, wo man ist. Man muss auf dem einmal eingeschlagenen Weg weitergehen. Das muss absolut klar sein!

 

Sie haben den ersten Schritt gemacht. Das war ein großer Schritt. Nun haben Sie allerdings nicht nur den Mut verloren und sind stehen geblieben, sondern versuchen auch noch umzukehren. Wissen Sie warum?

 

Junger Mann: Sie sagen immer, ich hätte keine Geduld.

 

Philosoph: Nein. Sie haben die wichtigste Wahl im Leben noch nicht getroffen. Das ist alles.

 

Junger Mann: Die wichtigste Wahl im Leben? Was muss ich denn wählen?

 

Philosoph: Das habe ich vorhin gesagt. Es ist «Liebe».

 

Junger Mann: Ha! Das soll ich jetzt verstehen? Bitte, versuchen Sie nicht, sich in Abstraktionen zu retten!

 

Philosoph: Ich meine es ernst. Die Probleme, denen Sie jetzt begegnen, sind alle auf das eine Wort «Liebe» zurückzuführen. Die Probleme, die Sie mit der Erziehung Ihrer Schüler haben und auch das Problem damit, welches Leben Sie führen sollen.

 

Junger Mann: Das lohnt sich doch zu widerlegen. Bevor wir jetzt also in eine ausgewachsene Diskussion einsteigen, möchte ich noch etwas sagen. Ich habe keinen Zweifel daran, dass Sie ein Sokrates der modernen Zeiten sind. Doch ich beziehe mich dabei nicht auf sein Denken, sondern auf sein Verbrechen.

 

Philosoph: Sein Verbrechen?

 

Junger Mann: Sehen Sie, offensichtlich wurde Sokrates aufgrund des Verdachts, die Jugend des antiken griechischen Stadtstaates Athen verführt und verdorben zu haben, zum Tode verurteilt, richtig? Er wies seine Anhänger ab, die ihn anflehten, aus dem Gefängnis zu fliehen, trank dann den Becher mit Gift und nahm Abschied von dieser Welt. Das ist interessant, nicht? Wenn Sie mich fragen, sind Sie, der Sie für die Ideen Adlers hier in dieser alten Hauptstadt eintreten, genau desselben Verbrechens schuldig. Anders gesagt: Sie verführen und verderben die naive Jugend mit täuschenden Worten!

 

Philosoph: Sie wollen sagen, dass Sie von Adler hereingelegt und getäuscht worden sind?

 

Junger Mann: Genau das ist der Grund, warum ich mich entschlossen habe, noch einmal hierherzukommen, um mich von Ihnen zu verabschieden. Ich möchte weitere Opfer verhindern. Philosophisch gesehen, muss ich Ihr Leben auslöschen.

 

Philosoph: Nun, dann wird es ein langer Abend werden.

 

Junger Mann: Aber lassen Sie uns dies bis zum Tagesanbruch klären. Danach wird es keinen Grund mehr für mich geben, Sie weiterhin zu besuchen. Werde ich die Leiter des Verstehens erklimmen? Oder werde ich diese Leiter zertrümmern und Adler aufgeben, ein für alle Mal? Das Eine oder das Andere; dazwischen gibt es nichts.

 

Philosoph: Gut. Das wird vielleicht unser letztes Gespräch sein … Nein, wir werden es wohl zu unserem letzten machen müssen, wie auch immer.

TEIL EINS

Der böse Andere und ich Armer

Nur wenig hatte sich seit dem Besuch des jungen Mannes vor drei Jahren in dem kleinen Arbeitszimmer verändert. Ein halb fertiges Manuskript stapelte sich lose auf dem viel genutzten Schreibtisch. Oben darauf lag – vielleicht, um zu verhindern, dass der Wind die Seiten wegwehte – ein altmodischer Füllfederhalter mit goldener Verzierung. Dem jungen Mann erschien das alles vertraut; es war fast so, als wäre er in seinem eigenen Zimmer. Er bemerkte etliche Bücher, die er auch besaß, darunter auch eines, das er gerade vor einer Woche gelesen hatte. Mit einem wehmütigen Blick auf das Bücherregal, das eine ganze Wand einnahm, gab er einen tiefen Seufzer von sich. Ich darf mich hier nicht allzu wohlfühlen. Ich muss die Sache voranbringen.

Ist die Adler’sche Psychologie eine Religion?

