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Der Weltbestseller aus Japan. Ein zutiefst unglücklicher junger Mann trifft auf einen Philosophen, der ihm erklärt, wie jeder von uns in der Lage ist, sein eigenes Leben zu bestimmen, und wie sich jeder von den Fesseln vergangener Erfahrungen, Zweifeln und Erwartungen anderer lösen kann. Es sind die Erkenntnisse von Alfred Adler – dem großen Vorreiter der Achtsamkeitsbewegung – die diesem bewegenden Dialog zugrunde liegen, die zutiefst befreiend sind und uns allen ermöglichen, endlich die Begrenzungen zu ignorieren, die unsere Mitmenschen und wir selbst uns auferlegen. «Du musst nicht von allen gemocht werden» ist ein zugänglicher wie tiefgründiger und definitiv außergewöhnlicher Lebenshilfe-Ratgeber – Millionen haben ihn bereits gelesen und profitieren von seiner Weisheit.
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Seitenzahl: 312
Ichiro Kishimi • Fumitake Koga
Vom Mut, sich nicht zu verbiegen
Der Weltbestseller aus Japan.
Ein zutiefst unglücklicher junger Mann trifft auf einen Philosophen, der ihm erklärt, wie jeder von uns in der Lage ist, sein eigenes Leben zu bestimmen, und wie sich jeder von den Fesseln vergangener Erfahrungen, Zweifeln und Erwartungen anderer lösen kann. Es sind die Erkenntnisse von Alfred Adler – dem großen Vorreiter der Achtsamkeitsbewegung –, die diesem bewegenden Dialog zugrunde liegen, die zutiefst befreiend sind und uns allen ermöglichen, endlich die Begrenzungen zu ignorieren, die unsere Mitmenschen und wir selbst uns auferlegen. «Du musst nicht von allen gemocht werden» ist ein zugänglicher wie tiefgründiger und definitiv außergewöhnlicher Lebenshilfe-Ratgeber – Millionen haben ihn bereits gelesen und profitieren von seiner Weisheit.
Ichiro Kishimi, geboren 1956, ist Philosoph in Kyoto und Vorsitzender der japanischen Alfred-Adler-Gesellschaft.
Fumitake Koga, geboren 1973, ist Sachbuchautor und Kenner des Werkes von Alfred Adler, dessen Philosophie diesem Buch zugrunde liegt.
Die japanische Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel «KIRAWARERU YUKI» bei Diamond, Inc., Tokyo.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Januar 2019
Copyright der deutschen Erstausgabe © 2019 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg «KIRAWARERU YUKI» Copyright © 2013 by Ichiro Kishimi and Fumitake Koga
Covergestaltung zero-media.net, München
Coverabbildung Umschlagabbildung: FinePic®, München
ISBN 978-3-644-40526-4
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Vorbemerkung der Autoren
Einführung
DER ERSTE ABEND
Der unbekannte Dritte
Warum sich Menschen ändern können
Es gibt kein Trauma
Der Mensch erzeugt Wut
Wie man lebt, ohne von der Vergangenheit beherrscht zu werden
Sokrates und Adler
Bist du in Ordnung, so wie du bist?
Das eigene Unglück ist selbstgewählt
Der Mensch entscheidet sich immer gegen Veränderung
Dein Leben entscheidet sich hier und jetzt
DER ZWEITE ABEND
Warum du dich selbst nicht magst
Alle Probleme sind zwischenmenschliche Beziehungsprobleme
Minderwertigkeitsgefühle sind subjektive Annahmen
Ein Minderwertigkeitskomplex ist eine Ausrede
Angeber haben Minderwertigkeitsgefühle
Das Leben ist kein Wettbewerb
Nur du selbst machst dir Gedanken um dein Äußeres
Vom Machtkampf zur Rache
Fehler zuzugeben ist keine Niederlage
Die Aufgaben bewältigen, denen wir im Leben gegenüberstehen
Rotes Band und starre Ketten
Der Lebenslüge nicht auf den Leim gehen
Von der Psychologie des Besitzes zur Psychologie der Anwendung
DER DRITTE ABEND
Den Wunsch nach Bestätigung aufgeben
Lebe nicht, um die Erwartungen anderer zu erfüllen
Wie man Aufgaben trennt
Die Aufgaben anderer zurückweisen
Wie man sich von zwischenmenschlichen Beziehungsproblemen befreit
Den Gordischen Knoten zerschlagen
Der Wunsch nach Anerkennung macht unfrei
Was wahre Freiheit ist
Zwischenmenschliche Beziehungen: Du hältst die Karten in der Hand
DER VIERTE ABEND
Individualpsychologie und Ganzheitlichkeit
Das Ziel zwischenmenschlicher Beziehungen ist ein Gemeinschaftsgefühl
Warum interessiere ich mich nur für mich selbst?
Du bist nicht der Mittelpunkt der Welt
Hör auf die Stimme einer größeren Gemeinschaft
Weder Lob noch Tadel
Die Methode der Ermutigung
Wie man den eigenen Wert spürt
In der Gegenwart sein
Die Menschen können das Selbst nicht richtig nutzen
DER FÜNFTE ABEND
Übertriebene Befangenheit engt das Selbst ein
Keine Selbst-Bestätigung, sondern Selbst-Akzeptanz
Der Unterschied zwischen Glauben und Vertrauen
Das Wesen der Arbeit ist das Engagement für das Allgemeinwohl
Junge Menschen gehen den Erwachsenen voran
Arbeitssucht ist eine Lebenslüge
Du kannst jetzt glücklich sein
Etwas Besonderes sein – zwei Wege
Der Mut, normal zu sein
Das Leben ist eine Abfolge von Momenten
Lebe das Leben wie einen Tanz
Richte den Scheinwerfer auf das Hier und Jetzt
Die größte Lebenslüge
Einem scheinbar bedeutungslosen Leben Bedeutung verleihen
Nachwort
Sigmund Freud, Carl Jung und Alfred Adler sind drei Giganten in der Welt der Psychologie. Dieses Buch ist ein Extrakt aus Adlers philosophischen und psychologischen Ideen und Lehren in Form eines anschaulich erzählten Dialogs zwischen einem Philosophen und einem jungen Mann.
