Wenn die Familie nicht guttut - Annika Felber - E-Book

Wenn die Familie nicht guttut E-Book

Annika Felber

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Beschreibung

Toxische Familien und ihre Verhaltensweisen Missbräuchliche Beziehungen bedeuten Dauerstress für Körper und Seele. Handelt es sich um Paar-, Freundschafts- oder Arbeitsbeziehungen oder beinhalten die toxischen Dynamiken gar Gewalt, wird zu einer möglichst schnellen Trennung geraten. Doch wie lautet der Rat, wenn die Beziehung zu Eltern oder Geschwistern toxisch ist? Wie sollen Menschen damit umgehen, wenn sie feststellen, dass sie in einer Familie groß wurden, in der körperlicher, psychischer und/oder narzisstischer Missbrauch an der Tagesordnung war? Sollen sie ihrer Familie den Rücken kehren oder ihr besser vergeben? Wie könnte in solchen Fällen Vergebung gelingen? In diesem Buch geht es darum, - wie Sie erkennen, ob Sie in einer toxischen Familie aufgewachsen sind, - was Sie tun können, um Ihre toxischen Familienbeziehungen zu entgiften oder zu beenden, und - wie Sie mit der Vergangenheit abschließen und Ihr heutiges Leben frei von schädlichem familiärem Einfluss gestalten können. Lösungsorientiert leitet Annika Felber dazu an, den Blick auf die eigenen Wurzeln zu wagen. Dabei geht es nicht darum, Familien im Allgemeinen und Eltern im Speziellen als Schuldige zu stigmatisieren. Schuldzuweisungen sind nicht der Schlüssel für ein autonomes und glückliches Leben. Eigenverantwortung schon.

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Seitenzahl: 314

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Annika FelberWenn die Familie nicht guttutToxische Beziehungen erkennen und lösen

Über dieses Buch

Toxische Verhaltensweisen erkennen und Grenzen setzen 

Wie können Menschen damit umgehen, wenn sie in einer Familie groß wurden, in der körperlicher, psychischer und / oder narzisstischer Missbrauch an der Tagesordnung war? Sollen sie ihrer Familie den Rücken kehren oder ihr verzeihen? Wie könnte in solchen Fällen Vergebung gelingen? 

Lösungsorientiert ermutigt uns Annika Felber, einen kritischen Blick auf die eigenen Wurzeln zu werfen. Sie schildert, welche Kriterien erfüllt sein müssen, um von toxischen Beziehungen sprechen zu können, und was Betroffene tun sollten, um toxische Familienbeziehungen zu entgiften (oder zu beenden). Mithilfe der Übungen und Impulse in diesem Buch gelingt es, mit der Vergangenheit abzuschließen und das Leben frei von schädlichem familiärem Einfluss zu gestalten. Dabei setzt die Autorin darauf, selbstfürsorglich und eigenverantwortlich mit den eigenen Wunden umzugehen, um so in ein autonomes und glückliches Leben zu finden.

© Joanna Sionkowski

Annika Felber ist Pädagogin (M.A.), Psychologin (i.A.) und systemische Beraterin sowie Mitglied in der Deutschen Gesellschaft für systemische Therapie, Beratung und Familientherapie e.V. (DGSF).

Copyright: © Junfermann Verlag, Paderborn 2023

Coverfoto: © David (https://stock.adobe.com)

Covergestaltung / Reihenentwurf: Junfermann Druck & Service GmbH & Co. KG, Paderborn

Satz, Layout & Digitalisierung: Junfermann Druck & Service GmbH & Co. KG, Paderborn

Alle Rechte vorbehalten.

Erscheinungsjahr dieser E-Book-Ausgabe: 2023

ISBN der Printausgabe: 978-3-7495-0473-2

ISBN dieses E-Books: 978-3-7495-0493-0 (EPUB), 978-3-7495-0494-7 (PDF).

Für Caro und ihre Schwestern

Einleitung

„Meine Mutter hat mir noch nie gesagt, dass sie mich liebhat. Aber ich verstehe das. Es ist nicht ihre Schuld. Sie hatte ja selbst eine schwere Kindheit.“

„Ich kann mich nicht erinnern, dass mein Vater mich jemals für etwas gelobt oder mich wertschätzend behandelt hat, während Kritik auf der Tagesordnung stand.“

„Ich habe immer davon geträumt, fernab der Heimat zu studieren, aber das konnte ich meiner Mutter nach der Scheidung nicht antun.“

„Über die Krebserkrankung meines Vaters wurde in unserer Familie nie gesprochen, damit musste ich als Kind allein klarkommen.“

Solche oder ähnliche Aussagen höre ich im Rahmen meiner Beratungen häufig und jedes Mal bin ich aufs Neue bestürzt: Bestürzt darüber, dass jene, denen Gewalt in der eigenen Familie widerfahren ist, häufig empathischer mit den Verursacherinnen und Verursachern1 sind als mit sich selbst; bestürzt darüber, dass Gewalt – insbesondere psychische Gewalt – noch immer etwas zu sein scheint, was billigend in Kauf genommen wird. Weil sie „jedem in der Kindheit irgendwann einmal begegnet ist und man daher keine große Sache daraus machen sollte“. Ich halte diese Behauptung einer Klientin für unzutreffend. Doch selbst wenn wir für einen Moment annehmen, dass sie stimmte, wäre dann nicht der einzig logische Schluss, den Blick für das Thema (psychische) Gewalt weiter zu schärfen, anstatt weiterhin die Augen davor zu verschließen? Nur weil es Kriege gibt, kann dies doch kein Argument dafür sein, den Frieden nicht weiter anstreben zu wollen.

Zur Verwendung des Begriffs „Gewalt“ in diesem Buch …

Jede toxische Familienbeziehung ist von Gewalt geprägt. Unter Gewalt verstehe ich all jene elterlichen Verhaltensweisen, die Kinder absichtlich oder unabsichtlich für die eigenen Zwecke instrumentalisieren, die bedeutsame (systemische) Familiengesetze verletzen und / oder Kindern langfristig Leid zufügen. Ich fasse den Begriff also weiter, als viele es möglicherweise gewohnt sind. Warum ich dies für gerechtfertigt halte und was genau du dir unter den einzelnen Aspekten vorstellen kannst, werde ich im weiteren Verlauf erläutern.

Mit diesem Buch möchte ich für die verschiedenen Ausdrucksformen toxischer Familienbeziehungen sensibilisieren und dazu beitragen, sie als das zu sehen, was sie sind: Formen der Gewalt. Ich möchte Betroffenen Mut machen, sich die nötige Selbstempathie zu gestatten und ihre Wunden (endlich) ernst zu nehmen. Ihnen und den Menschen, die mit ihnen arbeiten oder leben, möchte ich die Varianten und Auswirkungen toxischer Familiensysteme aufzeigen.