Junger Mann: Bevor ich mich dazu entschieden habe, Sie heute noch einmal zu besuchen, das heißt, bevor ich den festen Entschluss fasste, Adler aufzugeben, durchlitt ich tatsächlich Qualen. Sie können sich nicht vorstellen, wie mich das alles belastete – so anziehend waren die Ideen Adlers für mich. Aber es ist auch richtig, dass ich gleichzeitig immer Zweifel hegte. Und diese Zweifel beziehen sich auf den Begriff der «Adler’schen Psychologie» selbst.

 

Philosoph: Hmm. Was meinen Sie damit?

 

Junger Mann: Wie der Name «Adler’sche Psychologie» zeigt, werden Adlers Ideen als Psychologie betrachtet. Und soweit mir bewusst ist, handelt es sich bei der Psychologie im Wesentlichen um eine Wissenschaft. Wenn es jedoch um die Meinungen geht, die Adler vorstellt, gibt es Aspekte, die mir ausgesprochen unwissenschaftlich vorkommen. Da es sich um einen Forschungsbereich handelt, der sich mit der Psyche beschäftigt, mag es natürlich sein, dass sich nicht alles in mathematischer Form ausdrücken lässt. Aber sehen Sie, das Problem ist, dass Adler, wenn er über die Menschen spricht, «Ideale» miteinbezieht. Er bietet uns dieselben süßlichen Predigten an wie die Christen, wenn sie von Nächstenliebe sprechen. Und das bringt mich zu meiner ersten Frage: Betrachten Sie die Adler’sche Psychologie als eine Wissenschaft?

 

Philosoph: Wenn Sie von einer strengen Definition von Wissenschaft ausgehen, also einer Wissenschaft, die falsifizierbar ist, dann ist sie es nicht, nein. Adler deklarierte seine Psychologie als «Wissenschaft», aber als er begann, über sein Konzept des «Gemeinsinns» zu sprechen, wandten sich viele seiner Kollegen von ihm ab. Sie beurteilten es wie Sie: «Solche Dinge sind keine Wissenschaft.»

 

Junger Mann: Richtig. Das ist eine ganz natürliche Reaktion, wenn man an Psychologie als Wissenschaft interessiert ist.

 

Philosoph: Darüber gibt es immer noch verschiedene Meinungen. Sowohl die Psychoanalyse Freuds als auch die Analytische Psychologie Jungs und die Individualpsychologie Adlers beinhalten Aspekte, die mit einer falsifizierbaren Definition von Wissenschaft in Konflikt geraten. Das lässt sich nicht bestreiten.

 

Junger Mann: Okay, ich verstehe. Ich habe heute mein Notizbuch dabei, ich will das einmal schriftlich festhalten: dass es genau genommen … keine Wissenschaft ist! Nun zu meiner nächsten Frage: Vor drei Jahren haben Sie Adlers Ideen doch als «eine andere Philosophie» bezeichnet, oder?

 

Philosoph: Da haben Sie recht, das habe ich. Für mich ist Adlers Psychologie eine Art des Denkens, die der griechischen Philosophie sehr ähnlich ist – und selbst eine Philosophie. Genauso denke ich auch über Adler selbst. Mehr noch als Psychologen betrachte ich ihn als Philosophen. Er ist ein Philosoph, der sein Fachwissen in einem klinischen Rahmen auf die Praxis anwendet. So sehe ich es.

 

Junger Mann: Gut. Hier ist also mein Hauptpunkt. Ich habe intensiv über Adlers Vorstellungen nachgedacht, und ich habe sie wirklich praktiziert, ohne jede Skepsis. Es war eher so, als ob sie mich mit einer fieberhaften Leidenschaft erfüllt hätten, und ich habe mit ganzem Herzen an sie geglaubt. Doch immer wenn ich versucht habe, Adlers Ideen in einem pädagogischen Umfeld anzuwenden, gab es überwältigenden Widerstand – nicht nur vonseiten der Schüler, sondern auch der anderen Lehrer. Wenn man darüber nachdenkt, ist das allerdings verständlich. Denn ich habe ihnen einen pädagogischen Weg vorgestellt, der auf einem Wertesystem beruht, das sich völlig von ihrem unterscheidet, und habe versucht, es dort zum ersten Mal in die Praxis umzusetzen. Und dann habe ich mich zufällig an eine gewisse Gruppe von Menschen erinnert und deren Situation auf meine übertragen. Wissen Sie, wen ich meine?

