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Mit 12 Jahren begeht Jana ihren ersten Selbstmordversuch. Ihre Eltern sind Alkoholiker und haben für ihre Tochter nichts übrig außer Beschimpfungen, Schlägen und Tritten. Oft muss sie nachts vor der Wohnung auf der Fußmatte schlafen wie ein Hund. Jana schließt sich einer kriminellen Jugendgang an und liefert das erbeutete Diebesgut regelmäßig bei der Mutter ab, deren Respekt sie sich so zu erkämpfen versucht. Aus Sehnsucht nach Liebe beginnt Jana mit 15 ein Verhältnis mit einem Mann, der ihr Vertrauen missbraucht und sie an einen befreundeten Bordellbetreiber vermittelt. Weiterhin liefert sie einen Großteil ihrer Einnahmen bei der Mutter ab, die ihr mit der Polizei droht, wenn das Geld ausbleiben sollte. Als sie ihr Leben nur noch im Alkohol- und Drogenrausch ertragen kann und sich immer weiter auf den Abgrund zubewegt, trifft sie eine folgenschwere Entscheidung. Es hat Jahre gedauert, bis Jana die Kraft fand, ihr Trauma zu überwinden und anderen von ihrem Leben zu erzählen. Dieses Buch ist der erschütternde Schicksalsbericht eines Kindes auf der verzweifelten Suche nach Liebe.
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Seitenzahl: 265
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.
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3. Auflage 2021
© 2013 by mvg Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH,
Türkenstraße 89
80799 München
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Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Textbearbeitung: Dr. Elke Jahnke, Stuttgart
Redaktion: Kerstin Weber, Rosenheim
Umschlaggestaltung: Pamela Günther
Umschlagabbildung: Friedrich/www.fredmcfar.com
Satz und E-Book: Grafikstudio Foerster, Belgern
ISBN Print 978-3-86882-287-8
ISBN E-Book (PDF) 978-3-86415-318-1
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-86415-319-8
Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter
www.mvg-verlag.de
Alles, was in diesem Buch beschrieben wird, ist tatsächlich so passiert. Zum Schutz der vorkommenden Personen wurden alle Namen sowie einige Orte und Details geändert.
Leise huschte ich ins Badezimmer. Mit fliegenden Fingern durchwühlte ich die Schubladen. Wo waren bloß die Rasierklingen meines Stiefvaters? Da! Gefunden! Einen Augenblick lang zögerte ich, doch die Verzweiflung trieb mich an. Ich nahm eine der Klingen und schlich in mein Zimmer zurück. »Jetzt wird sich alles ändern! Mama liebt mich! Sie wird sich um mich kümmern und mich pflegen!«, ging es mir unablässig durch den Kopf. Wie sehr sehnte ich mich nach ihrer Liebe! Für ein Lächeln, ein freundliches Wort oder gar eine Umarmung hätte ich alles getan. »Ja! Alles wird gut!«, machte ich mir noch einmal Mut. Dann setzte ich die Rasierklinge an und schnitt mir damit quer über den linken Unterarm. Die scharfe Klinge drang tief in mein Fleisch ein. Ein schrecklicher Schmerz durchfuhr mich. Mein Arm zuckte unwillkürlich zurück. »Mach weiter!«, befahl ich mir selbst. »Los! Weiter!« Gehorsam zog meine Hand ein paar Zentimeter höher erneut die Klinge über den Arm. Wieder dieser schreckliche Schmerz. In Sekundenschnelle färbte sich das weiße Fleisch blutrot. Mir wurde schwindelig. In meinen Ohren rauschte es. Doch meine Hand machte immer weiter. Als mein linker Unterarm voller Schnittwunden war, wandte ich mich dem rechten zu. Halb ohnmächtig vor Schmerz betrachtete ich schließlich meine beiden blutverschmierten Arme. Tapfer ertrug ich die Qualen, würde ich damit doch endlich die Liebe meiner Mutter wecken. Am nächsten Morgen, sobald mein Stiefvater zur Arbeit gegangen war, wollte ich ihr die Wunden zeigen. Nun aber musste ich zunächst die Blutungen stillen, was mir jedoch einfach nicht gelingen wollte. Unaufhörlich strömte das Blut an meinen Armen herab. Was sollte ich nur tun? Panik ergriff mich. Ohne zu überlegen, rannte ich zu meiner Mutter ins Wohnzimmer und streckte ihr wortlos meine Arme entgegen. Sie warf nur einen angewiderten Blick darauf, dann schrie sie mich an: »Du dämliche Idiotin! Warum hast du das getan?« »Für dich Mama! Ich habe es für dich getan!«, flüsterte ich schüchtern. Für einen Moment keimte in mir die Hoffnung auf, dass meine Mutter sich doch noch erschrecken, mir beruhigende Worte zuflüstern und mich schnellstens ins Krankenhaus fahren würde. Aber dieses Wunder geschah nicht. Stattdessen hob sie ihren rechten Arm, holte aus und schlug mir mit voller Wucht ins Gesicht. Tränen stiegen in mir hoch, doch ich schluckte sie hinunter. Ich hatte mir schon lange abgewöhnt, vor ihr zu weinen, weil meine Tränen sie stets noch zorniger machten. Ohne ein weiteres Wort drehte ich mich um und rannte erneut ins Badezimmer. Ich nahm mir zwei Hemden von dem Berg dreckiger Wäsche, der dort seit Wochen lag, und wickelte sie um meine Arme. Nach einer Weile stellte ich erleichtert fest, dass die Wunden nicht mehr bluteten.