Toxische Beziehungserfahrungen in unserer Kindheit sind häufig dafür verantwortlich, dass wir im Laufe unseres Lebens psychisch und psychosomatisch erkranken oder uns in neue ungesunde, dysfunktionale Beziehungsdynamiken begeben. Menschen, die unter Depressionen, Ängsten, diffusen körperlichen Beschwerden oder massiven Beziehungsproblemen leiden, suchen die Ursachen für ihre Schwierigkeiten gemeinhin in der Gegenwart, ohne zu ahnen, dass die Gründe viel weiter zurückreichen.

So erging es auch Caro. Sie ist eine der Betroffenen, der Sie in diesem Buch öfter begegnen werden. An ihrem Beispiel möchte ich aufzeigen, wie toxische Beziehungen sich über das Leben hinweg darstellen und auswirken und zugleich, wie es gelingen kann, sich aus ihnen zu lösen. Caro wurde zunächst ein paarmal die Woche, später täglich von Schwindelanfällen überwältigt. Sie kamen auf dem Weg zur Arbeit, vor dem Fernseher, im Gespräch mit Kolleginnen oder abends im Bett und folgten augenscheinlich keiner Logik. Caro wurde auf einen Schlag schwindelig, ihr Hals schnürte sich zu, das Herz raste, ihr wurde heiß und kalt zugleich und sie schnappte nach Luft wie ein an Land gespülter Fisch. Zwischen den Anfällen litt sie unter einem Kloß im Hals, Sehstörungen, Lähmungserscheinungen und einem unerträglichen Dauerrauschen im Ohr. Caro schaffte es dennoch, jeden Tag zur Arbeit zu gehen und, so gut es ging, den Alltag zu bewältigen. Es gelang ihr, den berühmten Schein zu wahren. Schaute man hinter die Fassade, so wusste sie allerdings oft nicht einmal mehr, wie sie die nächste Stunde überstehen sollte, ohne verrückt zu werden. Ihre Hausärztin vermutete zunächst Asthma und überwies Caro zum Lungenfacharzt – ohne Befund. Beim Kardiologen wurde sie auf einen möglichen Herzfehler untersucht und schlussendlich prüfte der Gastroenterologe, ob eine Nahrungsmittelunverträglichkeit vorliegen könnte. Keiner von ihnen fand etwas, das ursächlich für ihre Anfälle hätte sein können. Sie war gesund. Man riet ihr, beruflich kürzer zu treten und ihr privates Umfeld auf mögliche Stressquellen hin zu überprüfen. Caro zweifelte mehr und mehr an ihrem Verstand. Ihr Leben war besser denn je: Sie hatte einen tollen Job, eine schöne Wohnung, keinerlei finanzielle Sorgen, einen großen Freundeskreis und einen wunderbaren Mann. Oder redete sie sich das vielleicht doch alles nur schön? Überforderte sie der Job insgeheim, schadeten ihr die eigenen Freunde und war die Beziehung zu ihrem Mann am Ende schädlich für sie?

Erst zwei Jahre später, nach zahlreichen Ärzte-, Heilpraktiker- und Osteopathen-Terminen, begriff sie, dass ihre Körpersymptome Ausdruck dessen waren, was sie dachte, längst verstanden und bewältigt zu haben: die Erlebnisse aus ihrer Kindheit, die von einer Mutter mit einer Persönlichkeitsstörung dominiert worden war.

Mittlerweile sind sich viele Menschen bewusst darüber, dass ein Leben in toxischen Paarbeziehungen, Freundschaften oder Arbeitsverhältnissen Dauerstress für Körper und Seele bedeutet. Insbesondere wenn toxische Dynamiken mithilfe von Gewalt bewusst und systematisch generiert werden, wird von Fachleuten sinnvollerweise zu einer möglichst schnellen Trennung geraten. Doch was soll man tun, wenn die Beziehung zu den eigenen Eltern, Geschwistern oder Großeltern toxisch ist? Wie sollen Menschen damit umgehen, wenn sie feststellen, dass sie in einer toxischen Familie groß geworden sind? Ist es legitim, der eigenen Familie den Rücken zu kehren? Und wie groß muss der Schaden sein, um diesen drastischen Schritt zu gehen? Oder sollte man besser vergeben und verzeihen? Weil Blut dicker ist als Wasser?

In diesem Gedankenchaos war auch Caro verstrickt, nachdem sie erkannt hatte, dass sie in einer toxischen Familie aufgewachsen war. Welche Schlüsse sollte sie aus ihren Erkenntnissen ziehen? Wie sollte sie sich zukünftig der Mutter gegenüber verhalten? Und wie gegenüber den restlichen Familienmitgliedern?

Nicht immer äußern sich die Folgen toxischer Familienbeziehungen derart massiv wie bei Caro und nicht immer braucht es Schläge oder sexuelle Übergriffe, um von einem toxischen Umfeld zu sprechen. Gewalt hat viele Gesichter. Manchmal braucht es einen genauen Blick und vor allem Mut, um das Verhalten von Müttern und Vätern als missbräuchlich zu erkennen. Häufig fürchten Betroffene sich davor, zu übertreiben, illoyal zu sein oder endgültig aus dem Familienverbund ausgeschlossen zu werden, wenn sie ihre Vorwürfe laut aussprechen. Diese oder ähnliche Ängste verhindern eine realistische Einschätzung der eigenen familiären Situation und lassen Betroffene ratlos zurück. Mit diesem Buch möchte ich Ihnen helfen, einen Umgang mit Ihren Ängsten zu finden und einen lösungsorientierten Blick in die Vergangenheit zu werfen. Dabei geht es nicht darum, Familien im Allgemeinen und Eltern im Speziellen als Schuldige zu stigmatisieren. Schuldzuweisungen (allein) können niemals der Schlüssel zu einem autonomen und glücklichen Leben sein. Eigenverantwortung schon. Und zu dieser möchte ich Sie ermutigen.

Schauen wir uns gemeinsam an,

was in Familien (noch) gesund und was (schon) ungesund ist,

welche Erscheinungsformen toxische Familienbeziehungen annehmen,

woran Sie erkennen, dass Sie in dysfunktionalen Familienverhältnissen aufgewachsen sind,

welche Auswirkungen Gewalterfahrungen in der Familie haben und

was Sie tun können, um toxische Familiensysteme zu „entgiften“ oder sich aus ihnen zu lösen.

Dabei ist es mir eine Herzensangelegenheit, Ihnen keine Dogmen vorzusetzen. Ich möchte Sie vielmehr behutsam aus der Ohnmacht (zurück) in die Handlungswirksamkeit führen und Sie darin bestärken, Ihren individuellen Weg zu finden, um mit dem Geschehenen umzugehen. Menschen und die Familiensysteme, in denen sie leben, sind immer individuell und hochkomplex. Für mich bedeutet das, dass Sie sich jederzeit von ihrer Familie abwenden dürfen, dass Sie Ihre Eltern, Geschwister und Großeltern ehren dürfen, dass Sie vergeben dürfen. Aber dass Sie nichts von alledem müssen. Wichtig ist einzig und allein, dass Sie das tun, was sich für Sie in Ihrer aktuellen Lebensphase stimmig anfühlt. Bitte bedenken Sie in diesem Zusammenhang, dass dieser Ratgeber als Impulsgeber und Begleiter gedacht ist. Eine Psychotherapie kann er selbstverständlich nicht ersetzen.