 

Philosoph: Nein, weiß ich nicht. Wen meinen Sie?

 

Junger Mann: Die katholischen Missionare, die im Zeitalter der Entdeckungen in die heidnischen Gebiete einfielen.

 

Philosoph: Aha.

 

Junger Mann: Denken Sie an Afrika, Asien sowie Nord- und Südamerika. Diese katholischen Missionare reisten in fremde Länder mit anderen Sprachen, Kulturen und selbst anderen Göttern, und sie traten dort überall für die Lehren ein, an die sie glaubten. Genau wie ich, der ich meinen Posten annahm, um die Vorstellungen Adlers zu verfechten. Wenn sie ihren Glauben auch erfolgreich verbreiten konnten, so erfuhren doch auch die Missionare Unterdrückung und wurden manchmal sogar mit barbarischen Methoden hingerichtet. Man hielt es für völlig natürlich, dass solche Menschen einfach abgelehnt wurden. Doch wie um alles in der Welt konnte es diesen Missionaren dann gelingen, den Bewohnern der Orte, die sie besuchten, von einem neuen «Gott» zu predigen und sie dazu zu bringen, ihren ursprünglichen Glauben aufzugeben? Das muss eine ziemlich schwierige Aufgabe gewesen sein. In dem Verlangen, mehr darüber zu erfahren, lief ich in die Bibliothek.

 

Philosoph: Aber das ist …

 

Junger Mann: Hey, ich bin noch nicht fertig, ja? Als ich mich also in die verschiedenen Schriften über die Missionare zur Zeit der großen Entdeckungsreisen vertiefte, kam mir ein interessanter Gedanke: Ist Adlers Philosophie letztendlich nicht eine Religion?

 

Philosoph: Interessant …

 

Junger Mann: Weil es stimmt, oder? Die Ideale, von denen Adler spricht, sind keine wissenschaftlichen Modelle. Und soweit sie das nicht sind, ist es am Ende nur eine Frage des Glaubens, ob man sie akzeptiert oder nicht. So geht es also wieder nur um Gefühle. Sicher mögen aus unserer Sicht Menschen, die Adler nicht kennen, wie primitive Wilde erscheinen, die an die falschen Götter glauben. Wir glauben, dass wir sie die richtige «Wahrheit» lehren müssten und sie erretten, so schnell wie möglich. Doch vielleicht sind von ihrem Standpunkt aus wir diejenigen, die auf primitive Weise böse Götter verehren. Vielleicht sind wir diejenigen, die errettet werden müssen. Ist das falsch?

 

Philosoph: Nein, Sie haben ganz recht.

 

Junger Mann: Dann sagen Sie mir: Was ist der Unterschied zwischen der Philosophie Adlers und einer Religion?

 

Philosoph: Der Unterschied zwischen Religion und Philosophie – das ist ein gewichtiges Thema. Wenn Sie einfach die Existenz «Gottes» herausnehmen und darüber nachdenken, werden die Argumente verständlicher sein.

 

Junger Mann: Ah. Was meinen Sie?

 

Philosoph: Bei Religion, Philosophie und Wissenschaft ist der Ausgangspunkt der gleiche. Woher kommen wir? Wo sind wir? Und wie sollten wir leben? Religion, Philosophie und Wissenschaft setzen alle bei den gleichen Fragen an. Im alten Griechenland gab es keine Teilung zwischen Philosophie und Wissenschaft, und das lateinische Wort für Wissenschaft scientia bedeutet einfach «Wissen».

 

Junger Mann: Gut, so war die Wissenschaft damals. Aber ich frage nach Philosophie und Religion. Was ist der Unterschied zwischen ihnen?

 

Philosoph: Es wäre sicherlich besser, zuerst ihre Gemeinsamkeiten zu klären. Anders als die Naturwissenschaft, die sich auf objektive Fakten beschränkt, beschäftigen sich Philosophie und Religion auch mit den Vorstellungen der Menschen von «Wahrheit», «Schönheit» und dem «Guten». Das ist ein äußerst wichtiger Punkt.

 

Junger Mann: Ich weiß. Philosophie und Religion befassen sich beide mit der menschlichen Seele. Aber wo sind die Grenzen und Unterschiede zwischen den beiden? Geht es dabei nur um die Frage danach, ob Gott existiert?

