Du tust mir nicht gut! - Annika Felber - E-Book

Du tust mir nicht gut! E-Book

Annika Felber

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Beschreibung

Mensch sein heißt, in Beziehung sein Menschen sind soziale Wesen, die sich nach Beziehungen sehnen. Wir leben (oft) in einer Partnerschaft, gründen eine Familie und suchen nach Verbindung – sowohl on- als auch offline. Dabei kann es jedoch immer wieder zu sogenannten toxischen Beziehungskonstellationen kommen, Beziehungen, in denen die Bedürfnisse eines Partners im Vordergrund stehen, während die des anderen nicht beachtet und übergangen werden oder in denen sich die Beziehungspartner*innen dauerhaft nicht guttun. In diesem Buch wird aufgezeigt, - welche Formen toxische Beziehungen (nicht nur in der Partnerschaft, sondern auch im Freundes- und Kolleg*innenkreis) annehmen können, - wie und warum toxische Beziehungskonstellationen entstehen, - woran man erkennt, dass man sich in einer toxischen Beziehung befindet, und - wie es gelingt, toxische Beziehungsdynamiken (gemeinsam) aufzulösen oder die Beziehung zu beenden. Übungen zu den Themen Selbstliebe und Selbstvertrauen unterstützen die Leser*innen auf ihrem Weg in eine glückliche Beziehung. Denn: Je mehr man zu sich selbst findet, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit für gesunde Beziehungen.

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Seitenzahl: 401

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Annika FelberDu tust mir nicht gut!Toxische Beziehungen erkennen und sich aus ihnen lösen

Über dieses Buch

Mensch sein heißt, in Beziehung sein 

Menschen sind soziale Wesen, die sich nach Beziehungen sehnen. Wir leben (oft) in einer Partnerschaft, gründen eine Familie und suchen nach Verbindung – sowohl on- als auch offline. Dabei kann es jedoch immer wieder zu sogenannten toxischen Beziehungskonstellationen kommen: Beziehungen, in denen die Bedürfnisse eines Partners im Vordergrund stehen, während die des anderen nicht beachtet und übergangen werden oder in denen sich die Beziehungspartner:innen dauerhaft nicht guttun. 

In diesem Buch wird aufgezeigt, 

welche Formen toxische Beziehungen (nicht nur in der Partnerschaft, sondern auch im Freundes- und Kolleg:innenkreis) annehmen können, wie und warum toxische Beziehungskonstellationen entstehen, woran man erkennt, dass man sich in einer toxischen Beziehung befindet, und wie es gelingt, toxische Beziehungsdynamiken (gemeinsam) aufzulösen oder die Beziehung zu beenden. 

Übungen zu den Themen Selbstliebe und Selbstvertrauen unterstützen die Leser:innen auf ihrem Weg in eine glückliche Beziehung. Denn: Je mehr man zu sich selbst findet, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit für gesunde Beziehungen.

Annika Felber ist systemische Beraterin (DGsP – Deutsche Gesellschaft für systemische Pädagogik) in eigener Praxis in Koblenz. Sie ist Mitglied in der Deutschen Gesellschaft für systemische Therapie, Beratung und Familientherapie e.V. (DGSF).

Copyright: © Junfermann Verlag, Paderborn 2022

Coverfoto: © Jolygon (https://www.istockphoto.com)

Covergestaltung / Reihenentwurf Junfermann Druck & Service GmbH & Co. KG, Paderborn

Satz, Layout & Digitalisierung: Junfermann Druck & Service GmbH & Co. KG, Paderborn

Alle Rechte vorbehalten.

Erscheinungsjahr dieser E-Book-Ausgabe: 2022

ISBN der Printausgabe: 978-3-7495-0384-1

ISBN dieses E-Books: 978-3-7495-0385-8 (EPUB), 978-3-7495-0386-5 (PDF).

Einleitung

„Chris macht mich kaputt! Ich weiß, dass ich mich trennen muss, aber ich schaffe es einfach nicht.“

Kommt Ihnen diese Erkenntnis bekannt vor? So fasst Marie ihr Anliegen zusammen, als sie das erste Mal in meine Beratung kommt. Sie ist eine überdurchschnittlich schöne, kluge und reflektierte Frau Mitte 30, die derzeit an einer Universität als wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig ist. Sie steht, wie man so schön sagt, mit beiden Beinen im Leben und auf den ersten Blick würde wohl niemand vermuten, was sie in den letzten drei Jahren durchgemacht hat.

Alles fing damit an, dass sie auf einer einschlägigen Dating-App eine Nachricht von Chris bekam. Marie schrieb nicht gleich zurück. Es war eine recht oberflächliche Anfrage à la „Hi, wie geht es dir?“, berichtet Marie. Ein paar Tage später antwortete sie dann doch. „Ich glaube, es war einfach Langeweile“, sagt sie heute. Chris schrieb sofort zurück. Das habe ihr gefallen.

Sie texteten eine Weile, um sich dann schließlich an einem Wochenende im Juli das erste Mal zu treffen. Sie machten einen Spaziergang am Strand und gingen danach noch etwas trinken. „Chris war sofort Feuer und Flamme“, erzählt Marie, „ich fand ihn am Anfang eher nicht so toll – auch optisch nicht“.

Chris erzählte viel von sich, seinen Hobbys, seinem Job und seinen Zukunftsplänen mit Familie, Haus und Garten. Marie hielt sich zurück. Sie sei generell schon immer eher der stille Typ gewesen, erklärt sie. Spät in der Nacht schickte Chris eine überschwängliche Nachricht. Er beteuerte, dass dies mit Abstand der schönste Tag in seinem Leben gewesen sei. Marie schrieb erst am nächsten Tag zurück, denn das fand sie „irgendwie drüber“. Doch Chris blieb am Ball, war aufmerksam und überschüttete sie mit Komplimenten. Schließlich gab sie nach und traf sich erneut mit ihm. Seine Hartnäckigkeit habe ihr ziemlich geschmeichelt, räumt sie heute ein.

So trafen sich die beiden in den darauffolgenden Wochen immer öfter. Chris war sehr aufmerksam und liebevoll. Er schickte sogar Blumen. „Eine innere Stimme warnte mich schon damals. Es war alles ein bisschen schnell, alles ein bisschen viel, aber ein Bauchgefühl ist eben nur ein Bauchgefühl“, äußert Marie. Eines Tages, Marie weiß heute gar nicht mehr genau, wann, war sie bis über beide Ohren verknallt. Ab da nahm das Elend seinen Lauf. Chris wurde von Tag zu Tag abweisender. Er meldete sich nur noch selten und seine wenigen Nachrichten klangen ganz und gar nicht mehr verliebt und euphorisch, sondern distanziert und abgeklärt. Marie ist sich nicht mehr sicher, meint sich aber dunkel zu erinnern, dass sich das Blatt nach dem ersten Sex langsam zu wenden begann. Je mehr Chris sich von ihr abwendete, desto mehr tourte sie hoch. Plötzlich war sie diejenige, die ihn täglich sehen wollte und ihn mit Nachrichten überhäufte. „Ich wurde regelrecht zur Stalkerin. Ich verstehe bis heute nicht, was eigentlich mit mir los war“, beichtet Marie verlegen.

Obwohl Chris’ Interesse merklich weniger wurde, begann er, Marie mehr und mehr zu kontrollieren. Eines Abends bekam er einen furchtbaren Tobsuchtsanfall, weil er eine Nachricht von einem Freund in Maries Handy gefunden hatte. So kannte sie ihn bis dahin gar nicht. „Damals hatte ich schon irgendwie Angst vor ihm. Eigentlich wollte ich an diesem Abend die Beziehung beenden“, erinnert sie sich. Aber dann erzählte Chris ihr von seiner traurigen Beziehung zu seiner Ex. Jenna habe ihn über Monate betrogen, und deshalb könne er heute so schwer Vertrauen fassen.