Ein paar Tage später bekam ich Fieber. Meine Wunden hatten sich fürchterlich entzündet und meine Arme schwollen so stark an, dass ich die Hände nicht mehr bewegen konnte. Sie waren wie zwei pralle Luftballons kurz vor dem Zerplatzen. Nicht einmal eine Scheibe Brot konnte ich halten. Während ich in meinem Zimmer vor mich hindämmerte, hungrig und durstig, verschlechterte sich die Stimmung meiner Mutter zusehends. Allerdings nicht aus Sorge um mich, sondern weil ich ihr in meinem Zustand keine neuen Tabletten beschaffen konnte. Voller Angst wartete ich auf den Moment, bis sie wieder ausrasten würde. Tatsächlich dauerte es nicht lange, und sie stürmte mit wütendem Gesicht in mein Zimmer, packte mit einer Hand mein Haar und zerrte mich über den Boden, während sie mit der anderen Faust wie wild auf meinen Schädel einhämmerte. Unwillkürlich hob ich meine zerschnittenen Arme, um meinen Kopf zu schützen. Ihre Fausthiebe trafen meine Wunden, und sie platzten auf. Ich spürte, wie die warme, eitrige Flüssigkeit über meine Arme rann und die Ärmel meiner Bluse komplett durchnässte. »Hör auf, Mama! Bitte hör auf!«, flehte ich unter fürchterlichen Schmerzen. Doch vergeblich. Unablässig prügelte sie weiter auf mich ein. Schließlich gelang es mir mit letzter Kraft, mich von ihr loszureißen und aus der Wohnung zu stürmen. Völlig aufgelöst und ohne zu wissen wohin, rannte ich die Straße entlang. »Nichts wird sich ändern! Gar nichts!«, schluchzte ich verzweifelt und ließ meinen Tränen endlich freien Lauf. Was ich auch versuchte, nie würde meine Mutter mir jene Liebe und Geborgenheit schenken, nach der meine gequälte Seele sich so sehr sehnte. Ich fühlte mich unendlich einsam, hilflos und leer. Kein Mensch schien sich für mich zu interessieren. Niemand achtete darauf, ob ich regelmäßig zu essen bekam und wie es mir in der Schule erging. Keiner beschützte mich vor den grausamen Schlägen meiner Mutter. Dabei war ich doch erst 13!
Bereits vor jenem Erlebnis war meine Kindheit alles andere als behütet gewesen. Ich wurde 1978 in Polen geboren, in einer Stadt östlich von Danzig. Damals mussten die Menschen oft Schlange stehen, um Lebensmittel oder Kleidung kaufen zu können. Kaffee, Schokolade und Toilettenpapier bekam man – wie in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg – nur gegen Vorlage entsprechender Marken. Da in der Stadt keine Industrie ansässig war, verdienten die Leute ihr Geld – dank einiger historischer Sehenswürdigkeiten – hauptsächlich durch den Tourismus. Wer jedoch im Fremdenverkehr keine Arbeit fand, hatte schlechte Karten, denn andere Beschäftigungsmöglichkeiten existierten kaum. Deshalb gab es nach dem Fall des Eisernen Vorhangs zahlreiche Arbeitslose, von denen nicht wenige zur Flasche griffen. Das zeigte sich besonders in der Altstadt und im Park, in dem häufig betrunkene, verwahrlost aussehende Gestalten umhertorkelten. Nicht weit von der Wohnsiedlung entfernt, in der ich mit meinen Eltern in einer kleinen Dreizimmerwohnung gelebt hatte, befanden sich eine Entzugsklinik, eine Psychiatrie sowie mehrere Polizeidienststellen. Und es war ein offenes Geheimnis, dass einige der Arbeitslosen kriminellen Geschäften nachgingen.