 

Philosoph: Nein. Der wichtigste Unterscheidungspunkt ist das Vorhandensein – oder Nichtvorhandensein – einer «Geschichte». Die Religion erklärt die Welt anhand von Geschichten. Man könnte sagen, dass die Götter die Hauptfiguren der großen Geschichten sind, mit denen die Religionen die Welt erklären wollen. Die Philosophie dagegen lehnt Geschichten ab. Sie versucht, die Welt durch abstrakte Konzepte zu erklären, in denen es keine Akteure gibt.

 

Junger Mann: Die Philosophie lehnt Geschichten ab?

 

Philosoph: Oder stellen Sie es sich so vor: In unserer Suche nach Wahrheit wandern wir einen langen Steg entlang, der sich in die Dunkelheit erstreckt. Mit Zweifeln an unserem gesunden Menschenverstand und ständigem Hinterfragen gehen wir einfach immer weiter, ohne auch nur im mindesten zu wissen, wie lang er sein könnte. Und dann hört man aus der Dunkelheit eine Stimme im Innern, die sagt: «Hier kommt nichts mehr. Hier ist Wahrheit.»

 

Junger Mann: Aha.

 

Philosoph: Manche hören dann nicht mehr auf ihre innere Stimme und bleiben stehen. Sie springen von dem Steg herunter. Finden sie dort Wahrheit? Ich weiß es nicht. Vielleicht, vielleicht auch nicht. Doch in seinem Weg innezuhalten und in der Mitte des Steges herunterzuspringen – das nenne ich Religion. In der Philosophie geht man immer weiter. Es spielt keine Rolle, ob es dort Götter gibt oder nicht.

 

Junger Mann: Und hat dann diese Immer-weitergehen-Philosophie überhaupt keine Antworten?

 

Philosoph: Das griechische Wort philosophia bedeutet «Liebe zur Weisheit». Philosophie ist also, anders ausgedrückt, das «Studium der Liebe zur Weisheit», und Philosophen sind «Weisheitsliebende». Andersherum könnte man sagen, wenn jemand vollständig «weise» würde, jemand, der alles weiß, was man überhaupt wissen kann, dann wäre dieser Mensch kein Liebhaber des Wissens (Philosoph) mehr. Mit den Worten Kants gesagt, dem großen Kopf der neuzeitlichen Philosophie: «Wir können Philosophie nicht lernen. Wir können nur philosophieren.»

 

Junger Mann: Philosophieren?

 

Philosoph: So ist es. Philosophie ist eher eine Lebenseinstellung als ein Forschungsbereich. Die Religion mag das alles vielleicht unter dem Namen Gottes transportieren. Sie vermittelt uns einen allwissenden, allmächtigen Gott und die Lehren, die er an uns weitergegeben hat. Diese Art des Denkens widerspricht der Philosophie in grundlegender Weise.

Und jemand, der vorgibt, alles zu wissen, oder jemand, der auf seinem Weg des Wissenserwerbs und des Denkens einfach stehen geblieben ist, begibt sich, ungeachtet seines Glaubens an die Existenz oder Nichtexistenz Gottes oder selbst seines Glaubens oder Nichtglaubens generell, in die Religion hinein. So sehe ich die Sache.

 

Junger Mann: Anders ausgedrückt, Sie kennen die Antworten noch nicht?

 

Philosoph: Nein, ich kenne sie nicht. In dem Moment, in dem wir das Gefühl haben, alles über ein Thema zu wissen, wollen wir etwas dahinter erforschen. Ich werde immer über mich, andere Menschen und die Welt nachdenken. Deshalb werde ich ewig ein «Nichtwissender» sein.

 

Junger Mann: Hehe. Diese Antwort ist auch philosophisch.

 

Philosoph: Sokrates gelangte in seinen Dialogen mit den selbsternannten Weisen, den Sophisten, zu folgender Schlussfolgerung: Ich (Sokrates) weiß, dass «mein Wissen nicht vollständig ist». Ich kenne meine eigene Unwissenheit. Die Sophisten dagegen, diese «Möchtegernweisen», wollen alles verstehen und wissen nichts von ihrer eigenen Beschränktheit. In dieser Hinsicht – durch mein Wissen über meine eigene Unwissenheit – bin ich weiser als sie. Das ist der Hintergrund des berühmten Satzes von Sokrates: «Ich weiß, dass ich nichts weiß.»

