Duell mit dem Schatten - Siegfried Lenz - E-Book

Duell mit dem Schatten E-Book

Siegfried Lenz

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Beschreibung

Bis zur Entdeckung des "Überläufers" in Siegfried Lenz' Nachlass im Jahr 2015 galt "Duell mit dem Schatten" als sein zweiter Roman. Er verhandelt die Schuld der Väter, mit der die junge Generation konfrontiert wird und die sie bewältigen muss: Ein deutscher Oberst fährt 1952 mit seiner Tochter nach Libyen, zurück an die damaligen Kampforte in der afrikanischen Wüste, an den Ort einer schuldhaften Verstrickung, von der er sich zu befreien hofft.

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Siegfried Lenz

Duell mit dem Schatten

Roman

Atlantik

Erstes Kapitel

Ein barfüßiges Mädchen mit schwarzem, gefettetem Haar trat ein und erschrak: der Oberst lag in einem Rohrsessel, schlaff und still. Sein Hemd stand über der unbehaarten Brust offen, und sein Kopf hing kraftlos zurück. Die Augen waren nach oben in den Schädel hineingedreht; die Lider halb herabgezogen: ein Mann, kleiner als seine Vergangenheit, erloschen, mürbe, ausgebrannt. Er hielt die Füße weit von sich gestreckt und die Hände über dem Leib gefaltet. Sein Atem ging eilig, aber regelmäßig.

Das Mädchen stellte eine Flasche und ein Glas auf den fleckigen Marmortisch und ging auf Zehenspitzen rückwärts zur Tür.

–Sind wir unter uns? fragte der Oberst plötzlich. Er hob unter großen Anstrengungen den Kopf und setzte sich zurecht, und der Rohrsessel knisterte. Sie war schon an der Tür, sie hatte eine Hand schon auf der Klinke, da traf sie sein Blick. Sie lächelte ihn fremd und zaghaft an, und er lächelte müde zurück.

–Hast du mir das gebracht? fragte er und zeigte auf die Flasche. Sie nickte.

–Gut, sagte der Oberst, dann gieß mir auch ein Glas ein. Sie verstand ihn nicht. Sie lächelte und drückte langsam die Klinke herab.

–Nein, sagte der Oberst, hierbleiben sollst du. Komm, ich sag dir, was du tun sollst. Er winkte sie heran. Sie folgte zögernd seinem Befehl und ließ sich erklären, was er meinte. Während sie das Glas füllte, starrte sie ihn fragend an.

–Gut, sagte er, nun kannst du gehen, und er machte ihr ein Zeichen. Das Mädchen verließ das Zimmer, und der Oberst trank angestrengt, und nachdem er getrunken hatte, erhob er sich und ging ans Fenster: das Auto war noch nicht da.

El Dabuh, das kleine weißglühende Dorf, regte sich nicht – die Beute der Zeit und der Sonne. Es war schwer zu sagen, welche der Hütten bewohnt waren und welche nicht, denn alle waren baufällig, rissig und brüchig geworden unter den fortwährenden Messerstichen der Hitze. Wenn eine Hütte einstürzte – das geschah oft und gemeinhin in den frühen Morgenstunden –, wurde schon nach kurzer Zeit auf den Ruinen eine neue gebaut, und da man das immer so gehalten hatte und beim Bau die alten Eingänge und Löcher niemals zumauerte, glichen die Lehmhütten allmählich riesigen Bienenstöcken. Auf den Hügelkämmen der Wüste ritt die Sonne, ritt das Grün zu Tode, das sich unentwegt hervorwagte. Vor dem Dorf lag eine langgestreckte, gelbbraune Düne auf der Lauer und wartete. Ihre Abhänge waren wellenförmig geriffelt, sie schienen fest; der Kamm lag wie ein gebeugter, zum Drücken bereiter Arm da, in dessen Winkel sich einige Dattelpalmen zusammengerottet hatten.

Der Oberst blickte gleichmütig über das Dorf, mit halbgeschlossenen Augen. Sein magerer, ausgezehrter Körper zitterte. Er spürte, wie sich in der Achselhöhle Schweißtropfen lösten und langsam und kalt zur Hüfte hinabrollten, wo sie vom Hemd aufgesogen wurden. Er stemmte die dünnen Oberschenkel gegen das Fensterbrett, fuhr mit der Hand in den Hemdausschnitt hinein und wischte einmal schnell über die Brust. Dann zog er die Hand heraus und betrachtete sie weit von sich gestreckt. Die innere Fläche glänzte, als ob sie mit einer Ölschicht überzogen wäre. Er ließ die Hand herabfallen; sie baumelte schlapp in Höhe des Gesäßes, blutdick und summend.

Jemand klopfte an die Tür. Der Oberst sagte nichts. Er hörte, wie die Tür geöffnet wurde und jemand in sein Zimmer trat. Er drehte sich nicht um. Müde fragte er:

–Sind wir unter uns?

–Ja, wir sind unter uns, Vater.

–Das Auto ist noch nicht da, sagte der Oberst.

–Es ist bestellt und wird bald kommen.

Der Oberst wandte den Kopf und sah über die Schulter zurück. Sein Gesicht war ausgedörrt, gelblich, und es wirkte wie ein Wunder, daß dieses Gesicht auf dem schlaffen, faltigen Hals noch gerade saß. Die Augen hatten eine trübblaue Färbung und waren von zerklüfteten Brauen überschattet.

Er sah sie ausdruckslos an: seine Tochter; ein blondes, schweigsames Mädchen, einsam, gesund und grausam jung, dreiundzwanzig. Sie trug das Haar offen; gute Haltung, die weichen, runden Schultern zurückgebogen, knapper Ausschnitt, straffer, ein wenig zu straffer Gang.

Sie bemerkte die Flasche auf dem schmutzigen Marmortisch und sagte:

–Du hast getrunken, Vater?

–Es hat getrunken, sagte der Oberst.

–Ihr scheint euch aber gut zu verstehen, sagte sie.

–Wer?

–Du und Es.

–Man tut sein Bestes, mein Kind.

Sie strich um den Tisch herum, hob die Flasche gegen das Licht und schüttelte ein wenig die braune Flüssigkeit. Dabei richtete sie zufällig das Glas auf ihren Vater und sah ihn durch das freie Stück der Flasche seltsam verzerrt und verrenkt vor dem Fenster stehen. Sie stieß einen kleinen Schrei aus und riß die Flasche herab.