Beziehungen im Allgemeinen und Familienbeziehungen im Speziellen sind überaus intime Bereiche. Man bespricht sie lieber mit Freunden als mit Fremden. Um die Distanz zwischen Ihnen und mir im Rahmen der Möglichkeiten zumindest ein wenig zu schmälern, möchte ich Sie daher im Folgenden gern duzen. All jene, die sich aus beruflichen Gründen für die Thematik interessieren, möchte ich bitten, mir das „Du“ nachzusehen. Ich habe mich ganz im Sinne der Nähe zum Leser für jene Anrede entschieden, die mir für Betroffene am hilfreichsten erschien. So oder so freue ich mich, dass du mein Buch in den Händen hältst, und ich hoffe, dass ich dir ein paar der Fragen beantworten kann, die dich dazu veranlasst haben, es lesen zu wollen.

Deine

1  Im Folgenden werde ich dem Lesefluss zuliebe zwischen männlicher und weiblicher Form wechseln. Gemeint sind immer beide Geschlechter sowie all jene, die sich keinem Geschlecht zuordnen möchten.

1. Die Familie – der Grundstein für unser Leben

„Am Anfang ist die Beziehung. Alles, was wir sind, ist in Beziehung entstanden.“

(Martin Buber)

Seine Familie kann man sich nicht aussuchen. Doch Fakt ist: Wir alle kommen hilflos zur Welt und sind auf die Versorgung unserer Eltern oder anderer Bezugspersonen2 angewiesen. Zu dieser Versorgung gehört nicht nur die Sicherstellung des körperlichen, sondern auch die des emotionalen Überlebens. Inwieweit unsere Eltern dieser Aufgabe nachkommen (können), entscheidet maßgeblich darüber, wie sich unsere körperliche und seelische Gesundheit und die Beziehungen zu uns und anderen entwickelt. Diese Erkenntnis zieht sich seit mindestens 70 Jahren durch die Entwicklungspsychologie. Und doch erhält sie häufig (noch immer) keine ausreichende Beachtung in der Praxis, wenn es bei Menschen zu gesundheitlichen Beschwerden oder belastenden Beziehungsschwierigkeiten kommt. Treten körperliche und seelische Probleme auf, wird zumeist danach geschaut, ob das interne System eines Menschen intakt ist. Ist es das nicht, versucht man, Körper oder Seele an der vermeintlich beschädigten Stelle zu reparieren. So wurden bei Caro der Hals, die Ohren, der Magen und das Herz untersucht. Aber ihre Organe waren gesund. Demnach zogen die Experten Stress als Ursache heran. Damit lagen sie grundsätzlich richtig. Allerdings gingen sie von aktuellem Stress aus. Stress kann sich aber auch im Laufe des Lebens in Körper und Seele dauerhaft niederschlagen und irgendwann auf unterschiedliche Art und Weise an die Oberfläche drängen. Diese Form von Stress ist komplex und lässt sich nicht durch ein schlichtes Ursache-Wirkungsprinzip erklären oder gar lösen. Aufgestauter Stress geht oft zurück auf unsere ersten, lebensnotwendigen Beziehungen. Und er kann auch nur unter Berücksichtigung dieser Beziehungen dauerhaft gelöst werden. In Caros Fall war der Ursprung zum einen in der Dyade zu ihrer Mutter zu finden und zum anderen in der Rolle, die die Mutter-Tochter-Beziehung im restlichen Familienverbund spielte. In anderen Fällen mag es die Beziehung zum alkoholkranken Vater, dem lieblosen Stiefvater oder der schwer traumatisierten Großmutter sein. Auch zeigen sich alte Themen nicht immer in Form von psychosomatischen Beschwerden, sondern können sich in Beziehungsproblemen, beruflichen Schwierigkeiten oder psychischen Erkrankungen manifestieren.

Die Erfahrungen, die wir innerhalb unserer Herkunftsfamilie machen, bilden das Fundament, auf dem wir unser Erwachsenenleben aufbauen (müssen). Was wir hier lernen bzw. nicht lernen, prägt uns für unser ganzes Leben. Das gilt sowohl für gesunde Verhaltens- und Beziehungsmuster, Glaubenssätze und Rollen als auch für ungesunde. Wer in der eigenen Familie Gewalt erfährt, läuft Gefahr, als Erwachsener selbst eine größere Toleranz gegenüber physischer und psychischer Gewalt aufzuweisen (Tempel et al. 2017). Wer hingegen eine positive Eltern-Kind-Bindung erlebt hat und in seinem positiven Selbstkonzept und der eigenen Selbstwirksamkeit gestärkt wird, weist in späteren Lebensjahren eine höhere psychische Widerstandskraft (sogenannte Resilienz) und eine niedrigere Anfälligkeit für psychische und physische Erkrankungen auf als jene, die in psychosozial ungünstigen Verhältnissen aufgewachsen sind (Hohm 2017). Wenn du mehr zu diesem Thema wissen möchtest, empfehle ich dir die umfangreiche ACE-Studie zu belastenden Kindheitserfahrungen, welche Erkenntnisse aus den Daten von über 17.000 Klinikpatienten und -patientinnen umfasst (Felitti & Anda 2014). In Abschnitt 6.1 werde ich noch einmal auf sie zurückkommen.

Definition und Verwendung des Begriffs „Herkunftsfamilie“

Unter Herkunftsfamilie verstehe ich in Anlehnung an Fuhs (2007) all jene Personen, die für einen Menschen regelmäßig ökonomische, soziale, kulturelle und emotionale Leistungen erbracht haben und die er selbst im Kontext Familie als bedeutsam bezeichnen würde. Wenn im Folgenden von Herkunftsfamilie gesprochen wird, sind demnach (Stief-)Eltern bzw. primäre Erziehungsberechtigte, (Stief-)Geschwister, (Stief-)Großeltern, (Stief-)Urgroßeltern sowie weitere individuell bedeutsame Personen gemeint.

Das übergeordnete Herkunftsfamiliensystem setzt sich aus mehreren Subsystemen (z. B. Mutter – Kind, Vater – Mutter oder erstes Geschwister – zweites Geschwister) zusammen. Unsere Herkunftsfamilie ist der Verbund, in dem wir aufgewachsen sind. Unsere Gegenwartsfamilie ist der Verbund, in dem wir aktuell mit unseren Partnern und Kindern leben.

Kognitive Anstrengung allein heilt emotionale Wunden nicht.

Auch wenn es immer wieder erstaunliche Fälle von unerklärlicher Resilienz geben mag: Der Großteil der Menschen kann nicht einfach mit kognitiver Anstrengung alles hinter sich lassen, was ihm an emotionalen Wunden in seiner Kindheit und Jugend zugefügt wurde.