Auch mein Vater war Alkoholiker, und das weit vor dem Ende des Kommunismus. Wenn er endlich einmal eine Stelle als Lkw-Fahrer gefunden hatte, verlor er sie kurze Zeit später schon wieder wegen Trunkenheit am Steuer. Er war groß, blond, durchtrainiert und besaß sogar den schwarzen Gürtel im Judo. In unserem Viertel hatte er den Ruf eines brutalen Schlägers, dem man besser aus dem Weg ging. Denn selbst ohne Provokation ließ er seinen Aggressionen freien Lauf und schlug schnell zu, was ich viele Male am eigenen Leib zu spüren bekam. Zu Kindern hatte er keinerlei Bezug. Als Kleinkind war ich für ihn nichts weiter als eine lebendige Puppe, mit der er seine sadistischen Spielchen treiben konnte. Ich erinnere mich beispielsweise daran, wie meine Eltern mit mir, als ich drei Jahre alt war, in einem nahe gelegenen Waldstück spazieren gingen. Dort gab es eine Brücke, die über einen breiten Fluss mit starker Strömung führte. Als wir mitten auf der Brücke waren, riss mein Vater mich plötzlich hoch und ließ mich jenseits des Geländers über den reißenden Fluten baumeln. Das bedrohlich laute Rauschen des Wassers versetzte mich in Todesangst und ich begann zu brüllen. »Papa, nein! Bitte! Mama, Mama, hilf mir!«, flehte ich in das schallende Gelächter meines Vaters hinein. Meine Oma hatte mir eingeschärft, niemals zu nahe an den Fluss zu gehen, und jetzt konnte ich das Wasser schon fast an meinen Zehenspitzen spüren! Doch auch meine Mutter griff nicht ein. Sie lachte nur ebenfalls aus vollem Hals, während ich panisch über den unheilvollen Wassermassen strampelte. Erbarmungslos ließ mein Vater mich so lange weiterzappeln, bis ich vor Erschöpfung nicht mehr schreien konnte und nur noch leise wimmerte. Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, bis er mich endlich wieder über das Brückengeländer hob. Ich weiß noch, dass ich am ganzen Leib zitterte, als ich festen Boden unter meinen Füßen spürte. Von diesem Tag an schlug mir jedes Mal das Herz bis zum Hals, wenn ich das Wort »Spaziergang« hörte. Am liebsten hätte ich mich dann auf wundersame Weise unsichtbar gemacht, wie die Figuren im Märchen. Doch in der traurigen Wirklichkeit gab es für mich kein Entrinnen. Ich war meinen Eltern ausgeliefert.
Bei meiner Geburt war meine Mutter 21 Jahre alt gewesen. Bis zu ihrer Heirat hatte sie bei meiner Großmutter gelebt und es sich bei ihr gut gehen lassen. Gearbeitet hat sie nie. Auch als Hausfrau verspürte sie wenig Neigung, die anfallenden Tätigkeiten zu erledigen. Ihr Lieblingsplatz war der Sessel vor dem Fernseher. Unsere dreckige Wäsche stopfte sie einmal pro Woche in große Taschen und brachte sie zu ihrer Mutter, die sich auch um unser Mittagessen kümmerte. Meine Oma wohnte ganz in der Nähe, nur durch einen kleinen Park von uns getrennt, und sobald ich alt genug war, gehörte es zu meinen täglichen Pflichten, unser Essen bei ihr abzuholen. Außer zu meiner Oma und meinem Vater hatte meine Mutter zu kaum jemandem Kontakt. Aufgrund ihrer scharfen Zunge und ihrer Vorliebe für Klatsch und Tratsch gingen alle Freundschaften schnell in die Brüche, und auch unsere Nachbarn wahrten ihr gegenüber Distanz. Und so machte mein Vater sie mit seinem engsten Freund bekannt, der schon bald auch zu ihrem ständigen Gefährten werden sollte: dem Wodka.
Jedes Wochenende fand bei uns zu Hause das gleiche Drama statt: Samstags füllten sich meine Eltern so lange mit Wodka ab, bis sie volltrunken ins Bett sanken. Sonntags schliefen sie dann meist bis in den Nachmittag hinein ihren Rausch aus. Während sie im Bett vor sich hin dämmerten, setzte ich mich oft ans Küchenfenster, um die Familien auf den gegenüberliegenden Grünflächen zu beobachten: Eltern, die ihren Kindern liebevoll über den Kopf strichen, mit ihnen Ball spielten oder mit ihnen zusammen einen selbst gebackenen Kuchen aßen. Wenn ich das glückliche Lächeln auf ihren Gesichtern sah, wurde ich immer trauriger. Wie gern wäre ich an ihrer Stelle gewesen! Stattdessen verbrachte ich Wochenende für Wochenende in völliger Einsamkeit. Niemand richtete auch nur ein Wort an mich. Keiner aß mit mir zu Mittag. Spielsachen besaß ich auch keine, nicht einmal eine Puppe, die mir hätte Gesellschaft leisten können.
Ich war sechs Jahre alt, als ich wieder einmal stundenlang allein vor dem Fenster gesessen hatte. Schließlich nahm ich all meinen Mut zusammen und betrat das Schlafzimmer meiner Eltern. Unschlüssig stand ich vor ihrem Bett, bis ich mich dazu durchrang, sie zu wecken. »Mama? Papa? Darf ich bitte in ein Kinderheim?«, bat ich vorsichtig. Meine Eltern schauten sich einen Augenblick lang verdutzt an. Dann brachen sie in schallendes Gelächter aus, so amüsant fanden sie offenbar meine Bitte. Ich hingegen schlich mit hängenden Schultern wieder aus dem Zimmer. In einem Kinderheim, so dachte ich mir, würde es doch bestimmt Erwachsene geben, die sich um einen kümmerten. Und vor allem andere Kinder, mit denen ich spielen und Spaß haben könnte. Mehr wünschte ich mir ja gar nicht!