Die Adler’sche Psychologie genießt in Europa und den USA breite Anerkennung und präsentiert einfache und direkte Antworten auf die philosophische Frage: Wie kann man glücklich sein? In der Adler’schen Psychologie liegt vielleicht der Schlüssel dazu. Die Lektüre dieses Buches könnte Ihr Leben verändern. Lassen Sie uns nun den jungen Mann begleiten, wagen wir uns durch die «Tür».
Am Rande der tausend Jahre alten Stadt lebte ein Philosoph, der verkündete, die Welt sei einfach und das Glück für jeden erreichbar, und zwar sofort. Ein junger Mann, der mit seinem Leben unzufrieden war, machte sich auf, diesen Philosophen zu besuchen, um der Sache auf den Grund zu gehen. Für diesen jungen Mann war die Welt eine undurchschaubare Ansammlung von Widersprüchen und jede Vorstellung von Glück – in seinen angstvollen Augen – völlig absurd.
Junger Mann: Ich möchte Sie noch einmal fragen: Sie glauben wirklich, dass die Welt in jeder Hinsicht ein einfacher Ort ist?
Philosoph: Ja, diese Welt ist erstaunlich einfach und das Leben auch.
Junger Mann: Ist das eigentlich Ihre idealistische Behauptung, oder ist das eine praktikable Theorie? Ich meine, wollen Sie damit sagen, dass alles, womit Sie oder ich im Leben konfrontiert werden, auch einfach ist?
Philosoph: Ja, natürlich.
Junger Mann: Na gut, aber lassen Sie mich Ihnen erklären, warum ich Sie heute aufgesucht habe. Zunächst einmal möchte ich das mit Ihnen diskutieren, bis ich zufrieden bin. Und dann, wenn möglich, möchte ich, dass Sie diese Behauptungen zurückziehen.
Philosoph: (lacht)
Junger Mann: Denn ich habe viel über Ihren Ruf gehört. Man erzählt sich, dass es hier einen exzentrischen Philosophen gibt, dessen Lehren und Beweisführungen sich schwer ignorieren lassen – nämlich dass der Mensch sich ändern kann, dass die Welt einfach ist und dass jeder glücklich sein kann. So habe ich es jedenfalls gehört, aber ich finde diese Ansicht völlig inakzeptabel und wollte mich deshalb selbst davon überzeugen. Wenn ich etwas von dem, was Sie sagen, völlig abwegig finde, werde ich darauf hinweisen und Sie dann korrigieren … Oder ärgern Sie sich dann darüber?
Philosoph: Nein, ich würde die Gelegenheit begrüßen. Ich hatte gehofft, einmal einen jungen Menschen, gerade wie Sie einer sind, kennenzulernen und so viel wie möglich aus dem zu lernen, was Sie mir sagen können.
Junger Mann: Danke. Ich habe nicht vor, Ihre Ansichten geradewegs zu verwerfen. Ich werde darüber nachdenken und dann alle Möglichkeiten betrachten, die sich ergeben. «Die Welt ist einfach, und das Leben ist es auch» – wenn in dieser These überhaupt ein Körnchen Wahrheit steckt, dann wäre das die Weltsicht eines Kindes. Kinder haben keine offensichtlichen Pflichten wie Steuern zu zahlen oder zur Arbeit zu gehen. Sie werden von ihren Eltern und von der Gesellschaft beschützt und können ihre Tage ohne Sorgen verbringen. Sie können sich eine Zukunft ausmalen, in der es ewig so weitergeht, und tun, was immer sie wollen. Sie sehen die düstere Realität nicht, da sie dafür blind sind. Für sie ist die Welt also wirklich einfach. Doch wenn ein Kind erwachsen wird, enthüllt die Welt ihre wahre Natur. Sehr bald wird es wissen, wie die Dinge wirklich sind und was es tatsächlich tun darf. Seine Weltsicht wird sich verändern, und überall wird es auf Begrenzungen stoßen. Seine rosarote Sicht wird der grausamen Realität weichen.
Philosoph: Aha. Das ist eine interessante Betrachtungsweise.
Junger Mann: Das ist noch nicht alles. Der Erwachsene wird in alle möglichen komplizierten Beziehungen mit anderen Menschen verwickelt werden, und all die verschiedenen Verpflichtungen werden auf ihm lasten. So wird das Leben aussehen, sowohl zu Hause als auch bei der Arbeit und in jeder Rolle, die der Erwachsene im öffentlichen Leben einnehmen wird. Er wird sich zwangsläufig der verschiedenen Aspekte des Lebens in der Gesellschaft bewusst werden, die er als Kind nicht verstehen konnte, einschließlich solcher Dinge wie Diskriminierung, Krieg und Ungleichheit, und er wird sie nicht ignorieren können. Habe ich da vielleicht unrecht?
Philosoph: Das scheint mir richtig zu sein. Reden Sie bitte weiter.