–Was ist geschehen, Biggi? fragte er.

Er hatte sich wieder umgedreht und blickte über die Lehmhütten von El Dabuh. Sie setzte die Flasche auf den Tisch und trat an ihn heran.

–Vater?

–Was ist geschehen, Biggi? wiederholte er leise.

–Wir hätten doch nach Sylt fahren sollen. Es wäre besser für dich gewesen. Die Reise hat dich sehr mitgenommen, und hier unten ist alles unerträglich, selbst für Gesunde. Auf Sylt hätten wir einen schöneren Urlaub verbringen können. Außerdem wäre die anstrengende Reise fortgefallen – von Hamburg braucht man nur einige Stunden.

–Welchen Tag haben wir heute? fragte der Oberst.

–Donnerstag.

–Ich meine, welches Datum?

–Den 26. Juni 1952.

–Wir werden zurückfahren, wenn es an der Zeit ist.

–Und wann wird es an der Zeit sein? fragte Biggi.

–Wenn ich es will. – Du fragst schon über das Übliche hinaus, mein Kind. Manche Menschen sind für das Antworten geschaffen, manche für das Fragen. Ich habe dir oft genug gesagt, zu welcher Gruppe du gehörst. – Eine gute Frage ist wie eine Speerspitze mit Widerhaken, sie muß im Fleisch sitzenbleiben, sie muß Leid hervorrufen, das natürliche Leid der Antwort. Formulieren heißt Schleudern, und du bist zu schwach, Biggi, du kannst keinen Schaft umfassen. Du taugst gerade zur Antwort. Und nun warte hier auf mich, ich will versuchen, die Latrine zu entdecken.

Der Oberst schwankte an ihr vorbei, traurig und steif.

–Vater! rief Biggi verzweifelt.

–Was gibt es, mein Kind? fragte er.

–Warum hast du das Auto bestellt? Du müßtest ins Bett! Wohin willst du fahren?

–Du fragst über das Übliche hinaus. Alles, was wir tun, ist eine Art Notdurft. Begnüge dich damit. Und wenn das Auto kommt und ich noch nicht zurück sein sollte, so halte nach mir Ausschau. Ich nehme an, daß du selbst bereit bist.

Er schlürfte zur Tür hinaus, und anscheinend hatte er nicht mehr die Kraft, sie von außen zu schließen. Vielleicht hatte er sie auch bewußt offengelassen, um eine Anstrengung zu vermeiden. Biggi warf die Tür ins Schloß, aber erst, nachdem seine müden Schritte auf dem Korridor verklungen waren. Dann trat sie an das Bett, in dem ihr Vater die letzte Nacht geschlafen hatte, hob die Decken hoch, auf denen Schwärme von Fliegen saßen, und tastete mit den Fingerspitzen das Lager ab. Ein dumpfer, säuerlicher Geruch schlug ihr entgegen. Sie schloß die Augen und hörte das scharfe Schrillen der Insekten dicht an ihrem Ohr. Ihre Finger ließen die Decke los, sie preßte die Handflächen gegen die Ohren und stöhnte. Sie merkte nicht, daß die Tür geöffnet wurde und ihr Vater den Raum wieder betrat. Erst als er ihr eine Hand an den Hals legte, zuckte sie zusammen und fuhr erschreckt zurück.

–Ich hatte Glück, sagte er, mein Instinkt führte mich gleich dorthin. Und nun gieß mir ein Glas ein.

–Ist das Auto schon da?

–Ich habe nichts gehört, Vater.

Biggi füllte das Glas zur Hälfte und reichte es ihm. Ächzend legte er den Kopf in den Nacken und goß sich die Flüssigkeit in den Mund. Dabei setzte er das Glas nicht an die Lippen. Dann ging er, die Arme wie zur Abwehr erhoben, ans Fenster.

Genau unter ihm stand das Auto, ein altes, italienisches Fabrikat.

–Biggi, rief der Oberst, komm her, mein Kind. Lauf hinunter und sag dem Chauffeur, daß wir bereit sind. Nimm gleich das Köfferchen mit und steige ein, ich komme nach.

Der Chauffeur war ein kleiner, pockennarbiger Mann, sein Körper steckte in einem grauen Drillichanzug. Er wartete schweigend, bis Biggi und der Oberst auf den hinteren Sitzen Platz genommen hatten; dann fragte er:

–Wohin?

Der Oberst zog aus der Brusttasche eine Karte heraus, faltete sie auf den Knien auseinander und suchte nach einem mit Rotstift markierten Punkt.

–Hier, sagte er, es sind ungefähr dreißig Meilen. Können Sie sich orientieren?

Er schob dem Fahrer die Karte zu, zeigte ihm, wo sie sich augenblicklich befanden und welche Richtung sie zu fahren hatten, und nachdem der Chauffeur alles begriffen hatte, faltete der Oberst die Karte wieder zusammen und verwahrte sie in seiner Brusttasche.

–Werden wir lange fortbleiben? fragte Biggi.

–Solange es not tut, sagte der Oberst geistesabwesend.

Das Auto ruckte an, sie wurden gegen die Rücklehne ihrer Sitze geworfen; die Fahrt begann.

Nackte, verbrannte Öde, seltenes Salzgestrüpp; Stille: glühend und zeitlos, blanke Ewigkeit; verloren, verloren; sengender Wind; wann stürzt der Kranich mit brennenden Flügeln vom Himmel? Staub wacht auf; wälzt sich im Schleppnetz des Sogs, sucht nach Spalten und Ritzen, gasschwadenfein. Alle Stunde ein Mensch am Horizont, oder ein Zelt; einsamer Hirte: sprachlos, steif und zerlumpt; die zerlumpte Zeitlosigkeit.

Der Oberst schlief ein. Sein Gesicht war grau und welk, der Staub kam und setzte sich auf die Haut. Die kleinen Falten verschwanden; die Tränensäcke wurden eingeebnet. Er lag kümmerlich in seiner Ecke, und das Auto rumpelte sehr stark und schleuderte seinen Körper hin und her. Die dünnen, unbehaarten, fleischlosen Beine fuhren dann auseinander und suchten etwas, wogegen sie sich stemmen könnten – aber schwach und zaghaft und niemals mit Erfolg.