In einem Kinderheim hätte ich auch nicht immer wieder mitansehen müssen, wie zwei Erwachsene im Vollrausch aufeinander losgingen. Die wüsten Beschimpfungen meiner Eltern mündeten ziemlich schnell in brutale Handgreiflichkeiten, die erst dann endeten, wenn einer von ihnen bewusstlos am Boden lag. Anfangs verfolgte ich ihre Prügeleien noch verstohlen von der Wohnzimmertür aus. »Halt die Klappe, du Dreckstück!«, schnauzte mein Vater meine Mutter an, und schon klatschte er ihr eine Ohrfeige ins Gesicht. »Scheißkerl! Dir werd ich’s zeigen!«, schrie meine Mutter daraufhin, stürmte in die Küche und kam mit einer schweren Eisenpfanne zurück, die sie meinem Vater auf den Kopf knallte. Mit schmerzverzerrtem Gesicht stieß mein Vater meine Mutter von sich. Sie fiel rücklings auf die Couch, rappelte sich leicht schwankend wieder auf und stürzte sich erneut mit der Pfanne auf ihn, um ihm den nächsten Schlag zu verpassen. Mein Vater torkelte etwas, während meine Mutter in blinder Wut zu einem weiteren Hieb ausholte … Fast immer floss Blut. Als ich meinen Vater einmal ohnmächtig in einer Blutlache liegen sah, dachte ich, er wäre tot. Jedes Mal hatte ich schreckliche Angst, dass sie einander umbringen würden. Doch ich konnte nichts weiter tun, als hilflos zusehen. Wenn ich etwas gesagt hätte, wären sie in ihrem Rausch vielleicht auf mich losgegangen. Deshalb zog ich es nach einer Weile vor, mich unter meinem Bett zu verstecken, bis das Geschrei und Gepolter im Wohnzimmer vorbei war. Hin und wieder alarmierten unsere Nachbarn die Polizei – und dann machte mein Herz vor Freude einen kleinen Hüpfer. Denn während die Polizisten meine Eltern zur Ausnüchterung mit aufs Revier nahmen, durfte ich zu meiner Oma, die sich stets liebevoll um mich kümmerte.
Davon konnte bei meinen Eltern nicht die Rede sein. Ich musste sie sogar zu ihren dubiosen Verabredungen in den Park begleiten. »Ich bringe eine Flasche Wodka mit«, pflegte mein Vater seinem Arbeitskollegen oder Bekannten anzukündigen, sodass dieser von einer fröhlichen Zecherei im Grünen ausging. Ich aber wusste es bereits besser! Sobald der andere sein Wodkaglas geleert hatte, füllte mein Vater es gleich wieder auf. Auch sich selbst goss er nach, doch während der Alkohol die Sinne des anderen mehr und mehr vernebelte, kippte mein Vater den Inhalt seines Glases bei jeder Runde unauffällig hinter sich ins Gestrüpp. Meine Mutter und er warfen sich vielsagende Blicke zu: »Zwei, drei Gläser noch. Dann haben wir ihn so weit.« Mit klopfendem Herzen beobachtete ich sie von meinem Unterschlupf im Gebüsch aus. Wenn sich der Betrunkene kaum noch auf den Beinen halten konnte, reichte mein Vater meiner Mutter die Wodkaflasche, holte aus und schlug dem Mann mit der Faust mitten ins Gesicht. Völlig überrascht fiel dieser nach hinten um. Schon legte mein Vater nach und versetzte ihm weitere Schläge in den Magen, bis der Mann sich vor Schmerzen am Boden krümmte. Daraufhin durchsuchte mein Vater die Taschen des Betrunkenen und stopfte sich das Geld, das er fand, mit einem zufriedenen Lächeln in die eigene Hosentasche. Währenddessen zog meine Mutter mich aus dem Gebüsch heraus und schleifte mich ohne einen weiteren Blick auf das Opfer nach Hause. Ärger mit der Polizei hatte mein Vater nicht zu befürchten, da die Ausgeraubten auf eine Anzeige verzichteten. Sein Ruf als brutaler Schläger machte sich im wahrsten Sinne des Wortes bezahlt: Die Männer bewahrten Stillschweigen und nahmen lieber die Schmerzen und den Verlust ihres Geldes hin, als das Risiko einzugehen, von meinem Vater aus Rache zu Tode geprügelt zu werden.