Junger Mann: Nun, wenn wir noch in einer Zeit leben würden, in der die Religion alles beherrschte, wäre das Streben nach Erlösung eine Option, denn die göttlichen Lehren bedeuteten damals alles für uns. Alles, was wir tun mussten, war, sie zu befolgen, und folglich gab es wenig, worüber wir nachdenken mussten. Aber die Religion hat ihre Macht verloren, und es gibt keinen wirklichen Glauben mehr an Gott. Wenn man sich auf nichts verlassen kann, sind alle Menschen voller Angst und Unsicherheit. Jeder lebt nur für sich selbst. So sieht die heutige gesellschaftliche Situation aus, deshalb sagen Sie mir bitte, können Sie – in Anbetracht dieser Gegebenheiten und im Lichte dessen, was ich gerade gesagt habe – immer noch behaupten, die Welt sei einfach?
Philosoph: Es ändert nichts an meiner Meinung: Die Welt ist einfach, und das Leben ist es auch.
Junger Mann: Wie kann das sein? Jeder kann sehen, dass sie eine chaotische Masse von verwirrenden Widersprüchen ist.
Philosoph: Das liegt nicht daran, dass die Welt kompliziert wäre. Es liegt daran, dass Sie die Welt kompliziert machen.
Junger Mann: Tue ich das?
Philosoph: Niemand von uns lebt in einer objektiven Welt, sondern die Welt ist subjektiv, wir haben ihr selbst eine Bedeutung gegeben. Die Welt, die Sie sehen, ist anders als die Welt, die ich sehe, und es ist unmöglich, mit jemand anderem genau die gleiche Welt zu teilen.
Junger Mann: Wie kann das sein? Sie und ich leben im gleichen Land, zur gleichen Zeit, und wir sehen die gleichen Dinge, oder?
Philosoph: Sie sehen mir noch recht jung aus, aber haben Sie jemals Wasser aus einem Brunnen getrunken, das gerade erst geschöpft wurde?
Junger Mann: Brunnenwasser? Hm, es ist sehr lange her, aber es gab einen Brunnen beim Haus meiner Großmutter auf dem Land. Ich erinnere mich, dass das frische, kalte Wasser an einem heißen Sommertag sehr angenehm war.
Philosoph: Sie wissen das vielleicht, aber Brunnenwasser behält das ganze Jahr über so ziemlich die gleiche Temperatur, etwa 18 Grad. Das ist eine objektive Zahl – sie bleibt für jeden gleich, der sie misst. Aber wenn Sie das Brunnenwasser im Sommer trinken, erscheint es kalt, und wenn Sie dasselbe Wasser im Winter trinken, erscheint es warm. Obwohl es dasselbe Wasser ist, nach dem Thermometer immer mit denselben 18 Grad, kommt es darauf an, ob es Sommer oder Winter ist, wenn es darum geht, wie man es empfindet.
Junger Mann: Das ist also eine Illusion, die durch die Veränderung der Umwelt entsteht.
Philosoph: Nein, es ist keine Illusion. Sehen Sie, für Sie ist in diesem Moment die Kühle oder Wärme des Brunnenwassers eine unleugbare Tatsache. Das bedeutet es, in seiner eigenen subjektiven Welt zu leben. Es gibt kein Entkommen vor der eigenen Subjektivität. Im Moment sieht die Welt für Sie kompliziert und rätselhaft aus, aber wenn Sie sich verändern, wird sie Ihnen einfacher erscheinen. Es geht nicht darum, wie die Welt ist, sondern darum, wie Sie sind.
Junger Mann: Wie ich bin?
Philosoph: Richtig … Es ist so, als ob Sie die Welt durch eine dunkle Brille sehen würden – dann wirkt alles natürlich dunkel. Aber Sie könnten, anstatt über das Dunkel in der Welt zu lamentieren, auch einfach die Brille abnehmen. Vielleicht erscheint Ihnen die Welt dann furchtbar hell, und Sie schließen unwillkürlich die Augen. Vielleicht wollen Sie die Brille gleich wieder aufsetzen, aber die Frage ist zuerst einmal: Können Sie sie überhaupt abnehmen? Können Sie sich die Welt ganz ungefiltert ansehen? Haben Sie den Mut?
Junger Mann: Mut?
Philosoph: Ja, es ist eine Frage von Mut.
Junger Mann: Hmm. Es gibt unendlich viele Einwände, die ich vorbringen möchte, aber ich habe das Gefühl, es ist besser, sie später ins Feld zu führen. Ich würde gern noch einmal nachfragen: Sie behaupten, der Mensch kann sich ändern, richtig?
Philosoph: Natürlich kann der Mensch sich ändern. Und er kann auch sein Glück finden.
Junger Mann: Jeder, ohne Ausnahme?
Philosoph: Ohne jegliche Ausnahme.
Junger Mann: Haha. Jetzt nehmen Sie den Mund aber sehr voll! Das wird interessant. Ich fange gleich an, mit Ihnen zu streiten.
Philosoph: Ich werde nicht weglaufen oder irgendetwas vor Ihnen verbergen. Wir wollen uns die Zeit nehmen, um darüber zu diskutieren. Ihre Position ist also: «Der Mensch kann sich nicht ändern»?
Junger Mann: Das stimmt. Er kann sich nicht ändern. Tatsächlich leide ich selbst, weil ich mich nicht ändern kann.
Philosoph: Und gleichzeitig wünschten Sie sich, Sie könnten es.
Junger Mann: Natürlich. Wenn ich mich verändern könnte, wenn ich das Leben noch mal von vorn beginnen könnte, würde ich mit Freuden vor Ihnen auf die Knie fallen. Aber es könnte sich herausstellen, dass am Ende Sie vor mir auf die Knie fallen.
Philosoph: Sie erinnern mich an mich selbst in meiner Studentenzeit, als ich ein heißblütiger junger Mann war, auf der Suche nach der Wahrheit; ich war immer unterwegs, ging von einem Philosophen zum anderen …
Junger Mann: Ja. Ich suche nach der Wahrheit. Der Wahrheit über das Leben.