Biggi hatte sich nach vorn gelegt, die Hände auf die Lehne des Vordersitzes und das Kinn auf die Hände gestützt, und starrte auf den Nacken des Fahrers. Zuweilen spürte sie die Knie ihres Vaters gegen die eigenen Schenkel stoßen, und jedesmal erschrak sie und rückte auf dem Sitz von ihm ab. Sie wagte ihn nicht mehr anzusehen; denn wenn sie ihn ansah, mußte sie fürchten, daß dieser schlaffe, tragische Mann, der dem wehmütigen Abenteuer der Auflösung schon so nahe war, nicht mehr die Kraft haben würde, die staubschweren Lider jemals wieder zu heben. Biggi fürchtete seinen Untergang. Sie dachte: jetzt in Hamburg auf dem Süllberg Kaffee trinken und über die Elbe sehen, zu Hause, Feuerwerk im Winterhuder Fährhaus, kühler, nebliger Abend, die Drosseln im Stadtpark, ich werde einen zweiten Blumenkasten bestellen, ist ja etwas zu wenig Sonne in der Ecke, alles war so schön, wie feierlich er war, als er bekannt gab, daß wir nach Libyen führen, fahren müssen, hatte er gesagt: ›Mein liebes Kind, die wesentlichsten Vorgänge im Leben sind nicht Geburt und Tod, sondern Geburt und Rechenschaft, und erst die Rechenschaft ist die Legitimation zum Tode.‹

Das Auto ratterte durch einen Talkessel; der Fahrer fuhr einen wilden Zickzackkurs, um den Geröllhaufen auszuweichen. Biggi hob den Kopf und sah auf die muskulösen, braunen Arme des Mannes, die fest an den Lenker gepreßt waren und kurz und verhalten hin und her zuckten. Für einen Augenblick erkannte sie sein Profil: kleine Nase, steile Stirn, verkniffener, lippenloser Mund. Sie hatte Lust, ihn anzusprechen, aber sie wagte es nicht. Sie fand auch keinen Anlaß.

Erschöpft ließ sie sich in den Sitz zurückfallen, hob das Kleid weit über die Knie hinauf und betrachtete ihre schweißglänzenden Schenkel. Sie waren weiß und entspannt und vibrierten durch das Klopfen des Motors und durch die ständigen Stöße, die kleineres Geröll verursachte. Unbewußt verglich sie ihre Schenkel mit denen des Obersten, und plötzlich warf sie entsetzt das Kleid über die Knie: ihre Schenkel waren fast doppelt so stark wie die ihres Vaters. Ihr Gesicht brannte vor Scham, Staub und Hitze. Hastig zog sie ein Taschentuch heraus und wischte sich über Hals und Wangen. Der Staub war bereits in ihre Kehle eingedrungen und schnürte sie zusammen. Biggi mußte husten und spuckte mit Sand durchsetzten Speichel in ihr Taschentuch. Sie hatte das Gefühl, daß ihr Gesicht gedunsen war in der sickernden Schwüle des Wageninnern. Eine schleichende Passivität überkam sie, und sie legte den Hinterkopf auf die Rücklehne und schloß die Augen.

Als das Auto hielt, schlief Biggi. Sie spürte nicht einmal den Ruck in ihrem Körper. Ihr Kleid war unter den Brüsten durchgeschwitzt, der Hals übermäßig gerötet.

Der Oberst stand schon draußen, grau und unbeweglich, und starrte sie an. Er sah aus, als ob er bereits hundert Jahre so gestanden hätte und so stehen würde bis in alle Ewigkeit: ein Überbleibsel aus entschwundenen Zeiten.

Der Fahrer setzte das Köfferchen in den Sand, zündete sich eine Zigarette an und wartete.

–Weck sie, befahl der Oberst, und machte eine lasche Handbewegung. Der Fahrer gehorchte, er tippte Biggi an der Schulter an, und das Mädchen erwachte, kletterte rasch und ein wenig verlegen hinaus und ordnete sein Kleid und die Haare. Sie fragte:

–Sind wir schon da, Vater?

–Ja, mein Kind, sagte der Oberst, jetzt sind wir da. Und nun bezahle den Mann und komm.

–Aber wir können ihn doch nicht hier zurückschicken, Vater. Zu Fuß würden wir nie das Hotel erreichen; das Wasser langt gerade bis heute abend.

–Er wird uns heute abend an dieser Stelle abholen, sagte der Oberst.

Biggi sah den Fahrer mißtrauisch an, und dann öffnete sie ein Täschchen und entlohnte ihn. Gleichgültig nahm der Mann das Geld entgegen, knüllte es zusammen und schob es in die Tasche, herausfordernd achtlos. Er grüßte nicht zum Abschied, er nickte nicht einmal mit dem Kopf. Er kletterte stumm in das Auto, ließ den Motor anspringen und fuhr schnell davon.

–Glaubst du, daß er wiederkommt? fragte Biggi besorgt.

–Der Glaube bietet keine Garantien, mein Kind. Aber es ist anzunehmen, daß er uns abholen wird, denn dieser Mann will etwas verdienen.

Biggi wandte den Kopf; das Fahrzeug war bereits hinter den Hügeln verschwunden.

–Öffne den Koffer, sagte der Oberst.

Der Verschluß klickte, Biggi hob den Deckel hoch.

–Gib mir das Fernglas.

Er setzte das Glas an die Augen und suchte den Horizont ab. Sein hagerer Körper drehte sich mit, steif und gelenklos, drehte sich nach einem Ziel wie ein Sehrohr; und dann rastete er ein, ruckartig: er hatte gefunden, was er suchte. Ein mattes, karges Lächeln zeigte sich auf seinem Gesicht.

–Gut, sagte er, ich habe mich nicht getäuscht.

Zufrieden setzte er das Glas ab, es baumelte an seiner Brust und zog ihn unmerklich ein Stück vornüber.

–Warum siehst du mich denn so an, mein Kind? fragte er, als er bemerkte, daß Biggi hinter ihm stand und ihn ängstlich und sorgenvoll musterte.

–Du bist krank, Vater. Wir hätten nicht hierherfahren sollen. Wenn wir nach Sylt gefahren wären, hättest du dich gewiß erholt. Heute nacht hatte ich Angst um dich, und ich habe noch immer Angst um dich.

Der Oberst unterbrach sie leise, er öffnete kaum die Lippen und sagte mühsam:

–Ich erlaube dir, Angst um dich selbst zu haben, das ist statthaft und zu verzeihen, aber ich verbiete dir, um mich besorgt zu sein. Hast du mich verstanden?

