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Die junge Engländerin Megan Stephens verliebte sich 2003 als Vierzehnjährige während eines Griechenlandurlaubs in einen Albaner, den sie im Buch Jak nennt. Sie weigerte sich, nach England zurückzukehren, und zog zu Jak und seiner Familie. Doch dann änderte sich alles: erst drängte er sie, sich zu verkaufen - für ihn, für ihre gemeinsame Zukunft. Dann war plötzlich ein anderer Mann für Megan zuständig, und Jak meldete sich gar nicht mehr zurück, wenn sie ihm schrieb. Selbst danach dauerte es noch eine ganze Weile, bis sie begriff, dass sie in die Hände von Menschenhändlern geraten war! Sechs Jahre lang lebte Megan als Zwangsprostituierte in Griechenland, erlebte bereits mit 15 ihre erste Schwangerschaft und Fehlgeburt, bis sie endlich gerettet wurde - eine unfassbare, aber wahre Geschichte über Menschenhändler mitten in Europa!
Megan Stephens war ein "Problemkind" mit wenig Selbstbewusstsein. Ihr Buch soll anderen Mädchen die Augen öffnen für die Gefahren, die ihnen drohen.
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Seitenzahl: 335
Cover
Titel
Prolog
1
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Impressum
MEGAN STEPHENS
DU NANNTESTES LIEBE
Als 14-Jährige in der Gewalteines Menschenhändlers
Aus dem Englischenvon Axel Plantiko
Sechs Jahre lang verbrachte ich jeden Tag in unbändiger Furcht. In diesen Jahren lernte ich, mit der Angst zu leben, und ich erkannte, dass man nie genau weiß, wie man in einer bestimmten Situation reagieren wird, die jenseits der eigenen Erfahrung liegt. Vielleicht glaubt man voraussehen zu können, wie man sich verhalten wird, doch damit liegt man falsch. Tatsächlich gibt es eine Menge Dinge, die ich vermutlich nie erfahren hätte – über mich selbst und darüber, wozu andere Menschen fähig sind –, wenn ich nicht im Alter von vierzehn Jahren mit meiner Mutter nach Griechenland gereist wäre und mich dort verliebt hätte.
Wenn ich jetzt darauf zurückblicke, kann ich nur schwer einschätzen, ob es wirklich Liebe war, die ich für Jak empfand: Mit vierzehn sind alle Gefühle heftig. Doch ganz gewiss glaubte ich, ihn zu lieben, und auch, dass er mich liebte. Das ist die einzige Erklärung, weshalb ich – noch lange nach dem Zeitpunkt, zu dem es unsinnig und lächerlich geworden war, mir Gedanken über ihn zu machen – meine eventuelle Fluchtchance verpasst habe. Heute hege ich natürlich keine Gefühle mehr für ihn, und ich habe endlich akzeptiert, dass er mich nie geliebt hat.
Ich hoffe, dass Sie nach der Lektüre meiner Geschichte verstehen werden, weshalb ich die Identität des Mannes, dem ich den Namen Jak gegeben habe, niemals preisgeben werde und weshalb ich die Namen sämtlicher Personen geändert habe. Weshalb ich derartige Angst habe, die Furcht könnte mich wieder beherrschen.
Mein mangelnder Mut macht mir Schuldgefühle, nicht zuletzt, weil es andere Mädchen gibt, die von denselben Menschenhändlern in die Prostitution gezwungen wurden, die mich getäuscht und ausgebeutet haben. Ich brauche mir nicht vorzustellen, wie verzweifelt und verängstigt diese Mädchen sind. Ich weiß, wie sie sich jede Nacht fühlen, wenn sie in der Hoffnung einschlafen, der nächste Morgen möge nicht kommen, damit sie nicht einen weiteren Tag voller Gewalt, Erniedrigung und schmerzhafter Einsamkeit durchleben müssen. Sechs Jahre lang spürte ich dies selbst fast Tag für Tag. Jetzt, fünf Jahre später, habe ich immer noch Albträume, und zuweilen weiß ich nicht mehr, wie ich mich von meiner Angst befreien soll.
Was mir in Griechenland widerfuhr, raubte mir den letzten Rest meines Selbstwertgefühls. Und wenn man überzeugt ist, wertlos zu sein, dann kann man nur schwerlich glauben, irgendjemand könne einen lieben. Doch ich weiß, dass mich meine Mutter liebt, und bevor ich Ihnen meine Geschichte erzähle, möchte ich vorausschicken, dass ich sie ebenfalls liebe.
Vielleicht wären die Dinge anders gelaufen, wenn meine Mutter konsequenter durchgegriffen hätte, als ich in Griechenland meine ersten wirklich üblen Entscheidungen traf. Das Problem war, dass sie genauso wenig wie ich eine Vorstellung von Leuten hatte, die tatsächlich Menschen kaufen und verkaufen. Daher glaubte sie mir, als ich ihr erzählte, ich sei glücklich. Sie brachte die Fotos, die ich ihr schickte, an der Wand der Bar an, in der sie arbeitete, und sie verschwendete keinen einzigen Gedanken daran, dass ich sie belügen könnte.
Es gibt viele Begebenheiten in meiner Geschichte, bei denen Sie sich fragen werden, wie sich jemand dermaßen bescheuert verhalten kann. Ich verstehe es selbst immer noch nicht ganz, außer, dass ich eben noch sehr jung und naiv war, als ich mich in Jak verliebte. Vielleicht kann dies zumindest teilweise als Erklärung dafür herhalten, weshalb ich mich von dem bisschen Vernunft verabschiedete, die mir noch verblieben war, und weshalb ich einfach alles akzeptierte, was er von mir verlangte. Und wenn ich nicht wahrhaben wollte, was sich entwickelte, dann kann ich gewiss meiner Mutter nicht vorwerfen, dass sie es ebenfalls nicht mitbekam.