Caro hat es versucht. Und mit ihr viele andere meiner Klienten und Klientinnen. Sie alle haben ein stilles Bewusstsein dafür, dass ihre Kindheit schwierig war, aber sie haben im Laufe ihres Lebens Strategien entwickelt, die sie glauben ließen, dass mittlerweile alles in Ordnung sei und dass sie die schlimmen Kindheitserfahrungen ohne Probleme dort lassen können, wo sie hingehören – in der Vergangenheit. So arbeitete Caro beispielsweise diszipliniert und ehrgeizig an ihrem beruflichen Erfolg und ihrer Persönlichkeitsentwicklung. Das gab ihr das Gefühl, von dem Schmerz, der ihr in der Kindheit zugefügt wurde, genesen zu sein. Wäre sie nicht geheilt, könnte sie schließlich nicht derart erfolgreich sein. Die Beschäftigung mit ihrer Kindheit war somit scheinbar überflüssig geworden. Andere meiner Klientinnen trinken vermehrt Alkohol, kümmern sich bis zur Selbstaufgabe um andere, geraten in emotionale Abhängigkeiten oder laufen vor tiefen Verbindungen zu ihren Mitmenschen davon. Bei diesen teils gesellschaftlich anerkannten und erwünschten, teils destruktiven Verhaltensweisen handelt es sich um sogenannte (Über-)Lebensstrategien. Überlebensstrategien sind die Antwort auf unerfüllte Kernbedürfnisse eines Menschen wie die nach Kontakt, Autonomie oder Liebe. Sie helfen uns dabei, zu funktionieren und den unbewältigten Stress aufgrund ungelöster Erfahrungen in der Kindheit zu kompensieren. Zugleich hindern sie uns aber auch daran, ein gesundes und freies Leben zu führen, weil sie noch immer Ausdruck des Mangels sind und oft in Verbindung stehen mit körperlichen und seelischen Blockaden. Im Erwachsenenalter können wir in der Regel keine bewusste Verbindung zwischen diesen Blockaden, Charakterzügen oder Verhaltensmustern und den Kindheitserfahrungen herstellen.

 REFLEXION

(Über-)Lebensstrategien

Du fragst dich jetzt vielleicht, ob auch du ganz persönliche (Über-)Lebensstrategien entwickelt hast und wie diese aussehen. Was hat dir bisher in deinem Leben dabei geholfen, Krisen zu meistern und bis hierher zu kommen?

Wenn dir eine Antwort auf die Frage schwerfällt, versuche es hiermit: Was, glaubst du, würden die Menschen, die dich sehr gut kennen und dir nahestehen, z. B. deine beste Freundin, Schwester o. Ä., auf diese Frage antworten?

Was immer deine persönlichen Strategien sind, du hast diese nicht aus Spaß oder Dummheit in dein Leben integriert, sondern um zu überleben. Dein Organismus ist ein Wunderwerk der Natur, welches von Geburt an das Ziel verfolgt, sich – auch in Zeiten höchster Not und größten Stresses – selbst zu erhalten. Und jede deiner vermeintlich destruktiven oder unnötigen Verhaltensweisen hat auf deinem Lebensweg irgendwann einmal genau diesen Zweck erfüllt. Vielleicht kannst du dich (gerade) nicht (mehr) an diese Situationen erinnern und deshalb erscheint dir diese These absurd. Dann möchte ich dich bitten, mir an dieser Stelle einen kleinen Vertrauensvorschuss zu geben.

1.1 Bindungsstile begleiten uns das gesamte Leben

Bereits im Säuglingsalter3 wird der Grundstein dafür gelegt, ob wir als Erwachsene körperlich und psychisch gesund und in guter Verbindung zu uns und anderen leben werden. Das jedenfalls postuliert die Bindungstheorie, die bereits Ende der 50er-Jahre von John Bowlby entwickelt und von Mary Ainsworth empirisch geprüft wurde. Trotz gesellschaftspolitischer (Mikolajczak & Roskam 2018), konzeptionell methodischer (Vicedo 2017) und ethischer (Keller 2019) Kritik hat sie sich bis heute durchsetzen können und gilt noch immer als bahnbrechender Meilenstein in der Entwicklungspsychologie. Deshalb darf sie nicht fehlen, wenn wir über die Wichtigkeit familiärer Bindung bzw. Beziehung sprechen wollen.

Menschen verfügen über ein genetisch verankertes Bindungssystem.

Bowlby konnte im Rahmen seiner Forschungen zeigen, dass Säuglinge ein genetisch verankertes Bindungssystem besitzen, welches mit der Geburt aktiviert wird.

Wir kommen also alle mit einem angeborenen Bindungsbedürfnis zur Welt, welches unser Überleben sichern soll. Dieses zeigt sich immer dann, wenn sich ein Säugling in einer sogenannten bindungsrelevanten Situation befindet, also wenn er Schutz durch die Bindungsperson benötigt, z. B. bei äußerer und innerer Bedrohung oder Trennung. Das Bindungsbedürfnis äußert sich darin, dass das Kind sich an seine Bezugsperson klammert, bei Abwesenheit nach ihr sucht / verlangt, weint oder anderweitig protestiert oder sich emotional zurückzieht und resigniert. Sicher hast du ein solches Verhalten schon einmal bei Säuglingen und Kleinkindern beobachten können.

Unterschied zwischen Bindung und Beziehung

Bindung

Der Begriff Bindung meint ein angeborenes, im Gehirn lokalisierbares Schutzsystem, welches dem Überleben des Neugeborenen dient und mit der Geburt aktiviert wird. Durch den Bindungsreflex entsteht „eine interpersonale Beziehung, die dem noch unreifen Geist ermöglicht, die reifen mentalen Funktionen der Eltern [oder andere Bezugspersonen] zu nutzen, um die eigenen geistigen Prozesse zu organisieren“ (Siegel 2010). Das unwissende Kind lernt also über die Eltern, wie zwischenmenschliche Beziehung funktioniert und was es tun muss bzw. nicht tun muss, um in lebensnotwendige Verbindung zu treten und zu bleiben. Unter Bindung kann man demnach eine biologisch verankerte Beziehungsblaupause verstehen, die unser Leben lang überdauert.

Beziehung

Der Bindungsreflex überdauert ein Leben lang. Er steht also immer am Anfang einer jeden Beziehung. Von Beziehung spricht man, wenn das Denken, Handeln oder Fühlen von mindestens zwei Menschen wechselseitig aufeinander bezogen ist. Wir stehen demnach sowohl zu den Mitgliedern unserer Herkunftsfamilie als auch zu Partnern, Freunden oder Arbeitskolleginnen in Beziehung (nicht jedoch zwangsläufig in Bindung). Unsere Bindungsblaupause ist immer ein Teil unserer Vorstellungen über Beziehung. In Beziehungskontexten spielen jedoch auch andere Aspekte eine Rolle, z. B. das angeborene Temperament, die vorhandene Resilienz oder der Einfluss späterer Beziehungspartner (Erzieher, Lehrerinnen, Peer-Groups etc.). Beziehungen sind im Gegensatz zur Bindung sozial motiviert und können aufgekündigt werden.