–Ja, Vater.

–Dann können wir gehen. Du wirst den Koffer tragen, denn wie du gesehen hast, sind deine Schenkel fast doppelt so stark wie meine. Ich bin schwach, das weiß ich, aber ich möchte durch die grausame Teilnahme anderer nicht daran erinnert werden. Komm!

Biggi knickte ein, griff nach dem Koffer. Das Blut schoß ihr in den Kopf: er hatte es bemerkt. Sie verharrte in gebückter Haltung, sie hätte sich am liebsten auf das glühende, rötliche Gestein geworfen, hätte das Gesicht unter den Händen verborgen und geweint. Mit verzweifelter Entschlossenheit richtete sie sich auf. Er war schon vorausgegangen; unsicher und hölzern bewegte er sich vorwärts; er hob ein Bein an, bekam Übergewicht, setzte es auf; hob das andere Bein an, bekam Übergewicht, setzte es auf. Biggi sah, daß ihr Vater X-Beine hatte. Sie empfand Furcht und Verachtung.

Der Oberst vergewisserte sich nicht ein einziges Mal, ob seine Tochter noch hinter ihm ging. Er kämpfte gegen das Gewicht des Fernglases auf der Brust, das seinen Nacken herabzuziehen drohte. Seine Augen waren auf einige Türme am Horizont gerichtet; sie hatten sich daran festgesehen, und es schien, als würde der Kopf des Mannes nur durch die erwartungsvolle Starrheit seiner Blicke aufrecht gehalten, mit denen er die langsam näherkommenden schwarzen Kolosse beobachtete. Sein Schritt wurde jedoch nicht eiliger; das erbärmliche Vorantaumeln hatte noch etwas von seltsamer Gefaßtheit. Es war windstill.

Je näher sie an die schwarzen Türme herankamen, desto kleiner wurden diese; sie schrumpften immer mehr zusammen, als wenn in fliegender Hast und von unsichtbaren Händen Stockwerk für Stockwerk von ihnen abgetragen würde, und nachdem sie nur noch wenige hundert Meter davon entfernt waren, erkannte Biggi, daß es Panzer waren.

–Vater! rief sie bestürzt.

Der Oberst ging weiter.

–Vater! rief Biggi nochmals. Ihre Stimme klang hilflos und winzig in der furchtbaren Stille, und das Mädchen merkte es und schwieg. Sie versuchte, den Abstand zwischen sich und ihrem Vater zu verringern, aber da wandte er einmal seinen Kopf zur Seite, oder sein Kopf wurde zur Seite geworfen, weil er über ein Geröllstück stolperte, und sofort blieb Biggi stehen und gab sich den Anschein, als habe sie einen Stein in den Schuh bekommen. Und sie streifte einen Schuh vom Fuß und kehrte ihn um.

Plötzlich blieb der Oberst stehen, ruckartig, unverhofft, als ob der schwache, ächzende Mechanismus, der ihn bisher vorwärts getrieben hatte, vor Überanstrengung entzweigesprungen wäre. Obgleich er immer noch halbwegs aufrecht stand, erschrak Biggi und lief in atemloser Besorgnis zu ihm. Es hätte sie nicht gewundert, wenn dieser Mann stehend gestorben wäre. Er hörte sie auf dem steinigen Boden herankommen und sagte, ohne sich umzudrehen:

–Laufe nicht, mein Kind! Ich merke schon wieder, daß du um mich zitterst. Wenn ich das noch einmal feststelle, werde ich dich zurückjagen. Du weißt, daß ich zu denen gehöre, die man nicht gefahrlos an ihre erbarmungswürdige Gegenwart erinnern darf.

–Vater! Biggi ließ den Koffer fallen.

–Wage nicht, mich zu umarmen, sagte der Oberst tonlos. Ich schätze diese Vegetation der Gefühle nicht. Wir sind keine Pflanzen.

Sie hatte ihre Hände schon von hinten über die schlaffen Schultern des Mannes gelegt und preßte ihre Finger in den Stoff des Khakihemdes.

–Nimm deine Hände von mir, mein Kind.

–Vater, ich kann nicht mehr, ich kann nicht, du, ich halte es nicht mehr aus. Sie begann zu schluchzen.

–Am Aushalten, sagte der Oberst schwach, erkennt man den Grad der Mündigkeit. Mein Kind: du bist unmündig, du bist ein merkmalloses Geschöpf. Dein Dasein wäre nicht anders gewesen, wenn du im Schoß deiner Mutter geblieben wärest. Aushalten, das heißt, dem Gleichmut der Welt seinen eigenen Gleichmut entgegensetzen. Wer aushalten will, muß in Rivalität zur Welt treten. Dreh dich um! Geh einige Schritte weit fort. Halt dir die Ohren zu!

Biggi tat dumpf, was ihr Vater verlangte, und der Oberst knöpfte seine Hose auf und ließ Wasser. Gierig nahm der heiße trockene Boden die Flüssigkeit an, und als der Oberst seine Hose wieder zuknöpfte, war nur noch ein dunkler Fleck nachgeblieben, der sich jedoch auch zusehends auflöste.

Durch eine sparsame Bewegung des Kopfes winkte er Biggi zu sich heran. Er befahl ihr, den Koffer wieder aufzunehmen, und dann gingen sie schweigend zu den Panzern.

Es waren drei leichte amerikanische Honey-Tanks und ein deutscher Kübelwagen. Die Tanks wiesen ausgezackte Löcher an den Seiten auf, ihre Kettenraupen lagen im Sand wie riesige, tote Echsen. Ein matter Geruch von Stahl, Benzin und Feuer ging immer noch von ihnen aus. In kleinem Umkreis verstreut lagen Eisenteile, Benzinkanister, Feldflaschen und leere Dosen. Der Kübelwagen war unbeschädigt.

Der Oberst blickte voll melancholischer Genugtuung auf die Fahrzeuge.

–Mein Kind, sagte er, trage zwei Benzinkanister in den Schatten. Wenn ich sitze, das spüre ich, beruhigt sich meine Blase. Erschütterungen, auch die des Gehens, reizen sie.

Biggi schleifte zwei Benzinkanister dicht an einen Tank heran, so daß sie sich mit dem Rücken an den Laufrädern anlehnen konnten. Der Schatten war mager, er barg gerade ihre Gesichter.

–Rauche mir eine Zigarette an, sagte der Oberst.