Erst seit Kurzem weiß ich, dass man die Zahl der Opfer von Menschenhändlern weltweit auf über 20 Millionen schätzt. Das heißt, dass es über 20 Millionen Männer, Frauen und Kinder gibt, denen das Leben gestohlen wurde, die von ihren Familien und ihrem Freundeskreis getrennt wurden und die gezwungen werden, unglaublich lange zu arbeiten, oft unter entsetzlichen Bedingungen. Ein Großteil dieser Menschen wurde wie ich von jemandem getäuscht, an dessen Liebe sie glaubten, oder durch das Versprechen einer regulären Arbeit. Keinem von ihnen kann ich auch nur einen Moment Vorhaltungen machen. Daher weiß ich auch, dass ich mir selbst nicht alles vorwerfen sollte, was mir zugestoßen ist, obwohl ich immer noch Schwierigkeiten damit habe.
Mir ist klar, dass ich mich dem Urteil anderer Menschen ausliefere, indem ich meine Geschichte erzähle, und manche dieser Fremden werden nicht so verständnisvoll sein, wie ich vielleicht hoffe. Doch vielleicht veranlasst diese Lektüre einen einzigen Menschen, zwei Mal nachzudenken, bevor er jemandem vertraut, dem er nicht vertrauen sollte. Und wenn er dann einen Schritt unterlässt, den er für den Rest seines Lebens bereuen würde, dann habe ich das Gefühl, das Ganze habe doch noch zu etwas Positivem geführt.
Ich war vierzehn, als ich mit meiner Mutter nach Griechenland reiste. Anfangs hielt ich dies für den naheliegenden Anfang meiner Geschichte. Doch als ich intensiver darüber nachzudenken begann, wurde mir klar, dass alles schon sehr viel früher angefangen hat, als ich noch ein kleines Mädchen war. Die Beschäftigung mit meiner Kindheit hat mir klar gemacht, weshalb ich später auf eine ganz bestimmte Weise handelte und reagierte.
Im Alter von knapp zwölf Jahren entwickelte ich mich vom »Kind mit Problemen« zum »Problemkind«. Schon in diesem zarten Alter trug ich eine gehörige Portion Wut mit mir herum, die sich als schlechtes Benehmen entlud. Sie schlug nie in Gewalt um; ich war nur streitsüchtig und beharrte darauf, das zu tun, was ich mir an verrückten, unvernünftigen Dingen in den Kopf gesetzt hatte. Obwohl ich sie beide immer liebte, hatte ich mich ständig mit meiner Schwester in der Wolle und gab meiner Mutter patzige Antworten, in der aufsässigen lauten Art, wie es manche Teenager tun. Danach, mit ungefähr zwölf, fing ich an, die Schule zu schwänzen und von zu Hause wegzulaufen.
Wenn ich heute darüber nachdenke, tut es mir um meiner Mutter Willen leid. Es muss alles ziemlich schockierend für sie gewesen sein, zumal ich bis dahin ein ziemlich wohlerzogenes kleines Mädchen mit guten schulischen Leistungen war. Ich weiß, dass es schwierig für sie war, mit mir zurande zu kommen, da sie bereits genug eigene Probleme zu bewältigen hatte.
Ich war vier, als sich meine Eltern trennten. Meine erste schlechte Erinnerung ist der Tag, an dem mein Vater uns verließ. Ich saß in unserem Haus auf der obersten Treppenstufe und schluchzte. An diesen Tag habe ich mich immer wieder erinnert, und ich glaube, dass ich weinte, weil ich furchtbare Bauchschmerzen hatte, und später kam ich dahinter, dass ich jedes Mal fürchterliche Bauchschmerzen bekomme, wenn ich mich fürchte oder aufrege. Daher gehe ich davon aus, dass die Tränen – und die Bauchschmerzen – auf den Auszug meines Vaters zurückzuführen waren.
Als er aus dem Wohnzimmer in den Flur kam, rief ich zu ihm hinunter: »Bitte, Papa, geh nicht!«
Er blieb stehen und schaute zu mir hinauf, und ich hielt für einen Moment den Atem an, da ich glaubte, er würde uns vielleicht doch nicht verlassen. Aber dann winkte er mir zu und ging durch die Haustür davon.
Ich vergötterte meinen Vater, und irgendwie habe ich es nie verwunden, dass er uns verließ. Doch ich habe auch viele gute Erinnerungen an meinen Stiefvater John, der schon kurz nach Papas Verschwinden bei uns einzog. Als Kind mochte ich die Schule, und was mir an John unter anderem wirklich gefiel, war die Art, wie er mit mir immer über alles sprach, was ich gerade lernte. Und er half mir bei den Hausaufgaben. Im Gegensatz zu meinem Vater war er auch sehr ordentlich, und solange er da war, war unsere Wohnung immer sauber und aufgeräumt.
Zu jener Zeit lebten wir in einer guten Gegend der Stadt. Dafür hatte meine Mutter gesorgt. Sie meinte, sie wolle meiner Schwester und mir mehr Möglichkeiten eröffnen und uns ein besseres Leben sichern, als sie es gehabt hatte, weshalb sie auch darauf bestand, dass wir uns immer »anständig« ausdrückten und benahmen.
Mein Vater war sehr weit weggezogen, als er uns verließ – genau ans andere Ende der Stadt –, und manchmal besuchten meine Schwester und ich ihn am Wochenende und übernachteten dort. Meine Mutter erzählte mir später, er habe vor ihrer Trennung angefangen, zu trinken und Drogen zu nehmen. Als Kind wusste ich nichts über Drogen, aber ich glaube, ich habe mitbekommen, dass er trank, oder zumindest registrierte ich die Folgen seines Trinkens, da er sich manchmal schrecklich benahm, wenn er betrunken war.
Wenn meine Schwester und ich ihn besuchten, gab ihm meine Mutter Geld, damit er für uns sorgen konnte. Doch er muss es in Alkohol umgesetzt haben, denn in den Nächten auf den Sonntag erschien er zu Hause mit wirrem Haar, schmutziger Kleidung und unheimlichem Hunger. Meine Gefühle für ihn beeinflusste das aber nicht: Ich bewunderte ihn immer noch, und jedes Mal, wenn wir uns von ihm verabschieden mussten, heulte ich Rotz und Wasser.