Ganz ohne Folgen blieben die Orgien meiner Eltern jedoch nicht. Wenn sie sich wieder einmal vollgesoffen hatten, bekam meine Mutter oft mitten in der Nacht eine Panikattacke. Mit schweißnassem Gesicht rang sie nach Luft und röchelte so schrecklich, dass mein Vater den Notarzt rief. Manchmal übernahm das auch Großmutter. Hin und wieder schaute sie bei uns vorbei, wenn sie zu später Stunde noch eine kleine Runde mit ihrem Schäferhund drehte. Sie ahnte dann wohl schon, dass meine Eltern sich wieder hatten volllaufen lassen, und wollte nach dem Rechten sehen. Wenn meine Mutter in diesem Zustand war, hatte ich jedes Mal fürchterliche Angst, dass sie sterben könnte. Ich war fest davon überzeugt, dass sie todkrank war. Erst recht, als meine Mutter immer wieder plötzlich in Ohnmacht fiel. Manchmal geschah es mitten auf der Straße oder beim Einkaufen. Wenn der Krankenwagen dann mit ihr wegfuhr und ich allein zurückblieb, rannte ich so schnell ich konnte zu meiner Oma. Bei ihr, das wusste ich, würde ich immer Trost finden.
Der Alkohol war nicht das einzige Gift, mit dem meine Mutter ihren Körper ruinierte. Als ich fünf Jahre alt war, fing sie an, Beruhigungstabletten zu schlucken. Vielleicht litt sie zunehmend unter den brutalen Übergriffen meines Vaters, vielleicht war ihre Nervosität auch auf den Alkohol zurückzuführen. Jedenfalls fiel mir auf, dass sie mehrmals täglich in ihre Hosentasche griff, um ein kleines Röhrchen mit Tabletten hervorzuholen. »Die brauche ich gegen mein Asthma«, erklärte sie mir barsch, als sie einmal bemerkte, wie ich sie dabei beobachtete.
Mit der Zeit wurde meine Mutter immer übellauniger. Als ich in die Grundschule kam, verlangte sie von mir absolute Perfektion. »Deine Schrift ist hässlich! Die kann ja keiner lesen!«, schnauzte sie mich oft an, wenn ich Schönschreibübungen machte. »Los, noch mal!« Und ehe ich mich versah, hatte sie die betreffende Seite aus meinem Heft herausgerissen. Gehorsam fing ich noch mal von vorn an. Meist beugte sie sich kurz darauf erneut über mich und keifte: »Das ist ja kein bisschen besser! Du bist einfach zu blöd!« Schon war mein Heft um eine weitere Seite ärmer. Auf diese Weise terrorisierte sie mich manchmal den ganzen Nachmittag über, bis mein ursprünglich 16-seitiges Heft schließlich nur noch aus vier kümmerlichen Seiten bestand. »Was ist denn mit deinem Schulheft passiert?«, fragte mich meine Lehrerin dann am nächsten Tag. Vor Scham lief ich rot an, aber ich traute mich nicht, ihr die Wahrheit zu sagen. Nach einer Weile hörte sie auf, mich danach zu fragen.
Wenn meine Mutter nicht zu Hause war, hatte ich allerdings noch mehr Angst. Meistens zog ich mich ins Wohnzimmer zurück und schaltete den Fernseher ein, um mich davon abzulenken, dass ich mit meinem Vater allein war. So auch an jenem Nachmittag, als ich bereits in die zweite Klasse ging und meine Mutter Besorgungen machte. Um meinen Vater nicht zu stören, stellte ich den Fernseher ganz leise, denn in unserer kleinen Wohnung waren die Räume sehr hellhörig. Nach einer Weile hörte ich komische Geräusche, die aus dem Schlafzimmer kamen. Es klang, als ob jemand stöhnte. »Vielleicht ist mit Papa etwas nicht in Ordnung?«, überlegte ich. Ich stand auf und schlich zum Schlafzimmer. Als ich die Tür vorsichtig einen Spalt breit öffnete, erspähte ich als Erstes den nackten Oberkörper meines Vaters im Ehebett meiner Eltern. Doch er war nicht allein: Unter ihm lag unsere Nachbarin. Verwirrt schloss ich die Tür wieder.
Diese seltsame Beobachtung ging mir natürlich nicht mehr aus dem Kopf. Am Abend erzählte ich meiner Mutter in der Küche, was ich gesehen hatte. Mit jedem Satz verfinsterte sich ihr Gesicht mehr, ihre Augen verwandelten sich in schmale Schlitze und ihre Nasenflügel bebten. Plötzlich riss sie ruckartig eine Schranktür auf, holte einen Topf nach dem anderen heraus und schleuderte sie mit voller Wucht auf den Boden. Bei jedem Knall zuckte ich zusammen. Ich hoffte inständig, dass sie ihre Wut nicht an mir auslassen würde. Doch da stürmte sie auch schon ins Wohnzimmer, wo mein Vater gerade vor dem Fernseher saß. »Du Scheißkerl, nicht genug damit, dass du keine Arbeit hast, jetzt betrügst du mich auch noch!«, schrie sie. »Ach, lass mich doch in Ruhe, du blöde Kuh!«, schnauzte mein Vater zurück. »Und ausgerechnet mit dieser ekelhaften, hässlichen Schlampe!«, hörte ich erneut die schrille Stimme meiner Mutter. Ich seufzte traurig. Es war klar, dass sie jetzt wieder stundenlang streiten würden. Also stapfte ich über die Kochtöpfe hinweg aus der Küche, trottete in mein Zimmer, legte mich aufs Bett und hielt mir die Ohren zu.