Das Mädchen tat es und steckte ihm die Zigarette in den Mund. Mühsam nuckelte er daran, machte einige kärgliche Züge, und, wie Biggi erwartet hatte, fiel ihm die Zigarette in den Sand. Sie trat sie mit dem Absatz aus.

–Mein Kind, sagte der Oberst, ich bin glücklich. Es gibt einige ganz natürliche Schwierigkeiten, die Wahrheit zu sagen. Aber hier, das fühle ich, gibt es diese Schwierigkeiten nicht. Ich bin glücklich. Sieh mich nicht so mitleidsvoll an. Ich warne dich, mich jetzt zu küssen. Ich könnte mich nicht dagegen wehren, weil ich nur langsam reagieren kann. Aber ich würde es dir nie verzeihen. Ein Wrack ist noch kein Leichnam; auch ein Wrack kann noch ›nein‹ sagen. Leute wie wir sterben nicht stückweise. Du bist mein Kind, Biggi, du bist gesund und jung. Ich wollte, wir wären ein Liebespaar.

–Vater, darf ich etwas Wasser trinken?

–Du wirst trinken, wenn ich es sage. Frag nicht soviel. Jede deiner Fragen ist eine Niederlage. Schau dich um: Weißt du, was das ist?

–Nein, Vater.

–Das ist meine Vergangenheit; hier, an diesem Platz, werde ich meine Rechenschaft ablegen. Rechenschaft ist keine Klage; sie ist Entkleidung. Man entkleidet sich seiner Gegenwart, mein Kind, und wandert den schwarzen, teilnahmslosen Fluß zurück. Auch die Schöpfung hat ihre Buchhalter; eines jeden Zeit wird sanft und unauffällig unter Soll und Haben verteilt. Die Leitz-Ordner des Daseins sind prall gefüllt. Du hast dich gewundert, Biggi, warum wir hierher fuhren. Wenn du zu befehlen gehabt hättest, wären wir gewiß nach Sylt gefahren. Ich wäre nicht glücklich gewesen! Hier bin ich es – denn hier habe ich gefunden, wonach ich suchte: nach der sorgsam konservierten Vergangenheit, nach dem Logbuch vergangener Tage. Man braucht es zur Rechenschaft, denn auch das Gedächtnis zerbröckelt, und ohne diese Stütze wäre die Vergangenheit trüb und undurchschaubar wie Spülicht.

Streichle nicht meinen Arm, das wirkt zynisch. Du bist in einem Alter orgiastischen Stoffwechsels, dein Körper ist ein biologisches Dickicht; durch mich aber regnet es schon hindurch. Durch mich fährt der Wind und das Licht – laß das. Vor einigen Jahren sah ich noch anders aus. Meine Vergangenheit ist größer als meine Gegenwart; sie ist so groß, daß ich sie kaum mit mir tragen kann. Ich habe sie hier unter anderem aufgesucht, um trocken zu schwelgen, so wie der Hai, wenn er Hunger bekommt, manchmal zu der Stelle schwimmt, an der es einst von Schiffbrüchigen wimmelte.

Das Sprechen hatte ihn sehr geschwächt. Er schwieg und starrte ausdruckslos vor sich hin, die gelben, faltigen Finger auf den angezogenen Knien. Biggi wagte nicht, diesen elenden Mann anzusprechen. Ihre Kehle war ausgedörrt, der Durst begann sie zu quälen. Sie glaubte, daß ein Schluck Wasser ausreichen müßte, um das Brennen und Kratzen herunterzuspülen, ein Schluck. Aber zwischen ihrem Bedürfnis und der Wasserflasche stand das Verbot dieses lässigen Leichnams, das warnende Wort ihres Vaters. Sie sah ihn wütend von der Seite an. Seine Augen waren geschlossen, der Schädel nach vorn gekippt. Der Oberst war ohnmächtig.

Biggi sprang entsetzt auf und hob seinen Kopf an. Ein verdorrtes, prophetisches Lächeln lag auf den Zügen ihres Vaters. Sie packte ihn verzweifelt bei den Schultern und rüttelte ihn: er bewegte sich nicht. Sie umarmte und streichelte ihn: seine Augen blieben geschlossen. Hastig riß sie den Lederriemen mit dem Fernglas von seinem Hals; nun kippte der Kopf nicht mehr nach vorn.

Sie dachte: Wasser! nur Wasser kann helfen, und sie öffnete den Koffer und nahm die Wasserflasche in die Hand. Sie schraubte den Verschluß ab, preßte den Flaschenhals zwischen seine Lippen, zwängte die Zähne auseinander und hörte, wie die Flüssigkeit in die Mundhöhle gluckerte. Als das Wasser an den Seiten wieder herauskam, trat sie einen Schritt zurück und trank selbst einen Schluck. Der brennende Schmerz im Hals wurde sofort gelindert. Biggi setzte die Flasche ab, schraubte sie zu und warf sie in den Koffer. In diesem Augenblick schrie sie auf: neben ihrem Koffer saß ein gelb-braunes Tier, das sich auf die Hinterpfoten erhoben hatte und sie reglos ansah. Als die Flasche auf das Tier zuflog, schlüpfte es schnell und lautlos in das Innere des Tanks.

–Du hast geschrien! sagte plötzlich der Oberst.

Er blieb in unveränderter Haltung sitzen.

–Vater, da!

–Was, mein Kind? fragte der Oberst, und seine Frage blieb in der Luft hängen.

–Es sah aus wie eine Ratte, sagte Biggi.

Sie kniete zögernd neben ihrem Vater nieder und blickte mißtrauisch auf das Loch, in dem das Tier verschwunden war.

–Sie hat uns gerochen, sagte der Oberst.

–Gerochen? fragte Biggi.

–Mein liebes Kind, sagte der Oberst, das Leben ist Zerfall, Verwesung von Anbeginn, und was einen Schoß verläßt, muß riechen.

Biggi lächelte verächtlich, über ihn, über seine Antwort, über alles, was sie bisher auf dieser Reise erlebt hatte. Sie fragte beiläufig, nur, um ihren Vater sprechen zu lassen und dabei die Gewißheit zu haben, daß er bei Besinnung war:

–Wovon ernähren sich bloß die Wüstenratten?