Philosoph: Ich hatte nie das Bedürfnis, Schüler anzunehmen, und habe es auch nie getan. Dennoch, seit ich die griechische Philosophie studiere und dann mit einer anderen Art der Philosophie in Berührung gekommen bin, warte ich schon seit langem auf den Besuch eines jungen Menschen wie Sie.
Junger Mann: Eine andere Art der Philosophie? Was sollte denn das sein?
Philosoph: Mein Arbeitszimmer ist gleich da drüben. Gehen Sie hinein. Es wird ein langer Abend werden. Ich gehe und mache uns einen heißen Kaffee.
Das Trauma leugnen
Der junge Mann ging ins Arbeitszimmer und saß dann in schlaffer Haltung auf einem Stuhl. Warum war es ihm so wichtig, die Theorien des Philosophen zu widerlegen? Seine Gründe lagen auf der Hand. Es fehlte ihm an Selbstbewusstsein, und seit seiner Kindheit war dies noch durch tiefsitzende Minderwertigkeitsgefühle wegen seines persönlichen und schulischen Hintergrunds und seiner körperlichen Erscheinung verstärkt worden. Vielleicht waren sie die Ursache davon, dass er extrem unsicher wurde, wenn man ihn ansah. Vor allem schien er unfähig, sich über das Glück anderer Menschen zu freuen, und tat sich ständig selber leid. Für ihn waren die Behauptungen des Philosophen nichts anderes als ein Produkt der Phantasie.
Junger Mann: Gerade haben Sie von einer «anderen Philosophie» gesprochen, aber ich habe gehört, die griechische Philosophie sei Ihr Spezialgebiet.
Philosoph: Ja, die griechische Philosophie spielt in meinem Leben eine wichtige Rolle, seit ich ein Teenager war. Die großen Denker: Sokrates, Platon, Aristoteles. Ich übersetze zurzeit ein Werk von Platon, und ich gehe davon aus, dass ich den Rest meines Lebens damit zubringen werde, das klassische griechische Denken zu studieren.
Junger Mann: Was ist denn diese «andere Philosophie»?
Philosoph: Das ist eine völlig neue Richtung der Psychologie, gegründet von dem österreichischen Psychiater Alfred Adler, zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Im deutschsprachigen Raum wird sie allgemein als Adler’sche Psychologie bezeichnet.
Junger Mann: Aha. Ich hätte nie gedacht, dass sich ein Experte in griechischer Philosophie für Psychologie interessieren würde.
Philosoph: Ich bin nicht sehr vertraut mit den Wegen, die andere psychologische Schulen eingeschlagen haben. Doch ich denke, man kann behaupten, dass die Adler’sche Psychologie tatsächlich auf einer Linie mit der griechischen Philosophie liegt und dass dies sogar ein eigenes Forschungsgebiet darstellt.
Junger Mann: Ich weiß ein wenig über die Psychologie von Freud und Jung. Ein faszinierendes Gebiet.
Philosoph: Ja, Freud und Jung sind beide sehr bekannt. Selbst hier. Adler gehörte zum ursprünglichen Kern der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, geleitet von Freud. Seine Vorstellungen standen aber im Gegensatz zu Freuds. So trennte er sich von der Gruppe und entwickelte auf der Grundlage seiner ureigenen Theorien eine «Individualpsychologie».
Junger Mann: Individualpsychologie? Noch so ein merkwürdiger Ausdruck. Adler war also ein Schüler von Freud?
Philosoph: Nein, das war er nicht. Diese falsche Vorstellung ist sehr verbreitet; wir müssen uns von ihr lösen. Zuerst einmal waren Adler und Freud vom Alter her ziemlich nah beieinander, und ihr Verhältnis als Forscher war ein ebenbürtiges. In dieser Hinsicht unterschied sich Adler sehr von Jung, der Freud als eine Vaterfigur verehrte. Wenn auch die Psychologie vor allem mit Freud und Jung in Verbindung gebracht wird, so wird Adler doch neben Freud und Jung als einer der drei Großen auf diesem Gebiet angesehen.
Junger Mann: Verstehe. Ich hätte mich mehr damit befassen sollen.
Philosoph: Ich glaube, es ist ganz natürlich, dass Sie noch nichts von Adler gehört haben. Er selbst sagte: «Es mag eine Zeit kommen, wenn man sich nicht mehr an meinen Namen erinnert; die Leute haben vielleicht sogar vergessen, dass unsere Schule jemals existierte.» Er fuhr fort, dass dies keine Rolle spiele. Damit wollte er sagen, dass seine Schule vergessen werden könnte, weil seine Ideen über die Grenzen einer psychologischen Schule hinausgegangen und zum Allgemeingut geworden sind – etwas, das alle kennen. Und so hat zum Beispiel Dale Carnegie, Autor der internationalen Bestseller «Wie man Freunde gewinnt» und «Sorge dich nicht, lebe!», Adler als «einen großen Psychologen» bezeichnet, «der sein Leben der Erforschung des Menschen und der in ihm schlummernden Fähigkeiten gewidmet hat». Der Einfluss von Adlers Denken ist in seinen Büchern deutlich zu spüren. Und auch in Stephen Coveys «Die 7 Wege zur Effektivität» weist ein Großteil des Inhalts starke Ähnlichkeiten mit den Ideen Adlers auf. Anders gesagt, die Adler’sche Psychologie lässt sich eher als Erkenntnis verstehen als ein begrenztes Gebiet der Lehre; sie ist eine Zusammenführung von Wahrheiten und Einsichten über den Menschen. Doch es heißt, sie seien ihrer Zeit um hundert Jahre voraus gewesen, und selbst heute haben wir sie noch nicht gänzlich verstanden. So wahrhaft bahnbrechend waren sie damals.