Ich weiß nicht, ob er seine Sucht zu bekämpfen versuchte oder mit seinem Leben zufrieden war. Vielleicht waren Drogen und Alkohol wirklich alles, was ihn noch interessierte. Gewiss machte es manchmal diesen Eindruck, und als er sich zwischen seiner Sucht und seiner Frau sowie den Kindern entscheiden musste, hatte er uns aufgegeben. Schließlich verzichtete er sogar darauf, meine Schwester und mich an den Wochenenden zu sehen, und er wurde so merkwürdig und unberechenbar, dass meine Mutter uns die Besuche bei ihm untersagen musste.
Eine Weile vermisste ich meinen Vater noch sehr, doch dann kamen einige Freunde von meiner Mutter und John an den Wochenenden mit ihren beiden Kindern, und ich begann mich daran zu gewöhnen, dass ich ihm nicht mehr begegnete. Meine Mutter machte jeden Samstagabend eine große Schüssel Popcorn für uns Kinder, die wir verputzen konnten, während wir uns einen Film anschauten. Danach gingen wir nach oben ins Bett, und die Erwachsenen drehten die Musik auf. Ich genoss diese Wochenenden.
Meinen Vater vermisste ich immer noch, aber in seiner Gegenwart hatte ich etwas Angst, und um ehrlich zu sein, es tat mir nicht leid, ihn nicht mehr zu besuchen. Er hatte nie etwas zu essen im Haus, und wenn wir ihm sagten, dass wir Hunger hatten, wurde er nur wütend und schimpfte uns aus, was mich beunruhigte – meinetwegen, wegen meiner Schwester und seinetwegen. Daher war es schön, die Wochenenden einfach als Kind zu Hause verbringen zu können, wo wir spielten und unseren Spaß hatten und uns über nichts Sorgen zu machen brauchten.
Da ich die Älteste war, schien es in meiner Verantwortung zu liegen, mich um meine Schwester und die beiden anderen Kinder zu kümmern, die das Wochenende bei uns verbrachten. Daher erzählte ich ihnen Geschichten und tat so, als hätte ich überhaupt keine Angst, wenn mich die drei mit großen, verschreckten Augen anschauten, weil von unten Kreischen und Gebrüll heraufscholl. Am nächsten Morgen schlichen wir nach unten und räumten das Chaos weg, das die Erwachsenen im Wohnzimmer hinterlassen hatten. Wir hofften, sie würden sich über uns freuen, wenn sie aufwachten, und nicht mürrisch und schweigsam miteinander umgehen.
Später, als ich in Griechenland war, spürte ich häufig den gleichen wild entschlossenen Optimismus, den ich an diesen Sonntagmorgen zu Hause gehabt hatte, wenn wir die überquellenden, oft umgestoßenen Aschenbecher, Bierdosen und Flaschen beseitigten und die zerschmetterten Überreste der Gegenstände entsorgten, mit denen sich die Erwachsenen quer durchs Zimmer beworfen hatten. Ich erinnere mich noch an das Gefühl schrecklichen Grauens, das mich eines Morgens erfasste, als wir nach unten kamen und an die Wände des Wohnzimmers mit Blut beschmiert vorfanden. Auch Wörter standen da, als hätte jemand die Buchstaben mit dem Finger gemalt. Ich weiß nicht mehr, welche Wörter es waren. Ich erinnere mich nur noch, wie sich mein Magen schmerzhaft verkrampfte, als ich sie las, und dass ich dachte, ich müsste mich übergeben.
Auch wenn es anders klingen mag, aber meine Mutter verhielt sich meistens gut und fürsorglich uns gegenüber. Ich weiß, dass sie für mich und meine Schwester wirklich das Beste wollte, und sie arbeitete hart, damit wir alles bekamen, was wir brauchten. Mir wäre nur wohler, wenn sie damals bemerkt hätte, dass diese ganzen Streitereien einen schädlichen Einfluss hatten – zunächst die Kämpfe zwischen ihr und meinem Vater, danach die alkoholgeschwängerten Keilereien, die an den Samstagabenden mit John und dem Pärchen stattfanden, das bei uns am Wochenende übernachtete. Jeder, der mal als Kind aufgewacht ist, weil sich die Eltern anbrüllten, wird wissen, wie es ist, wenn man wach im Dunkeln liegt und zuhören muss, und wie man versucht, es nicht zu hören.
Manchmal, wenn meine Mutter und John einen besonders heftigen Streit gehabt hatten, stürmte John aus dem Haus und knallte die Tür hinter sich zu. Häufig blieb er mehrere Tage weg, und dann saß meine Mutter nach der Arbeit einfach nur im Wohnzimmer herum, schaute Fernsehen oder hörte Musik und heulte. Für ein Kind ist es ein furchtbares Gefühl, sich um die Mutter oder den Vater Sorgen zu machen: Das ist ein Gefühl, als wenn man etwas tun müsste, um die Dinge wieder zurechtzurücken, aber man hat nicht die leiseste Ahnung, was man tun soll oder wie man es anpacken sollte.
Es geschah oft, dass ich meine Mutter umarmen und ihr alles leichter machen wollte. Und es gab Zeiten, in denen ich wütend auf sie war, weil sie etwas tat, was mir Angst machte, obwohl ich dieses Gefühl zu jener Zeit nicht in Worte fassen konnte.
Als wir aus dem Haus auszogen, wollte meine Mutter nicht gehen. Doch das Verhältnis zwischen ihr und John geriet aus den Fugen, und ich glaube, sie hoffte, die unvermeidliche Trennung vielleicht verhindern zu können, indem sie ihm bei allem nachgab, was er wollte. Natürlich klappte das nicht. Wir wohnten noch nicht lange in dem neuen Haus, als sich die Lage weiter verschärfte. Meine Mutter und John stritten sich fast ständig, und dann verlor John seinen Job und hing den ganzen Tag zu Hause herum und trank. Von Zeit zu Zeit hatten sie großen Krach, John stürmte dann aus dem Haus und blieb bei seiner Schwester, während meine Mutter heulte und Trübsal blies und laute Musik hörte. Nach einer Weile taten sie sich wieder zusammen, ich atmete erleichtert auf, und ein paar Tage lang war alles in Ordnung. Danach aber drehte sich der ganze Teufelskreis wieder von vorne.