Marie schämte sich für ihre vorschnellen Trennungsgedanken, verzieh ihm die Handyschnüffelei und gab ihm eine zweite Chance. Doch die Wutanfälle häuften sich. Anstatt sich zu entschuldigen, redete Chris tagelang nicht mit Marie, strafte sie mit Liebesentzug. Frieden herrschte erst wieder, wenn sie sich entschuldigte. Für was auch immer. Zu den regelmäßigen Anfällen kamen mit der Zeit kleine und große Beleidigungen, Respektlosigkeiten und Geschichten mit anderen Frauen. Zwei- oder dreimal wurde er auch handgreiflich. „Er ist ein super Geschichtenerzähler“, schildert Marie. „Irgendwie habe ich ihm dann doch immer wieder verziehen.“

Mit Familie und Freunden sprach Marie zu diesem Zeitpunkt schon lange nicht mehr über ihre Beziehung. Zum einen, weil sie sich schämte. Zum anderen, weil sie nicht wollte, dass sich jemand um sie sorgte. So verschanzte sie sich fast drei Jahre hinter dem, was sie, wie sie sagt, eh immer besonders gut konnte: zuhören, sich um andere kümmern und sich selbst unsichtbar machen. „Ich war schon immer eher der Geber- als der Nehmer-Typ,“ reflektiert Marie.

Heute sind Marie und Chris verheiratet. Sie leben gemeinsam in einem Einfamilienhaus in Strandnähe. Nach außen scheint alles perfekt. Aber Marie kommt immer weniger zurecht. Sie ist antriebslos, ängstlich und war in den letzten Monaten mehrfach krankgeschrieben. An einigen Tagen schafft sie es nur noch schwer aus dem Bett. Außerdem leidet sie unter einer schlimmen Migräne. Chris hat eine Freundin, die in den nächsten Monaten ein Kind von ihm bekommt. Er liebe Marie, beteuert er immer wieder. Milla habe ihm das Kind untergeschoben und nun müsse er sich ja auch kümmern.

Maries Familie weiß bis heute nichts von ihren Beziehungsproblemen. „Das Verhältnis zu meinen Eltern war nie besonders gut. Auch nicht wirklich schlecht. Aber ich fühlte mich immer ein Stück für meine Eltern verantwortlich und kümmerte mich im Prinzip schon als Kind mehr um sie als umgekehrt“, äußert Marie sich auf meine Nachfragen. Ihre engsten Freundinnen wissen mittlerweile um ihre „Problembeziehung“. Sie versuchen, sie zu unterstützen, wo sie nur können. Aber Marie schafft den Absprung nicht. Mehrfach hat sie bereits versucht, sich zu trennen. Am Ende ist sie jedes Mal zurückgegangen. „Ich brauche Hilfe. Dieses Mal muss ich es schaffen, sonst gehe ich zugrunde.“

*

Ist Ihnen das eine oder andere aus Maries Geschichte vertraut? Fragen Sie sich (vielleicht auch schon länger), ob auch Sie in einer toxischen Beziehung leben? Oder haben Sie vielleicht längst Gewissheit darüber, aber es gelingt Ihnen nicht, etwas an der Beziehung zu verändern oder endgültig und ohne Rückfall mit ihr abzuschließen? Möglicherweise sind Sie auch nicht selbst betroffen, kennen solche oder ähnliche Fälle aber aus Ihrem privaten oder beruflichen Kontext?

Dann ist dieses Buch vielleicht genau das Richtige für Sie.

Gern möchte ich Sie ein Stück weit auf Ihrem Weg begleiten und Ihnen dabei helfen, Antworten auf Ihre Fragen zu finden. Ich zeige Ihnen, was gesunde Bindungen ausmacht, woran Sie toxische Beziehungen erkennen können und wie es Ihnen aktiv und eigenverantwortlich gelingen kann, sich (dauerhaft) aus destruktiven Dynamiken zu lösen. Dabei ist es mir ein großes Anliegen, Ihnen keine plakativen Pauschal­antworten zu präsentieren, die Sie schon hundert Mal gehört oder gelesen haben. Vielmehr möchte ich Sie dabei unterstützen, Ihre eigenen Antworten zu finden. Dabei helfen Ihnen die Coaching-Impulse, Anregungen und Übungen in diesem Buch.

Für unseren gemeinsamen Weg möchte ich an dieser Stelle die etwas hölzerne Höflichkeitsform verlassen und Sie von nun an duzen. Beziehungsthemen sind naturgemäß immer intime Themen. Man bespricht sie nicht gern mit Fremden. Ich möchte daher, dass wir beide uns möglichst auf (sprachlicher) Augenhöhe begegnen, denn dieses Buch ist nicht auf einen belehrenden Monolog meinerseits, sondern – in Anlehnung an meine Coachings – auf einen gemeinsamen Dialog ausgelegt.

Mensch sein heißt in Beziehung sein. Als soziale Wesen sehnen wir uns – von einigen wenigen Ausnahmen einmal abgesehen – nach Bindung. Wir leben in Partnerschaften. Wir gründen Familien. Wir suchen uns Freunde1 und tummeln uns auf Social-Media-Plattformen. Kein Wunder also, dass es im Laufe unseres Lebens (fast) zwangsläufig zu der einen oder anderen destruktiven Beziehungskonstellation kommen kann.

Insbesondere toxische Paarbeziehungen wie die von Marie und Chris bringen zumeist viel Leid, Verzweiflung und Ratlosigkeit für die Betroffenen mit sich. Da unsere Partner die Menschen sind, die uns am nächsten stehen – einmal abgesehen von unseren Kindern oder unserer Herkunftsfamilie – und mit denen wir die meiste Zeit verbringen, überrascht dieser Umstand nicht.

Doch toxische Strukturen treten nicht ausschließlich in Paarbeziehungen auf. Auch Freundschaften und Beziehungen zu Familienmitgliedern oder Arbeitskolleginnen können toxisch sein. Hier sind die Konflikte zwar in den meisten Fällen subtiler, aber nicht zwangsläufig weniger belastend. Eine Beziehung zu einem Freund, der immer nur von sich erzählt, kann ebenso toxisch für dich sein wie die zu einer egomanen Partnerin. Gleiches gilt für die Kollegen, die dir auf der Arbeit jeden Tag das Leben schwer machen. Jede Beziehung kann toxisch sein!

Alles, was es für eine toxische Beziehung braucht, sind zwei Menschen, die sich in eine destruktive Dynamik verstricken. Die Erscheinungsformen sind dabei vielfältig. Sie reichen von einseitig generierten Dynamiken, wie z. B. Beziehungen zu Gewalttätern und Narzisstinnen, bis hin zu wechselseitig generierten Dynamiken, wie z. B. Beziehungen zwischen Geber- und Nehmer-Typen oder Nähe- und Distanzpolen. Je nach Dynamik-Typ gibt es unterschiedliche Handlungsspielräume für die Betroffenen. So lassen sich viele Dynamiken gemeinsam verändern oder auflösen. Bei anderen bleibt als Lösung nur das Beenden der Beziehung. Ein Ziel dieses Buches besteht darin, dir mehr Klarheit über deine Optionen zu verschaffen, damit du besser abwägen kannst, was für dich das Richtige ist.

Die Gründe, warum Menschen in eine toxische Dynamik geraten, sind vielschichtig. Meinen Beobachtungen zufolge suchen die meisten Betroffenen die Ursachen im Hier und Jetzt. Dabei liegen sie in den meisten Fällen viel weiter zurück. Beziehungsstrukturen, die wir in unseren Herkunftsfamilien kennenlernen, begleiten uns unser Leben lang. Das gilt leider nicht nur für konstruktive Strukturen, sondern auch für toxische. Hierin sehe ich den Grund, warum Menschen sich häufig nicht nur in einer toxischen Beziehung befinden, sondern in vielen verschiedenen. Marie ist ein klassisches Beispiel hierfür. Sie nimmt sich nicht nur in der Beziehung zu Chris massiv zurück, sondern auch in Freundschaften und auf der Arbeit.

Mit diesem Buch möchte ich dir dabei helfen, deinen ganz persönlichen Gründen ein Stück weit auf die Spur zu kommen. Es kann selbstverständlich keine Psychotherapie ersetzen, aber vielleicht ist diese in deinem Fall auch gar nicht nötig. Falls doch, kann dieses Buch ein zusätzlicher wertvoller Begleiter für dich sein.