Junger Mann: Also sind Ihre Theorien nicht ursprünglich aus der griechischen Philosophie entstanden, sondern aus der Sichtweise der Adler’schen Psychologie?
Philosoph: Ja, das stimmt.
Junger Mann: Okay. Da ist noch etwas, das ich Sie gerne über Ihre grundsätzliche Einstellung fragen würde: Sind Sie Philosoph? Oder sind Sie Psychologe?
Philosoph: Ich bin ein Philosoph, jemand, der die Philosophie lebt. Und für mich ist die Psychologie Adlers eine Form des Denkens, die mit der griechischen Philosophie in Einklang steht, und das ist Philosophie.
Junger Mann: Gut. Dann fangen wir an.
Junger Mann: Zuerst sollten wir die Diskussionspunkte festlegen. Sie sagen, der Mensch kann sich ändern. Dann gehen Sie sogar noch einen Schritt weiter und sagen, dass jeder glücklich sein kann.
Philosoph: Ja, jeder, ohne Ausnahme.
Junger Mann: Heben wir uns die Diskussion über das Glück für später auf, und reden wir zuerst über Veränderungen. Jeder wünscht sich doch, sich ändern zu können. Ich weiß es von mir selbst, und ich bin sicher, dass jeder, den Sie auf der Straße anhalten und fragen, dasselbe sagen würde. Aber warum haben alle diesen Wunsch, sich zu ändern? Es gibt nur eine Antwort: Weil sie sich nicht ändern können. Denn wenn das einfach wäre, würden sie nicht so viel Zeit darauf verwenden, es sich zu wünschen. Wie sehr sie es sich auch wünschen mögen, die Menschen können sich nicht ändern. Und deshalb fallen auch so viele Leute auf neue Religionen, dubiose Selbsthilfeseminare und all das Gefasel darüber, wie jeder sich verändern könne, herein. Habe ich unrecht?
Philosoph: Nun, als Antwort darauf würde ich Sie fragen, warum Sie so felsenfest behaupten, die Menschen könnten sich nicht ändern.
Junger Mann: Das will ich Ihnen sagen. Ich habe einen Freund, der sich mehrere Jahre lang in seinem Zimmer eingeschlossen hat. Er wünschte sich, rausgehen zu können, und er denkt sogar, es wäre schön, eine Arbeit zu haben, wenn möglich. Er will sich also ändern. Ich spreche als sein Freund, aber ich versichere Ihnen, er ist ein Mensch, der sich sehr viele Gedanken macht und der Gesellschaft große Dienste erweisen könnte. Nur dass er Angst hat, sein Zimmer zu verlassen. Wenn er sich nur einen einzigen Schritt herauswagt, leidet er unter Herzrasen, und seine Arme und Beine zittern. Es ist eine Form von Neurose oder Panikstörung, vermute ich. Er möchte sich ändern, aber er kann es nicht.
Philosoph: Was, glauben Sie, ist der Grund dafür, dass er nicht rausgehen kann?
Junger Mann: Ich weiß nicht genau. Es könnte mit der Beziehung zu seinen Eltern zu tun haben oder damit, dass er in der Schule oder bei der Arbeit gemobbt wurde. Er hat vielleicht durch irgend so etwas eine Art Trauma erlitten. Genau das Gegenteil wäre aber auch möglich – vielleicht wurde er als Kind zu sehr behütet und kommt mit der Realität nicht zurecht. Ich weiß es einfach nicht, und ich kann nicht in seiner Vergangenheit oder seiner familiären Situation herumschnüffeln.
Philosoph: Sie sagen also, dass es Vorfälle in der Vergangenheit Ihres Freundes gab, die der Grund für das Trauma waren, oder so ähnlich, und als Folge davon kann er nicht mehr das Haus verlassen?
Junger Mann: Natürlich. Jede Wirkung hat eine Ursache. Das ist doch klar.
Philosoph: Dann liegt vielleicht der Grund dafür, dass er nicht mehr aus dem Haus gehen kann, in der häuslichen Umgebung seiner Kindheit. Er wurde von seinen Eltern in irgendeiner Form missbraucht und wurde erwachsen, ohne jemals Liebe empfunden zu haben. Deshalb hat er Angst davor, mit Menschen in Beziehung zu treten, und deshalb kann er auch nicht aus dem Haus gehen. Das ist plausibel, oder?
Junger Mann: Ja, das ist völlig plausibel. Ich denke, das ist wirklich schwierig für ihn.
Philosoph: Und Sie sagen auch: «Jede Wirkung hat eine Ursache.» Oder anders gesagt, wer ich jetzt bin (die Wirkung), wird durch Vorgänge in der Vergangenheit bestimmt (die Ursachen). Verstehe ich das richtig?
Junger Mann: Ja, genau.
Philosoph: Wenn also die jetzige Situation von jedem Menschen in der Welt auf Ereignisse in seiner Vergangenheit zurückzuführen wäre, wie Sie behaupten, würden sich die Dinge dann nicht sehr merkwürdig verhalten? Verstehen Sie nicht? Jeder, der als Kind von seinen Eltern missbraucht wurde, müsste unter denselben Wirkungen leiden wie Ihr Freund und sich einschließen, oder die ganze Theorie wäre erledigt. Das heißt, wenn die Vergangenheit tatsächlich die Gegenwart bestimmt und die Ursache die Wirkung.
Junger Mann: Worauf genau wollen Sie hinaus?
Philosoph: Wenn wir uns nur auf Ursachen in der Vergangenheit konzentrieren und versuchen, die Dinge lediglich durch das Prinzip von Ursache und Wirkung zu erklären, landen wir beim «Determinismus». Denn das würde ja bedeuten, dass unsere Gegenwart und unsere Zukunft bereits durch vergangene Ereignisse entschieden wurden und unveränderbar sind. Ist es nicht so?