Um sich an meinem Vater zu rächen, beschloss meine Mutter, es ihm gleichzutun und ihn nach Strich und Faden zu betrügen. Dabei scheute sie auch nicht davor zurück, ihre ständig wechselnden Liebhaber mitzubringen, während ich zu Hause war. Mittlerweile wusste ich, was das Gestöhne bedeutete. Mit jedem neuen Männergesicht, das in der Tür auftauchte, wurde ich trauriger. Mein Traum von einer liebevollen Familie würde sich nun erst recht nicht mehr erfüllen, das spürte ich. Wie gut hatte es doch mein Cousin Martin, der zusammen mit meiner Tante bei Großmutter wohnte. Da mein Onkel auf einer Bohrinsel arbeitete, sah Martin ihn zwar nur selten, aber dafür wurde er von den beiden Frauen wie ein kleiner Prinz verwöhnt. Er hatte alles – Liebe, Geborgenheit, Spielsachen –, wovon ich nur träumen konnte.
Der Rachefeldzug meiner Mutter verschaffte ihr allerdings kein Gefühl der Befriedigung. Im Gegenteil – ihre Laune wurde von Woche zu Woche schlechter, und immer öfter holte sie ihr Tablettenröhrchen aus der Hosentasche.
Trotz ihrer beiderseitigen Affären veranstalteten meine Eltern am Wochenende auch weiterhin ihre gemeinsamen Saufgelage. Eines Samstags ging meine Mutter in den Keller und kehrte, während sie unverständlich vor sich hin lallte, mit einem langen Seil zurück. Ich zuckte unwillkürlich zusammen, als ich ihr bleiches Gesicht mit den trüben blauen Augen sah, umrahmt von wirrem Haar. Sie schwankte ins Wohnzimmer, wo mein Vater stockbetrunken auf der Couch lag. »Ich habe genug von dir, du Scheißkerl!«, stieß sie hervor. »Ich werde mich erhängen!« Starr vor Schreck stand ich im Türrahmen, während ihre Worte in meinen Ohren wie ein Echo widerhallten: erhängen, erhängen, erhängen … Erst als sie schon an mir vorbeigewankt war und gerade die Badezimmertür öffnete, konnte ich mich aus meiner Starre lösen. Hastig stürmte ich hinter ihr her, warf mich auf die Knie und umklammerte ihre Beine. »Mama, tu das nicht! Bitte! Ich will, dass du bei mir bleibst! Du bist doch meine Mama!«, flehte ich, während sie mit ausgestreckten Händen versuchte, das Seil an einem Wasserrohr zu verknoten, welches an der Decke entlanglief. »Mama, nicht! Bitte, bitte nicht!«, wiederholte ich und presste mich noch fester an ihre Beine. Meine Mutter schien mich überhaupt nicht wahrzunehmen und fuhr ungerührt in ihrem Versuch fort, das Seil festzubinden. Doch dieses eine Mal sollte der Alkohol mein Verbündeter sein. Ihr wodkagetrübter Blick und ihr wankender Oberkörper verhinderten nämlich, dass sie ihr Vorhaben in die Tat umsetzen konnte. Nach mehreren vergeblichen Anläufen senkte sie schließlich die Arme und ließ das Seil auf den Boden fallen. Langsam löste ich meine Umklammerung und schaute zu meiner Mutter empor. Was würde sie jetzt tun? Sie schien es selbst nicht zu wissen. Für ein paar Sekunden starrten ihre glasigen Augen ins Leere, dann setzte sie sich in Bewegung, schwankte ins Schlafzimmer und ließ sich aufs Bett plumpsen. Erschöpft, verstört und erleichtert zugleich wartete ich darauf, dass mein hämmerndes Herz sich wieder beruhigen würde. Aus dem Wohnzimmer hörte ich das Schnarchen meines Vaters.
Am nächsten Morgen ging ich durch den Park zu meiner Oma, setzte mich auf ihren Schoß und erzählte ihr von dem Vorfall. Sie legte ihre Arme um mich, strich mir sanft über mein langes blondes Haar und sagte: »Das hast du gut gemacht! Du bist mein liebes, kluges Mädchen. Ich bin sehr stolz auf dich, Januschka.« Der zärtliche Klang ihrer Stimme wirkte Wunder. Plötzlich war die Angst, die bei der Erinnerung an den Selbstmordversuch erneut in mir hochgekrochen war, wie weggezaubert. Ich konnte wieder ruhig atmen und fühlte mich sicher und geborgen. Das hast du gut gemacht, hallte der Satz meiner Großmutter in meinen Gedanken nach. »Vielleicht bin ich gar nicht so dumm, wie Mama immer sagt«, dachte ich. »Bestimmt könnte ich jetzt sogar eine ganze Seite fehlerfrei und in schönster Schrift in mein Schulheft schreiben. Vielleicht sogar zwei Seiten oder drei oder vier auf einmal.« Auf dem Schoß meiner Oma schien mir alles möglich. Ich malte mir aus, wie meine Lehrerin endlich einmal auch mich vor der ganzen Klasse loben würde. Dabei schloss ich die Augen, lächelte zufrieden und kuschelte mich noch enger an meine Großmutter. Wie schön es hier war. Wenn ich doch nur für immer bei ihr bleiben könnte.