–Wovon? Ich habe es einmal gesehen, vor acht Jahren, in einer hellen Nacht. Ich saß, wie jetzt, auf einem Benzinkanister, und unerwartet fiel neben mir etwas in den Sand, plumpste vom Himmel herab und blieb liegen: ein erschöpfter Vogel. Er zuckte nicht mehr, er lag da wie tot. Ich erhob mich, um ihn zu holen, aber bevor ich noch die Stelle erreicht hatte, an der er lag, sah ich eine Ratte zwischen den Benzinkanistern hervorkommen. Sie biß in den Vogel hinein; jetzt zuckte und flatterte er, doch es war zu spät. Die Ratte kroch mit ihm in ihr Versteck.

–Warum hast du ihr den Vogel nicht abgejagt? Du hättest sie doch, als du sie sahst, vertreiben können.

–Mein Kind, die Ratte konnte mit dem Vogel mehr anfangen als ich; vielleicht hatte sie schon tagelang auf ihn gewartet. Sie hatte das größere Anrecht.

Der Oberst öffnete müde die Augen.

–Biggi, sagte er, du hast vom Wasser genommen. Ich kann dich nicht dafür bestrafen. Du hast meine Worte nicht respektiert; ich verachte dich, das ist alles, wessen ich noch fähig bin.

–Aber Vater, bettelte sie verzweifelt, es war doch deinetwegen. Du warst ohnmächtig!

–Ich wäre auch ohne Wasser zu mir gekommen. Zieh dein Kleid über die Knie, ich kann den großzügigen Anblick nicht ertragen. Hilf mir auf die Beine, aber tue es nicht zärtlich. Ich habe etwas gegen zärtliche Hilfe und zärtliche Moral. Jetzt werde ich dir sagen, warum wir hier sind und warum ich dich mitgenommen habe. Gib mir deine Hand, so. Und mit der andern stütze mich unter der Achsel. Wenn wir nur Wurzeln hätten, mein Kind, wenn wir uns in die Erde krallen könnten, daß kein Wind uns mehr umwirft!

Unsicher tastete er sich am Panzer entlang, dann stieß er sich ab, schwankte einen Augenblick bedrohlich und gewann nach einigen zaghaften Schritten sein Gleichgewicht; der ausgeleierte Mechanismus spielte sich ein und trug ihn voran. Und Biggi folgte ihm im üblichen Abstand.

Er blieb, nachdem er die Tanks hinter sich gelassen hatte, stehen, drehte sich in den Gelenken und steuerte auf den Kübelwagen zu. Er ging mit vorgehaltenen Händen und zurückgelegtem Kopf; er schritt wie ein schwacher, abschiednehmender Pfarrer durch eine unsichtbare Gemeinde. Der Oberst schien die nackte Einsamkeit zu segnen.

Vor dem Kübelwagen blieb er stehen und wartete, bis Biggi schräg hinter ihm stand. Dann sagte er:

–Ich muß einsteigen, mein Kind, hilf mir hinein. Es wird dich keine große Anstrengung kosten. Bück dich.

Biggi tat es.

–Und nun hebe mich hinein.

Sein Oberkörper knickte ein, und das Mädchen schob seine Beine nach und wunderte sich, wie jammervoll leicht er war, wie gewichtlos. Sie setzte ihn zurecht, schlug seine Beine übereinander und kletterte dann selbst in das Fahrzeug und nahm neben ihm Platz.

–Jetzt sind wir unter uns, mein liebes Kind, sagte der Oberst. Der Gott der Liebe ist ein verkommenes Wesen, sonst hätte er dir einen anderen Begleiter zugedacht. Ich bin wie eine alte, ranzige Dattel; mit mir kannst du nichts anfangen. Wenn ich jedermann wäre, dürftest du mich getrost ausspucken und weitergehen. Ich würde es dir nicht verdenken. Aber ich bin dein Vater, und so hast du an mir zu kauen; an mir und an dem, was ich herumtrage.

–Soll ich dir noch eine Zigarette anrauchen? fragte Biggi. Sie öffnete eilfertig ihr Täschchen.

–Laß die unmündigen Versuche, mich abzulenken, sagte der Oberst gequält.

–Wenn du dich schon vor mir fürchtest, so bemühe dich nicht, diese Furcht auf solche Art zu verringern.

Biggi wandte sich von ihm ab; er hatte ihre Gefühle und ihre Absicht genau benannt; sie haßte ihn unsäglich.

Der Oberst sagte mit schleppender, gleichbleibender Stimme:

–Mein Kind, so wie du jetzt, saß Mackenbrandt vor einigen Jahren neben mir. Seinetwegen sind wir hergekommen; denk mal an: wegen eines Mannes, der, das weiß ich bestimmt, von seinen nahen Verwandten vergessen ist. Sie erinnern sich seiner nur mit Mühe.

–Ich habe ihn nicht vergessen; vielleicht hätte ich es getan, wenn er mir Gewißheit über sich selbst gegeben hätte. Sorge und Ungewißheit haben mich hierhergejagt; ich sage: gejagt, mein Kind, denn daß es keine absichtslose, beschauliche Reise war, wirst du gewiß gemerkt haben. – Aber etwas anderes hat mich auch noch hierhergetrieben, Biggi, das ist der Wunsch, Bilanz zu machen, die Summe aus der Vergangenheit zu ziehen. Man tritt aus dem Abendschatten noch einmal in ein frühes Licht; man versucht, sich seiner selbst zu vergewissern, sich zu begründen im Hinblick auf den bevorstehenden Verfall. Es ist nötig, daß man sich dabei in seiner Vollständigkeit erfährt. Die Lücken und Öffnungen der Vergangenheit müssen geschlossen werden. Mein Ziel ist eine solide Chronologie. Chronologie, mein Kind, ist das einzig Zuverlässige und Begehrenswerte. Unter diesem Zeichen vollzieht sich die Schöpfung. Das Lied des Vogels, das dir in dein Ohr fällt, das Fleisch, das sich auflöst, die Kugel, die unterwegs ist: alles unterliegt der Chronologie. Ich werde sie vervollständigt haben, für mich wenigstens, wenn ich Gewißheit über Mackenbrandt habe.

–Leg mir dein Taschentuch auf den Kopf, bevor es zu spät ist.

Das Mädchen zerrte das Taschentuch auseinander.

–Vater? Es geht nicht. Es ist noch feucht.

–Um so angenehmer. Tue, was ich dir sage.

–Es geht doch aber nicht.

–Ich will es. In wenigen Minuten wird es trocken sein.