Fass noch heute Mut und geh den ersten Schritt!

Ich freue mich, dich mit meinem Buch ein Stück deines Weges begleiten zu dürfen.

Deine

1  Um den Lesefluss nicht zu sehr zu behindern, wechseln im Folgenden die männliche und die weibliche Form. In jedem Fall sind Frauen, Männer und Menschen mit diversem Geschlecht selbstverständlich inbegriffen. Danke für Ihr Verständnis.

1. Ist deine Beziehung (noch) gesund?

1.1 Mensch sein heißt, in Beziehung sein

„Du bist der Durchschnitt der fünf Menschen, mit denen du die meiste Zeit verbringst.“ Vielleicht hast du dieses Zitat des amerikanischen Motivationstrainers Jim Rohn schon einmal irgendwo gehört. Mir jedenfalls ist es an verschiedenen Stellen immer wieder begegnet. Schließlich habe ich es mir auf einen großen Zettel geschrieben und in meiner Praxis aufgehängt. Er erinnert mich täglich an drei wichtige Aspekte, die unser Menschsein ausmachen.

Wir alle wollen in unseren Beziehungen glücklich sein.

Als Menschen sind wir soziale Wesen, die Beziehungen zum Überleben brauchen. Beziehungen sind das, was unser Leben bestimmt. Und ganz gleich, ob es um Liebesbeziehungen, Freundschaften, Eltern-Kind-Beziehungen oder um die Beziehung zu uns selbst geht: Wir alle haben das Ziel, glücklich in unseren Beziehungen zu sein. Das schließt die tobende Partnerin oder den fiesen Kollegen ebenso mit ein wie die verständnisvolle Empathin und das loyale „Arbeitstier“. (Auf die wenigen Ausnahmen, die es wie bei jeder Regel gibt, werde ich zu einem späteren Zeitpunkt noch eingehen.)

Wie wir uns selbst und das Leben sehen, hängt maßgeblich von unseren Beziehungen ab.

Was wir denken und was wir fühlen, hängt maßgeblich davon ab, mit welchen Menschen wir uns umgeben. Marie verbrachte immer mehr ihrer Zeit mit Chris. Wie wir noch lesen werden, fühlte sich dieser vom Leben benachteiligt und war im Grunde seines Herzens ein pessimistischer Misanthrop. Mit der Zeit übernahm auch Marie diese Einstellung für sich. Sie verlor langsam das Vertrauen in ihre Mitmenschen und in die Schönheit des Lebens. Hieraus entwickelte sich ein folgenschwerer Teufelskreis: Marie zog sich von ihrem Umfeld zurück und verbrachte noch mehr Zeit mit Chris, was wiederum zur Folge hatte, dass ihre Gedanken sich weiter verfinsterten, usw.

Unsere Familienbeziehungen prägen unsere spätere Beziehungslandschaft.

In der Lebensphase, in der wir Beziehung erstmalig kennenlernen und Wissen wie einen Schwamm aufsaugen, verbringen wir zwangsläufig die meiste Zeit mit unseren Familienmitgliedern. Was wir von unseren Eltern und Geschwistern über Beziehungsgestaltung lernen, halten wir zunächst automatisch für

normal.

Diese ersten, unfreiwillig erlernten Beziehungsgesetze tragen wesentlich dazu bei, wie wir uns als Erwachsene in unseren Beziehungen verhalten. Menschen, die in weitgehend gesunden Familienbeziehungen aufwachsen, haben somit eine gute ­Ausgangsbasis für spätere Bindungen. Sie wissen sehr genau, was in Beziehung (noch) gesund und was (schon) ungesund ist. Dementsprechend haben es diejenigen, die in – wie auch immer gearteten – gestörten Familienbeziehungen aufwachsen, zumeist schwerer, gesund und weniger gesund auseinanderzuhalten.

Diese drei Erkenntnisse über das Menschsein können möglicherweise auch dir dabei helfen zu verstehen, warum du dich in toxische Beziehungen begibst bzw. begeben hast. Ich werde sie daher noch einmal an einem Beispiel deutlich machen:

Wenn du als Kind gelernt hast, dass es gut ist, viel zu geben (z. B. weil deine Eltern bedürftig waren oder deine Schwester schwer krank), wirst du höchstwahrscheinlich auch als Erwachsene zum Geber-Typ. Das Risiko, hauptsächlich Nehmer anzuziehen, ist dementsprechend hoch. Diese vermitteln dir erneut, dass Geben seliger denn Nehmen ist. Ergo wirst du dich weiterhin als einen Menschen sehen, der gut im Geben und schlecht im Nehmen ist. Um langfristig glückliche Beziehungen aufzubauen, müsstest du zunächst deine Systematik hinterfragen. Das ist aber gar nicht so einfach, weil alle deine Liebsten, mit denen du dich umgibst, mit deinem Verhalten recht zufrieden sind. Schließlich sind sie Nehmen-Typen.

Ich selbst bin als Älteste von drei Kindern mit einer bedürftigen Mutter groß geworden. Ich habe früh gelernt, meine Bedürfnisse den ihren unterzuordnen, damit das Familiensystem möglichst friedlich funktionierte. Solche Gesetze reflektieren wir als Kind natürlich nicht. Sie sind für uns normal. Wenn wir diese erlernte Normalität auch als Erwachsene nicht hinterfragen, bleibt sie zumeist ein Leben lang in unseren Köpfen und Herzen als solche bestehen.

In meinem Fall war Anpassung völlig normal und hat mich in die eine oder andere toxische Bindung geführt. Selbst heute muss ich in stressigen Lebensphasen gut darauf achten, nicht in mein altes Muster zu verfallen.

Wenn du die Gesetze deiner Ursprungsfamilie als Normalität lebst, woher sollst du dann wissen, wann eine Beziehung objektiv betrachtet noch gesund oder bereits toxisch ist? Ist es noch im Rahmen, deiner Freundin zur Seite zu stehen, obwohl du gerade dringend deine eigenen Akkus aufladen müsstest? Ist es in Ordnung, wenn dein Partner dich im Streit anschreit und beschimpft? Und wie sieht es mit der Kollegin aus, die dich mit blöden Witzen vor anderen Teammitgliedern bloßstellt?

Damit du eine Antwort auf diese Fragen finden kannst, ist es zunächst hilfreich, dir vor Augen zu führen, dass es sich bei der Bezeichnung „toxische Beziehung“ (bisher) nicht um einen wissenschaftlichen Begriff handelt. Dementsprechend gibt es auch nicht die eine Definition für toxische Beziehungen. Als Betroffene kannst du also nicht wie bei einer Depression o. Ä. einen Diagnosekatalog aufschlagen und nachschauen, ob du dich in einer toxischen Beziehung befindest oder nicht. Dir bleibt nur eins – und du wirst merken, ich werde nicht müde werden, dir das immer und immer wieder zu sagen: deine eigene Einschätzung der Situation.

Vertraue deinem Bauchgefühl! Neuesten Erkenntnissen zufolge verarbeitet unser Unterbewusstsein ca. 80.000 (!) Informationen in der Sekunde. Es ist damit, wenn man so will, rund 10.000-mal schneller als unser Verstand (Bernhardt 2016, S. 39). Dein Kopf kann dem längst wissenden Bauch nur verdattert hinterherhinken. Kein Wunder also, dass er sich viele Geschichten ausdenkt. Er will ja nicht dumm dastehen. Sollte dich das nicht überzeugen: Allein die Tatsache, dass du in diesem Buch nach Antworten suchst, ist in meinen Augen ein recht verlässliches Indiz dafür, dass du dich in (mindestens) einer toxischen Beziehungsstruktur befindest – oder aber jemanden kennst, der oder die mutmaßlich in einer solchen steckt.