Hinter dem Haus, aus dem wir auszogen, befanden sich Felder; es lag in einer schönen Gegend der Stadt, an einer angenehmen Straße, wo zwei meiner besten Freundinnen wohnten. Daher war ich sauer, als meine Mutter mir sagte, wir würden umziehen. Und ich war am Boden zerstört, als ich feststellte, dass sich unser neues Haus in einer üblen Wohnsiedlung befand, in der Kinder wie ich, die sich nicht trauten, den Mund aufzumachen, aus mir unerfindlichen Gründen schikaniert und manchmal auch tätlich angegriffen wurden.
Das einzig Positive an der neuen Wohnsituation war Dean. Dean lebte nebenan bei seinen Eltern. Als meine Schwester und ich ihn am Tag unseres Einzugs zum ersten Mal sahen, saß er auf der Gartenmauer und hielt einen Igel in den Händen. Wir hatten ihn durch das Fenster unseres neuen Schlafzimmers beobachtet, und als er sich umdrehte, duckten wir uns, um nicht gesehen zu werden. Aber wir waren nicht schnell genug, er hatte uns bereits entdeckt, und als wir wieder nach draußen schauten, winkte er uns zu und gab uns zu verstehen, wir sollten in den Garten kommen.
Dean war ein wirklich toller Bursche. Ich lernte ihn im Laufe der nächsten Jahre gut kennen, und wir wurden dicke Freunde. Es bricht mir immer noch das Herz, wenn ich daran denke, wie gemein er von einigen anderen Kindern in der Siedlung drangsaliert und gequält wurde. Er war ungefähr vier Jahre älter als ich, sah sehr gut aus und hatte eine Freundin, als ich ihn kennenlernte. Vielleicht wussten die Leute, die ihm das Leben so schwer machten, indem sie sein Haus wiederholt angriffen, ihn verprügelten und bösartige, völlig haltlose Gerüchte über ihn verbreiteten, bereits vor ihm selbst, dass er schwul war.
Ich war immer gerne zur Schule gegangen und hatte gute Noten bekommen, daher freute ich mich darauf, eine weiterführende Schule zu besuchen. Da wir umgezogen waren, musste ich eine andere als die ursprünglich zuständige besuchen; ich kam auf eine Schule in der Nähe unseres neuen Zuhauses, wo die anderen Kinder nicht lange brauchten, um mich als Streberin hinzustellen, und in der ich fast vom ersten Tag an gemobbt wurde. Ich bekam die besten Noten, und während mich die Lehrer lobten und zu ermutigen versuchten, schubsten mich die Kinder auf dem Schulhof herum, rissen an meinen Haaren und verprügelten mich gelegentlich. Anscheinend mochten sie die Art nicht, wie ich sprach oder wie ich aussah oder wie ich angezogen war – oder einfach die Tatsache, dass ich eine Streberin war.
Einer der Gründe, weshalb ich so gute Noten bekam, war meine schnelle Auffassungsgabe. Daher brauchte ich nicht lange, um zu kapieren, dass ich mein eigenes Verhalten ändern musste, wenn ich anerkannt werden wollte, da sich die Einstellung der anderen mir gegenüber durch das Mobben nicht besserte. Innerhalb weniger Monate auf der neuen Schule trug ich andere Kleidung, hatte meine vornehme Aussprache abgelegt und sämtliche Slangausdrücke übernommen, die die anderen Kinder benutzten. Und ich begann während der Unterrichtsstunden herumzualbern.
Das war das erste Mal, dass ich meine Fähigkeit einsetzte, zu verbergen, wer ich wirklich bin, und mich als jemand anderes auszugeben. Ich hasste mich deswegen, doch es funktionierte: Meine Schulnoten wurden schlechter und die Plagegeister richteten ihre bösartige Aufmerksamkeit auf andere Opfer. Was ich aber wirklich hasste, war die Tatsache, dass meine Lehrer enttäuscht von mir waren, wenn auch nicht ganz so enttäuscht wie ich selbst, trotz meiner scheinbaren Gleichgültigkeit ihrer Besorgnis gegenüber. Immer wieder fragten sie mich, ob irgendetwas nicht stimme.
Nachdem ich jetzt selbst zu den Rabauken gehörte, wenn auch nur als Mitläuferin, konnte ich Freundschaften schließen, und eine Freundin hieß Carly. Wie ich hatte sich Carly zunächst durch gute Schulleistungen ausgezeichnet und war dann abgesackt, nachdem sie sich ein schlechteres Benehmen zugelegt hatte. Allerdings fiel es ihr leichter als mir, sich über Dinge hinwegzusetzen, und eines Tages, als wir gemeinsam die Schule schwänzten, lotste sie mich zu einem Parkplatz eines Bürogebäudes in der Nähe ihres Zuhauses, zeigte auf einen Lieferwagen und sagte: »Lass uns mal sehen, was da drin ist.«
Der Gedanke, irgendwo einzubrechen, machte mich vor Angst ganz krank. Doch ich spürte, dass dies ein Test war, und wenn ich ihn nicht bestand, würde es nicht lange dauern, bis ich wieder da landete, wo alles begonnen hatte.
Es war ein blödsinniges Unterfangen, vor allem am helllichten Tag auf einem öffentlichen Parkplatz. Jemand beobachtete uns und informierte die Polizei, die uns auf frischer Tat ertappte, in einem Polizeiauto zur Schule brachte und mich danach zu Hause ablieferte. Ich hatte Glück, dass ich mit einer Verwarnung der Polizei davonkam, aber mit meiner Mutter geriet ich in einen ganzen Strudel von Schwierigkeiten. Niemand, der mitbekommen hätte, wie ich meine Mutter anbrüllte, als sie mit mir schimpfte, hätte jemals geglaubt, dass ich mich schämte und dass mir leidtat, was ich angestellt hatte.
Das zweite Mal, dass ich es mit der Polizei zu tun bekam, war, als ich mit einer anderen Freundin beim Ladendiebstahl von Make-up in einem Einkaufszentrum erwischt wurde. Diesmal riefen die Polizisten von der Wache aus bei meiner Mutter an und baten sie, mich abzuholen. Sie war furchtbar aufgeregt und stocksauer, als sie dort ankam, und obwohl ich lieber gestorben wäre, als es zu zeigen, hatte ich ein schlechtes Gewissen.