Je nachdem, wie die Bindungsperson typischerweise auf das Bindungsbedürfnis reagiert, z. B. feinfühlig in Form von Trösten oder ablehnend in Form von Ignorieren, entwickelt der Säugling ein bestimmtes internes Konzept von Bindung. Dieses wird mit steigendem Alter zunehmend verinnerlicht und zu einem Gesamtbild zusammengefügt, welches zukünftige Vorhersagen ermöglicht, etwa „Wenn ich weine, tröstet Mama mich“ oder „Wenn ich weine, tut Mama nichts“. Bowlby nennt dieses mentale Konzept von Bindung das „innere Arbeitsmodell“. Jenes speist sich aus allen Bindungserfahrungen, die das Kind mit unterschiedlichen Bezugspersonen sammelt. Bindungstheoretiker gehen davon aus, dass das „innere Arbeitsmodell“ einen Menschen sein Leben lang begleitet. So beeinflusst es z. B. die eigene Empathiefähigkeit, die Ausbildung sozialer, kognitiver und reflexiver Kompetenzen, den Selbstwert sowie die Gedanken und Gefühle. Darüber hinaus entwickeln sich aus ihm unterschiedliche Haltungen und Verhaltensweisen, die wir in unseren späteren Beziehungen als Muster zeigen: sogenannte Bindungsstile (Brisch 2013).

Diese Bindungsstile werden grob in sicher und unsicher unterschieden und dann weiter unterteilt in:

sicher-autonom,

unsicher-vermeidend,

unsicher-ambivalent und

unsicher-desorganisiert.

Wichtig zu verstehen ist, dass die verschiedenen Bindungsstile als schematische Orientierung dienen und nicht als in Stein gemeißelte Wahrheiten. Menschliches Verhalten ist derart komplex, dass es niemals eins zu eins im Ursache-Wirkungsprinzip vorhersagbar ist. So gibt es auch bei Bindungsstilen immer Mischformen, Grenzbereiche und Ausnahmen. Man kann davon ausgehen, „dass es sich nicht um ein Entweder-oder von ‚sicher‘ oder ‚unsicher‘ handelt, sondern um ein Mehr oder Weniger an Sicherheit und Unsicherheit“ (Grossmman & Grossmann 2012, S. 649). Nichtsdestotrotz gibt es in Abhängigkeit des Bindungsstils jeweils höhere Wahrscheinlichkeiten für bestimmte Entwicklungen. Und wenn wir verstehen, dass unsere Gesundheit, unser Selbstbild und unser Beziehungsleben eng mit unserer Bindungserfahrung in der Kindheit verknüpft sind, verstehen wir auch, dass wir unsere Probleme nur unter Einbezug derselben lösen können.

1.1.1 Sicher-autonomer Bindungsstil

Die verschiedenen Bindungsstile wurden ursprünglich anhand des sogenannten Fremde-Situation-Tests (nachzulesen bei Grossmann 2020) entwickelt und überprüft. Im Rahmen dieses Tests wird das Bindungsverhalten zwischen Kind und Bindungsperson in bindungsrelevanten Situationen, vornehmlich bei äußerer und innerer Bedrohung, z. B. in Trennungssituationen, beobachtet. Ein sicher gebundenes Kind vertraut darauf, dass es von der entsprechenden Bindungsperson zuverlässig getröstet und aufgefangen wird, wenn es das Bedürfnis danach verspürt und anzeigt. Sicher gebundene Kinder untersuchen selbstsicher und ungestört ihre Umgebung. Bei der Trennung von der Bindungsperson zeigen sie deutliches Bindungsverhalten wie z. B. Rufen, Suchen und Weinen. Wendet sich die Bezugsperson dem Kind zu, freut sich dieses und nimmt sofort körperlichen Kontakt auf. Es differenziert zwischen der Bindungsperson und anderen Personen und lässt sich von Fremden nicht trösten. Schnell wendet es sich nach der Kontaktaufnahme wieder dem Explorieren seiner Umwelt zu. Sicher gebundene Kinder speichern Bezugspersonen im „inneren Arbeitsmodell“ als zuverlässig ab.

Auswirkungen auf Beziehung im Erwachsenenalter4

In der Regel führen Menschen mit einem sicher-autonomen Bindungsstil gesunde, stabile Beziehungen zu Partnern, Freundinnen, Kollegen und Familienmitgliedern. Dieser Umstand wirkt sich ebenfalls positiv auf ihre körperliche und seelische Gesundheit aus. Da sie großes Vertrauen in sich und andere haben, nehmen sicher gebundene Menschen Beziehung als sicheren Ort wahr, an dem sie sich entfalten können. Sie haben einen gesunden Selbstwert und stehen in guter Verbindung zu sich selbst. Es fällt ihnen leicht, eigene Bedürfnisse und Grenzen zu erkennen und zu äußern. Sie führen zumeist Beziehungen auf Augenhöhe, in denen wichtige Parameter, wie z. B. Geben und Nehmen sowie Autonomie und Bindung, in einem gesunden Ausgleich zueinanderstehen. Menschen mit sicher-autonomen Bindungsstil geraten seltener in ungesunde Beziehungsdynamiken und emotionale Abhängigkeiten als solche mit einem unsicheren Bindungsstil. Ebenso sind sie resilienter und leiden weniger häufig an psychischen Erkrankungen.

Eine typische Aussage eines sicher gebundenen Menschen wäre: „Ich verstehe zwar gerade nicht genau, was in dir vorgeht, aber das ist in Ordnung für mich, weil ich dir und unserer Beziehung vertraue.“

1.1.2 Unsicher-vermeidender Bindungsstil

Kinder mit diesem Bindungsstil zeigen in bindungsrelevanten Situationen wie Trennung und Abwesenheit der Bindungsperson keine Beunruhigung. Im Gegensatz zum sicher gebundenen Kind zeigen sie nur wenig Bindungsverhalten wie z. B. Suchen, Rufen oder Weinen. Sie explorieren ungestört weiter und akzeptieren Trost durch ihnen fremde Personen. Äußerlich wirken sie durch ihr Verhalten ruhig und gelassen. Innerlich stehen sie jedoch durch die Deaktivierung bzw. Unterdrückung des angeborenen Bindungssystems unter extremem Stress. Kehrt die Bindungsperson nach einer Trennung zurück, wird sie zumeist ignoriert.