Lass uns die folgenden Kapitel nutzen, um gemeinsam nach weiteren Anhaltspunkten zu suchen, die dir dabei helfen können herauszufinden, wie es um deine Beziehung(en) bestellt ist. Dabei möchte ich dir Folgendes ans Herz legen: Betrachte meine Erkenntnisse bitte immer als das, was sie sind – meine Erkenntnisse. Ich kann dich an ihnen teilhaben lassen, dir Vorschläge machen und dich zu Reflexionen und Übungen einladen. Aber am Ende kannst nur du deine ganz persönlichen Antworten finden. Aus diesem Grund wird dieses Buch vielleicht im ersten Schritt (noch) mehr Fragen als Antworten aufwerfen. Das ist gewollt.

Beziehungen sind eine ziemlich komplizierte Angelegenheit. Jeder Mensch ist ein einzigartiges, komplexes System. Somit ist jede Form der Beziehung ein einzigartiges, komplexes System, welches sich wiederum aus zwei einzigartigen, komplexen Subsystemen zusammensetzt. Selbstverständlich gibt es Fälle, bei denen man sich schnell einig wird, dass sie ungesunder Natur sind. So wird wohl niemand eine Beziehung, in der eine der Partnerinnen unterdrückt und geschlagen wird, als gesund bezeichnen. Auch eine Beziehung zu einer Freundin, die dauerhaft lügt oder dich gar bestiehlt, kann ohne jeden Zweifel als ungesund eingestuft werden. Doch was ist beispielsweise mit Marie und Chris? Wann war ihre Beziehung noch gesund, wann wurde sie toxisch? Es gibt nicht nur Schwarz oder Weiß. Oft bewegt man sich in einem Graubereich, in dem es nicht leicht ist, allgemeingültige Antworten auf die Frage nach „normal“ und „unnormal“ bzw. „gesund“ und „ungesund“ zu finden (vgl. Abb. 1.1). Eben diese Graubereiche möchte ich in diesem Buch auflösen.

Abbildung 1.1:Graubereiche in Beziehungen: Was ist (noch) gesund und was ist (schon) toxisch?

Bevor du weiterliest, möchte ich dich bitten, folgende Übung zu machen.

 ÜBUNG

Deine Beziehungswelt

Erstelle eine Übersicht der Beziehungen, die in deinem Leben eine Rolle spielen. Das kannst du, wenn du möchtest, vor deinem geistigen Auge tun. Ich empfehle dir jedoch, zu Zettel und Stift zu greifen oder gleich unten in das freie Feld zu schreiben, da wir später noch einmal auf diese Übung zurückkommen werden. Du kannst z. B. eine Mindmap erstellen oder ein Tortendiagramm. Letzteres hat den Vorteil, dass du zusätzlich die Wertigkeit der einzelnen Beziehungen visualisieren kannst.

Du brauchst bei dieser Übung aber die Qualität deiner Beziehungen noch nicht zu bewerten. Sie dient lediglich dazu, dir einen Überblick über deine aktuelle Beziehungslandschaft zu verschaffen.

1.2 Woran du eine gesunde Beziehung erkennst

Bevor wir uns mit toxischen Beziehungsstrukturen beschäftigen, möchte ich dich dazu einladen, das Pferd zunächst von hinten aufzäumen und zu definieren, was eine gesunde Beziehung ausmacht. Wenn du ein Gespür dafür entwickelst, was „gesund“ bedeutet, weißt du auch, was „nicht gesund“ ist.

Ich nutze diese Herangehensweise gern, weil es für Menschen häufig viel schwerer ist zu benennen, was sie wollen, als das, was sie nicht wollen. Vielleicht hast du das selbst schon beobachten können. Ist dir beispielsweise schon einmal aufgefallen, wie eine deiner Single-Freundinnen nach einem Date jede Menge an ihrem Gegenüber auszusetzen hatte? Er oder sie war zu klein, zu dick, zu unaufmerksam, zu ernst, zu aufbrausend etc. Stundenlang beklagte sie sich darüber, was alles nicht gepasst hat. Wenn du sie aber fragtest, was sie sich denn ganz konkret von ihrem Datepartner gewünscht hätte, hast du möglicherweise lediglich globale, wenig fokussierte Antworten erhalten. Vielleicht kam sogar eine Antwort wie: „Na ja, das jedenfalls nicht!“

Ähnlich verhält es sich oft mit chronisch unzufriedenen Menschen. Alles in ihrem Leben ist schlecht und sie wollen es definitiv gern anders haben. Eine Vision davon, was sie konkret zufriedenstellen würde, haben sie allerdings nicht. Doch ohne Vision gibt es keine klare Abgrenzung zu dem, was dir nicht guttut. Und ohne Vision gibt es auch kein klares Ziel. Dieses brauchst du aber unbedingt, um den oft unbequemen Weg der Veränderung überhaupt anzutreten. Wenn der Marathonläufer kein Ziel hätte, würde er wohl kaum loslaufen. Geschweige denn monatelang mit vielen Entbehrungen trainieren. Lass uns daher zunächst damit starten, deine Vision einer guten Beziehung zu konkretisieren. Je konkreter dir dies gelingt, desto besser.

 REFLEXION

Deine Vision einer glücklichen Beziehung

Stell dir vor, dir erschiene just in diesem Moment eine gute Fee. Diese könnte dir sofort den Wunsch nach einer glücklichen Partnerschaft, einer glücklichen Freundschaft oder einer glücklichen Beziehung zu deinen Kolleginnen erfüllen. Was wäre für dich wichtig? Was würdest du dir wünschen? Wie sähen deine idealen Beziehungen aus?

Versuche dabei, so kleinlich und konkret wie möglich zu sein. Alles ist erlaubt! Es ist deine Vision. Gern kannst du hier ein paar Notizen dazu machen. Diese kannst du dir dann zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal anschauen und ggf. verändern oder ergänzen.

Je schwerer es dir fällt, dir ein Bild von (d)einer idealen Beziehung zu erschaffen, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass du dich schon lange in ungesunden Beziehungsstrukturen bewegst. Sollte dies bei dir der Fall sein, findest du im Folgenden eine Liste von Merkmalen, die aus meiner Sicht die Basis einer jeden gesunden Beziehung sein sollten. Du kannst sie gern als Impulsgeber und Hilfestellung nutzen. Sie beziehen sich in erster Linie auf Liebesbeziehungen, Freundschaften und Arbeitsbeziehungen. Da Familienbeziehungen eine besondere Rolle zuteilwird, widme ich ihnen im weiteren Verlauf ein eigenes Kapitel.

An diesen sieben Merkmalen kannst du eine gesunde Beziehung erkennen

1. Freiwilligkeit

Die Basis einer jeden gesunden Beziehung sollte sein, dass sie ganz und gar freiwillig eingegangen wird. Zu einer gesunden Beziehung kannst du jederzeit aus vollem Herzen Ja sagen. Diffuse Verantwortungsgefühle oder ein schlechtes Gewissen haben in gesunden Beziehungen keinen Platz.

Was zunächst banal erscheinen mag, ist es auf den zweiten Blick (leider) häufig nicht. Insbesondere von Gewalt und Abhängigkeit geprägte Liebesbeziehungen verlieren früher oder später mehr und mehr an Freiwilligkeit. Häufig ist den Betreffenden dieser Umstand gar nicht (mehr) bewusst. Aber auch weniger drastische Beziehungsgeflechte sind nicht selten am Rande der Freiwilligkeit angesiedelt. So hast du im Laufe deines Lebens vielleicht schon einmal eine Freundschaft aufrechterhalten, weil du dich verantwortlich für deinen Freund gefühlt hast. Oder du bist bei einer Partnerin geblieben, weil du sie in einer schweren Lebensphase nicht durch eine Trennung zusätzlich belasten wolltest.

2. Gewaltfreiheit

In gesunden Beziehungen gibt es keine Gewalt. Auch dieser Umstand mag zunächst banal klingen. Aus meinem Coachingalltag weiß ich allerdings, dass Gewalt in toxischen Dynamiken häufig gar nicht (mehr) als solche wahrgenommen wird. Da sie viele Gesichter hat, ist es manchmal gar nicht so leicht zu erkennen, dass die eigene Beziehung von Gewalt geprägt ist. So zeigt sich diese nicht ausschließlich durch einen Schlag ins Gesicht. Auch emotionale Erpressung, übersteigerte Eifersucht oder zielgerichtetes „Herunterputzen“ können Formen von Gewalt sein.