 

Junger Mann: Was können Sie mir dann, der Sie keine Antworten haben und dessen Wissen beschränkt ist, vermitteln?

 

Philosoph: Ich werde Ihnen nichts vermitteln. Lassen Sie uns zusammen nachdenken und laufen.

 

Junger Mann: Ah, bis zum Ende des Steges? Ohne herunterzuspringen?

 

Philosoph: Genau. Stellen wir weiter Fragen und laufen wir weiter, ohne uns Grenzen zu setzen.

 

Junger Mann: Sie sind so selbstsicher, obwohl Sie selbst sagen, dass Sophisterei zu nichts führt. Nun gut, ich werde Sie von diesem Steg stoßen!

Das Ziel der Erziehung ist Selbständigkeit

Philosoph: Also, wo sollen wir anfangen?

 

Junger Mann: Das Problem, dem ich jetzt ganz dringend meine Aufmerksamkeit widmen muss, ist nach wie vor die Erziehung. Ich werde also die Widersprüche Adlers mit dem Fokus auf der Pädagogik vortragen. Denn es gibt sehr viele verschiedene Aspekte in den Vorstellungen Adlers, die in ihren Wurzeln mit Erziehung unvereinbar sind.

 

Philosoph: Aha. Das klingt interessant.

 

Junger Mann: In der Adler’schen Psychologie gibt es die Vorstellung von der «Trennung der Aufgaben», richtig? Alle möglichen Dinge und Ereignisse im Leben werden unter dem Gesichtspunkt betrachtet, um wessen Aufgabe es sich handelt, und in eigene Aufgaben und die Aufgaben anderer eingeteilt. Sagen wir zum Beispiel, mein Chef mag mich nicht. Das fühlt sich natürlich nicht gut an. Es wäre ganz normal, sich darum zu bemühen, irgendwie von ihm gemocht und anerkannt zu werden.

Aber Adler hält das für falsch. Welche Art von Urteil fällen andere Menschen (in diesem Fall mein Chef) über das, was ich sage, über mein Verhalten und über mich als Person? Das ist die Aufgabe des Chefs (die Aufgabe anderer), und ich kann es nicht kontrollieren. Egal, wie sehr ich mich anstrenge, von ihm gemocht zu werden, kann es sein, dass er mich einfach weiterhin nicht mag.

An diesem Punkt sagt Adler: «Du bist nicht auf der Welt, um die Erwartungen anderer zu erfüllen.» Und weiter: «Andere Menschen sind nicht auf der Welt, um deine Erwartungen zu erfüllen.» Hab keine Angst davor, dass die anderen dich ansehen, kümmere dich nicht um das Urteil anderer und strebe nicht nach deren Anerkennung. Wähle nur den Weg, der für dich am besten ist und an den du glaubst. Darüber hinaus darfst du dich nicht in die Aufgaben anderer einmischen und ihnen auch nicht erlauben, sich in deine einzumischen. Auf diejenigen, denen die Adler’sche Psychologie noch neu ist, hat dieses Konzept eine große Wirkung.

 

Philosoph: Stimmt. Wenn man in der Lage ist, die «Aufgabentrennung» durchzuführen, reduziert dies die zwischenmenschlichen Beziehungsprobleme enorm.

 

Junger Mann: Sie sagten auch, dass es einen einfachen Weg gebe zu bestimmen, wer welche Aufgabe hat. Ich sollte mich fragen: «Wer wird am Ende das Resultat aus dieser Entscheidung erhalten?» Das habe ich doch nicht falsch verstanden, oder?

 

Philosoph: Nein, das haben Sie nicht.

 

Junger Mann: Ihr Beispiel war damals das eines Kindes, das lernen sollte. Ein Kind, das nicht lernt. Seine Eltern machen sich Sorgen um seine Zukunft und brüllen es an, es solle sich in seine Bücher vertiefen. Doch wer bekommt am Ende das Resultat dieses Versäumnisses zu spüren – das bedeutet, dass es nicht die gewünschte Schule wird besuchen können, oder dass es schwieriger sein wird, eine Stelle zu finden? Wie man es auch betrachtet, es ist das Kind selbst, es sind nicht die Eltern. Anders gesagt, zu lernen ist die Aufgabe des Kindes und nichts, wobei die Eltern sich einmischen sollten. Ist das so weit richtig?