In der nächsten Nacht wurde ich von einem dumpfen Schmerz auf meinem Schädel aus dem Schlaf gerissen. Als ich die Augen öffnete, sah ich meinen Vater vor meinem Bett stehen und mit seinem Hausschuh auf mich einschlagen. »Das ist die Strafe, weil du bei Oma gepetzt hast!«, schnauzte er mich an. Mit einem Mal war ich hellwach. Offenbar hatte meine Oma versucht, meiner Mutter ins Gewissen zu reden. Erbost darüber, dass ich sie »angeschwärzt« hatte, war diese sogleich zu meinem Vater gelaufen. Wenn mein Vater erst mal anfing zu prügeln, hörte er so schnell nicht wieder auf. Ich spürte bereits den Geschmack von Blut in meinem Mund und hatte nur noch einen Gedanken: »Ich muss hier weg!« Im nächsten Augenblick sprang ich auch schon aus dem Bett und rannte aus meinem Zimmer in Richtung Wohnungstür. Ob sie wohl mitten in der Nacht verschlossen war? Mit der Hand auf der Klinke warf ich blitzschnell noch einen Blick über die Schulter und sah meinen Vater aus dem Zimmer kommen. Jetzt zählte jede Sekunde. Ich drückte die Klinke herunter. Gott sei Dank! Die Tür ging auf! Schon war ich im Hausflur und rannte die steinernen Treppen hinunter. Unten angekommen, riss ich die Haustür auf und stürmte hinaus in die Nacht. Eisige Kälte umfing mich. Es war stockfinster. Doch die Angst vor der Dunkelheit war nichts im Vergleich zu der Angst vor meinem Vater. Es gab nur einen Ort, an dem ich sicher war: bei meiner Oma. Barfuß stolperte ich im Pyjama die Straße entlang und durch den Park, hinter dem meine Großmutter wohnte. Die hohen Bäume kamen mir in der Dunkelheit wie schwarze Riesen vor. »Weiter! Lauf weiter!«, feuerte ich mich selbst an. Unter mir knackte es unentwegt, da die herabgefallenen Zweige in meine Fußsohlen stachen, während mir die Kälte ins Gesicht schnitt. Vollkommen außer Atem erreichte ich schließlich nach etwa einem Kilometer das Mietshaus, in dem Großmutter wohnte. Ich drückte auf den Klingelknopf neben ihrem Namen. Nichts. Ich klingelte erneut. Da ertönte ein Summen. Ich stieß die Haustür auf, ging hinein und erblickte durch die einen Spalt breit geöffnete Wohnungstür das verschlafene Gesicht meiner Oma. Als sie mich erkannte, riss sie erschrocken die Augen auf. »Omi!«, rief ich erleichtert, bevor ich mich erschöpft an sie klammerte.
Obwohl meine Großmutter von Anfang an gegen die Ehe meiner Eltern gewesen war, hatte sie ihnen die Verantwortung für mich nicht abnehmen wollen. So oft ich mich auch zu ihr geflüchtet hatte, weil ich es zu Hause nicht mehr aushielt, hatte sie mich doch immer wieder zu meinen Eltern zurückgeschickt. Sicherlich hatte sie gewollt, dass unsere Familie zusammenblieb. Vielleicht hatte sie auch insgeheim gehofft, dass meine Mutter sich doch noch ändern und gut für mich sorgen würde. Aber diesmal war es anders. Wahrscheinlich gab Großmutter nun endgültig alle Hoffnung auf, dass meine Eltern ihr Lotterleben jemals mir zu Liebe beenden würden. Vielleicht befürchtete sie auch beim Anblick der Beulen auf meinem Kopf, dass mein Vater mich bei der nächsten Prügelei ernsthaft verletzen könnte. Auf jeden Fall fasste sie nach meiner mitternächtlichen Flucht den Entschluss: »Du kannst bei mir bleiben, Januschka.« Als sie mir das am nächsten Tag eröffnete, traute ich meinen Ohren kaum. »Für immer?«, fragte ich zaghaft. »Ja, für immer«, bestätigte sie lächelnd. Ich fiel ihr um den Hals und konnte mein Glück kaum fassen. Keine Schläge mehr, kein Geschrei, keine einsamen Wochenenden am Küchenfenster. Stattdessen Umarmungen, Gespräche und liebevoll zubereitete, gemeinsame Mahlzeiten. Außerdem konnte ich künftig jeden Tag mit meinem Cousin spielen. Ich hatte das große Los gezogen!