Eine Kundin berichtete mir beispielsweise, dass ihr Ehemann (beide Professoren) sie seit Jahren systematisch kleinhalte. Zielgerichtete Schikanen und Beleidigungen waren in den eigenen vier Wänden und vor Dritten an der Tagesordnung. Für die Kundin war dies über die Jahre hinweg zur Normalität geworden. Immer wieder fragte sie bei mir verunsichert nach, ob andere Männer sich auch so verhielten.

3. Autonomie und Bindung halten sich die Waage

Menschen streben zum einen nach Bindung und zum anderen nach Autonomie. In einer gesunden Beziehung solltest du die Möglichkeit haben, beide Bedürfnisse deinen eigenen Wünschen entsprechend auszuleben.

Vielleicht kennst du die Metapher, dass Kinder von ihren Eltern Flügel und Wurzeln zugleich bekommen sollten. Auch in Beziehungen, die wir als Erwachsene führen, ist beides wichtig. In einer nicht toxischen Beziehung kannst du dir deiner Bindung zu deinem Gegenüber so sicher sein, dass du dir deine benötigten Freiheiten problemlos nehmen kannst. Eine vollständige Symbiose ist nicht nötig.

In Maries Fall war die Bindung zwischen ihr und Chris im Kern derart fragil, dass Marie zu klammern begann. Die Instabilität, die ihre Bindung zu Chris dominierte, führte dazu, dass Marie ihr Bedürfnis nach Autonomie irgendwann komplett aufgab. Wie in Abbildung 1.2 dargestellt, behält Chris in der gemeinsamen Beziehung (großes Oval) seine Autonomie (kleiner grauer Kreis) bei. Dadurch entsteht ein toxisches Ungleichgewicht. In einer gesunden Beziehung besäße Marie ebenfalls einen eigenen „Autonomiekreis“ (vgl. Abb. 1.3).

Abbildung 1.2: Autonomie und Bindung in der Beziehung von Marie und Chris

Abbildung 1.3: Autonomie und Bindung in einer gesunden Beziehung

Autonomie meint an dieser Stelle übrigens nicht unbedingt einen allein verbrachten Urlaub oder das abendliche Weggehen mit Freundinnen. Vielmehr sind vordergründig eigene Gedanken, Bedürfnisse und Emotionen gemeint. Häufig werden diese in ungesunden Bindungen in einem schleichenden Prozess mehr und mehr zugunsten des anderen aufgegeben. So fühlte Marie sich gut, wenn es Chris gut ging. und sie fühlte sich schlecht, wenn es ihm schlecht ging. Sie teilte nach und nach seine Meinung, dass Menschen böse seien, und sie redete sich schlussendlich sogar eine andere Frau an seiner Seite schön, obwohl Treue ihr als Wert immer sehr wichtig gewesen war.

Wenn auch deine Gedanken und Gefühle (fast) ausschließlich durch dein Gegenüber dominiert werden oder du umgekehrt dazu tendierst, deine eigenen Bedürfnisse und Emotionen deinen Beziehungspartnern „aufzudrängen“, kann es sich auf jeden Fall lohnen, dir dein Verhalten einmal genauer anzuschauen und es kritisch zu hinterfragen.

4. Zugehörigkeit, Ordnung, Ausgleich

Wenn ich über gesunde Beziehungskonstellationen spreche, komme ich als Systemikerin an den drei Prinzipien Zugehörigkeit, Ordnung und Ausgleich nicht vorbei. Nur wenn diese drei Aspekte innerhalb einer Beziehung erfüllt sind, kannst du dich sicher und gebunden fühlen sowie dementsprechend du selbst sein. Zugegeben, diese Begriffe klingen zunächst etwas sperrig, aber ich verspreche dir, dass du alle drei intuitiv längst kennst. Vielleicht hast du ihnen bisher lediglich keine große Bedeutung beigemessen oder sie schlicht anders genannt.

In einer gesunden Beziehung fühlen sich die Beziehungspartner gleichermaßen zugehörig.

Damit ein soziales System (in unserem Fall eine Beziehung bzw. ihre Mitglieder) stabil und gesund sein kann, muss es sich nach außen abgrenzen können. So, wie es den Tag nur geben kann, weil es die Nacht gibt (= Nicht-Tag), so definieren sich Beziehungen jeglicher Art über die Unterscheidung „zugehörig“ und „nicht zugehörig“.

Wenn zwei Partnerinnen sich als Zugehörige einer Liebesbeziehung sehen, haben sie auch eine Liebesbeziehung. Umgekehrt haben sie keine bzw. eine äußerst instabile Liebesbeziehung, wenn sich mindestens eine der beiden nicht (mehr) zu 100 Prozent als Bestandteil dieser Liebesbeziehung sieht. Dies wäre z. B. dann der Fall, wenn eine den anderen nicht (mehr) liebt, sondern nur (noch) als Freund einstuft.

Zwei Klassiker mangelnder Zugehörigkeit kennst du ganz sicher: „Freundschaften plus“ und Affären. Nicht selten kommt in solchen Konstellationen früher oder später der Augenblick, in dem sich mindestens einer von beiden nicht in der Art gebunden (zugehörig) fühlt, wie er oder sie es sich wünscht. Das ist dann der Fall, wenn ein Part mehr oder weniger will als der andere. Konflikte sind in diesem Fall vorprogrammiert.

Ebenso kann eine Langzeitbeziehung an einen Punkt kommen, an dem die Zugehörigkeit nicht mehr stimmt, z. B. weil die Liebe sich verändert hat oder gar nicht mehr vorhanden ist. Typische Fragen, die in solchen Fällen aufkommen, lauten: „Was sind wir eigentlich noch?“ oder „Was ist aus unserer Beziehung geworden?“.

In einer gesunden Beziehung wird die Ordnung zwischen den Beziehungspartnern eingehalten.

Beziehungen definieren sich nicht ausschließlich über Zugehörigkeit, sondern auch über eine ganz bestimmte innere Ordnung. Diese wird in gesunden Beziehungen stets eingehalten. In Eltern-Kind-Beziehungen besteht diese Ordnung z. B. darin, dass die Eltern „die Großen“ und die Kinder „die Kleinen“ sind. So ist ganz klar geregelt, dass die Eltern die Kinder versorgen und nicht umgekehrt. Wird diese Ordnung gestört, kann es zu massiven Problemen wie einer sogenannten Parentifizierung kommen: eine Rollenumkehr zwischen Eltern und Kind, bei der das Kind in überzogenem Maße Aufgaben und „Funktionen“ der Eltern übernimmt. (Ich werde zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal detaillierter auf dieses Thema eingehen. Wenn du jetzt schon mehr dazu lesen möchtest, wirst du in

Kapitel 8

fündig.)

In einer gesunden ­Beziehung begegnet man sich auf Augen­höhe. Wertvorstellungen, Wünsche und Bedürfnisse beider Partner sind gleichermaßen wichtig.

In gesunden Beziehungen zwischen zwei Erwachsenen ist die Ordnung eine andere. Es gibt nämlich keine Hierarchie. In einer gesunden Beziehung sollte man sich immer auf Augenhöhe begegnen. Wertvorstellungen, Wünsche und Bedürfnisse beider Beziehungspartnerinnen sind gleichermaßen wichtig.

Darüber hinaus ist in Erwachsenenbeziehungen niemand dafür zuständig, den anderen zu versorgen. Jeder versorgt sich in erster Linie selbst. Natürlich heißt das nicht, dass du dich nicht um den anderen kümmern darfst. Insbesondere in Krisen kannst du natürlich für deinen Partner und deine Freundinnen da sein. Mit „nicht zuständig sein“ ist vielmehr gemeint, dass du nicht für das dauerhafte Glück oder das dauerhafte Problemlösen deines Gegenübers zuständig bist.