Junger Mann: Wollen Sie damit sagen, dass die Vergangenheit keine Rolle spielt?
Philosoph: Ja, das ist die Sichtweise der Psychologie Adlers.
Junger Mann: Verstehe. Die Konfliktpunkte werden nun klarer. Aber sehen Sie, wenn wir Ihnen folgen, hieße das nicht am Ende, dass es für meinen Freund keinen Grund gäbe, nicht mehr hinauszugehen? Tut mir leid, aber das ist völlig unsinnig. Es muss einen Grund hinter seiner Abschottung geben. Es muss einen geben, sonst gäbe es keine Erklärung dafür!
Philosoph: Richtig, dann gäbe es keine Erklärung. In der Adler’schen Psychologie denken wir nicht an zurückliegende «Ursachen», sondern mehr an gegenwärtige «Ziele».
Junger Mann: Gegenwärtige Ziele?
Philosoph: Ihr Freund ist unsicher, also kann er nicht aus dem Haus gehen. Denken Sie sich das Ganze einmal umgekehrt. Er möchte nicht aus dem Haus gehen, deshalb entwickelt er einen Angstzustand.
Junger Mann: Was?
Philosoph: Stellen Sie es sich einmal so vor. Ihr Freund hatte schon vorher das Ziel, nicht hinauszugehen, und er hat dann einen Zustand der Sorge und Angst erzeugt, um dieses Ziel zu erreichen. In der Psychologie Adlers nennt man das «Zukunftsbezogenheit», das heißt, die Beweggründe für unser Verhalten liegen nicht in der Vergangenheit, sondern sind auf ein zukünftiges Ziel gerichtet.
Junger Mann: Sie machen wohl Witze! Mein Freund hat sich seine Sorgen und Ängste eingebildet? Behaupten Sie allen Ernstes, er tut nur so, als wäre er krank?
Philosoph: Er täuscht nicht vor, krank zu sein. Seine Gefühle der Sorge und Angst sind real. Ab und zu leidet er wahrscheinlich auch unter Migräne und heftigen Magenkrämpfen. Auch dies sind aber Symptome, die er produziert hat, um das Ziel zu erreichen, nicht rausgehen zu müssen.
Junger Mann: Das ist nicht wahr! Auf keinen Fall! Das wäre doch ungeheuer deprimierend!
Philosoph: Nein. Das ist der Unterschied zwischen der Ursachenerforschung und der Zukunftsbezogenheit, der Erforschung des Sinns und Zwecks einer Handlung im Gegensatz zu ihrer Ursache. Alles, was Sie mir erzählt haben, basiert auf der Ursachenerforschung. Solange wir in diesem Bereich bleiben, werden wir keinen einzigen Schritt vorwärtskommen.
Junger Mann: Wenn Sie dies mit solcher Eindringlichkeit behaupten, möchte ich eine gründliche Erklärung. Gleich vorweg: Was ist der Unterschied zwischen der Ursachenerforschung und der Zukunftsbezogenheit, also der Erforschung des Zwecks, wie Sie es nennen?
Philosoph: Angenommen, Sie haben eine Erkältung mit hohem Fieber und sind zum Arzt gegangen. Und der Arzt sagt Ihnen dann, der Grund für Ihre Krankheit ist, dass Sie gestern, als Sie aus dem Haus gegangen sind, nicht richtig angezogen waren, und deshalb haben Sie die Erkältung bekommen. Wären Sie damit dann zufrieden?
Junger Mann: Natürlich nicht. Es wäre mir egal, was der Grund dafür war – wie ich angezogen war oder weil es geregnet hat oder was auch immer. Es sind die Symptome, die Tatsache, dass es mir jetzt schlechtgeht und ich hohes Fieber habe, die mich interessieren würden. Von einem Arzt brauche ich ein Rezept für ein Medikament, eine Behandlung durch Spritzen oder welche Maßnahmen auch immer notwendig sind.
Philosoph: Doch Menschen mit einer auf Ursachen beschränkten Sichtweise, einschließlich der meisten psychologischen Berater und Psychiater, würden behaupten, dass Ihr Leiden von dieser und jener Ursache in der Vergangenheit herrührt, und würden Sie am Ende nur trösten, indem sie sagen: «Sie sehen also, es ist nicht Ihre Schuld.» Das Argument der sogenannten Traumata ist typisch für die auf Ursachen gerichtete Sichtweise.
Junger Mann: Moment mal. Heißt das, Sie leugnen, dass es überhaupt ein Trauma gibt?
Philosoph: Ja, genau. Und zwar entschieden.
Junger Mann: Was? Sind Sie, oder besser Adler, nicht eine Autorität in der Psychologie?
Philosoph: In der Adler’schen Psychologie wird das Trauma definitiv bestritten. Das war eine ganz neue und revolutionäre Sichtweise. Zugegeben, die Freudianische Auffassung des Traumas ist faszinierend. In Freuds Vorstellung sind die psychischen Verletzungen (Traumata) die Ursache für das gegenwärtige Unglück eines Menschen. Wenn man das Leben als eine lange Geschichte betrachtet, gibt es darin eine einfach zu verstehende Kausalität und einen Sinn für dramatische Entwicklungen, die starke Eindrücke erzeugen, und das ist ungeheuer faszinierend. Adler konstatiert jedoch, zur Widerlegung des Trauma-Arguments, Folgendes: «Keine Erfahrung ist für sich genommen eine Ursache für unseren Erfolg oder unser Versagen. Wir leiden nicht unter dem Schock unseres Erlebens – dem sogenannten Trauma –, sondern wir machen aus ihm genau das, was unserem Zweck dient. Wir werden nicht durch unsere Erfahrungen bestimmt, sondern die Bedeutung, die wir ihnen geben, stellt diese Bestimmung erst her.»