Das „innere Arbeitsmodell“ eines unsicher-vermeidenden Kindes speichert die Bindungsperson als zurückweisend, unzuverlässig und wenig vertrauensvoll ab. Um die Zurückweisung nicht immer durchleben zu müssen, koppelt sich das Kind sowohl physisch als auch emotional möglichst von der Bindungsperson ab. Es sucht wenig Körperkontakt und zeigt wenig negative Gefühle oder Verunsicherung. Die Bindungsperson des unsicher-vermeidenden Kindes zeichnet sich dadurch aus, dass sie mit Ausnahme von Verärgerung ebenfalls wenig Gefühle zeigt und ihrerseits den körperlichen Kontakt tendenziell vermeidet. Besonders interessant ist die Beobachtung, dass unsicher-vermeidende Bindungspersonen sich angemessen verhalten, solange es dem Kind gut geht und es keine Ansprüche an sie stellt (Grossmann & Grossmann 2012). Dies könnte erklären, warum Kinder unsicher-vermeidender Bezugspersonen in späteren Beziehungen die eigenen Bedürfnisse konsequent zurückstellen.

Auswirkungen auf Beziehungen im Erwachsenenalter

Menschen mit einem unsicher-vermeidenden Bindungsstil sind in Beziehungen in der Regel in einem dauerhaften Dilemma gefangen: Sie sehnen sich einerseits nach Nähe, fürchten diese allerdings gleichzeitig, weil Beziehungspartner als potenzielle Enttäuschungsquellen internalisiert wurden.

Menschen mit einem unsicher-vermeidenden Bindungsstil sehnen sich nach Nähe und fürchten sie zugleich, weil Beziehungspartner potenzielle Enttäuschungsquellen darstellen.

Phasen der Glorifizierung und des Klammerns lösen sich beim kleinsten „Fehltritt“ des Gegenübers mit größtmöglicher Distanz ab. Die Ursachen für Beziehungsprobleme werden tendenziell beim Beziehungspartner gesucht und weniger bei sich selbst. Weil unsicher-vermeidende Menschen davon ausgehen, dass ihre Bedürfnisse und Wünsche beim Gegenüber keine Beachtung finden, versuchen sie meist nicht, diese transparent zu kommunizieren. Stattdessen ziehen sie sich sowohl körperlich als auch emotional zurück. In der Rückkopplung findet häufig eine selbsterfüllende Prophezeiung statt: Indem die Person sich bewusst oder unbewusst gemäß ihrer Einstellung („Meine Bedürfnisse zählen nicht“) verhält, bewirkt sie selbst, dass das Vorhergesagte letztlich auch eintritt. Oder anders gesagt: Sie erfüllt ihre eigene Prophezeiung.

Ein typischer Gedanke eines Menschen mit unsicher-vermeidendem Bindungsstil wäre: „Ich wusste doch, dass er mich sowie enttäuschen wird. Gut, dass ich mich erst gar nicht in Gänze darauf eingelassen habe!“ Unsicher-vermeidende Menschen versuchen, ihre Gefühle möglichst zu drosseln, und sind überwiegend rational fokussiert. Autonomie ist für sie ein zentraler Wert im Leben. Außerhalb von Beziehung sind sie häufig selbstsicher und gut mit sich verbunden. In Verbindung neigen sie jedoch dazu, stark an Autonomie und Selbstwert einzubüßen. Beziehung ist für sie demnach nicht nur eine Quelle der Enttäuschung, sondern auch der Angst vor Autonomieverlust.

1.1.3 Unsicher-ambivalenter Bindungsstil

Ein unsicher-ambivalenter Bindungsstil zeichnet sich dadurch aus, dass die Kinder eine starke Fixierung auf die Bindungsperson zeigen. Da diese durch ihre wechselhaften Reaktionen in bindungsrelevanten Situationen als unberechenbar abgespeichert wurde, ist das Kind beim Explorieren der Umwelt stark eingeschränkt. Es wirkt unsicher und abgelenkt, lässt die Bezugsperson nicht aus den Augen und zeigt vermehrtes Bindungsverhalten wie Weinen, Rufen sowie Festklammern, auch wenn die Bindungsperson im Raum ist. Wenn die Bindungsperson versucht, das Kind zu trösten, reagiert es zunächst mit Wut und Widerstand. Sofort darauf ist jedoch häufig zu beobachten, dass es händeringend Nähe und Kontakt sucht.

Auswirkungen auf Beziehungen im Erwachsenenalter

Ähnlich wie einem Menschen mit unsicher-vermeidendem Bindungsstil fällt es Menschen mit unsicher-ambivalenten Mustern schwer, in einer Beziehung ein gesundes Maß an Autonomie und Bindung zu leben. Ihr größter Wert ist dabei jedoch nicht die Autonomie, sondern die Bindung. Sie finden sich daher häufig in symbiotischen Beziehungen wieder, in denen sie dazu tendieren, den anderen in seinem Verhalten und seinen Emotionen zu kontrollieren. Mithilfe dieser Strategie versuchen sie, ihr mangelndes Sicherheitsgefühl und ihr generelles Misstrauen in Beziehungen zu kompensieren. Sie brauchen viel Bestätigung des Gegenübers und müssen sich häufig rückversichern, dass dieses sie noch immer liebt bzw. mag. Sie sind in großer Sorge, dass morgen andere Beziehungsgesetze und Emotionen gelten könnten als heute. Unsicher-ambivalent gebundene Menschen sind gedanklich und emotional mehr mit dem anderen verbunden als mit sich selbst.

Unsicher-ambivalent gebundene Menschen sind gedanklich und emotional mehr mit dem anderen verbunden als mit sich selbst.

Diese Fixierung, gepaart mit häufig vorhandenen Selbstwertproblemen, führt dazu, dass Menschen mit unsicher-ambivalentem Bindungsstil die Ursache für Beziehungsprobleme eher bei sich als beim Gegenüber suchen. Da sie in großer Sorge sind, Ihr Gegenüber zu verlieren, betreiben sie – oft auch insbesondere dann, wenn sie zurückgewiesen werden – einen hohen Aufwand, um gemocht zu werden oder um Beziehungen doch noch zum Besseren zu wenden. So kann die Augenhöhe in ihren Beziehungen schnell verloren gehen und eine emotionale Abhängigkeit entstehen.

Ein typischer Gedanke eines unsicher-ambivalent Gebundenen könnte z. B. folgender sein: „Wenn ich mich in Zukunft in der Beziehung nur genug anstrenge oder noch mehr investiere, dann wird sicher am Ende doch noch alles gut zwischen uns.“

Im Gegensatz zum unsicher-vermeidenden Bindungsstil regulieren Menschen mit unsicher-ambivalentem Bindungsstil ihre Gefühle nicht nach unten, sondern sie werden vielmehr von ihnen übermannt. Sie handeln vermehrt impulsiv. Aus Verlustangst entschuldigen sie sich im Nachhinein meist übermäßig für ihr Verhalten. Ähnlich wie Unsicher-Vermeidende kommunizieren sie ihre Bedürfnisse nicht transparent. Allerdings nicht, weil sie von einer Enttäuschung durch den anderen ausgehen, sondern weil sie wenig rationalen Zugang zu ihren Emotionen haben und daher häufig nicht die richtigen Worte finden, um sich verständlich auszudrücken.