In einer gesunden Beziehung trägt jeder die Verantwortung hierfür selbst. Beide Beziehungspartnerinnen sind sich im Klaren darüber, dass Hilfsmöglichkeiten immer ihre Grenzen haben. Diese Grenzen können ganz pragmatischer Natur sein. So musst du z. B. zur Arbeit oder dich um deine eigenen Angelegenheiten kümmern. In dieser Zeit sollte dein Partner oder deine Freundin klarkommen, ohne dich 50-mal anzurufen. In einer gesunden Beziehung bist du keine Psychotherapeutin. Und dein Gegenüber ist es auch nicht. Dies entspräche nicht der gesunden Ordnung.

In einer gesunden Beziehung stimmt der Ausgleich zwischen den Beziehungspartnerinnen.

In einer gesunden Beziehung stimmt das Gleichgewicht. Beziehungspartner investieren auf lange Sicht gleich viel. So unromantisch es auf den ersten Blick klingen mag: Die Kosten-Nutzen-Rechnung geht in einer gesunden Beziehung langfristig immer auf.

Menschen haben ein sehr feines Gespür dafür, ob der Ausgleich in Beziehungen stimmt – insbesondere im Hinblick auf das Gleichgewicht zwischen Geben und Nehmen. Fast jeder hat eine Art geheime Liste, auf der er das, was er gibt, und das, was er bekommt, in Relation zueinander setzt. Vielleicht kennst du beispielsweise folgende Situation: Die letzten zwei Male hast du dein Date kontaktiert, um ein Treffen zu vereinbaren. Das war bis hierhin unproblematisch, aber beim dritten Mal ertappst du dich dabei, dass dein innerer Alarm anschlägt. Noch einmal willst du nicht zum Handy greifen. Deine innere Liste sagt dir, dass jetzt eindeutig dein Gegenüber dran ist. Ein anderes Indiz für einen fehlenden Ausgleich wäre zunehmender Frust, der sich in dir breitmacht, wenn eine Freundin dir nach einem 30-minütigen Monolog immer noch keine einzige Frage zu dir und deinem Befinden gestellt hat.

Natürlich gilt auch hier, ähnlich wie beim Prinzip der Ordnung, dass kurzzeitige Phasen des Mehr-Gebens oder Mehr-Nehmens kein Problem darstellen. Wenn deine Freundin dich heute mit einem Monolog überrollt, du aber dafür übermorgen deinen Redeanteil bekommst, habt ihr euren gesunden Ausgleich gefunden. Gleiches gilt für das Date. Initiierst du die ersten drei Treffen, weil dein Gegenüber beispielsweise schüchtern ist, und übernimmt er oder sie dafür z. B. die Planung des Dates, besteht nicht zwangsläufig ein Grund zur Sorge. Problematisch wird es erst dann, wenn der langfristige Ausgleich nicht stimmt. Was genau für dich bzw. euch „langfristig“ bedeutet, kannst am Ende nur du bzw. könnt nur ihr definieren. Hör in diesem Fall gut auf deine innere Stimme. Sie wird es dich höchstwahrscheinlich rechtzeitig wissen lassen.

5. Respekt, Akzeptanz, Vertrauen

Respekt, Akzeptanz und Vertrauen sind zentrale Bausteine einer jeden gesunden Beziehung. Sie sind untrennbar miteinander verknüpft. Nur wer sich respektiert und akzeptiert fühlt, kann Vertrauen aufbauen. Und nur wer vertraut, kann den anderen so akzeptieren, wie er ist.

Respekt.

In einer gesunden Bindung respektierst du dein Gegenüber und wirst von ihm respektiert. Du schätzt seine Wünsche und Bedürfnisse und umgekehrt. In Streitsituationen verlierst du langfristig (!) deine Liebe bzw. deine Zuneigung nicht aus dem Blick. Du reflektierst dein eigenes Verhalten und suchst nach produktiven Lösungen für euch beide. Gleiches gilt für dein Gegenüber. Das bedeutet nicht, dass dir im Wortgefecht nicht auch einmal ein Wort „unter der Gürtellinie“ herausrutschen darf. Allerdings sollte dies die Ausnahme und nicht die Regel sein. Geht der Respekt in einer Beziehung einmal verloren, ist er nur sehr schwer wiederaufzubauen.

Akzeptanz.

Langfristig können sich Menschen in gesunden Beziehungen gegenseitig so akzeptieren, wie sie sind. Diese Akzeptanz ist untrennbar mit dem gegenseitigen Respekt verbunden. In einer gesunden Beziehung möchtest du dein Gegenüber nicht auf Teufel komm raus verändern. Ebenso verhält es sich umgekehrt. Ihr akzeptiert euch in dem, was ihr seid oder auch nicht seid.

Was in der Theorie leicht und einleuchtend klingt, ist in der Praxis häufig gar nicht mehr klar. Musst du z. B. akzeptieren, dass dein Partner 20 Kilo zugenommen hat? Natürlich. Oder doch nicht? Wie steht es um seine Eifersucht? Wie sieht es mit dem Besuch der Schwiegermutter jeden Sonntag aus? Und wie verhält es sich mit der pessimistischen Einstellung und den damit verbundenen ewigen Meckereien deiner besten Freundin oder deines besten Freundes?

Schlussendlich solltest du mit dir selbst und mit deinem Gegenüber immer wieder individuell verhandeln, was ihr am jeweils anderen akzeptieren könnt bzw. wollt und was nicht. Dabei ist sicher viel verhandelbar. Einiges aber auch nicht. Werte z. B. sind (zumeist) nicht gut verhandelbar. Wenn dir Freiheit und Autonomie sehr wichtig sind, wird es dauerhaft schwierig, wenn deine Partnerin oder dein Freund dies nicht akzeptieren kann, weil er oder sie vielleicht ganz andere Wertvorstellungen im Hinblick auf Beziehungen hat.

Auch die Corona-Pandemie hat in einigen Beziehungen schwer lösbare Wertkonflikte mit sich gebracht. Ein Pärchen, das in mein Coaching kam, stand vor dem Problem, dass der Mann in seinem Wertesystem – vereinfacht dargestellt – Freiheit über Vorsicht stellte. Für die Frau hingegen stand Vorsicht an erster Stelle. Dass sie ein Baby hatten, verschärfte den Konflikt zusätzlich. Sie stritten fast täglich. Wer sollte hier was akzeptieren? Was wäre an dieser Stelle „gesund“?

Ganz bestimmt erinnerst du dich an die eine oder andere Situation, in der es dir schwerfiel, andere so sein zu lassen, wie sie sind. Generell halte ich es für wichtig, sich in Akzeptanzfragen immer wieder ins Gedächtnis zu rufen, dass man als Erwachsener niemals gezwungen ist, in einer Beziehung zu bleiben. Take it or leave it! Am Ende ist es deine Verantwortung, was du (er-)tragen kannst und was nicht. In einer gesunden Beziehung bist du dir dieser Verantwortung bewusst und bringst nicht Jahre damit zu, deinem Partner oder deiner Partnerin deine Lebensvorstellungen und dein Wertesystem aufzuzwingen. Selbstverständlich gilt dies für dein Gegenüber ebenso. Wenn du das Gefühl hast, dass Partnerinnen und Freunde dich nicht als Person akzeptieren können, dann läuft etwas schief.

Vertrauen.

In einer gesunden Beziehung kannst du darauf vertrauen, dass ihr auf einem stabilen Fundament steht. Du musst dich nicht sorgen, dass dieses Fundament wegbricht, nur weil du in den Konflikt gehst, Kritik übst oder deine Wünsche und Bedürfnisse äußerst. Du weißt, dass dein Gegenüber ebenso viel Interesse an dem Erhalt eurer Beziehung hat wie du. Und du weißt, dass dein Gegenüber dich so liebt oder mag, wie du bist. Ihr könnt beide so sein, wie ihr wollt, und nicht, wie ihr meint, sein zu müssen.

Häufig fehlt dieses Vertrauen in Beziehungen, aber nicht immer liegt das an der Beziehung selbst. Wenn es dir prinzipiell schwerfällt zu vertrauen, ist es ratsam zu prüfen, ob dieses Thema aktuell oder doch altbekannt für dich (oder dein Gegenüber) ist. Vertrauen ist etwas, das wir früh erlernen. Oder auch nicht. In einer gesunden Beziehung bist du dir dieser Tatsache bewusst. Wenn du deinem Partner immer wieder Misstrauen entgegenbringst, ohne dass es einen tatsächlichen Anlass dafür gibt, kann dies schnell in einer toxischen Dynamik enden. Gleiches gilt selbstverständlich umgekehrt.