Die Polizisten sagten meiner Mutter, sie solle dafür sorgen, dass ich am nächsten Morgen pünktlich vor Gericht erschien, und als ich sagte, ich dächte nicht daran, vor Gericht zu erscheinen, erwiderte mir der Polizist: »Du hast keine Wahl. Du musst erscheinen!«
»Ach ja?« Die arrogante Feindseligkeit in meiner Stimme klang überzeugend. »Und wer zwingt mich dazu?«
Die Antwort war, dass sie dafür sorgten, indem sie mich über Nacht in eine Zelle steckten und am nächsten Morgen in einem Mannschaftswagen zum Gericht fuhren. Ich glaube, dafür brauchten sie die Zustimmung meiner Mutter, die sie ihnen sicher bereitwillig gegeben hat, da sie hoffte, der nächtliche Aufenthalt in einer Polizeizelle könnte mir einen Schock versetzen und mir klar machen, wie es enden würde, wenn ich mich nicht schleunigst besserte.
Als man mich, im wahrsten Sinne des Wortes um mich tretend und schreiend, in die Zelle schleppte, war ich wirklich wütend. Aber ich hatte auch Angst.
Nachdem ich eines Tages in der Schule etwas getan hatte, das ich nicht hätte tun dürfen, wurden meine Mutter und John zu einer Sitzung einbestellt, um über mein Verhalten zu reden. Der Schulleiter stellte mir Fragen, wie das Leben zu Hause sei – als wenn ich dazu irgendetwas im Beisein meiner Mutter und meines Stiefvaters gesagt hätte. Ich glaube nicht, dass meine Mutter jemals verstanden hat, weshalb ich zunehmend widerspenstig wurde. Ich verstand es ja selbst nicht, obwohl mir heute klar ist, es lag zumindest teilweise daran, dass es in unserem Zusammenleben zu Hause keine große Stabilität gab. Wir hatten einfach das Gefühl, niemanden kümmere es wirklich, was wir taten oder was uns zustieß, solange wir keinen Ärger verursachten.
Ich war schon ein paar Mal von zu Hause weggelaufen. Bei all diesen Gelegenheiten, wenn meine Mutter nicht wusste, wo ich steckte, wäre sie vermutlich schockiert gewesen, wenn sie gesehen hätte, mit was für Leuten ich mich eingelassen hatte. Wenn ich nicht gerade in der Siedlung herumstreunte, hielt ich mich in Wohnungen auf, in denen Drogen genommen, Gras geraucht und gesoffen wurde. Tatsächlich trank ich nicht, nicht nur, weil mir Alkohol nicht schmeckte, sondern auch, weil ich gesehen hatte, was er mit anderen Menschen angestellt hatte. Ich nahm auch keine Drogen. Doch ich rauchte, und ich fuhr im Auto mit Jungen herum, die insgesamt ziemlich hart drauf waren. Ich unternahm mit ihnen nichts, außer in ihren Autos zu sitzen: Hinter meiner harten Fassade war ich immer noch ängstlich und unsicher, und ich dachte überhaupt nicht daran, irgendeine emotionale oder sexuelle Beziehung einzugehen.
Manchmal rief meine Mutter bei der Polizei an, die dann kam und uns suchte. Doch man fand uns äußerst selten. Damals mochte ich meine Mutter nicht. In Wirklichkeit konnte ich niemanden aus meiner Familie leiden, außer meiner Schwester – was jeden überraschen musste, der uns ständig streiten hörte.
Eines Tages, als meine Tante uns besuchte und sie und meine Mutter wegen irgendetwas über mich herzuziehen begannen, rastete ich aus. Ich schnappte mir eine Ketchup-Flasche und schmiss sie durchs Zimmer. Als sie gegen die Wand knallte, schien die Flasche zu explodieren und verspritzte in sämtliche Richtungen jede Menge Scherben und eklig klebrige Soße.
Ich weiß nicht mehr, ob meine Tante oder meine Mutter die Polizei benachrichtigte. Jedenfalls wurde ich zur Polizeiwache geschleift und mehrere Stunden festgehalten, was meinen Zustand der Säuernis noch ein bisschen dauerhafter machte, nachdem mein ursprünglicher Ärger schon längst verraucht war. Tatsächlich war es furchtbar; es war, als müsste ich jemandem zuschauen, den ich nicht wiedererkannte, weil er scheußliche, ungehörige Dinge von sich gab. Das Problem war, ich hatte eine Art Eigendynamik entwickelt und wusste nicht, wie ich wieder zurückschalten sollte.
Ein Teil meines Verhaltens war vermutlich das, was man von einem Teenager erwarten konnte, der eine Phase des Zorns durchmacht und die Grenzen der Autoritäten ausloten will. Doch es nahm andere Formen an, als ich mich selbst zu verletzen begann, obwohl ich es nur ein paar Mal tat. Ich schnitt mich mit einem Rasiermesser. Weshalb, weiß ich nicht. Vielleicht wollte ich Aufmerksamkeit erregen, vielleicht wollte ich mit meinem gesamten schlechten Benehmen nichts anderes ausdrücken als: »Schaut mich an! Unternehmt endlich etwas, um mich zu stoppen. Lasst mich nicht damit durchkommen.«
Wenn ich es müde wurde, mich heimlich selbst zu kritisieren, konnte ich meine Aufmerksamkeit immer leicht auf die Dinge richten, von denen ich meinte, dass sie bei meiner Mutter nicht stimmten. Ich besuchte die Wohnungen von Freundinnen, in denen gerahmte Familienfotos über dem Kamin hingen und wo ein tolles Auto in der Auffahrt stand, und ich fragte meine Mutter: »Weshalb kannst du nicht wie die Mutter von der und der sein?«
Ich glaube, mehr als alles andere wollte ich angepasst sein. Den Normen entsprechen zu müssen war ein gewaltiger Druck, besonders in dem Wohngebiet, in dem wir lebten, und es machte mich immer völlig fertig, mich wie eine Außenseiterin zu fühlen. Ich schätze, dies war der Grund, warum die anderen unseren Nachbarjungen Dean ständig hänselten und quälten: Sie meinten, er sei anders, und deshalb ignorierten sie die Tatsache, dass er freundlich, witzig und clever war.