 

Philosoph: Das ist es.

 

Junger Mann: Nun, an dieser Stelle ergibt sich ein wesentlicher Zweifel. Zu lernen ist die Aufgabe des Kindes. Man darf sich in die Aufgaben des Kindes nicht einmischen. Doch wenn das so ist, was für eine Bedeutung hat dann diese Sache, die wir «Erziehung» nennen? Womit beschäftigen wir uns als Pädagogen, als Erzieher überhaupt? Wenn man nämlich Ihre Logik annimmt, sind wir Pädagogen, die die Kinder zum Lernen anhalten, nur eine Bande von Unbefugten, die sich in ihre Aufgaben einmischen! Was für eine Antwort haben Sie nun darauf?

 

Philosoph: Na ja, gut, das ist eine Frage, die gelegentlich auftaucht, wenn ich mit Pädagogen über Adler diskutiere. Das Lernen ist auf jeden Fall die Aufgabe des Kindes. Niemand darf sich dort einmischen, nicht einmal die Eltern. Wenn die «Aufgabentrennung», von der Adler spricht, auf eindimensionale Weise interpretiert wird, sind alle Formen von Erziehung Eingriffe in die Aufgaben anderer Menschen und insofern verwerflich. Zu Adlers Zeiten gab es jedoch keinen Psychologen, der sich mehr als er mit Fragen der Erziehung befasst hätte. Für Adler war Erziehung nicht nur eine Kernaufgabe – es war auch die größte Hoffnung.

 

Junger Mann: Hm. Können Sie etwas konkreter werden?

 

Philosoph: Zum Beispiel wird eine Therapie in der Psychologie Adlers nicht als «Behandlung» gesehen, sondern als eine Möglichkeit zur «Umerziehung».

 

Junger Mann: «Umerziehung»?

 

Philosoph: Genau. Therapie und Erziehung in der Kindheit sind im Wesentlichen gleich. Der Therapeut ist ein Erzieher, und der Erzieher ist ein Therapeut. So sollte man sich das vorstellen.

 

Junger Mann: Ha, das ist mir neu. Ich hatte ja keine Ahnung, dass ich ein Therapeut bin! Was in aller Welt soll das heißen?

 

Philosoph: Das ist ein wichtiger Punkt. Lassen Sie uns das im Laufe der Diskussion genauer betrachten. Zuerst einmal: Was ist das erklärte Ziel der Erziehung, sowohl zu Hause als auch in der Schule? Wie sehen Sie das?

 

Junger Mann: Das kann ich nicht mit ein paar Worten ausdrücken. Der Aufbau von Wissen durch Lernprozesse, die Erlangung sozialer Kompetenzen, die Entwicklung eines Menschen, der das Gesetz anerkennt und gesund ist an Körper und Geist …

 

Philosoph: Ja. All das ist wichtig, aber sehen wir einmal das große Ganze. Was möchte man denn als Resultat der Erziehung, die man Kindern zukommen lässt, wozu sollen sie sich denn entwickeln?

 

Junger Mann: Man möchte, dass sie unabhängige Erwachsene werden?

 

Philosoph: Richtig. Das Ziel der Erziehung ist, mit einem Wort: Selbständigkeit.

 

Junger Mann: Selbständigkeit … Ja, so kann man es vielleicht nennen.

 

Philosoph: In der Adler’schen Psychologie werden alle Menschen als Wesen betrachtet, deren Leben von dem Wunsch bestimmt ist, sich aus ihrer hilflosen Position zu befreien und sich weiterzuentwickeln. Das heißt, sie verfolgen das Ziel der «Überlegenheit». Das Kleinkind lernt, auf zwei Beinen zu stehen, eignet sich die Sprache an und ist dann in der Lage, mit den Menschen um sich herum zu kommunizieren. Mit anderen Worten, das, wonach die Menschen streben, ist «Freiheit», die Befreiung aus ihrer hilflosen und unfreien Lage, und «Selbständigkeit». Dies sind fundamentale Bedürfnisse.

 

Junger Mann: Und die Erziehung fördert also diese Selbständigkeit?