6. Gewaltfreie Kommunikationskultur

In einer gesunden Beziehung habt ihr euch über die Zeit eine (individuelle) gewaltfreie, respektvolle und lösungsorientierte Kommunikationsstruktur aufgebaut. Ihr seid in der Lage, euch langfristig aus einer emotionalen Aufgebrachtheit zu befreien und möglichst sachlich nach produktivem Austausch sowie Lösungen zu suchen.

Dass sich jemand an dir bzw. an alten Themen abarbeitet, merkst du z. B. daran, dass sich dein Gegenüber ganz weit weg von dir anfühlt.

In Streitsituationen geht es dir oder deinem Gegenüber nicht (dauerhaft) darum, euch mit euren eigenen Themen am Gegenüber abzuarbeiten. Dass sich jemand an dir bzw. an alten Themen abarbeitet, merkst du z. B. daran, dass sich dein Gegenüber ganz weit weg von dir anfühlt. Deine Worte dringen nicht mehr zu ihm durch und eure Streite wiederholen sich ab einem bestimmten Punkt programmatisch wie eine hängende Schallplatte.

Dass du dich selbst an jemandem abarbeitest, erkennst du z. B. daran, dass du dich wie in einem Film fühlst. Du kannst dich beim besten Willen nicht mehr beherrschen und wirst von deinen Emotionen geleitet. Vielleicht brüllst du, obwohl du eigentlich sehr diplomatisch bist. Oder du wirst gemein, obwohl das eigentlich nicht zu dir passt. Im Nachhinein verstehst du dich selbst nicht mehr und es tut dir leid, wie du reagiert hast.

Mir erging es lange Zeit so, wenn mein Mann im Streit den Raum verließ. Ich konnte das nicht ertragen, setzte nach und wurde laut und fies. Mein inneres Kind (siehe hier) schlug Alarm, weil meine Mutter mich häufig mit Ignoranz gestraft hatte. Obwohl ich das heute längst weiß, muss ich mich immer wieder daran erinnern, dass in solchen Situationen mein Mann und nicht meine Mutter vor mir steht und dass dieser Mann jedes Recht der Welt hat, den Raum zu verlassen.

Da wir alle unsere Prägungen haben und nur allzu gern „das Schloss für unseren Schlüssel“ suchen, bleibt der eine oder andere unreflektierte Kleinkrieg auch in gesunden Beziehungen nicht aus. Allerdings existiert hier eine generelle Bereitschaft, sich mit sich und der Beziehung friedvoll und gewinnbringend auseinanderzusetzen. Eine gesunde Beziehung ist kein Kriegsschauplatz, sondern ein Ort, an dem der Teamgedanke zählt.

7. Wandelbarkeit und Wachstum

Eine gesunde Beziehung ist jederzeit neu verhandelbar. Eine Weiterentwicklung im Sinne aller Mitglieder ist jederzeit möglich – im besten Fall sogar gewünscht.

Menschen zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich permanent verändern. Streng genommen bist du, während du dies liest, schon nicht mehr derselbe Mensch, der du warst, als du das Buch aufgeschlagen hast. Da wir permanent im Wandel sind, verändern sich im Laufe der Zeit auch die Bedürfnisse, mit denen wir Beziehungen eingehen. Dies sollte für eine nicht toxische Beziehung kein Problem darstellen. So hat eine gesunde Freundschaft auch dann Bestand, wenn du oder deine Freundin keine Singles mehr seid oder das erste Kind kommt. Auch eine gesunde Liebesbeziehung ist wandelbar. So sollte es z. B. nach den berüchtigten ersten drei Jahren möglich sein, dem neu erwachsenen Wunsch nach mehr Autonomie nachgehen zu können, obwohl man bis dahin jeden Tag regelrecht „aufeinandergehockt“ hat.

Da fast jeder Mensch automatisch gegen jedwede Veränderung zunächst Widerstand leistet, ist es umso wichtiger, in aller Ruhe über Veränderungswünsche zu sprechen und diese dem anderen nicht einfach unkommentiert vorzusetzen. Veränderung ist immer eine Chance und in gesunden Beziehungen wird gemeinsam und behutsam darüber gesprochen.

Auch im Hinblick auf Veränderung gilt natürlich das Prinzip „Take it or leave it“. Niemand ist gezwungen, jegliche Veränderung gutheißen oder mittragen zu müssen. Manchmal machen Beziehungen für einen oder beide Partnerinnen keinen Sinn mehr, z. B. weil sich grundlegende Werte verändert haben. Wichtig ist dann jedoch, Mut aufzubringen, um dies ehrlich und transparent zu vermitteln, und die Beziehung nicht um jeden Preis weiterzuführen. Schnell kann sich nämlich aus dem unbedingten Festhalten-Wollen eine toxische Dynamik entwickeln.

To be continued …

Diese sieben Grundbausteine einer gesunden Beziehung sind selbstverständlich individuell erweiterbar. Du kannst sie nach deinen Vorstellungen ergänzen. Wichtig ist lediglich, dass du an dieser Stelle so klar wie möglich vor Augen hast, was für dich eine gesunde Beziehung ausmacht. In Abschnitt 1.2 hatte ich dich gebeten, der guten Fee deine Beziehungswünsche so konkret wie möglich mitzuteilen. Gern kannst du an dieser Stelle deine Notizen noch einmal ergänzen, wenn es für dich etwas zu ergänzen gibt.

 ÜBUNG

Wie gesund sind deine Beziehungen? Eine kleine Bestandsaufnahme

Nimm dir deine Beziehungslandschaft zur Hand. Daneben legst du deine Notizen zur optimalen Beziehung. Wie steht es in deinen jeweiligen Beziehungen um deine Wünsche, die du an Partnerschaften, Freundschaften und Arbeitsbeziehungen hast? Welche der Beziehungen würdest du als gesund bezeichnen? Warum genau? Welche würdest du als nicht gesund einstufen? Was fehlt dir?

Vielleicht erkennst du bereits an dieser Stelle, dass sich bestimmte Themen in deinen Beziehungen wiederholen. So wünschst du dir vielleicht mehr Ausgleich zwischen Geben und Nehmen oder stellst fest, dass du häufig deine Bedürfnisse hinter denen der anderen zurückstellst. Vielleicht tendierst du auch dazu, dich von Partnern, Freundinnen und Arbeitskollegen respektlos behandeln zu lassen. Mach auch dazu gern Notizen! Wir werden später darauf zurückkommen.

2. Warum dir das „Narzissmuskonzept“ nicht (immer) weiterhilft

Die meisten Menschen, die bei mir Unterstützung suchen, sind im Erstkontakt sehr unsicher über den „tatsächlichen“ Stand ihrer Beziehung(en). Sie sind vorsichtig in ihren Schilderungen und betonen immer wieder, dass sie ihrem Gegenüber auf gar keinen Fall Unrecht tun wollen. Das Wort toxisch fällt meist gar nicht und wenn doch, dann sehr verhalten und begleitet von eigenen Schuldeingeständnissen oder Rechtfertigungen für das Verhalten der anderen.

Dieses Phänomen gilt durchaus für alle Beziehungstypen, aber insbesondere in Liebesbeziehungen scheint das Darüber-Reden besonders schwierig. Die Angst, sich zu täuschen und den Partner oder die Partnerin vor einer dritten Person in ein schlechtes Licht zu rücken, hält viele Menschen davon ab, sich zu öffnen. Das ist verständlich, schließlich ist eine Liebesbeziehung die wichtigste und intimste Beziehung, die wir haben. Bis Marie sich ganz sicher war, dass sie und Chris sich in einer toxischen Beziehung verstrickt hatten, dauerte es sehr lange. Ich würde sogar vermuten, dass der eine oder andere ihrer Persönlichkeitsanteile selbst heute noch daran zweifelt. Das ist nicht ungewöhnlich. Viele Menschen zweifeln selbst nach Jahren noch an sich und ihrer Wahrnehmung.