Meine Mutter gehörte anfangs, nachdem John bei uns eingezogen war, zu den »normgerechten Müttern«. Sie hatte einen guten Job und machte nebenberuflich eine Ausbildung mit staatlich anerkannter Qualifikation. Und wenn sie nicht arbeitete, unternahm sie an den Wochenenden mit meiner Schwester und mir etwas, ging manchmal mit uns auswärts essen und danach in den Zoo oder ins Kino, und wir hatten richtig Spaß miteinander. Sie war allerdings nicht so eine Mutter, die einem die Schulter hinhält, damit man sich daran ausweinen kann. Immer wenn ich versuchte, mit ihr über etwas zu reden, was mich beunruhigte oder aufregte, reagierte sie ärgerlich und ungeduldig. Heute vermute ich, es lag daran, dass sie nicht wusste, wie sie mit ihren eigenen Problemen umgehen sollte. Da war es wohl zu viel verlangt, dass sie auch noch fremde Probleme lösen sollte.
Sie war eine fantastische Mutter, solange sie nüchtern war. Es war der Alkohol, der alles kaputt machte. Und im Hintergrund war der Alkohol immer im Spiel. Meine Mutter und John tranken, wenn sie mit Verwandten oder Freunden zusammen waren, was noch in Ordnung war, bis ich etwa zwölf Jahre alt war und es unser aller Leben in Mitleidenschaft zog. Meine Mutter sagt, es sei Johns Schuld gewesen, und ich glaube gewiss nicht, dass er es ihr letzten Endes leichter machte. Doch aus eigener Erfahrung weiß ich, dass man die Verantwortung für das übernehmen muss, was man tut, und in gewissem Maße auch für das, was einem zustößt. Man kann nicht den gesamten Müll vor der Tür eines anderen abladen und sich selbst von jeglicher Schuld freisprechen.
Schließlich wandte sich meine Mutter an das Jugendamt, als ich weiterhin die Schule schwänzte und von zu Hause abhaute. Ich glaube, sie erhoffte sich davon, ich würde schmerzhaft erkennen, dass das Leben zu Hause doch nicht so schlimm war. Besonders schwer fiel es ihr, mit meiner Wut umzugehen, was ich verstehen kann, da ich selbst nicht weiß, weswegen ich so wütend war oder weswegen ich ein Muster schlechter Entscheidungen entwickelte.
Das Jugendamt teilte mir einen Sozialarbeiter zu, den ich wirklich mochte. Er redete mit mir und unternahm mit mir lustige Dinge, wie sie auch meine Mutter und John mit uns gemacht hatten. Daher war das Ganze für mich ein ziemlicher Erfolg. Allerdings hielt die Vereinbarung nur, bis ich wieder davonlief. Diesmal setzte ich mich zu meinem Vater ab.
Ich war jetzt fast vierzehn, und es war ein paar Jahre her, dass meine Schwester und ich die Wochenenden bei unserem Vater verbracht hatten. Doch als ich ihn eines Tages nach einem Krach mit meiner Mutter anrief, der damit endete, dass ich wütend aus dem Haus stürmte, kam er in die Stadt, um mich zu treffen. Obwohl es mir ein bisschen peinlich war, dass er aus einer Bierdose trank, während wir zusammen auf der Straße gingen, ging ich nicht davon aus, dass irgendetwas mit ihm nicht stimmen könnte. Tatsächlich hatte er sich aber bis zur Unkenntlichkeit verändert.
Er nahm mich mit in seine Wohnung, in der es keinen Strom gab, kein Geld für den Zähler und nichts im Kühlschrank oder in den Schränken, das man essen oder trinken konnte, mit Ausnahme von Bier. Hätte meine Mutter gewusst, wie es um meinen Vater stand, hätte sie mich vielleicht selbst dorthin geschickt, um den Weckruf zu bekommen, den sie mir wünschte. Mein Vater war jedoch nicht beunruhigt wegen des Zustands seiner Wohnung; er schien ihn nicht einmal zu bemerken. Nachdem er mich abgeliefert hatte, machte er sich auf den Weg, um meine Halbschwester Vicky abzuholen, die bei ihm übernachten wollte.
Als er mit Vicky zurückkam, fragte er sie: »Weißt du, wer das ist?«
Das letzte Mal, dass ich sie gesehen hatte, lag ungefähr acht Jahre zurück. Da war sie noch ein Baby gewesen, kurz bevor ihre Mutter meinen Vater verlassen hatte. Daher hatte sie keine Ahnung, wer ich war. Nachdem sie mich eine Weile vorsichtig betrachtet hatte, fragte sie: »Ist das deine neue Freundin?«
Mein Vater lachte und sagte: »Nein, du Dummerchen. Das ist deine Schwester Megan.«
Vicky brach in Tränen aus. Dann umarmte sie mich so heftig, dass sie mir fast die ganze Luft aus der Lunge presste.
Ich blieb beinahe einen ganzen jämmerlichen Monat bei meinem Vater. Das Einzige, was nicht völlig negativ war, war die Erkenntnis, dass meine Kindheit vermutlich eher schlechter als besser gewesen wäre, wenn er bei uns geblieben wäre, was ich mir früher immer gewünscht hatte. In der Wohnung drängten sich ständig irgendwelche Freunde von ihm, die einfach nur herumsaßen. Ich versuchte die Tatsache zu verbergen, dass mir die meisten von ihnen ein unangenehmes Gefühl vermittelten, doch er merkte es mir offenbar an und machte dann vor den anderen peinliche Bemerkungen zu mir und brach in schallendes Gelächter aus.