Junger Mann: Dann machen wir also aus ihnen, was immer unserem Zweck dient?
Philosoph: Genau. Sehen Sie sich einmal Adlers Aussage genau an, wenn er davon spricht, das Selbst würde nicht durch unsere Erfahrungen bestimmt, sondern durch die Bedeutung, die wir ihnen geben. Er sagt nicht, dass die Erfahrung eines schrecklichen Unglücks oder von Missbrauch in der Kindheit oder ähnlicher Vorkommnisse keinen Einfluss auf die Bildung der Persönlichkeit hätte; ihr Einfluss ist sehr stark. Doch das Wichtige ist, dass nichts tatsächlich durch diese Einflüsse festgelegt wird. Wir bestimmen über unser eigenes Leben, je nach der Bedeutung, die wir diesen früheren Erfahrungen beimessen. Dein Leben ist nichts, was dir jemand gibt, sondern etwas, was du selbst wählst – und du bist derjenige, der entscheidet, wie du lebst.
Junger Mann: Gut, dann sagen Sie also, dass mein Freund sich in seinem Zimmer eingeschlossen hat, weil es seine eigene Wahl ist, so zu leben? Das ist eine schwerwiegende Behauptung. Glauben Sie mir, das will er wirklich nicht. Im Gegenteil, die Umstände haben ihn dazu gezwungen. Er hatte keine andere Wahl, als der zu werden, der er heute ist.
Philosoph: Nein. Selbst wenn wir annehmen, dass Ihr Freund tatsächlich denkt: «Ich passe nicht in die Gesellschaft, weil ich von meinen Eltern missbraucht wurde» – so ist das immer noch deshalb der Fall, weil es sein Ziel ist, so zu denken.
Junger Mann: Was für ein Ziel sollte denn das sein?
Philosoph: Das unmittelbare Ziel wäre wahrscheinlich, nicht «rauszugehen». Er produziert dann Angst und Sorge – die ihm die Gründe dafür liefern, drinnen zu bleiben.
Junger Mann: Aber warum will er nicht rausgehen? Da liegt doch das Problem.
Philosoph: Tja, stellen Sie sich die Situation einmal aus der Perspektive seiner Eltern vor. Wie würden Sie sich fühlen, wenn sich Ihr Kind in seinem Zimmer einschließen würde?
Junger Mann: Ich würde mir natürlich Sorgen machen. Ich würde ihm helfen wollen, zurück in die Gesellschaft zu finden; ich würde wollen, dass es ihm gutgeht, und ich würde mich fragen, ob ich etwas in seiner Erziehung falsch gemacht habe. Ich wäre sicher ernsthaft besorgt und würde auf jede erdenkliche Weise versuchen, ihm wieder zu einem normalen Leben zu verhelfen.
Philosoph: Da liegt das Problem.
Junger Mann: Wo?
Philosoph: Wenn ich die ganze Zeit in meinem Zimmer bleibe, ohne es jemals zu verlassen, werden sich meine Eltern Sorgen machen. Ich kann die gesamte Aufmerksamkeit meiner Eltern auf mich konzentrieren. Sie sind dann furchtbar besorgt um mich und behandeln mich stets wie ein rohes Ei. Wenn ich aber nur einen Schritt aus dem Haus gehe, werde ich einfach zu einem Teil einer gesichtslosen Masse, auf den niemand achtet. Ich bin umgeben von Menschen, die ich nicht kenne, und fühle mich am Ende mittelmäßig oder sogar noch mieser. Und niemand wird sich ein Bein ausreißen, um sich um mich zu kümmern … Solche Geschichten über Menschen, die sich völlig zurückgezogen haben, sind nicht selten.
Junger Mann: In diesem Fall hätte also mein Freund, wenn man Ihrem Gedankengang folgt, sein Ziel erreicht und wäre mit der jetzigen Situation zufrieden?
Philosoph: Ich bezweifle, dass er zufrieden ist, und ich bin sogar sicher, dass er nicht glücklich ist. Aber natürlich handelt er auch in Übereinstimmung mit seinem Ziel. Das ist nichts, was nur Ihr Freund macht. Jeder von uns richtet sein Leben an einem bestimmten Ziel aus.
Junger Mann: Auf keinen Fall. Das ist völlig inakzeptabel. Sehen Sie, mein Freund ist …
Philosoph: Hören Sie, diese Diskussion führt nirgendwohin, wenn wir nur weiter über Ihren Freund sprechen. Es hat keinen Sinn, über nicht Anwesende zu verhandeln. Nehmen wir ein anderes Beispiel.
Junger Mann: Nun, wie wär’s denn damit: eine meiner eigenen Geschichten; etwas, das ich erst gestern erlebt habe.
Philosoph: Oh? Ich bin ganz Ohr.
Junger Mann: Gestern Nachmittag las ich gerade ein Buch in einem Café, als ein Kellner vorbeilief und Kaffee auf meine Jacke schüttete. Ich hatte sie gerade erst gekauft, und sie ist mein bestes Kleidungsstück. Ich konnte nichts dagegen machen – ich bin einfach ausgerastet. Ich schrie ihn aus vollem Halse an. Ich gehöre normalerweise nicht zu den Leuten, die an öffentlichen Orten die Stimme erheben. Aber gestern dröhnte der ganze Laden von meinem Gebrüll, weil ich so in Wut geraten war, dass ich nicht mehr wusste, was ich tat. Wie ist es nun damit? Lässt sich hier wirklich noch von einem Ziel sprechen? Ganz gleich, wie Sie es ansehen, ist das nicht ein Verhalten, das einer Ursache entspringt?