»Schlaf schön, Januschka«, sagte meine Oma sanft, löschte das Licht und schloss die Schlafzimmertür. Ich kuschelte mich noch ein wenig tiefer in die frisch duftende Bettwäsche und stellte mir vor, wie Oma es sich jetzt im Wohnzimmer in ihrem gemütlichen Lieblingssessel mit den Armlehnen bequem machen und noch ein Weilchen lesen würde. Am Ende eines langen Tages lehnte sie gern ihren Kopf mit dem stets adretten Haarknoten in den Sessel zurück, schlug ein Buch auf und ließ sich von der Geschichte darin in eine andere Welt entführen. Das war in Ordnung für mich, solange sie nur nicht wirklich wegging, sondern in meiner Nähe blieb. Daher mochte ich es auch am liebsten, wenn sie mit mir zusammen schlafen ging und sich – dicht neben mir liegend – in ihre Bettlektüre vertiefte. Denn eines stand für mich fest: Wenn Oma bei mir war, konnte mir nichts passieren! Bei ihr fühlte ich mich sicher und beschützt wie ein Vögelchen in seinem Nest.
Nach den angsterfüllten Jahren bei meinen Eltern konnte ich von Großmutters liebevoller Fürsorge gar nicht genug bekommen. Es war einfach himmlisch, wenn sie mich in ihre Arme nahm und an sich drückte, mir zärtlich übers Haar strich oder mir einen Gutenachtkuss auf die Stirn gab. Und wenn ich morgens aufwachte, begrüßte sie mich mit einem freundlichen Lächeln. Welch ein schöner Start in den Tag! Ihre sanfte Stimme passte wunderbar zu ihrem warmherzigen Charakter. Nicht ein einziges Mal habe ich meine Großmutter schreien hören. Sie war ein durch und durch friedfertiger Mensch, der jegliche Art von Gewalt verabscheute. Nie im Leben wäre es ihr in den Sinn gekommen, mich zu schlagen. Als ehemalige Polnischlehrerin liebte sie nicht nur die Literatur, sie glaubte auch an die Kraft des Wortes. Ihr offener, verständnisvoller Blick aus den aufmerksamen blauen Augen weckte in mir stets das wärmende Gefühl des Vertrauens. Meine Oma zeigte mir, was eine richtige Familie ausmacht: füreinander da zu sein, miteinander Zeit zu verbringen und sich für die Gedanken und Empfindungen des anderen zu interessieren. Im Gegensatz zu meinen Eltern wollte Großmutter mich um sich haben. Ja, es machte ihr ganz offensichtlich Freude, dass ich bei ihr lebte. Das war eine völlig neue Erfahrung für mich! Zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich mich nicht wie das fünfte Rad am Wagen. Ich fühlte mich vielmehr wie ein sorgsam gehüteter Talisman, den man immer bei sich trägt. Großmutter nahm mich überallhin mit, zum Einkaufen, zur Post, in die Apotheke. Bis auf die Zeit in der Schule waren wir zwei von morgens bis abends zusammen. Und ihr braver Schäferhund Aro war stets mit von der Partie. Er hatte nichts von einem scharfen Wachhund, sondern war sehr lieb und anhänglich. Aro muss instinktiv gespürt haben, dass ich Tiere mochte, denn er suchte immer meine Nähe, ließ sich von mir den Rücken kraulen oder machte es sich zu meinen Füßen bequem. Wenn er draußen warten musste, während Oma und ich die Einkäufe erledigten, wedelte er bei unserer Rückkehr so freudig mit dem Schwanz, als hätte er uns tagelang nicht gesehen. Schon bald waren wir drei einfach unzertrennlich.
Wie sehr ich doch unsere ausgedehnten Waldspaziergänge mit Aro liebte. Jetzt waren Spaziergänge nichts Furchteinflößendes mehr, stattdessen unterhielten Oma und ich uns stundenlang. Was auch immer mir gerade auf dem Herzen lag – Angst vor einer Schulprüfung oder Streit mit einer Freundin –, ihr konnte ich mich anvertrauen. Sie hatte jederzeit ein offenes Ohr für mich, hörte mir aufmerksam zu und wusste stets einen Rat. War ich bedrückt, gab sie mir so manches Mal eine ihrer Lebensweisheiten mit auf den Weg, auf die sie selbst vertraute: »Man darf niemals aufgeben. Auf Regen folgt Sonnenschein« oder »Die Familie und gute Freunde sind der größte Schatz im Leben«. Erzählte ich von einer guten Leistung in der Schule, bekam ich von ihr sogleich ein dickes Lob. Wie gut mir diese Anerkennung tat, nachdem ich von meinen Eltern nur beschimpft worden war! Allmählich gewann ich mehr und mehr Selbstvertrauen. Schließlich war ich mir sogar sicher