Die Abbildungen 1.1 bis 1.3 verdeutlichen die Unterschiede zwischen den drei Bindungsstilen noch einmal grafisch:

Abbildung 1.1: Autonomie und Bindung im Gleichgewicht (sicher gebunden)

Abbildung 1.2: Bindung ohne Autonomie (unsicher-ambivalent gebunden)

Abbildung 1.3: Autonomie ohne Bindung (unsicher-vermeidend gebunden)

1.1.4 Unsicher-desorganisierter Bindungsstil

Die Entwicklungspsychologin Mary Main hat diesen vierten Bindungsstil im Rahmen ihrer Forschungsarbeiten zu den drei Klassikern von Bowlby ergänzt (Main 1995). Das unsicher-desorganisiert gebundene Kind besitzt im Vergleich zu den Kindern mit einem der drei anderen Bindungsstile keine durchgängige Verhaltensstrategie. Es zeigt in bindungsrelevanten Situationen emotional widersprüchliches und inkonsistentes Bindungsverhalten. Kehrt die Bindungsperson nach einer Trennung zurück, wird sie gleichermaßen gesucht wie gemieden. Die Kinder nehmen ihr exploratives Verhalten wieder auf, erstarren dann allerdings plötzlich in ihrer Bewegung (sogenanntes Freezing), drehen sich im Kreis oder werfen sich weinend auf den Boden. Es wirkt für Außenstehende so, als käme es zum abrupten, unvorhersehbaren Zusammenbruch jeglicher organisierten Struktur. Gleichzeitig steigen wie beim unsicher-vermeidend gebundenen Kind die Stresswerte, weil das Kind die Bedrohungssituation nicht auflösen kann, da die Bindungsperson Verursacher und „Auflöser“ der Angst zugleich ist. Das unsicher desorganisierte Bindungsmuster wird häufig von Kindern gezeigt, die im ersten Lebensjahr traumatischen Erlebnissen durch die Bezugsperson ausgesetzt waren, z. B. in Form von Vernachlässigung, körperlichem, sexuellem oder psychischem Missbrauch, oder sich in sogenannten Doppelbindungssituationen (siehe Kasten) befinden. Trotz realer Anwesenheit ist die Bindungsperson emotional unerreichbar für das Kind und unterbricht damit immer wieder das eigentliche Ziel des genetisch angelegten Bindungsverhaltens. Dies führt im psychischen System des Kindes zu einer permanenten Verstörung. Ursachen für das Verhalten der Bindungspersonen sind häufig eigene unverarbeitete Traumata sowie massiver sozialer Stress und / oder Suchterkrankungen. „Das Verhalten des eigenen Kindes, etwa das Schreien eines Säuglings, triggert das einst erlebte Trauma, da es etwa an das eigene Weinen und den eigenen Schmerz erinnert. Dadurch können dissoziative oder auch traumaspezifische und das Kind ängstigende Verhaltensweisen bei der Mutter oder dem Vater ausgelöst werden“ (Brisch 2013, S. 100).

Doppelbindungssituationen (auch: Double-Bind-Situation)

„Bei der Doppelbindungssituation (auch: Beziehungsfalle) ist ein Individuum in eine intensive, ihm lebenswichtige Beziehung eingebunden und empfängt Botschaften, die einander widersprechen; ob das Individuum nun der einen oder der anderen Botschaft folgt – es erhält jedes Mal nur Nachteile, kann aber weder diesem Dilemma sich entziehen noch es aufklären. […] Doppelbindungssituationen verhindern oder zerstören Kommunikationsfähigkeiten: Der Betroffene kann nicht mehr verstehen, was sein Partner wirklich meint“ (Lautmann 2020, S. 160). So erzeugt zum Beispiel eine Mutter eine Double-Bind-Situation, wenn sie die Annäherungen ihres Kindes feindselig zurückweist, dann aber traurig wird und dem Kind Vorwürfe macht, wenn es sich als Reaktion auf ihre Feindseligkeit zurückzieht. Egal, ob das Kind sich zuwendet oder zurückweicht, es muss mit negativen Konsequenzen rechnen.

Auswirkungen auf Beziehungen im Erwachsenenalter

Für Erwachsene, die einen unsicher-desorganisierten Beziehungsstil aufweisen, sind Beziehungen sowohl ein Ort maximaler Bedrohung als auch ersehnter Heilung.

Für Menschen mit unsicher-desorganisiertem Bindungsstil sind Beziehungen sowohl bedrohlich als auch heilsam.

Sie zeigen häufig eine unvorhersehbare, irrationale Paarung typischer Verhaltensweisen des unsicher-vermeidend und des unsicher-ambivalenten Bindungsstils. So können sie in einem Moment sehr zugewandt und freundlich sein und sich kurze Zeit später „auf die Flucht“ begeben oder zum unerwarteten, vermeintlich grundlosen Angriff übergehen. Nach außen ergibt ihr widersprüchliches Verhalten häufig keinen Sinn, weshalb es von Außenstehenden häufig als überdramatisierend interpretiert wird. Für die Betroffenen folgt ihr Verhalten jedoch durchaus einer internen Logik.

Ein typischer Gedanke eines unsicher-desorganisiert Gebundenen könnte z. B. sein: „XY liebt mich nicht. Er tut nur so, weil er mich verletzen und mir etwas Schlimmes antun will. Aber vermutlich habe ich es auch nicht besser verdient.“

Menschen mit unsicher-desorganisierten Beziehungsstil weisen eine höhere Toleranz gegenüber Gewalt auf. Dies gilt sowohl für erlebte als auch ausgeübte Gewalt (Felitti & Anda 2014). Sie geraten demnach häufiger als andere Menschen in einseitig toxische Beziehungsdynamiken, die durch Gewalt und emotionale Abhängigkeit geprägt sind. Ebenso leiden sie häufig unter psychischen und psychosomatischen Erkrankungen oder einer Traumafolgestörung (s. Abschn. 6.1).

Bindung ist Prägung

Die Bindungstheorie betrachtet den Menschen ebenso wie die Systemtheorie nicht als ein im luftleeren Raum lebendes Individuum, sondern als ein soziales Wesen, welches sich von der Geburt bis ins hohe Alter nach emotionaler Verbindung sehnt. Beide Theorien erklären menschliches (Problem-)Verhalten vor dem Hintergrund sozialer Interaktion. Dabei spielen für die Bindungstheoretiker die Beziehungen unserer ersten Lebensjahre eine tragende Rolle, weil das Bindungssystem in dieser Zeit besonders aktiv ist. Wir alle kommen aus bindungstheoretischer Sicht als leeres Blatt Papier auf die Welt. Wir wissen nichts über Beziehung. Unsere Eltern, unsere Geschwister oder andere Bezugspersonen beschreiben nach und nach dieses leere Blatt. Und je älter wir werden, desto mehr stellen wir Bezüge her und versuchen, die Notizen in eine Ordnung zu bringen. So haben wir am Ende einen einmaligen Notizblock, welcher die Vorstellungen über Beziehung, über uns selbst und darüber, ob die Welt ein sicherer oder unsicherer Ort ist, beinhaltet und komprimiert. Wenn du verstehen willst, warum du dich heute so verhältst, wie du dich verhältst, und warum du so denkst, wie du denkst, macht es Sinn, diesen Notizblock lesen zu lernen und die bisherigen Notizen möglicherweise nachträglich zu modifizieren oder zu ergänzen.