Zögernd tat Biggi, was ihr Vater befohlen hatte. Sie legte das Tuch über seinen Hinterkopf, breitete es aber nicht aus. Sie riß die Hände schnell herab, als ob sie etwas Verbotenes getan hätte.

–Bist du fertig? fragte der Oberst.

–Ja, Vater.

–Dann will ich dir weiter erzählen. Dabei erlaube ich dir, die Fliegen von meinem Gesicht zu verscheuchen. Aber berühre mich nicht; ich könnte mich erschrecken.

Der Oberst sprach weiter, er öffnete kaum die Lippen, er murmelte leiser und leiser, seine Stimmkraft drohte jeden Augenblick zu versiegen.

–Wir lagen im Zelt, mein Kind, ich und Mackenbrandt. Er war mein Fahrer und war ständig bei mir. Er war mein Vertrauter und mein bester Freund. Wir waren in einem Zelt unter vielen, und in jedem schliefen erschöpfte Männer. Am frühen Morgen wurden wir geweckt, durch Handgranaten und Maschinenpistolen. Ich kroch zum Schlitz und sah die fremden Soldaten Zelt für Zelt öffnen und auf die schlafenden Männer schießen. Einige konnten fliehen. Wir stürzten aus unserem Zelt hinaus, erreichten den Kübelwagen und fuhren davon. Wir hatten Glück: unser Zelt lag etwas abseits.

–War das dieser Wagen, Vater?

Der Oberst antwortete nicht.

–Sie schossen lange hinter uns her, ohne jedoch zu treffen. Ich saß aufrecht, mein Kind, ich bückte mich nicht. Es wäre mir recht gewesen, wenn mich eine der arglosen Kugeln getroffen hätte. Damals war mein Leben belanglos, denn es war ans Fleisch gekettet und mein Stern stand im Zenit. Im Zenit sind wir alle belanglos, ohne geziemenden Schatten. Der fallende Stern ist das einzig Sehenswerte und Belangvolle, Biggi, denn erst im Sturz kann man erkennen, was einem ausweicht. Die Zenit-Menschen werden erst dann interessant, wenn sie zu flackern beginnen. Was wirklich geschieht, geschieht meistens ohne sie. Der Triumph, die Karriere, mein Kind, ist die erste Verkümmerung des Individuums. Ich merkte es, als die Kugeln uns nachkamen. Ich saß aufrecht, ich reckte sogar meinen Kopf aus den Schultern heraus, und zuletzt, als nur noch wenige Schüsse fielen, empfand ich so etwas wie Trauer. Mackenbrandt fuhr sehr schnell, dieser kleine, stille Freund kämpfte gierig mit der Entfernung. Wir hatten uns sehr gern.

Der Oberst tastete angestrengt nach dem verkohlten Lenkrad, legte die Finger darauf und lächelte mühsam.

–So saß er neben mir, siehst du, so. Wir fuhren mehrere Stunden, schweigend, wir fuhren irgendwohin, nicht einmal geradeaus. Wir fuhren, als ob wir den Sinn der Welt wiederfinden wollten, der abhanden gekommen war, als das Tor der Vernunft zufiel. Ich war plötzlich froh, daß man mich nicht im Schlaf erschossen hatte, und ich bedauerte die Männer, denen das Unglück zugestoßen war.

–Und dann blieb der Wagen stehen; das Benzin war ausgegangen. Wir blieben nebeneinander sitzen und warteten, taten so, als müsse der Motor jeden Augenblick wieder von selbst anspringen. So warteten wir mehrere Stunden. Du wirst das nicht begreifen können, mein Kind, aber es verhält sich so. Es hat einen besonderen Reiz, tatenlos zuzusehen, wie die Welt ihren Lauf nimmt. Das nenne ich: die keusche Resignation. Du wirst mir zugeben, daß diese Art von Bescheidenheit das Vernünftigste war, das wir in dieser Lage tun konnten.

–Sie hielt aber nicht lange vor; zuerst kam der Durst, und nachdem er uns eine Weile gequält hatte, kam der Hunger, und da sagte ich zu Mackenbrandt: Hör zu, es hat keinen Zweck, noch länger zu warten, wir müssen jetzt etwas unternehmen, wenn wir nicht aufrecht verdursten wollen. Es kann nicht mehr weit sein bis zum nächsten Dorf. Da hob mein Freund den Kopf und sah mich an, sah mich an wie einen Verrückten, und dann drehte er mir die linke Schulter zu, und ich erkannte, daß sein Khakihemd blutig war. Es war nur eine Fleischwunde, aber der Blutverlust hatte ihn schon geschwächt. Ich verband die Wunde, zerrte ihn unter den Wagen und warf ihm für alle Fälle meinen Privatrevolver hin. ›Ich geh Wasser und Hilfe holen‹, sagte ich. Er blickte mich flehend an, das spürte ich, flehend und kummervoll, er machte mich unsicher und verlegen durch seinen Blick. Er hatte Angst, Biggi, weiter nichts, und es kostete mich nicht wenig Mühe, ihn zu verlassen. Vielleicht schien es ihm, als ob ich rücksichtslos handelte, aber mitunter muß man die Freundschaft zu einem Menschen durch Rücksichtslosigkeit bekunden. Mackenbrandt winkte mir verzweifelt hinterher, wollte mich zurückrufen, aber ich konnte nicht. Ich verließ ihn ja nicht, um nur mich selbst in Sicherheit zu bringen. Ich wollte, sobald ich Hilfe gefunden hatte, zu ihm zurückkehren. Kannst du dir meine Gefühle vorstellen, mein Kind?

–Ja, Vater, sagte Biggi. Sie hatte anfangs mit ironischem Interesse zugehört. Dann aber war es ihrem Vater gelungen, sie zu fesseln. Sie fragte ungeduldig:

–Und bist du dann gegangen?

–Diesmal ging ich, Biggi. Aber wenn der Hunger und der Durst nicht gewesen wären, so hätte er mich gewiß zurückgehalten. Ich verließ ihn rasch. Ich fühlte, daß mir wohler wurde, je weiter er hinter mir blieb, und ich nahm mir vor, selbst das Suchkommando zu ihm zu bringen. Es waren noch keine hundertfünfzig Meter, die ich gegangen war, mein Kind, als plötzlich ein Schuß fiel, ein Schuß aus meiner Pistole, das hörte ich am Klang.

–Hatte er sich erschossen? fragte Biggi schnell.