Ich hätte nach Hause gehen können, doch ich blieb, weil ich noch immer wütend auf meine Mutter war. Sie hatte mich nicht verstoßen: Sie schrieb mir und schickte meinem Vater das Kindergeld, das sie jede Woche für mich bekam. Ich weiß, dass sie entsetzt gewesen wäre, wenn sie gesehen hätte, wie ich lebte. Vor allem, wenn sie gewusst hätte, dass ich nicht mehr zur Schule ging. Ich glaube nicht, dass mein Vater sich überhaupt Gedanken darüber machte, wie alt ich war und was ich eigentlich jeden Tag hätte tun müssen. Und da ich für das Jugendamt offenbar von der Bildfläche verschwunden war, hing ich nur in seiner Wohnung herum, genau wie seine Freunde, und rauchte Zigaretten.
Ich hielt mich seit annähernd drei Wochen bei meinem Vater auf, als meine Schwester ebenfalls einzog. Es war wirklich schön, sie in meiner Nähe zu haben.
Manchmal erschien einer der Männer mit einem Kind, um das sich meine Schwester und ich kümmern sollten. Eines Abends waren wir oben im Schlafzimmer und spielten mit einem kleinen Jungen, dessen Vater unten war, als dort ein Streit ausbrach. Wir saßen da und hörten das Gebrüll und hofften, es würde aufhören, und schließlich schlich ich die Treppe hinab. Mein Vater lag in einer Blutlache auf dem Fußboden des Wohnzimmers, und einer seiner Freunde beugte sich über ihn, hielt ein Messer in der Hand und schrie: »Ich bringe dich um!«
Zunächst dachte ich, der Mann hätte bereits zugestochen und mein Vater sei tot. Doch dann stöhnte er und bewegte sich. Später erfuhr ich, dass der Mann meinem Vater irgendetwas übelgenommen hatte, was dieser gesagt hatte. Daraufhin hatte er den Fernsehapparat genommen und ihm auf den Kopf geschmettert.
Ich stand immer noch auf der untersten Treppenstufe und war zu geschockt, um mir einen Reim auf das zu machen, was da geschehen war, als ich hinter mir ein Geräusch hörte. Ich drehte mich um und sah, wie sich meine Schwester und der kleine Junge aneinander klammerten und zitterten. Ich legte einen Finger an die Lippen und flüsterte: »Pst!«
Danach scheuchte ich die beiden vor mir her die Treppe hinauf und ins Schlafzimmer. Nachdem ich die Tür leise hinter mir geschlossen hatte, sagte ich zu ihnen: »Wir müssen irgendwie aus dem Haus kommen. Wir müssen wieder nach unten.«
Der kleine Junge schüttelte wimmernd den Kopf. »Es ist alles in Ordnung«, sagte ich und versuchte, ein Gefühl von Selbstvertrauen zu vermitteln, das ich nicht besaß. »Folgt mir einfach und macht kein Geräusch!«
Unten herrschte immer noch Streit und Gebrüll, als wir auf Zehenspitzen hurtig und leise die Treppe hinabglitten, den Flur überquerten und in die Küche huschten. Sobald wir alle drei das Haus durch die Hintertür verlassen hatten, liefen wir los. Wir blieben erst stehen, als wir eine Gasse erreichten, wo wir uns gegenseitig in die Arme nahmen und versuchten, wieder zu Atem zu kommen. Einfach davonzulaufen war eine instinktive Reaktion gewesen. Doch als ich mir Gedanken darüber machen wollte, was jetzt zu tun sei, starrte ich ins Nichts. So standen wir also in der Gasse und schauten alle paar Sekunden nervös über die Schulter zurück, da wir Angst hatten, der Mann mit dem Messer könnte uns verfolgen, als wir das Heulen einer Sirene hörten. Nach dem Polizeiwagen erschien fast direkt der Krankenwagen, und als wir wieder zum Haus zurückgeschlichen waren, hatte man meinen Vater bereits auf eine Trage gelegt.
Der Vater des kleinen Jungen brachte ihn nach Hause, und um meine Schwester und mich kümmerten sich in dieser Nacht irgendwelche Nachbarn. Als mein Vater aus dem Krankenhaus kam, zog meine Schwester endgültig zu ihm. Ich hingegen hatte bereits beschlossen, nach Hause zu meiner Mutter zurückzukehren.
Theoretisch war das eine gute Entscheidung. In der Praxis erwies sie sich als ein Beispiel, wie man vom Regen in die Traufe kommen kann.
Meine Mutter und John hatten sich während meines Aufenthalts bei meinem Vater getrennt, diesmal endgültig. Obwohl sie John zum größten Teil die Schuld daran gab, was geschehen war, weiß ich doch, dass sie völlig aufgelöst war und ihn vermisste. Mir tat es auch leid: Ich hatte immer gehofft, die Dinge könnten sich wieder so einrenken, wie sie zu Beginn ihrer Beziehung gewesen waren.
Ich glaube, meine Mutter war deprimiert und einsam, bevor ich nach Hause zurückkam, daher war sie froh, als sie mich wieder bei sich hatte. Wir kamen sehr viel besser miteinander aus als früher, bevor ich weggelaufen war, und wir standen uns wirklich näher – teilweise, nehme ich an, weil ich in dem Monat, den ich bei meinem Vater verbracht hatte, ein wenig erwachsener geworden war.
Kurz nachdem ich nach Hause zurückgekehrt war, wurde meine Schwester in Pflege genommen. Ich war gerade vierzehn geworden und hätte die Schule besuchen müssen, daher war man vermutlich auch hinter mir her. Obwohl ich vor dem Aufenthalt bei meinem Vater Freundschaften geschlossen hatte, sowohl in meinem Wohnviertel als auch in der Schule, war ich immer noch Mobbing und Nachstellungen ausgesetzt. Folglich gab es keinen Grund, mir die alten Zeiten zurück zu wünschen. Es schien, als wäre das Leben für meine Mutter und mich zum Stillstand gekommen.
Und dann verkündete meine Mutter, wir würden Urlaub in Griechenland machen.