 

Philosoph: Genau. Und damit Kinder sowohl körperlich wachsen können als auch selbständig in ihrer sozialen Umgebung werden, müssen sie alle möglichen Dinge lernen. Sie brauchen die sozialen Fertigkeiten und den Gerechtigkeitssinn, von dem Sie gesprochen haben, und sie brauchen wahrscheinlich auch Wissen und andere Dinge. Und das, was sie nicht wissen, müssen ihnen andere beibringen. Die Menschen um sie herum müssen sie unterstützen. Erziehung bedeutet nicht, sich einzumischen, sondern auf dem Weg zur Selbständigkeit Unterstützung zu leisten.

 

Junger Mann: Das klingt für mich, als ob Sie unbedingt alles immer wieder neu formulieren wollten.

 

Philosoph: Zum Beispiel, wie wäre es, wenn man von heute auf morgen in dieser Gesellschaft leben müsste, ohne irgendwelche Verkehrsregeln zu kennen; ohne zu wissen, was eine grüne oder rote Ampel bedeutet? Oder wenn man nicht fahren gelernt hat und sich plötzlich hinter einem Lenkrad findet? Natürlich gibt es Regeln, die man lernen, und Fähigkeiten, die man erwerben muss. Dabei geht es um Leben und Tod und darüber hinaus auch darum, ob man das Leben anderer in Gefahr bringt. Man könnte das umdrehen und sagen, wenn es keine anderen Menschen mehr auf der Welt gäbe und man selbst der einzig Lebende wäre, dann bräuchte man nichts zu wissen, und auch Erziehung wäre überflüssig. Man hätte kein Bedürfnis nach Wissen.

 

Junger Mann: Dann sollte man also wegen der anderen Menschen und der Gesellschaft Wissen erwerben?

 

Philosoph: Ja! «Wissen» bezieht sich hier nicht nur auf das, was man in der Schule lernt, sondern auch auf das, was man wissen muss, um glücklich zu leben. Kurz gesagt, wie man in einer Gemeinschaft lebt, wie man mit anderen interagiert, wie man in dieser Gemeinschaft seinen Platz findet. Wie man wissen kann, wer man selbst ist und wer die anderen sind. Die wahre Natur eines Menschen zu kennen und zu verstehen, wie man leben sollte. Adler bezeichnete dieses Wissen als «Menschenkenntnis».

 

Junger Mann: Menschenkenntnis? Diesen Ausdruck habe ich noch nie gehört.

 

Philosoph: Das wundert mich nicht. Das ist nicht die Art Wissen, die man aus Büchern bekommt – es ist etwas, was man nur dadurch erwirbt, dass man tatsächlich in die Beziehungen zu anderen Menschen involviert ist. In diesem Sinne könnte man sagen, dass die Schule, in der man von vielen Menschen umgeben ist, ein bedeutenderer Ort für die Erziehung ist als das Elternhaus.

 

Junger Mann: Sie wollen also sagen, dass der Schlüssel zur Erziehung das ist, was Sie Menschenkenntnis nennen?

 

Philosoph: So ist es. So ist es auch mit der Therapie. Der Therapeut unterstützt den Klienten dabei, Selbständigkeit zu erlangen. Und sie denken gemeinsam darüber nach, welche «Menschenkenntnis» dazu notwendig ist. Erinnern Sie sich noch an die Ziele, die in der Psychologie Adlers propagiert wurden und über die wir letztes Mal diskutiert haben? Die Ziele im Bereich des Verhaltens und die psychologischen Ziele?

 

Junger Mann: Ja, ich erinnere mich. Für das Verhalten gibt es die folgenden beiden Ziele:

selbständig zu sein

in Harmonie mit der Gesellschaft zu leben

Und die beiden Ziele für die Psychologie, um dieses Verhalten zu fördern:

das Bewusstsein, dass ich die Fähigkeit besitze

das Bewusstsein, dass die Menschen meine Mitmenschen sind

Kurz gesagt, behaupten Sie, dass diese vier Dinge wertvoll sind, nicht nur in der Therapie, sondern auch in einem realen erzieherischen Umfeld?

 

Philosoph: Und sie sind für uns Erwachsene mit unseren üblichen Gefühlen, wie schwer das Leben ist, nicht weniger wertvoll. Denn es gibt so viele Erwachsene, die unter ihrem sozialen Umfeld leiden und diese Ziele nicht erreichen können.

Wenn man das Ziel der Selbständigkeit fallen gelassen hat, ob in der Erziehung, der Therapie oder einem Jobcoaching, wird man sehr schnell dazu kommen, die Dinge zu erzwingen.