–Ich weiß es nicht.

–Aber du bist doch zurückgelaufen?!

–Nein.

–Du bist nicht …? fragte das Mädchen entsetzt.

–Ich habe Lust, dich zu züchtigen, weil du dich gegen mich empörst, sagte der Oberst. Ich möchte dir ins Gesicht schlagen, du. Schweig jetzt. Wenn nur jemand meine Faust belebte! Rede nicht so, als ob wir alle gleich handeln müßten. Du wärst zurückgelaufen, das weiß ich. Ich war unfähig dazu, ich hatte wohl ein wenig Angst und blieb eine Sekunde betroffen stehen, horchte voller Bestürzung zurück und ging dann meinen Weg. Vielleicht hatte mein Freund nur die Pistole ausprobiert; es ist auch möglich, daß er mich durch den Schuß zurückrufen wollte. Ich war zu schwach dafür, zu schlapp.

Er schwieg und legte seinen Oberkörper zurück. Der Adamsapfel rollte den langen, gelblichen Hals entlang und blieb in der Mitte stehen. Der Kopf kippte nach hinten.

Biggi dachte: jetzt könnte ich ihn verlassen, leise hinausklettern. Er müßte hier sitzenbleiben für immer, denn er hat nicht die Kraft, sich allein zu erheben. Ich könnte dem Fahrer entgegengehen und ihm sagen, daß mein Vater – mein Vater allein bleiben möchte. Unwillkürlich stieß sie ihn mit dem Ellenbogen in die Hüfte und fragte scharf:

–Und dann? Hat das Suchkommando ihn gefunden?

–Nein.

–Ist es überhaupt nicht hierhergekommen?

–Es ist hierhergekommen. Es hat die drei leichten Honey-Tanks erledigt, wie du siehst. Aber mein Freund Mackenbrandt war nicht zu finden. Das ist das einzige mystische Ereignis in meinem Leben. Begraben hat man ihn, wie Gefangene bezeugen, nicht. Ich vermisse das Taschentuch auf meinem Kopf. Wahrscheinlich ist es heruntergefallen, mein Kind. Feuchte es mit Wasser an und lege es mir nun auf die Stirn. Warum zögerst du?

–Soll ich Trinkwasser dazu nehmen? fragte Biggi.

–Selbstverständlich, sagte der Oberst.

Das Mädchen feuchtete das Taschentuch an und klebte es auf seine Stirn. Er machte einige langsame Kaubewegungen, mahlte mit den Kiefern, reckte sich, leise stöhnend: der Oberst fühlte ein seltenes Behagen in seinen Körper einkehren. Seine Knie zitterten, die Finger irrten tastend umher, als ob sie zu einer Tat aufgelegt wären. Biggi sah zu, wie sich diese unsicheren Finger dem Lenkrad näherten, wie sie von ihm angezogen wurden und es plötzlich berührten. Und dann umkrallten sie das rostige Metall, die Knochen traten heraus; der Oberst, der mit geschlossenen Augen in seinem Sitz lag, begann sich an dem Rad nach vorn zu ziehen, knirschend, verbissen.

Er kämpfte mit der Schwerkraft und dem Beharrungsgesetz seines Leibes, und als er nahezu aufrecht saß, löste sich die Verkrampfung, die Lippen traten ein wenig auseinander, und er lächelte glücklich. Aus einem Mundwinkel floß sanft ein dünner, schillernder Speichelfaden hervor. Einen Augenblick saß der Mann senkrecht da; er drückte das Kreuz durch, schraubte den Schädel unnatürlich in die Höhe und preßte die Oberschenkel zusammen.

Biggi beobachtete ihn ängstlich. Sie fürchtete, daß er gleich zusammensinken werde. Diese Anstrengung sah aus wie eine letzte, wütende, aber hoffnungslose Aufsässigkeit des Körpers, wie eine blinde Revolte gegen den Staub. Die wenigen verbliebenen Kräfte mußten ihn verlassen, damit er sich auflösen könnte. Sie verzehrten sich selbst in einer unnützen Tat: Gravitation zum Nichts.

Als ob der Oberst das selbst gemerkt hätte, und als ob er verhindern wollte, daß der geringe Rest an Widerstandswillen aus ihm entfloh, ließ er das Lenkrad los, krümmte sich und ließ den Körper nach hinten fallen. Er grinste versponnen, er hatte dem Staub ein Schnippchen geschlagen. Seine Augenlider hoben sich zur Hälfte, freundlich blickte er auf seine Tochter. Er sagte:

–Rechenschaft ist Bilanz und Selbstverteidigung, mein Kind, ist das Verlangen, ein unbeschriebenes Blatt Papier zu werden. Rechenschaft ist das Standgericht der Gegenwart. Ich bin bereit, das Urteil zu hören.

–Du hast Fieber, Vater, sagte Biggi nervös. Wir hätten nicht hierher fahren sollen. In Kampen wärst du auf andere Gedanken gekommen. Diese Umgebung ist Gift für dich.

–Die Vergangenheit ist immer Gift für die Gegenwart, Biggi. Spar dir solche Worte. Du bist naiv wie das Wasser des Mittelmeers. Alles, wessen du fähig bist, ist lieben. Und das ist zu wenig. Lieben kannst du am Anfang, am Ende mußt du denken. Wer liebt, wird nie das Fragen lernen.

–Dein Taschentuch ist heruntergefallen.

–Laß es liegen. – Jetzt, Biggi, ist es soweit!

Eine unsichtbare Gewalt rüttelte an ihm, er wand sich wie in Schmerzen und bäumte sich auf. Im Gesicht zuckte es; er drückte das Gesäß vom Sitz und sank kümmerlich zusammen, und auf einmal wurde er ruhiger, stiller, atmete langsamer, und als Biggi glaubte, er wäre nun endgültig gestorben, richtete er sich mit ungewohnter Leichtigkeit auf, suchte nach der Hand seines Kindes und sagte:

–Es ist vollbracht; nun geht es schon besser. Die Sekunde der Rechenschaft ist noch nicht vorbei. Aber die Gegenwart hat mich vorläufig freigesprochen, mein Kind. Alle Qual wird ein Ende haben, wenn die letzte Lücke in der Bilanz geschlossen ist.

–Soll ich dir eine Zigarette anrauchen, Vater?

–Nein, sagte der Oberst.

–Soll ich dir die Wasserflasche bringen?