1.2 Familie als System mit eigenen Gesetzen, Rollen und Funktionen

Meine Beobachtungen als Beraterin stützen die Erkenntnisse über Bindungsstile und deren Auswirkungen auf das Erwachsenenalter. Ich würde aus systemischer Sicht allerdings einige Ergänzungen vornehmen wollen. Wir wachsen in den meisten Fällen nicht in isolierten dyadischen Konstellationen auf (Mutter – Kind, Vater – Kind), sondern leben in einem komplexen Gefüge aus mehreren Personen. Die Familie kann als Komplex (System) von mehreren größeren oder kleineren „Einzelteilen“ verstanden werden: Individuen und Subsystemen wie Ehe-, Eltern-Kind-, Geschwistersystem. So ist die Beziehung zu unserer Mutter nur ein Bestandteil eines Gesamtsystems, zu dem zum Beispiel ebenfalls Vater und Großmutter gehören (s. Abb. 1.4).

Abbildung 1.4: Die Familie als System

In einem solchen Gesamtsystem sind über die Bindung zu Einzelpersonen hinaus weitere Aspekte für unsere körperliche, seelische und zwischenmenschliche Entwicklung bedeutsam. So nimmt jede Person im Gesamtverbund eine individuelle Rolle ein, die mit einer Funktion verknüpft ist, die für den Erhalt der Familie von Bedeutung ist. Diese Funktion wiederum kann als Grundlage für Glaubenssätze über funktionierende Beziehungen, Liebe und Zuwendung gesehen werden. Wenn du Geschwister hast, hast du vielleicht schon beobachten können, dass ihr viele ähnliche, aber ebenso viele verschiedene Verhaltensweisen und Glaubenssätze habt. Dies liegt u. a. daran, dass Geschwister im Familiensystem unterschiedliche Position innehaben. Und diese bringen jeweils einen anderen Auftrag, eine andere Funktion mit sich. Um toxische Familienbeziehungen erkennen und verstehen zu können, ist es hilfreich zu wissen, dass die Familie als System bestimmten Gesetzen folgt, um reibungslos – „gesund“ – zu funktionieren. Werden diese Gesetze verletzt, hat das für die Familie und ihre Mitglieder gravierende Folgen.

Funktionsaufträge und Glaubenssätze

Familie Meier besteht aus Mutter, Vater und drei Geschwistern. Bei der Mutter wurde eine Depression diagnostiziert. Es gibt Tage, an denen schafft sie es aufgrund der Erkrankung nicht aus dem Bett. Zwischen den Eltern gibt es oft Streit. Die Mutter beschwert sich über den Vater, weil er sie nicht ausreichend unterstütze. Der Vater ist mit der Situation überfordert und zieht sich deshalb oft aus dem Alltagsgeschehen heraus. Da Mutter und Vater immer wieder ausfallen, entstehen Versorgungslücken im Familiensystem. Diese verteilen sich auf die Kinder. So kümmert sich das erstgeborene Kind möglicherweise vermehrt um die erkrankte Mutter und um die jüngeren Geschwister. Sein Auftrag lautet: „Kümmere dich um die Mutter und spring für sie ein!“ Der dazugehörige Glaubenssatz könnte sodann als Erwachsene lauten: „Ich muss mich um die anderen kümmern, um Zuwendung zu erhalten.“ Das mittlere Kind hingegen bekommt beispielsweise den Auftrag, sein Hauptaugenmerk auf den immer wieder angeklagten Vater zu richten. Es wird zum Papakind und versucht, dafür zu sorgen, dass er nicht aus dem System gedrängt werden kann. Sein Auftrag lautet: „Halte Papa im System!“ Hieraus könnte sich für sein späteres Leben möglicherweise folgender Glaubenssatz entwickeln: „Ich muss immer loyal sein, um dazuzugehören.“ Nun braucht es im System noch jemanden, der diese Arbeitsabläufe überwacht. Diese Aufgabe könnte in der Familie Meier dem jüngsten Kind zuteilwerden. Es ist permanent wachsam und behält im Auge, ob für jeden gesorgt ist und ob das Gleichgewicht stimmt. Es springt immer dort ein, wo es gerade gebraucht wird und füllt entstehende Versorgungslücken. Ein aus dieser Funktion heraus resultierender Glaubenssatz könnte sein: „Ich muss Mängel erspüren und ausgleichen sowie sensibel auf Veränderungen reagieren, um geliebt zu werden!“

Wer welche Rolle im Familiensystem einnimmt, hängt u. a. mit der Ordnung zusammen. Ordnung meint hier die Reihenfolge, in der man in die Familie eintritt. So übernehmen z. B. die Ältesten häufig die Rolle des Versorgers, weil sie aufgrund ihres Entwicklungsstandes besser dazu befähigt sind als ein jüngeres Kind. Aber auch das jeweilige Temperament und der Charakter eines Kindes spielen bei der Zuordnung der Funktionen eine Rolle. So wird ein ruhiges, sensibles Kind eher zum Systemüberwacher werden als ein quirliger Springinsfeld.

Wenn Kinder das Gleichgewicht wiederherstellen (müssen)

Familienaufträge sind „stille Aufträge“, sie werden in den seltensten Fällen laut ausgesprochen und wirken oftmals unbewusst.

Familienaufträge werden selten laut ausgesprochen.

Der Bindungsreflex und das damit verbundene Grundbedürfnis, einem überlebensnotwendigen Familienverbund zugehörig sein zu wollen, sorgen vielmehr dafür, dass wir als feinfühlige Kinder offene Aufträge instinktiv und unbewusst übernehmen. Eine Familie kann nur dann ein sicherer Ort sein, wenn das System im Gleichgewicht ist. Eben dieses Gleichgewicht stellen Kinder bedürftiger Eltern her, indem sie die Funktionen, die eigentlich von den Erwachsenen erfüllt werden müssten, übernehmen. Dabei gibt es umso mehr Aufträge, je bedürftiger die eigentlichen Funktionsträger sind. Unsere Aufträge geben wir übrigens nicht mit unserem achtzehnten Lebensjahr an der Tür ab. Jede Funktion wird so lange erfüllt, bis sie entweder von einem anderen Verbundmitglied übernommen oder nicht mehr benötigt wird, z. B. weil die Mutter (im obigen Beispiel) von ihrer Depression geheilt wird oder die Eltern einen Weg finden, ihre Probleme zu klären.

Zusammenfassung