Doch woher kommt diese übersteigerte Angst vor Fehlinterpretationen und Eingeständnissen? Und warum fällt es Betroffenen so schwer, auf das eigene Bauchgefühl zu hören?

2.1 Die öffentliche Wahrnehmung

Viele Menschen, die in toxische Dynamiken geraten, sind tendenziell vorsichtige Menschen, die ihre Wahrnehmung mehrfach prüfen, bevor sie sich ein Urteil erlauben. Vielleicht kennst du das von dir selbst: Du bist grundsätzlich eher ein passiver Typ, hinterfragst Dinge gern mindestens zweimal und suchst die Schuld zuallererst bei dir selbst? Dieser häufig zu deinen Ungunsten verzerrte Blick macht eine möglichst objektive Einschätzung der eigenen Beziehung(en) natürlich nicht leicht.

Und dennoch ist das Hauptproblem m. E. nicht in deiner Persönlichkeitsstruktur zu finden. Die Angst- und Schamproblematiken haben vielmehr mit der vorherrschenden Perspektive auf das Thema zu tun.

Toxische, destruktive Beziehungsdynamiken sind in Medien und Literatur mittlerweile eng verzahnt mit dem Krankheitsbild des Narzissmus bzw. der narzisstischen Persönlichkeitsstörung. Und spätestens nachdem Trump weltweit zum Prototypen des Narzissten geworden war, mutierte der Begriff zum Modewort. Wie ein Schreckgespenst zieht es umher. So liest man in den gängigen Social-Media-Kanälen regelmäßig Header wie „Wie Narzissten dich geschickt manipulieren“ oder „Wie du in drei Schritten einem Narzissten entfliehen kannst“. Wenn du dich schon länger mit dem Thema toxische Beziehungen auseinandersetzt, weißt du sicher, wovon ich rede.

Bitte verstehe mich nicht falsch: All jene, die mit einer tatsächlich narzisstischen Person in einer Beziehung leben, müssen unbedingt gehört und unterstützt werden. Die Folgen der physischen und psychischen Gewalt, die durch Menschen mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung häufig ausgeübt werden, können verheerend sein und sogar tödlich enden. Ich möchte an dieser Stelle nicht behaupten, dass der Fußballer Jérôme Boateng ein Narzisst ist. Doch tragische Geschichten wie die seiner Partnerin Kasia Lenhardt zeigen uns immer wieder auf, wie wichtig es ist, sich für toxische Beziehungen zu sensibilisieren.

Allerdings leiden laut statistischen Angaben lediglich 0,4 Prozent der Gesamtbevölkerung unter einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung (Berger 2012).2 Einer repräsentativen Umfrage zufolge befanden sich jedoch 36 Prozent der Befragten, also ca. jeder dritte Deutsche, schon einmal in einer toxischen Beziehung (Bogatz 2021). Bei diesen Zahlen müssten die 0,4 Prozent schon sehr umtriebig gewesen sein, wollte man jede toxische Beziehung als Beziehung zu einem Narzissten oder einer Narzisstin definieren.

So furchtbar das Leid auch sein mag, welches den Opfern von gewaltausübenden Narzisstinnen zuteilwird, und so wichtig Aufklärung über pathologischen Narzissmus auch ist, so notwendig ist es auch, im Blick zu behalten, dass der Narzissmus­begriff inflationär und somit nicht selten falsch verwendet wird. Und das hat Folgen:

Der Begriff des Narzissmus verwässert.

Es kann der Eindruck entstehen, dass jede, die sich in einer Beziehung egoistisch verhält, eine Narzisstin ist. Die ursprüngliche Definition (siehe Kasten unten) geht verloren und der Begriff verwässert. Dies ist weder für jene gut, die tatsächlich mit einer Narzisstin zu tun haben, noch für jene, die es nicht mit einer „echten“ Narzisstin zu tun haben.

Anhand folgender Kriterien kannst du prüfen, ob du oder dein Partner unter einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung leiden könntest oder nicht. Entnommen habe ich diese der fünften Ausgabe des amerikanischen Diagnostic and ­Statistical Manual of Mental Disorders (DSM; Diagnostischer und statistischer Leitfaden psychischer Störungen DSM 5, Falkai & Wittchen 2018). Hierbei handelt es sich um den wichtigsten psychiatrischen Klassifikationskatalog in den USA. Das Pendant der Weltgesundheitsorganisation, die ICD (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme 10, 2019), führt in der aktuellen zehnten Version die narzisstische Persönlichkeitsstörung lediglich unter der Rubrik „Sonstige spezifische Persönlichkeitsstörungen“ (F 60.8) auf. Daher greife ich auf die amerikanische Klassifikation zurück.

Bitte bedenke aber, dass eine abschließende Diagnose immer nur von entsprechenden Fachleuten gestellt werden kann!

Diagnostische Kriterien für eine Narzisstische Persönlichkeitsstörung (F60.81)

Ein tiefgreifendes Muster von Großartigkeit (in Fantasie und Verhalten), Bedürfnis nach Bewunderung und Mangel an Empathie. Der Beginn liegt im frühen Erwachsenenalter, und das Muster zeigt sich in verschiedenen Situationen. Mindestens fünf der folgenden Kriterien müssen erfüllt sein:

Hat ein grandioses Gefühl der eigenen Wichtigkeit […].Ist stark eingenommen von Fantasien grenzenlosen Erfolgs, Macht, Glanz, Schönheit oder idealer Liebe.Glaubt von sich, „besonders“ und einzigartig zu sein und nur von anderen besonderen oder angesehenen Personen (oder Institutionen) verstanden zu werden oder nur mit diesen verkehren zu können.Verlangt nach übermäßiger Bewunderung.Legt ein Anspruchsdenken an den Tag (d. h. übertriebene Erwartungen an eine besonders bevorzugte Behandlung oder automatisches Eingehen auf die eigenen Erwartungen).Ist in zwischenmenschlichen Beziehungen ausbeuterisch (d. h., zieht Nutzen aus anderen, um die eigenen Ziele zu erreichen).Zeigt einen Mangel an Empathie: Ist nicht willens, die Gefühle und Bedürfnisse anderer zu erkennen oder sich mit ihnen zu identifizieren.Ist häufig neidisch auf andere oder glaubt, andere seien neidisch auf ihn / sie.Zeigt arrogante, überhebliche Verhaltensweisen oder Haltungen.

(Falkai & Wittchen 2018, S. 918)

Der latente Schulddiskurs hemmt Betroffene unnötig.

In den medialen Narzissmusdiskursen schwingt (fast) immer eine wenig hilfreiche Schuldfrage mit. Es gibt auf der einen Seite die Schuldigen, die Narzisstinnen, und auf der anderen Seite die Unschuldigen, die Empathen. Selbst Menschen, denen man eine narzisstische Persönlichkeitsstörung nachweisen könnte, sind aber nie nur Täter. Die Realität ist ungemein komplexer.

Und auch innerhalb der Beziehung zu einem Narzissten oder einer Narzisstin führt die Schuldfrage nicht weiter. Man weiß heute, dass etwa die starke Verknüpfung von Leistung und Wertschätzung / Anerkennung in der Erziehung oder auch fehlende emotionale Wärme in der Familie Narzissmus begünstigten. Etwas plakativ ausgedrückt kann man also sagen: Oft hatten narzisstische Menschen, also die vermeintlich Schuldigen, eine schwere Kindheit und ihre Verhaltensweisen dienten ihnen als Überlebensstrategien. Davon wissen ihre Partnerinnen zumeist. So entsteht der Nährboden für ein schlechtes Gewissen: Die Partnerinnen üben sich in Nachsicht oder suchen die Fehler bei sich, denn einem Menschen mit einer schweren Kindheit Fehler und Schuld zuzuweisen liegt einem empathischen Menschen zumeist fern. Die vermeintlichen Narzissten feuern diese Dynamik an. Aus ihrer Sicht sind schließlich immer die anderen schuld. Alsbald entsteht ein Teufelskreis, aus dem es nur schwer ein Entkommen gibt. Mit der Frage nach Schuld ist also niemandem geholfen.