Ich habe mich oft gefragt, was geschehen wäre, wenn mein Vater nicht zu trinken angefangen hätte. Ob wir als Familie zusammengeblieben und in dem schönen Haus gelebt hätten, in dem wir wohnten, und ob meine Schwester und ich die Schule beendet und vielleicht studiert hätten. Ich weiß, das war der Wunsch meiner Mutter für uns gewesen – eine gute Ausbildung als Voraussetzung für vernünftige Jobs. Unser Lebenslauf hätte möglicherweise auch anders ausgesehen, wenn John und meine Mutter miteinander ausgekommen und zusammen geblieben wären.
Ich habe einige schöne Erinnerungen an die Zeit, als John bei uns einzog. Zum Beispiel feierten wir jedes Jahr am Silvesterabend in unserem Haus, als ich klein war. Alle waren fröhlich und lachten, und selbst wenn alle ein bisschen betrunken waren, wurde doch niemand wütend oder aggressiv. Danach zogen wir in das neue Haus, alles änderte sich, und ich begann mir zu wünschen, wir könnten das Rad der Zeit zurückdrehen, sodass meine Mutter ein paar andere Entscheidungen treffen könnte. Doch das ging nun mal nicht, daher lohnte es auch nicht, darüber zu jammern.
Ich fand es nicht gut, dass meine Schwester in England bleiben musste, als meine Mutter und ich uns nach Griechenland aufmachten. Aber wenn ich gewusst hätte, was alles passierte, nachdem wir dort angekommen waren, wäre ich froh gewesen, dass sie nicht mitkam. Ich war vorher noch nie im Ausland gewesen. Im Flugzeug war ich dermaßen aufgeregt, dass ich kaum stillsitzen konnte. Nachdem wir in Griechenland gelandet waren, nahmen wir ein Taxi und fuhren zu dem kleinen und einfachen, aber sauberen Apartment, das meine Mutter gemietet hatte. Sobald wir unsere Koffer ausgepackt und einen kurzen Tanz durch das Zimmer gemacht hatten, gingen wir an den Strand. Der Sand war goldgelb, das Wasser war warm und kristallklar; tatsächlich war alles an dem Ort, an dem wir uns aufhielten, genauso, wie ich es mir vorgestellt hatte, eigentlich sogar schöner.
An diesem ersten Abend gingen wir in eine Bar direkt am Strand, und während meine Mutter und ich dort saßen und lachten und schwätzten, fühlte ich mich so entspannt wie schon lange nicht mehr. Ich trank normalerweise immer noch keinen Alkohol, doch an diesem Abend genehmigte ich mir ein paar Bacardi Breezer – und wechselte dann wieder zu Cola, als meine Mutter merkte, dass ich ein bisschen beschwipst wurde. Wir tanzten und unterhielten uns mit anderen Touristen und dem Barbesitzer, der ein wirklich gutes Englisch sprach und alle Besucher unterhielt, indem er Cocktails mixte und Witze erzählte.
An einem Tisch im hinteren Teil der Bar saßen drei junge Männer, und jedes Mal, wenn ich verstohlen in ihre Richtung linste, schien mich einer von ihnen anzuschauen. Er war der am besten Gekleidete und Hübscheste der drei, und als sich unsere Blicke trafen, begannen in meinem Bauch Schmetterlinge zu tanzen. Einer der anderen beiden kam zu uns und bat meine Mutter und mich um einen Tanz. In Wirklichkeit bat er uns nicht richtig; er war Albaner und sprach kein Wort Englisch, daher wiederholte er nur ständig das Wort »Hallo« und machte dazu eine Art Pantomime, über die wir herzlich lachen mussten. Wir tanzten mit ihm – mittlerweile tanzten und schwätzten alle in der Bar wild durcheinander –, und er schien ein angenehmer Zeitgenosse zu sein. Doch ich interessierte mich mehr für seinen Freund.
Es war bereits spät, als meine Mutter und ich an diesem Abend in unser Apartment zurückkehrten. Beim Einschlafen dachte ich an den jungen Mann, mit dem ich nicht gesprochen hatte, und vielleicht träumte meine Mutter von dem Barbesitzer, der offensichtlich Gefallen an ihr gefunden hatte und dessen Aufmerksamkeiten sie wie ein Schulmädchen hatten kichern lassen.
Am nächsten Vormittag gingen wir wieder an den Strand, nahmen in der Sonne in einem Café unser Mittagessen zu uns und machten uns dann abends in dieselbe Bar auf, wo die gleichen drei jungen Männer am selben Tisch saßen wie am Abend zuvor. Kaum hatten wir uns gesetzt, da erschien Zef, der Bursche, der gestern mit uns getanzt hatte, und fragte mich – erneut mit Zeichensprache –, ob ich etwas trinken wollte. Und nachdem er mir eine Cola gekauft hatte, stellte er mir seine beiden Freunde vor.
Alle drei waren Anfang oder Mitte zwanzig. Einer der beiden Freunde von Zef hieß Veli, der andere schüttelte mir die Hand und hielt sie dann ein paar Sekunden fest, während er mir tief in die Augen schaute und in gebrochenem Englisch sagte, sein Name sei Jak. Obwohl ich nicht einen Moment daran dachte, jemand wie Jak könnte scharf auf mich sein, spürte ich, wie meine Knie weich wurden.
Meine Mutter hatte ebenfalls Grund gehabt, an diesem Abend die Bar zu besuchen, und während ich bei Zef, Veli und Jak saß, unterhielt sie sich mit Nikos, dem griechischen Barbesitzer. Tatsächlich schien es ihr so gutzugehen, dass sie vermutlich kaum mitbekam, als wir uns gegen zwei Uhr morgens aufmachten, um an den Strand zu gehen. Ich wusste, dass Zef mich auf dem Rücksitz seines Motorrads mitnehmen wollte, doch obgleich er offenbar ein netter Kerl war, machte sein zögerlicher Eifer weniger Eindruck auf mich als die offensichtliche Selbstsicherheit seines Freundes. Daher fuhr ich mit Jak.
Die nächsten paar Stunden saßen wir im warmen Sand, rauchten Zigaretten und redeten miteinander. Danach setzten sie mich wieder bei der Bar ab, und meine Mutter und ich marschierten die Straße zu unserem Apartment hinauf. Das chaotische Leben, das ich in England geführt hatte, schien plötzlich unheimlich weit hinter mir zu liegen.