Philosoph: Sie wurden also von der Emotion der Wut angetrieben und haben schließlich herumgeschrien. Obwohl Sie normalerweise eine sanfte Natur haben, konnten Sie es nicht verhindern, wütend zu werden. Es war eine unvermeidbare Reaktion, und Sie konnten nichts dagegen tun. Wollen Sie mir das sagen?
Junger Mann: Ja, weil es so plötzlich geschah. Die Worte kamen einfach aus meinem Mund, bevor ich Zeit zum Denken hatte.
Philosoph: Angenommen, Sie hätten gestern zufällig ein Messer dabeigehabt, und als Sie ausgerastet sind, hätten Sie ihn erstochen. Könnten Sie das dann immer noch damit rechtfertigen: «Es war eine unvermeidbare Reaktion, und ich konnte nichts dagegen tun?»
Junger Mann: Das … Kommen Sie, das ist ja ein krasses Argument!
Philosoph: Das ist gar kein krasses Argument. Wenn wir Ihren Gedankengang weiterdenken, könnte für jeden Angriff, der in einem Zustand der Wut geschieht, die Wut verantwortlich gemacht werden, und er läge damit nicht mehr im Verantwortungsbereich der Person, denn im Kern sagen Sie, dass die Menschen ihre Emotionen nicht kontrollieren können.
Junger Mann: Tja, wie erklären Sie sich dann meine Wut?
Philosoph: Das ist einfach. Sie sind nicht in Wut geraten und haben dann gebrüllt. Sie sind einzig und allein wütend geworden, damit Sie brüllen konnten. Anders gesagt: Um zum Ziel des Herumbrüllens zu gelangen, haben Sie die Emotion der Wut erzeugt.
Junger Mann: Wie meinen Sie das?
Philosoph: Das Ziel, sich laut Gehör zu verschaffen, kam vor allem anderen. Das heißt: Durch das Brüllen wollten Sie erreichen, dass der Kellner sich Ihnen unterordnet und zuhört, was Sie zu sagen hatten. Als Mittel dazu haben Sie die Emotion der Wut produziert.
Junger Mann: Ich habe sie produziert? Sie machen wohl Witze!
Philosoph: Warum haben Sie dann Ihre Stimme erhoben?
Junger Mann: Wie ich schon sagte, ich war außer mir. Ich war total frustriert.
Philosoph: Nein. Sie hätten die Sache erklären können, auch ohne Ihre Stimme zu heben, und der Kellner hätte sich höchstwahrscheinlich aufrichtig bei Ihnen entschuldigt, Ihre Jacke mit einem sauberen Tuch abgewischt und alle notwendigen Maßnahmen ergriffen. Er hätte sich vielleicht sogar um die Reinigung gekümmert. Und irgendwo in Ihrem Hinterkopf haben Sie sogar damit gerechnet, dass er all das tun würde, aber trotzdem haben Sie gebrüllt. Alles mit ganz normalen Worten zu klären erschien Ihnen als zu viel Aufwand, und Sie haben versucht, dem zu entgehen und diese im Grunde gutwillige Person dazu zu bringen, sich Ihnen zu fügen. Als Instrument benutzten Sie dazu die Emotion der Wut.
Junger Mann: Keinesfalls. Mich können Sie nicht einwickeln. Ich habe Wut erzeugt, um ihn dazu zu bringen, den Kopf einzuziehen? Ich schwöre Ihnen, ich habe nicht einmal eine Sekunde an so etwas gedacht. Ich habe nicht erst überlegt und bin dann wütend geworden. Wut ist eine Emotion, die spontan entsteht.
Philosoph: Das stimmt, Wut ist eine Emotion, die ohne Verzögerung entsteht. Nun hören Sie mir bitte zu, ich habe eine Geschichte zu erzählen. Eines Tages hatten eine Mutter und ihre Tochter einen lauten Streit. Dann klingelte plötzlich das Telefon. «Hallo?» Die Mutter nahm hastig den Hörer ab, wobei ihre Stimme noch heftig klang. Der Anrufer war der Klassenlehrer ihrer Tochter. Sobald die Mutter den Anrufer erkannt hatte, wechselte der Ton ihrer Stimme, und sie wurde sehr höflich. Dann führte sie die nächsten fünf Minuten lang das Gespräch mit ihrer besten Telefonstimme weiter. Sobald sie aufgelegt hatte, änderte sich ihr Gesichtsausdruck wieder, und sie machte damit weiter, ihre Tochter anzuschreien.
Junger Mann: Na ja, das ist keine so ungewöhnliche Geschichte.
Philosoph: Verstehen Sie nicht? Kurz gesagt, Wut ist ein Werkzeug, das nach Belieben hervorgeholt werden kann. Sie kann beiseitegelegt werden, in dem Moment, wenn das Telefon klingelt, und wieder hervorgeholt, nachdem man aufgelegt hat. Die Mutter schreit nicht etwa vor Wut, die sie nicht beherrschen kann. Sie nutzt diese Wut einfach nur, um ihre Tochter mit lauter Stimme niederzukämpfen und so ihre Meinung durchzusetzen.
Junger Mann: Wut ist also ein Mittel zum Zweck?
Philosoph: Das sagt die Psychologie Adlers.
Junger Mann: Ah, jetzt verstehe ich. Unter dieser sanften Maske, die Sie tragen, sind Sie schrecklich nihilistisch! Ob wir über Wut oder über meinen zurückgezogen lebenden Freund sprechen, all Ihre Weisheiten sind voller Gefühle des Misstrauens gegenüber den Menschen!
Philosoph: Wieso bin ich nihilistisch?
Junger Mann: