11,99 €
Die renommierte Bostoner Psychologin Diandra Warren lebt in Angst. Man hat gedroht, ihrem Sohn etwas anzutun. Die Drohung trägt die Handschrift der Mafia – nur hat die mit der Sache nachweislich nichts zu tun. Als Kenzie & Gennaro zu ermitteln beginnen, überschlagen sich die Ereignisse; ein Mord nach dem anderen geschieht. Alle Spuren führen zu einem Serienkiller, der seit Jahren im Gefängnis sitzt – und tief in Patrick Kenzies eigene Vergangenheit.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 529
Dennis Lehane
Dunkelheit, nimm meine Hand
Ein Fall für Kenzie & Gennaro
Roman
Aus dem Amerikanischen von Peter Torberg
Diogenes
{5}Ich widme diesen Roman Mal Ellenburg und Sterling Watson für tausenderlei gute Hinweise zur Kunst des Schreibens und zur Natur des Bösen.
{6}Wir sollten dankbar sein, dass wir die Schrecken und Erniedrigungen nicht sehen können, die unsere Kindheit umgaben, in Geschirrschränken und auf Bücherborden, überall.
– Graham Greene, Die Kraft und die Herrlichkeit
{7}Ich war noch klein, als mich mein Vater mit auf das Dach eines gerade ausgebrannten Hauses nahm.
Er hatte mir die Feuerwache gezeigt, als der Notruf reinkam, und jetzt saß ich neben ihm vorn im Löschwagen und war ganz begeistert, wie der Laster die Kurven nahm und das Heck ausbrach, wie die Sirenen heulten und vor uns der Rauch blau, schwarz und dick waberte.
Eine Stunde, nachdem sie die Flammen gelöscht hatten, saß ich am Straßenrand und sah den Kollegen meines Vaters bei der Arbeit zu. Zum zigsten Mal hatten sie mir die Haare verwuschelt und mich mit Hotdogs vollgestopft, als mein Vater kam und mit mir die Feuertreppe hinaufstieg.
Ölige Qualmfetzen krochen uns in die Haare und strichen über die Ziegel, und durch die geborstenen Fensterscheiben sah ich verkohlte und verbrannte Dielen. Dreckwasser tropfte durch Löcher in den Decken.
Das Gebäude jagte mir eine Heidenangst ein, und mein Vater musste mich auf den Arm nehmen, als er aufs Dach hinaustrat.
»Patrick«, flüsterte er, als wir über die Teerpappe gingen, »ist schon gut. Schau doch.«
Ich sah hinaus auf die Stadt, stahlblau und gelb. Ich roch die Hitze und die Zerstörung unter mir.
{8}»Schau doch«, wiederholte mein Vater. »Hier sind wir in Sicherheit. Wir haben das Feuer in den unteren Etagen gelöscht. Es kommt nicht bis zu uns herauf. Wenn man das Feuer dort löscht, wo es begonnen hat, kann es nicht nach oben dringen.«
Er strich mir die Haare glatt und gab mir einen Kuss auf die Wange.
Und ich zitterte.
Vor drei Tagen wurde Eddie Brewer, ein Typ, mit dem ich aufgewachsen war, in der ersten Winternacht des Jahres in einem Spätkauf niedergeschossen. Es handelte sich nicht um einen Raubüberfall. James Fahey, der Schütze, hatte sich erst kürzlich von seiner Freundin Laura Stiles getrennt, die dort als Kassiererin in der Schicht von 16 Uhr bis Mitternacht arbeitete. Als Eddie Brewer sich um Viertel nach elf einen Styroporbecher mit Eis und Sprite füllte, spazierte James Fahey zur Tür herein und schoss Laura Stiles einmal ins Gesicht und zweimal ins Herz.
Dann schoss er Eddie Brewer in den Kopf, ging den Gang mit den Tiefkühlschränken entlang und stieß dort auf ein älteres vietnamesisches Paar, das sich bei der Milch versteckt hatte. Zwei Kugeln für jeden, dann fand James Fahey, dass es genug war.
Er ging hinaus zu seinem Wagen, setzte sich hinters Lenkrad und klebte die einstweilige Verfügung, die Laura Stiles und ihre Familie erfolgreich gegen ihn beantragt hatten, an den Rückspiegel. Dann band er sich einen von Lauras BHs um den Kopf, nahm einen Schluck aus einer Flasche Jack Daniel’s und schoss sich eine Kugel in den Mund.
{10}James Fahey und Laura Stiles wurden noch an Ort und Stelle für tot erklärt. Der ältere Vietnamese verstarb auf dem Weg ins Carney Hospital, seine Frau ein paar Stunden später. Eddie Brewer aber liegt im Koma; die Ärzte meinen zwar, dass die Aussichten nicht gut wären, geben aber zu, es sei ein Wunder, dass er überhaupt noch lebe.
Die Presse hat dieses Stichwort gründlich ausgeschlachtet, denn Eddie Brewer, der damals, als wir jung waren, wahrhaftig kein Heiliger gewesen ist, ist Priester. In der Nacht, als er niedergeschossen wurde, war er in Thermobekleidung und Jogginghose laufen gewesen, Fahey ahnte also nichts von seiner Berufung, obwohl ich bezweifle, dass das einen großen Unterschied gemacht hätte. Die Presse allerdings, die spürte, dass sich ihre Leser so kurz vor den Feiertagen gern der Religion zuwandten, konnte so einer alten Story noch mal neue Nahrung geben und ließ sich lang und breit über Eddie Brewers Priesterschaft aus.
Fernsehkommentatoren und Leitartikler haben seine zufällige Verwundung als Zeichen des nahenden Weltuntergangs gedeutet, es wurden Mahnwachen in seiner Gemeinde in Lower Mills und vor dem Carney Hospital organisiert. Eddie Brewer, ein unbedeutender Kirchenmann und äußerst bescheidener Mensch, ist auf dem Weg, ein Märtyrer zu werden, ganz gleich, ob er nun überlebt oder nicht.
Nichts von alledem hat irgendetwas mit dem Alptraum zu tun, der vor zwei Monaten Besitz von meinem Leben und dem mehrerer anderer Menschen ergriffen hat, ein Alptraum, der mir Verletzungen zufügte, von denen die Ärzte meinten, sie seien so gut verheilt, wie man sich nur hätte wünschen können. Allerdings habe ich in meiner rechten {11}Hand noch immer kaum Gefühl, und unter dem Bart, den ich mir habe wachsen lassen, brennen die Narben. Nein, das alles, der niedergeschossene Priester, der Serienmörder, der in mein Leben trat, die jüngsten ›ethnischen Säuberungen‹ in einer der ehemaligen Sowjetrepubliken, der Mann, der nicht weit von hier in einer Abtreibungsklinik um sich geschossen hat, oder ein weiterer Serienmörder, der in Utah zehn Menschen umgebracht hat und noch immer nicht gefasst worden ist – das alles hat nichts miteinander zu tun.
Manchmal allerdings habe ich das Gefühl, dass das nicht stimmt, dass es einen Faden gibt, der all diese Ereignisse, all diese zufälligen und willkürlichen Gewalttaten verbindet, und dass wir an diesem Faden ziehen können, alles auflösen und den Sinn darin erkennen, wenn wir nur den Anfang des Fadens finden.
Seit Thanksgiving habe ich mir diesen Bart wachsen lassen, den ersten in meinem Leben, und obwohl ich ihn regelmäßig stutze, überrascht er mich jeden Morgen aufs neue, wenn ich in den Spiegel schaue, so als würde ich nachts von einem glatten, narbenlosen Gesicht träumen, Haut so glatt wie die eines Babys, makellos und nur berührt von sauberer Luft und der zärtlichen Zuneigung einer Mutter.
Das Büro – Kenzie/Gennaro Investigations – ist geschlossen und staubt langsam zu, vermute ich, vielleicht findet sich schon die erste Spinnwebe in einer Ecke hinter meinem Schreibtisch, vielleicht auch hinter dem von Angie. Angie ist seit Ende November fort; ich versuche, nicht an sie zu denken. Oder an Grace Cole. Oder an Grace’ Tochter Mae. Oder an irgendetwas.
Auf der anderen Straßenseite ist gerade die Messe zu {12}Ende, und bei dem für die Jahreszeit ungewöhnlich warmen Wetter – sechs, sieben Grad, dabei ist die Sonne schon vor anderthalb Stunden untergegangen – hält sich ein Großteil der Gemeindemitglieder noch draußen auf, und ich kann in der Nachtluft deutlich hören, wie sie einander Mut zusprechen und sich gesegnete Feiertage wünschen. Sie unterhalten sich über das ungewöhnliche Wetter, wie launisch es doch das ganze Jahr über gewesen ist, der Sommer kalt, der Herbst aber warm und ganz plötzlich dann bitterkalt und eisig, und niemand würde sich sonderlich wundern, wenn am Weihnachtsmorgen die Santa-Ana-Winde einsetzen und das Thermometer auf 20 Grad steigen würde.
Jemand erwähnt Eddie Brewer, einen Augenblick sprechen sie darüber, aber nur kurz, und ich merke, sie wollen sich davon nicht die festliche Stimmung verderben lassen. Ach, sagen sie, was für eine kranke, verrückte Welt. Verrückt trifft es genau, sagen sie, verrückt, verrückt, verrückt.
In letzter Zeit sitze ich meistens hier draußen auf der Veranda. Von hier aus kann ich Leute sehen, und obwohl es kalt ist, halten mich ihre Stimmen fest, meine schlechte Hand wird steif vor Kälte, und mir klappern die Zähne.
Morgens trage ich meinen Kaffee hinaus, sitze an der frischen Luft, schaue über die Straße zum Schulhof und sehe den kleinen Jungs mit ihren blauen Krawatten und den dazu passenden blauen Hosen und den kleinen Mädchen mit ihren karierten Röcken und schimmernden Haarspangen zu, die auf dem Hof herumtollen. Ihr plötzliches Kreischen, die ungestümen Bewegungen, ihre scheinbar unerschöpfliche, unbändige Energie ist, je nach meiner Stimmung, lästig oder belebend. An schlechten Tagen fährt mir das Gekreische {13}über die Wirbelsäule wie Glassplitter. An guten Tagen wiederum weckt es die Erinnerung daran, wie es war, ganz zu sein, als der simple Vorgang des Luftholens noch nicht weh tat.
Es geht, schrieb er, um den Schmerz. Wie viel davon spüre ich, wie viel teile ich aus.
Er tauchte während des wärmsten, wechselhaftesten Herbstes seit Menschengedenken auf, das Wetter spielte vollkommen verrückt, und alles stand auf dem Kopf, so als würde man in ein Loch im Boden schauen und am Grund Sterne und Sternbilder schweben sehen, und wenn man den Kopf hob, hingen Erde und Bäume am Himmel. So als würde er seine Finger auf den Globus legen, ihm einen Schubs geben und die Welt – zumindest meinen Teil davon – in Schwung versetzen.
Manchmal schauen Bubba oder Richie oder Devin und Oscar vorbei, setzten sich draußen zu mir, und wir quatschen über die NFL-Play-Offs oder die College Bowl Championships oder die neuesten Filme in der Stadt. Wir reden nicht über diesen letzten Herbst oder Grace und Mae. Wir reden nicht über Angie. Und wir reden niemals über ihn. Er hat genug Schaden angerichtet, mehr gibt es dazu nicht zu sagen.
Es geht, schrieb er, um den Schmerz.
Diese Worte – geschrieben auf ein Blatt weißes Kopierpapier – verfolgen mich. Diese einfachen Worte kommen mir manchmal wie in Stein gemeißelt vor.
Angie und ich waren in unserem Büro im Glockenturm und versuchten, die Klimaanlage zu reparieren, als Eric Gault anrief.
Normalerweise ist eine kaputte Klimaanlage Mitte Oktober in New England kein Problem. Eine kaputte Heizung eher. Aber das hier sollte kein normaler Herbst werden. Um zwei Uhr nachmittags lagen die Temperaturen bei 24 Grad, und die Fenster strahlten noch immer den schwülen, durchglühten Geruch von Sommer ab.
»Vielleicht sollten wir einen Handwerker rufen«, meinte Angie.
Ich schlug mit der flachen Hand auf die im Fenster installierte Anlage und schaltete sie wieder ein. Nichts.
»Der Keilriemen, wette ich«, sagte ich.
»Das sagst du auch, wenn der Wagen liegenbleibt.«
»Hm.« Ich starrte die Klimaanlage etwa zwanzig Sekunden lang böse an, doch davon ließ sie sich nicht beeindrucken.
»Beschimpf sie«, meinte Angie. »Vielleicht hilft’s.«
Ich starrte sie statt der Klimaanlage an, bekam aber auch nicht mehr Resonanz. Vielleicht sollte ich mal an meinem bösen Blick arbeiten.
Das Telefon klingelte, und ich hob ab; vielleicht hatte der {15}Anrufer ja Ahnung von Klimaanlagen, aber es war nur Eric Gault.
Eric unterrichtete Kriminologie an der Bryce University. Wir lernten uns kennen, als er noch an der University of Massachusetts war und ich ein paar seiner Kurse belegte.
»Kennst du dich mit Klimaanlagen aus?«
»Hast du es damit versucht, sie an und aus und wieder anzuschalten?«, entgegnete er.
»Ja.«
»Und es ist nichts passiert?«
»Nein.«
»Hau ein paarmal drauf.«
»Hab ich.«
»Dann ruf den Reparaturdienst an.«
»Du bist mir eine große Hilfe.«
»Ist dein Büro immer noch in dem Glockenturm, Patrick?«
»Ja. Warum?«
»Na ja, ich habe vielleicht eine Klientin für dich.«
»Und?«
»Wär doch schön, wenn sie dich anheuert.«
»Gut. Bring sie vorbei.«
»In den Glockenturm?«
»Na klar.«
»Wie gesagt, wär doch schön, wenn sie dich anheuert.«
Ich sah mich in dem winzigen Büro um. »Das ist mies, Eric.«
»Kannst du am Lewis Wharf vorbeikommen, sagen wir, um neun Uhr?«
»Schätze schon. Wie heißt denn deine Freundin?«
{16}»Diandra Warren.«
»Und worum geht’s?«
»Es wäre mir lieber, wenn sie dir das persönlich sagt.«
»Okay.«
»Wir sehen uns morgen.«
»Bis dann.«
Ich wollte schon auflegen.
»Patrick?«
»Ja?«
»Hast du eine kleine Schwester namens Moira?«
»Nein. Ich habe eine ältere Schwester namens Erin.«
»Ach.«
»Wieso?«
»Ach, nichts. Wir reden morgen weiter.«
»Bis dann.«
Ich legte auf, sah die Klimaanlage an, dann Angie, dann wieder die Klimaanlage und rief schließlich den Reparaturdienst.
Diandra Warren wohnte in einem Loft im fünften Stock des Lewis Wharf. Sie hatte eine Panoramaaussicht auf den Hafen, riesige Erkerfenster, die die Ostseite des Loft in sanftes Morgenlicht badeten, und sie wirkte wie die Art von Frau, der es in ihrem ganzen Leben an nichts gefehlt hat.
Pfirsichfarbenes Haar lag in einem eleganten Schwung über ihrer Stirn und lief an den Seiten in einen Pagenschnitt aus. Dunkle Seidenbluse und hellblaue Jeans sahen aus wie nie getragen, und die Knochen in ihrem Gesicht lagen wie gemeißelt unter einer makellosen goldfarbenen Haut, die mich an Wasser in einem Kelch erinnerte.
{17}Sie öffnete die Tür und sagte: »Mr. Kenzie, Ms. Gennaro«, in einem sanften, selbstbewussten Flüstern, ganz in dem Wissen, ein Zuhörer würde sich notfalls vorbeugen, um sie zu verstehen. »Bitte kommen Sie herein.«
Das Loft war mit großer Sorgfalt eingerichtet. Couch und Sessel im Wohnbereich waren in einem Cremeton gepolstert, der ebenso gut zu dem hellen skandinavischen Holz der Kücheneinrichtung passte wie zu den gedeckten Rot- und Brauntönen der Perser- und Navajoteppiche, die strategisch verteilt auf dem Hartholzparkett lagen. Die Farben verliehen dem Raum Wärme, doch die fast spartanische Funktionalität wies auf eine Besitzerin hin, die nicht zu ungeplanten Äußerungen oder sentimentaler Gefühlsduselei neigte.
Die nackte Ziegelwand, die an die Erkerfenster grenzte, wurde von einem Messingbett eingenommen, daneben eine Kommode aus Walnuss, drei Aktenschränke aus Birke und ein Sekretär mit Schreibklappe. Im ganzen Raum entdeckte ich keinen Schrank, keine Kleidungsstücke. Vielleicht zauberte sie sich jeden Morgen Wäsche aus der Luft, die frisch gebügelt auf sie wartete, wenn sie aus der Dusche stieg.
Sie führte uns in den Wohnbereich, wir setzten uns in die Sessel, während sie nach kurzem Zögern auf der Couch Platz nahm. Zwischen uns stand ein Couchtisch aus Rauchglas mit einem braunen Umschlag in der Mitte und einem schweren Aschenbecher mit einem antiken Feuerzeug links davon.
Diandra Warren lächelte uns an.
Wir lächelten ebenfalls. In diesem Beruf muss man improvisieren können.
{18}Ihre Augen weiteten sich ein wenig, und das Lächeln blieb, wo es war. Vielleicht wartete sie darauf, dass wir unsere Empfehlungsschreiben ausbreiteten, unsere Waffen vorzeigten und ihr sagten, wie viele heimtückische Bösewichte wir seit Sonnenaufgang erledigt hatten.
Angies Lächeln verblasste; ich hielt noch ein paar Sekunden länger durch. Der unbekümmerte Detektiv, der seiner potentiellen Klientin die Angst nimmt. Patrick »Sparky« Kenzie. Zu Diensten.
»Ich weiß gar nicht, wie ich anfangen soll«, sagte Diandra Warren.
Angie sagte: »Eric meinte, Sie würden in Schwierigkeiten stecken, bei denen wir Ihnen behilflich sein könnten.«
Diandra Warren nickte, und ihre haselbraunen Augen schienen für einen Augenblick sehr unsicher, so als habe sich hinter ihnen etwas gelockert. Sie schürzte die Lippen, betrachtete ihre schlanken Hände, und gerade als sie den Kopf hob, öffnete sich die Wohnungstür, und Eric trat ein. Sein graumeliertes, sich lichtendes Haar war zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, doch er wirkte zehn Jahre jünger als seine tatsächlichen sechsundvierzig, siebenundvierzig. Er trug eine khakifarbene Hose und ein Jeanshemd unter einem dunkelgrauen Jackett, dessen unterster Knopf geschlossen war. Das Jackett sah an ihm etwas merkwürdig aus, so als habe der Schneider nicht damit gerechnet, dass Eric eine Waffe an der Hüfte tragen würde.
»Hey, Eric.« Ich streckte ihm die Hand hin.
Er schüttelte sie. »Ich bin froh, dass du kommen konntest, Patrick.«
»Hi, Eric.« Angie gab ihm die Hand.
{19}Als er sich vorbeugte, um sie zu schütteln, bemerkte er, dass seine Waffe zu sehen war. Er schloss kurz die Augen und wurde rot.
Angie sagte: »Ich würde mich erheblich besser fühlen, wenn Sie die Waffe auf den Couchtisch legen würden, bis wir gehen, Eric.«
»Ich komme mir vor wie ein Blödmann«, sagte er und versuchte zu lächeln.
»Bitte«, forderte Diandra ihn auf, »leg sie einfach auf den Tisch, Eric.«
Er ließ das Holster aufschnappen, als könne es beißen, und legte eine Ruger .38 auf den braunen Umschlag.
Verwirrt sah ich ihm in die Augen. Eric Gault und eine Waffe, das war wie Kaviar und Hotdogs.
Er setzte sich neben Diandra. »Wir waren in letzter Zeit ein wenig nervös.«
»Wieso?«
Diandra seufzte. »Ich bin Psychiaterin, Mr. Kenzie, Ms. Gennaro. Ich gebe zweimal die Woche Kurse an der Bryce University und biete den Lehrkräften und Studenten meine Beratung an, außerhalb meiner Praxis in der Stadt. In meinem Beruf rechnet man mit so einigen Dingen – gefährliche Klienten, Patienten, die einen ausgewachsenen psychotischen Schub haben, während man mit ihnen in einem winzigen Büro sitzt, paranoid dissoziative Schizophreniker, die meine Privatadresse herausfinden. Man lernt, mit solchen Ängsten zu leben. Man rechnet damit, dass eines Tages etwas passieren könnte. Aber das hier …« Sie warf einen Blick auf den Umschlag auf dem Tisch zwischen uns. »Das ist …«
{20}»Erzählen Sie uns doch mal, wie ›das‹ anfing.«
Sie lehnte sich zurück und schloss für einen Moment die Augen. Eric legte ihr eine Hand leicht auf die Schulter, sie schüttelte mit noch immer geschlossenen Augen den Kopf, also nahm er die Hand wieder weg, legte sie auf sein Knie und betrachtete sie, als sei er sich nicht ganz sicher, wie sie dorthin gekommen war.
»Eines Vormittags suchte mich eine Studentin auf, als ich an der Uni war. Zumindest sagte sie, sie sei Studentin.«
»Gab es daran irgendwelche Zweifel?«, fragte Angie.
»Zum damaligen Zeitpunkt nicht. Sie hatte einen Studentenausweis.« Diandra schlug die Augen auf. »Als ich das später nachprüfen wollte, fanden sich allerdings keine Unterlagen.«
»Wie hieß die Frau?«, fragte ich.
»Moira Kenzie.«
Ich sah Angie an, und sie runzelte die Stirn. »Sie verstehen also, Mr. Kenzie, dass ich sofort ansprang, als Eric Ihren Namen erwähnte, weil ich hoffte, Sie wären mit der jungen Frau verwandt.«
Ich dachte darüber nach. Kenzie ist kein sonderlich verbreiteter Name. Selbst in Irland gibt es nur ein paar von uns in der Gegend um Dublin und noch ein paar weitere oben in Ulster verstreut. Angesichts der Grausamkeit und Gewalttätigkeit, die in den Herzen meines Vaters und seiner Brüder lauerte, war es wohl keine so schlechte Sache, dass der Stammbaum langsam einging.
»Diese Moira Kenzie ist eine junge Frau, sagten Sie?«
»Ja.«
»Wie jung?«
{21}»Neunzehn, vielleicht zwanzig.«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, dann kenne ich sie nicht, Doktor Warren. Die einzige Moira Kenzie, die ich kenne, ist eine Cousine meines verstorbenen Vaters. Sie ist Mitte sechzig und hat Vancouver seit zwanzig Jahren nicht verlassen.«
Diandra nickte knapp und verbittert, und das Leuchten ihrer Augen schien zu verglimmen. »Tja, dann …«
»Doktor Warren«, sagte ich, »was geschah, als Sie diese Moira Kenzie kennenlernten?«
Wieder schürzte sie die Lippen, sah Eric an und blickte dann zu dem schweren Deckenventilator hinauf. Sie atmete langsam aus offenem Mund aus; da wusste ich, sie hatte beschlossen, uns zu vertrauen.
»Moira sagte, sie sei die Freundin eines Mannes namens Hurlihy.«
»Kevin Hurlihy?«, fragte Angie.
Diandra Warrens goldschimmernde Haut hatte im Laufe der letzten Minute die Farbe von Eierschalen angenommen. Sie nickte.
Angie sah mich an und runzelte erneut die Stirn.
»Kennt ihr ihn?«, fragte Eric.
»Unglücklicherweise ja«, antwortete ich.
Kevin Hurlihy war mit uns aufgewachsen. Er sieht ziemlich dämlich aus – ein schlaksiger, großer Kerl mit Hüftknochen wie Türknäufe und wilden, borstigen Haaren, die er offenbar mit der Klospülung stylt. Mit zwölf hatte man ihm erfolgreich einen Krebsgeschwulst am Kehlkopf entfernt. Von der Operation war ihm allerdings eine unsägliche Fistelstimme geblieben, die sich so anhört wie das {22}unausgesetzte wütende Gezeter einer Teenagerin. Die Flaschenböden in seiner Brille lassen seine Augen froschartig hervorquellen, und er kleidet sich wie ein Akkordeonspieler in einer Polkakapelle. Er ist die rechte Hand von Jack Rouse, dem Boss der irischen Mafia in dieser Stadt, und wenn sich Kevin komisch anhört oder aussieht, sollte man sich davon nicht täuschen lassen.
»Und was dann?«, fragte Angie.
Diandra blickte zur Decke hinauf, und die Haut an ihrer Kehle zitterte. »Moira erzählte mir, Kevin würde ihr Angst machen. Er habe sie ständig verfolgt, habe sie gezwungen zuzuschauen, wenn er Sex mit anderen Frauen hatte, sie gezwungen, Sex mit Geschäftspartnern zu haben, habe Männer verprügelt, die sie auch nur beiläufig anschauen, und einmal …« Sie schluckte, und Eric legte zögerlich eine Hand auf die ihre. »Sie erzählte mir, sie habe eine Affäre mit einem anderen Mann gehabt, und Kevin habe es herausgefunden und den Mann … getötet und in Somerville verscharrt. Sie flehte mich an, ihr zu helfen. Sie …«
»Wer hat sich bei Ihnen gemeldet?«, fragte ich.
Diandra wischte sich das linke Auge und zündete sich dann mit dem altmodischen Feuerzeug eine lange weiße Zigarette an. Trotz ihrer Angst zitterte ihre Hand nur ganz leicht. »Kevin«, antwortete sie, und der Name fiel ihr aus dem Mund wie etwas Saures. »Er rief mich um vier Uhr früh an. Wissen Sie, wie das ist, wenn um vier Uhr früh das Telefon klingelt?«
Man ist desorientiert, verwirrt, allein und verängstigt. Und genau das will ein Kerl wie Kevin Hurlihy auch erreichen.
{23}»Er sagte all diese schlimmen Sachen. Er sagte, Zitat: ›Na, wie fühlt sich das an, wenn man nur noch eine Woche zu leben hat, du alte Fotze?‹«
Hörte sich nach Kevin an. Einsame Klasse.
Diandra holte mit einem zischenden Geräusch Luft.
»Und wann haben Sie diesen Anruf bekommen?«
»Vor drei Wochen.«
»Vor drei Wochen?«, wiederholte Angie.
»Ja. Ich habe versucht, es zu verdrängen. Ich habe die Polizei angerufen, aber die meinte nur, sie könnten nichts unternehmen, es gäbe ja keinen Beweis dafür, dass Kevin angerufen hätte.« Sie fuhr sich mit der Hand durch die Haare, machte sich auf der Couch noch ein wenig kleiner und sah uns an.
»Als Sie mit der Polizei gesprochen haben«, sagte ich, »haben Sie da etwas über diese Leiche gesagt, die in Somerville vergraben sein soll?«
»Nein.«
»Gut«, sagte Angie.
»Warum haben Sie so lange damit gezögert, sich Hilfe zu holen?«
Sie streckte die Hand aus und schob Erics Waffe von dem braunen Umschlag. Sie reichte ihn Angie, die öffnete ihn und zog ein Schwarzweißfoto heraus. Sie warf einen Blick darauf und reichte es mir.
Der junge Mann auf dem Foto war etwa zwanzig – gutaussehend, lange dunkle Haare, Zweitagebart. Er trug eine Jeans mit aufgeschlitzten Knien, T-Shirt unter einem offenen Flanellhemd und eine schwarze Lederjacke. Die College-Grunge-Uniform. Er ging mit einem Notebook an {24}einer Ziegelmauer vorbei. Er schien nicht zu bemerken, dass er fotografiert wurde.
»Mein Sohn Jason«, erklärte Diandra. »Er ist im zweiten Jahr an der Bryce University. Das Gebäude in der Ecke ist die Uni-Bibliothek. Das Foto kam gestern mit der Post.«
»Irgendein Brief?«
Diandra schüttelte den Kopf.
»Name und Anschrift auf den Umschlag getippt, mehr nicht«, sagte Eric.
»Vor zwei Tagen«, fuhr Diandra fort, »war Jason übers Wochenende zu Hause, und ich hörte mit, wie er einem Freund am Telefon sagte, er würde den Eindruck nicht loswerden, gestalkt zu werden. Stalking. Sein Wort.« Sie wies mit der Zigarette auf das Foto, und jetzt zitterte ihre Hand deutlich sichtbar. »Am Tag darauf kam das hier an.«
Ich besah mir erneut das Foto. Die klassische Mafiawarnung – du glaubst, etwas über uns zu wissen, doch wir wissen alles über dich.
»Ich habe Moira Kenzie danach nicht wiedergesehen. Sie ist nicht an der Uni eingeschrieben, die Telefonnummer, die sie mir gegeben hat, stammt von einem China-Restaurant, und sie steht in keinem der örtlichen Telefonbücher. Trotzdem ist sie zu mir gekommen. Und jetzt das hier. Ich weiß nicht mal, warum, zum Himmel.« Sie schlug sich mit beiden Handflächen auf die Oberschenkel und schloss die Augen. Als sie sie wieder aufschlug, war all der Mut, den sie in den vergangenen drei Wochen wohl aus der Luft gesogen hatte, aufgebraucht. Sie wirkte verschreckt, und ihr schien plötzlich klargeworden zu sein, wie dünn die Mauern sind, die wir zum Schutz um unser Leben errichten.
{25}Ich sah Eric an, der seine Hand auf Diandras gelegt hatte, und versuchte einzuschätzen, in welcher Beziehung sie zueinander standen. Ich hatte niemals mitbekommen, dass er mit einer Frau ausgegangen war, und deshalb angenommen, dass er schwul sei. Jedenfalls hatte er in den zehn Jahren, die wir uns kannten, nie ein Wort über einen Sohn verloren.
»Wer ist Jasons Vater?«, fragte ich.
»Was? Wozu wollen Sie das wissen?«
»Wenn es bei irgendwelchen Drohungen um ein Kind geht«, antwortete Angie, »dürfen wir mögliche Sorgerechtsstreitigkeiten nicht außer Acht lassen.«
Diandra und Eric schüttelten gleichzeitig die Köpfe.
»Diandra ist seit fast zwanzig Jahren geschieden«, erklärte Eric. »Ihr Ex ist Jason gegenüber freundlich, aber distanziert.«
»Ich brauche seinen Namen«, beharrte ich.
»Stanley Timpson«, sagte Diandra.
»Stan Timpson, der Generalstaatsanwalt von Suffolk County?«
Diandra nickte.
»Doktor Warren«, sagte Angie, »da Ihr Exmann der höchstrangige Justizbeamte im Staat ist, müssen wir davon ausgehen, dass –«
»Nein.« Diandra schüttelte den Kopf. »Die meisten wissen noch nicht mal, dass wir verheiratet waren. Er hat drei weitere Kinder in zweiter Ehe, und sein Umgang mit Jason und mir beschränkt sich auf ein Minimum. Glauben Sie mir, das hat nichts mit Stan zu tun.«
Ich sah Eric an.
»Da muss ich ihr zustimmen«, sagte er. »Jason hat {26}Diandras Familiennamen angenommen, nicht Stans, und abgesehen von Geburtstagsanrufen und Weihnachtskarten bestand fast kein Kontakt.«
»Helfen Sie mir?«, fragte Diandra.
Angie und ich sahen uns an. Sich mit Typen wie Kevin Hurlihy und seinem Boss Jack Rouse im selben ZIP-Code aufzuhalten, ist nichts, was Angie oder ich gesund finden. Und jetzt wurden wir gebeten, uns vor ihnen aufzubauen und sie aufzufordern, unsere Klientin nicht weiter zu belästigen. Wie nett. Wenn wir Diandra Warrens Fall annahmen, dann war das eine der selbstmörderischsten Entscheidungen, die wir je getroffen hatten.
Angie las meine Gedanken. »Was denn?«, fragte sie. »Willst du vielleicht ewig leben?«
Wie ließen Lewis Wharf hinter uns und gingen die Commercial Street entlang; der verrücktspielende Herbst von New England hatte einen hässlichen Vormittag in einen herrlichen Nachmittag verwandelt. Als ich aufgewacht war, war der Wind so kalt und heftig gewesen, als würde der Atem eines puritanischen Gottes durch die Spalten unter meinen Fenstern fauchen. Der Himmel sah hart und blass aus wie das Leder eines Baseballs, und die Menschen, die auf der Avenue zu ihren Autos gingen, zogen sich in dicke Jacken und übergroße Pullover zurück, und Atemhauch wehte ihnen um die Gesichter.
Als ich meine Wohnung verließ, war die Temperatur auf 8 Grad Celsius gestiegen, und die Sonne, die sich durch den harten Himmel zu bohren versuchte, hatte ausgesehen wie eine Orange, die knapp unter der Oberfläche eines Teichs eingefroren war.
Als wir am Lewis Wharf zu Diandra Warrens Loft gegangen waren, hatte ich die Jacke ausgezogen, und als wir jetzt in unser Viertel zurückfuhren, pendelte sich das Thermometer bei 19 Grad ein.
Wir kamen an Copp’s Hill vorbei, die warme Brise vom Hafen raschelte in den Bäumen auf dem Hügel, und glänzend rote Blätter lagen auf den Grabsteinen und flatterten {28}hinunter ins Gras. Rechts von uns strahlten die Kais und Docks in der Sonne, links standen die braunen, roten und weißgelben Ziegelhäuser des North End mit ihren gefliesten Fußböden, alten offenen Türdurchgängen und dem Duft von dicken Saucen, Knoblauch und frisch gebackenem Brot.
»An solch einem Tag kann man die Stadt einfach nicht hassen«, sagte Angie.
»Unmöglich.«
Mit einer Hand packte sie ihr dickes Haar am Hinterkopf, hielt es wie einen Pferdeschwanz zusammen und neigte den Kopf zum offenen Seitenfenster, um sich die Sonne auf Gesicht und Hals scheinen zu lassen. Wie ich sie da mit geschlossenen Augen leise lächeln sah, hätte ich fast glauben mögen, dass mit ihr alles in Ordnung sei.
War es aber nicht. Nachdem sie ihren Mann Phil verprügelt hatte, bis er nur noch ein blutiger Haufen war, der von ihrer Veranda kotzte, als Strafe dafür, sie ein Mal zu oft geschlagen zu haben, hatte Angie den Winter in einem Nebel aus immer kürzer werdender Aufmerksamkeitsspanne und fortwährender Partnersuche verbracht und eine ganze Reihe an Männern zurückgelassen, die sich ratlos am Kopf kratzten, wenn Angie sie ohne Vorwarnung vor die Tür setzte und sich den nächsten angelte.
Da ich selbst nie ein Ausbund an Tugend gewesen bin, konnte ich nichts dagegen sagen, ohne wie ein Heuchler dazustehen; bei Frühlingsbeginn schien sie allerdings die Talsohle erreicht zu haben. Sie hörte auf damit, frische Beute anzuschleppen, beteiligte sich wieder zu hundert Prozent an der Fallarbeit und räumte sogar ihre Wohnung ein wenig {29}auf, was hieß, sie putzte den Backofen und kaufte sich einen Besen. Aber noch war sie nicht wiederhergestellt, noch nicht die Alte.
Sie war leiser, nicht mehr so frech. Sie rief mich zu den unmöglichsten Zeiten an oder tauchte bei mir auf, um über den Tag zu reden, den wir gerade miteinander verbracht hatten. Sie behauptete zudem, Phil schon seit Monaten nicht gesehen zu haben, was ich ihr allerdings nicht abkaufte, aus Gründen, die ich mir selbst nicht erklären konnte.
Das Ganze wurde noch durch den Umstand erschwert, dass ich zum zweiten Mal in all den Jahren, seit wir uns kennen, nicht immer uneingeschränkt für sie da sein konnte. Seit ich im Juli Grace Cole kennengelernt hatte, verbrachte ich, wann immer es die Zeit zuließ, ganze Tage und Nächte, manchmal ganze Wochenenden mit ihr. Ab und zu springe ich auch als Babysitter für Grace’ Tochter Mae ein und bin dann nur im äußersten Notfall für meine Partnerin erreichbar. Auf so etwas waren wir beide eigentlich gar nicht vorbereitet, denn wie Angie es mal formuliert hatte: »Eher taucht ein Schwarzer in einem Woody-Allen-Film auf, als dass Patrick eine ernsthafte Beziehung hat.«
An einer Ampel ertappte sie mich dabei, wie ich sie beobachtete, schlug die Augen auf und sah mich an, während ein winziges Lächeln ihre Lippen umspielte. »Machst du dir mal wieder Sorgen um mich, Kenzie?«
Meine Partnerin, die Gedankenleserin.
»Ich taxiere dich nur, Gennaro. Das ist rein sexistisch, weiter nichts.«
{30}»Ich kenne dich, Patrick.« Sie lehnte sich zurück. »Du spielst immer noch den großen Bruder.«
»Und?«
»Und«, sagte sie und fuhr mir mit den Fingern über die Wange, »es ist an der Zeit, damit aufzuhören.«
Ich wischte ihr eine Strähne vor dem Auge fort, kurz bevor die Ampel auf Grün sprang. »Nein«, widersprach ich.
Wir fuhren zu Angies Haus, sie zog abgeschnittene Jeans-Shorts an, und ich holte zwei Flaschen Rolling Rock aus dem Kühlschrank. Dann setzten wir uns auf die Veranda hinter dem Haus, hörten zu, wie die gestärkten Hemden ihres Nachbarn im Wind flatterten und knackten, und genossen den Tag.
Sie lehnte sich zurück, stützte sich auf die Ellbogen und streckte die Beine vor sich aus. »Tja, und plötzlich haben wir einen Fall.«
»Haben wir«, sagte ich und betrachtete ihre glatten olivfarbenen Beine und die ausgebleichte, fransige Jeans. Es mag ja nicht allzu viel Gutes auf der Welt geben, aber zeig mir jemanden, der was Schlechtes über Shorts sagt, und ich zeige dir einen Verrückten.
»Irgendwelche Ideen, wie wir vorgehen?«, fragte sie. »Und hör auf, mir auf die Beine zu starren, du Perversling. Du bist so gut wie verheiratet.«
Ich zuckte mit den Schultern, lehnte mich ebenfalls zurück und sah in den marmorhellen Himmel hinauf. »Ich bin nicht sicher. Weißt du, was mich ärgert?«
»Außer Muzac, Dauerwerbesendungen und der New-Jersey-Akzent?«
{31}»An diesem Fall.«
»Nun sag schon.«
»Wozu der Name Moira Kenzie? Wenn es sich um einen falschen Namen handelt, wovon wir wohl ausgehen können, warum dann mein Nachname?«
»Es gibt so etwas wie Zufall. Hast du vielleicht schon mal gehört. Das ist, wenn –«
»Schon gut. Noch was.«
»Und?«
»Kommt dir Kevin Hurlihy wie der Frauentyp vor?«
»Nein. Aber wir sind ihm seit Jahren nicht mehr begegnet.«
»Trotzdem …«
»Wer weiß?«, meinte Angie. »Ich hab schon einen Haufen verrückter, hässlicher Kerle mit schönen Frauen gesehen und umgekehrt.«
»Na ja, Kevin ist eigentlich nicht nur verrückt. Er ist ein Sadist.«
»Das sind die meisten Profiboxer auch. Und die siehst du immer mit Frauen.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Stimmt schon. Okay. Also, wie gehen wir bei Kevin vor?«
»Und bei Jack Rouse«, fügte sie hinzu.
»Gefährliche Typen«, sagte ich.
»Sehr gefährlich«, bestätigte sie.
»Und wer hat täglich mit solchen Typen zu tun?«
»Wir ganz gewiss nicht«, meinte Angie.
»Nein«, sagte ich, »wir sind Waschlappen.«
»Und auch noch stolz drauf«, bemerkte sie. »Bleibt nur noch …«
{32}Sie drehte den Kopf zu mir und blinzelte wegen der Sonne. »Du meinst doch nicht etwa –«
»Doch.«
»Ach, Patrick.«
»Wir müssen Bubba besuchen«, stellte ich fest.
»Ernsthaft?«
Ich war selbst nicht sonderlich glücklich darüber und seufzte. »Ja.«
»Mist«, sagte Angie.
»Links«, sagte Bubba. Dann: »Zwanzig Zentimeter nach rechts. Gut. Fast geschafft.«
Bubba ging ein paar Meter vor uns rückwärts, streckte die Hände vor der Brust aus und wackelte mit den Fingern, als würde er einen Laster einwinken. »Okay«, sagte er. »Linker Fuß etwa dreiundzwanzig Zentimeter nach links. Geschafft.«
Bubba in dem alten Lagerhaus aufzusuchen, in dem er wohnt, ist ungefähr so, als würde man am Rande einer Klippe Twister spielen. Bubba hat die ersten zwölf Meter des ersten Stocks mit so viel Sprengstoff verdrahtet, dass er damit die Ostküste in die Luft jagen könnte, deshalb muss man seinen Anweisungen buchstabengetreu folgen, wenn man auch in Zukunft ohne künstliche Beatmung weiterleben will. Angie und ich haben diese Prozedur schon unzählige Male hinter uns, trauen unserem Gedächtnis aber nicht genug, um sie ohne Bubbas Hilfe zu bewältigen. Schimpft uns ruhig übervorsichtig.
»Patrick«, sagte er und sah mich streng an, während mein rechter Fuß einen Zentimeter über dem Boden schwebte, »fünfzehn Zentimeter nach rechts. Nicht dreizehn.«
Ich holte tief Luft und schob den Fuß weitere zwei Zentimeter nach rechts.
{34}Bubba lächelte und nickte.
Ich stellte den Fuß ab. Ich flog nicht in die Luft. Glück gehabt.
Hinter mir sagte Angie: »Bubba, warum legst du dir keine Überwachungsanlage zu?«
Bubba runzelte die Stirn. »Das ist meine Überwachungsanlage.«
»Das ist ein Minenfeld, Bubba.«
»Ist doch dasselbe«, meinte Bubba. »Zehn Zentimeter nach links, Patrick.«
Hinter mir atmete Angie laut aus.
»Hast es geschafft, Patrick«, sagte Bubba, als ich etwa drei Meter vor ihm stand. Er kniff die Augen zu Schlitzen zusammen und sah Angie an. »Sei doch nicht so eine Heulsuse.«
Angie stand auf einem Bein und sah aus wie ein Storch. Ein ziemlich angepisster Storch, um ehrlich zu sein. »Wenn ich hier durch bin, knall ich dich ab, Bubba Rogowski.«
»Uh«, machte Bubba. »Sie hat mich mit vollem Namen angeredet. Genau wie meine Ma.«
»Du hast deine Mutter doch gar nicht gekannt«, erinnerte ich ihn.
»Mental gesprochen, Patrick«, erwiderte er und fasste sich an seine Stirnwulste. »Mental.«
Mal abgesehen von den Sprengfallen, mache ich mir manchmal Sorgen um ihn.
Angie trat auf die Stelle, an der ich gerade noch gestanden hatte.
»Alles in Ordnung«, sagte Bubba, und Angie boxte ihm gegen die Schulter.
{35}»Sonst noch was, worauf wir achten sollten?«, fragte ich. »Speere, die von der Decke fallen, Rasierklingen in den Sesseln?«
»Erst, wenn ich sie aktiviere.« Bubba ging zu einem alten Kühlschrank neben zwei abgewetzten braunen Sofas, einem orangefarbenen Bürostuhl und einer Stereoanlage, die noch ein Achtspur-Tonbandgerät besaß. Vor dem Bürostuhl stand eine Holzkiste; hinter den Sofas lag eine Matratze auf dem Boden, dort stapelten sich noch mehr davon. Einige der Kisten waren geöffnet, und aus dem Stroh ragten die hässlichen Griffe eingeölter schwarzer Schusswaffen. Bubbas täglich Brot.
Er öffnete den Kühlschrank und nahm eine Flasche Wodka aus dem Gefrierfach. Dann zog er drei Schnapsgläser aus dem Trenchcoat, ohne den ich ihn noch nie gesehen habe, egal, ob brütender Sommer oder eisigster Winter. Bubba trennt sich nie von seinem Trenchcoat. Harpo Marx, mit einer üblen Grundhaltung und dem Drang zu töten. Er goss den Wodka ein und reichte uns je ein Glas. »Soll die Nerven stärken, hab ich gehört.« Dann kippte er seinen Wodka runter.
Meine Nerven fühlten sich jedenfalls gestärkt. Angies offenbar auch, so, wie sie für einen Moment die Augen schloss. Bubba zeigte keinerlei Reaktion, aber Bubba hat ja auch keine Nerven, und soweit ich weiß, auch sonst kaum etwas von den Dingen, die ein Mensch zum Leben braucht.
Bubba ließ seine knapp hundertzehn Kilogramm auf eins der Sofas plumpsen. »Also, wozu wollt ihr Jack Rouse treffen?«
Wir erzählten es ihm.
{36}»Hört sich gar nicht nach ihm an. Dieser Scheiß mit dem Foto, also, das ist vielleicht wirkungsvoll, aber für Jack viel zu subtil.«
»Und was ist mit Kevin Hurlihy?«, fragte Angie.
»Wenn es für Jack zu subtil ist«, antwortete Bubba, »dann geht das weit über Kevins Möglichkeiten.« Er nahm einen Schluck aus der Flasche. »Eigentlich geht das meiste über seine Möglichkeiten. Addition und Subtraktion, das Alphabet und all der Scheiß. Mensch, das müsst ihr doch noch von früher wissen.«
»Wir haben uns gefragt, ob er sich vielleicht geändert hat.«
Bubba lachte. »Nö. Ist alles noch schlimmer geworden.«
»Er ist also gefährlich«, fragte ich.
»O ja«, antwortete Bubba. »So gefährlich wie ein Kettenhund. Er kennt sich aus mit Vergewaltigung, er kann kämpfen und anderen Leuten eine Todesangst einjagen, darin ist er richtig gut, aber mehr auch nicht.« Er hielt mir die Flasche hin, und ich goss mir noch einen ein.
»Also sind zwei Leute, die wissentlich einen Fall annehmen, der sie in Konflikt mit seinem Boss und ihm bringt …«
»Vollidioten, genau.« Er nahm die Flasche wieder an sich.
Ich sah Angie an, doch die streckte mir nur die Zunge raus.
»Soll ich ihn für euch umlegen?«, fragte Bubba und streckte sich auf der Couch aus.
Ich blinzelte. »Ähm …«
Bubba gähnte. »Kein Problem.«
Angie tätschelte ihm das Knie. »Im Augenblick nicht.«
»Ernsthaft«, sagte er und setzte sich auf, »kein Akt. Ich {37}hab da so ein neues Spielzeug, das spannst du einem Typen um den Kopf, genau hier, und dann –«
»Wir sagen dir Bescheid«, unterbrach ich ihn.
»Bestens.« Er legte sich wieder auf die Couch und sah uns einen Augenblick lang an. »Ich hätte nur nicht gedacht, dass so ein Irrer wie Kevin eine Freundin hat. Er ist eher der Typ, der dafür bezahlt oder es sich mit Gewalt nimmt.«
»Das kam mir auch komisch vor«, sagte ich.
»Jedenfalls wollt ihr euch nicht allein mit Jack Rouse und Kevin treffen«, sagte Bubba.
»Wollen wir nicht?«
Er schüttelte den Kopf. »Wenn du zu denen gehst und sagst: ›Haltet euch von unserer Klientin fern‹, bringen die euch um. Müssen sie ja. Sie sind keine sonderlich gefestigten Charaktere.«
Ein Typ, der sein Haus mit einem Minenfeld schützte, teilte uns mit, dass Jack und Kevin keine gefestigten Persönlichkeiten waren. Das waren ja mal richtig gute Nachrichten. Jetzt, wo ich wusste, auf was ich mich da eingelassen hatte, dachte ich darüber nach, wieder ins Minenfeld hinauszugehen und ein Tänzchen hinzulegen, nur um die Sache schnell hinter mich zu bringen.
»Wir gehen über Fat Freddy«, fuhr Bubba fort.
»Dein Ernst?«, fragte Angie.
Fat Freddy Constantine war der Pate der Bostoner Mafia. Er hatte der einst übermächtigen Truppe in Providence die Kontrolle entrissen und inzwischen seine Macht gefestigt. Jeder, der in der Stadt auch nur ein Tütchen Hasch verkaufen wollte, Jack Rouse, Kevin Hurlihy, sonst wer, musste sich Fat Freddy gegenüber verantworten.
{38}»Einen anderen Weg gibt es nicht«, meinte Bubba. »Ihr müsst Fat Freddy Respekt erweisen, und wenn ich den Kontakt herstelle, dann wissen die, dass ihr Freunde seid, und nieten euch nicht gleich um.«
»Wie schön«, sagte ich.
»Wann soll das Treffen stattfinden?«
»So schnell wie möglich«, antwortete Angie.
Bubba zuckte mit den Schultern und griff nach dem schnurlosen Telefon, das auf dem Boden lag. Er wählte eine Nummer, wartete und nahm noch einen Schluck aus der Flasche. »Lou«, sagte er, »sag dem Boss Bescheid, dass ich angerufen habe.« Dann legte er auf.
»›Der Boss‹?«, fragte ich.
Bubba streckte die Hände aus. »Die schauen sich alle Scorsese-Filme und Bullenserien an und glauben, dass sie so reden müssen. Ich halte sie nur bei Laune.« Er schenkte Angie nach. »Bist du schon geschieden, Gennaro?«
Sie lächelte und kippte den Wodka hinunter. »Nicht offiziell.«
»Wann denn?« Bubba runzelte die Stirn.
Angie legte die Füße auf eine offene Kiste voller AK-47 und lehnte sich zurück. »Die Mühlen des Gesetzes mahlen langsam, Bubba, und eine Scheidung ist eine komplizierte Angelegenheit.«
Bubba verzog das Gesicht. »Boden-Luft-Raketen aus Libyen schmuggeln ist eine komplizierte Angelegenheit. Aber eine Scheidung?«
Angie fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare und sah zu den abblätternden Heizungsrohren an Bubbas Zimmerdecke hinauf. »Bubba, bei dir dauert eine Beziehung so {39}lange, wie ein Sixpack hält. Was weißt du denn von Scheidung? Ernsthaft?«
Bubba seufzte. »Ich weiß, dass die Leute sich eine Wahnsinnsmühe geben und damit Zeug verbocken, wo ein sauberer Schnitt angesagt wäre.« Er hob die Beine vom Sofa und pflanzte die Sohlen seiner Kampfstiefel auf den Boden. »Und was ist mit dir, Kumpel?«
»Moi?«, fragte ich.
»Si«, antwortete er. »Wie war das denn bei dir mit der Scheidung?«
»Ein Kinderspiel«, sagte ich. »Wie eine Bestellung beim Chinesen – ein Anruf genügt.«
Bubba sah Angie an. »Siehste?«
Angie machte eine wegwerfende Handbewegung in meine Richtung. »Glaubst du ihm das etwa? Dem Meister der Selbstwahrnehmung?«
»Widerspruch, Euer Ehren«, sagte ich.
»Du laberst Scheiße, Euer Ehren«, entgegnete Angie.
Bubba verdrehte die Augen. »Würdet ihr beide euch endlich mal gegenseitig flachlegen, damit wir das hinter uns haben?«
Daraufhin trat eine dieser peinlichen Pausen ein, die es immer dann gibt, wenn irgendjemand andeutet, dass zwischen meiner Partnerin und mir mehr als nur reine Freundschaft besteht. Bubba hatte seinen Spaß daran und lächelte, doch glücklicherweise klingelte in diesem Augenblick das Telefon.
»Ja?« Er nickte uns zu. »Mr. Constantine, wie geht es Ihnen?« Er verdrehte die Augen, während Mr. Constantine sich darüber ausließ, wie es ihm ging. »Freut mich zu {40}hören«, sagte Bubba. »Hören Sie, Mr. C., ich habe hier ein paar Freunde, die dringend mit Ihnen sprechen müssten. Dauert nur ein paar Minuten.«
»Mr. C.?«, formte ich lautlos, und Bubba zeigte mir den Stinkefinger.
»Ja, Sir, gute Leute. Zivilisten, aber vielleicht sind sie über etwas gestolpert, das Sie interessieren könnte. Hat mit Jack und Kevin zu tun.« Wieder fing Fat Freddy an zu reden, und Bubba machte die universelle Wichsgeste. »Ja, Sir«, sagte er schließlich. »Patrick Kenzie und Angela Gennaro.« Er lauschte, blinzelte und sah Angie an, legte eine Hand auf das Mundstück und fragte: »Bist du mit den Patrisos verwandt?«
Angie zündete sich eine Zigarette an. »Leider ja.«
»Ja, Sir«, sagte Bubba ins Telefon. »Genau die Angela Gennaro.« Er schaute Angie an und hob die linke Augenbraue. »Heute Abend zehn Uhr. Danke, Mr. Constantine.« Er hielt inne und sah zu der Holzkiste hinüber, auf der Angies Füße ruhten. »Was? O ja, Lou weiß, wo. Sechs Kisten, morgen Abend. Aber sicher. Blitzblank, Mr. Constantine. Ja, Sir. Wiederhören.« Er legte auf, seufzte und schob die Antenne mit dem Handballen ins Telefon. »Scheiß Spaghettifresser«, sagte er. »Andauernd ›Ja, Sir. Nein, Sir. Wie geht’s der Gattin?‹ Na, wenigstens die Harp-Mobs geben einen Scheiß darauf, wie’s der Gattin geht.«
Aus Bubbas Mund war das ein großes Lob für meine ethnische Zugehörigkeit. »Und wo treffen wir ihn?«, fragte ich ihn.
Bubba sah Angie mit so etwas wie Ehrfurcht auf dem wulstigen Gesicht an. »In seinem Coffeeshop auf der Prince {41}Street. Zehn Uhr heute Abend. Wieso hast du mir nie erzählt, dass du mit den Patrisos verbandelt bist?«
Angie schlug ihre Zigarettenasche auf den Fußboden ab. Das war kein mangelnder Respekt; es war Bubbas Aschenbecher. »Bin ich nicht.«
»Wenn es nach Freddy geht, schon.«
»Tja«, meinte Angie, »da vertut er sich. Ein Geburtsfehler, mehr nicht.«
Bubba sah mich an. »Wusstest du, dass sie mit dem Patriso-Mob verwandt ist?«
»Jep.«
»Und?«
»Und ihr scheint es egal zu sein, deshalb ist es mir auch egal.«
»Bubba«, sagte Angie, »das ist nichts, worauf ich stolz bin.«
Er pfiff. »In all den Jahren und bei all dem Schlamassel, in den ihr beide geraten seid, da habt ihr nie Verstärkung angefordert?«
Angie sah ihn durch ihre langen Fransen hindurch an. »Noch nicht mal daran gedacht.«
»Warum nicht?« Bubba war zutiefst verwirrt.
»Weil du die ganze Mafia bist, die wir brauchen, Süßer.« Bubba wurde rot, was nur Angie gelang und jedes Mal sehenswert war. Sein riesiges Gesicht schwoll an wie eine überreife Traube, und einen Augenblick lang wirkte er fast harmlos. Fast.
»Schluss damit«, sagte er, »du machst mich verlegen.«
{42}Als wir wieder im Büro waren, setzte ich Kaffee auf, um den Wodka zu parieren, und Angie spielte den Anrufbeantworter ab.
Der erste Anrufer war ein neuer Klient von uns, Bobo Gedmenson, Besitzer einer Kette von Tanzclubs für Teenager namens Bobo’s Yo-Yo und ein paar Stripbars draußen in Saugus und Peabody, die solche Namen trugen wie Dripping Vanilla und The Honey Dip. Jetzt, nachdem wir seinen Expartner aufgetrieben hatten und den Großteil des Geldes, das er veruntreut hatte, an Bobo zurückgeben konnten, stellte Bobo plötzlich unser Honorar in Frage und jammerte uns die Ohren voll.
»Manche Leute …«, sagte ich kopfschüttelnd.
»… sind zum Kotzen«, pflichtete mir Angie bei, als Bobo auflegte.
Ich machte mir einen Knoten ins geistige Taschentuch, Bubba unser Geld kassieren zu lassen, dann lief die zweite Nachricht: »Hallo. Ich dachte nur, ich sollte euch viel Glück bei eurem neuen Fall wünschen und so weiter. Ein famoser Auftrag, hab ich gehört. Richtig? Also, ich melde mich wieder. Cheerio.«
Ich schaute Angie an. »Wer zum Henker war das?«
»Ich dachte, du wüsstest das. Ich kenne keinen Briten.«
»Ich auch nicht.« Ich zuckte mit den Schultern. »Falsche Nummer?«
»›Viel Glück bei eurem neuen Fall‹? Hört sich ganz so an, als wüsste er, wovon er redet.«
»Kommt dir der Akzent aufgesetzt vor?«
Sie nickte. »Klingt wie jemand, der zu viel Monty Python geschaut hat.«
{43}»Wen kennen wir, der Akzente nachmacht?«
»Bin ich überfragt.«
Die nächste Stimme war die von Grace Cole. Im Hintergrund hörte ich die menschlich-akustische Angriffswelle der Notaufnahme, wo sie arbeitete.
»Ich habe zehn Minuten Zeit für einen Kaffee, deshalb habe ich versucht, dich zu erwischen. Ich bin mindestens bis morgen früh hier, aber ruf mich doch morgen Abend an. Ich vermisse dich.«
Sie legte auf, und Angie meinte: »Und wann ist die Hochzeit?«
»Morgen. Hast du das nicht gewusst?«
Sie lächelte. »Du stehst unter ihrer Fuchtel, Patrick. Aber das weißt du ja selber, oder?«
»Sagt wer?«
»Sagen ich und alle deine Freunde.« Ihr Lächeln verblasste ein wenig. »Du schaust Grace anders an als andere Frauen.«
»Und wenn?«
Sie sah aus dem Fenster auf die Avenue hinunter. »Dann wünsche ich dir viel Glück«, sagte sie leise. Sie versuchte wieder zu lächeln, doch es lag nur schwach auf ihren Lippen und verschwand wieder. »Ich wünsche euch beiden das Allerbeste.«
Um zehn Uhr nachts saßen Angie und ich in einem kleinen Café auf der Prince Street und erfuhren von Fat Freddy Constantine mehr über seine Prostata, als uns lieb war.
Es war ein schmaler Laden in einer schmalen Straße. Die Prince Street schneidet von der Commercial zur Moon Street durch das North End, und wie die meisten Straßen in der Gegend ist sie kaum breit genug, um ein Fahrrad hindurchzuquetschen. Als wir dort eintrafen, war die Temperatur auf zwölf Grad gefallen, doch entlang der Straße saßen Männer in T-Shirts oder Unterhemden unter den aufgeknöpften Kurzarmhemden, fläzten auf Gartenstühlen und rauchten Zigarren oder spielten Karten, und sie lachten plötzlich laut auf, wie das Leute tun, die sicher sind, dass sie das Viertel kontrollieren.
Fat Freddys Café war nur ein dunkler Raum mit zwei kleinen Tischen draußen und vier drinnen auf schwarzweißen Bodenfliesen. Ein Deckenventilator drehte sich schwerfällig und blätterte die Seiten einer Zeitung hin und her, die auf dem Tresen lag, irgendwo hinter einem schweren schwarzen Vorhang, der den Flur zur Hintertür verbarg, trällerte Dean Martin.
An der Tür bauten sich zwei junge Kerle mit dunklen {45}Haaren und Körpern aus dem Fitnessstudio vor uns auf, die beide champagnerfarbene Pullover mit V-Ausschnitt und Goldketten trugen.
»Sagt mal, gibt es da bei euch einen Katalog, aus dem ihr Jungs alle zusammen bestellt?«
Einer der beiden fand das so witzig, dass er mich besonders fest abklopfte, wobei seine beiden Handballen so fest zwischen meine Rippen und Hüften schlugen, als wollten sie sich in der Mitte treffen. Wir hatten unsere Waffen im Wagen gelassen, also nahmen sie uns die Brieftaschen ab. Uns gefiel das nicht, ihnen war das egal, und bald darauf führten sie uns an einen Tisch, an dem bereits Don Frederico Constantine persönlich saß.
Fat Freddy sah aus wie ein Walross ohne Schnurrbart. Er war ein Koloss mit rauchgrauem Teint und trug mehrere Schichten dunkler Kleidung, so dass sein kantiger Klotzkopf auf all dieser Dunkelheit ruhte, als sei er aus den Falten des Kragens herausgebrochen und habe sich über die Schultern ergossen. Seine mandelbraunen Augen schauten warm, feucht und väterlich, und er lächelte viel. Er lächelte Fremde auf der Straße an, die Reporter, wenn er die Stufen vor dem Gericht herunterkam, wahrscheinlich auch seine Opfer, bevor seine Leute ihnen die Kniescheiben wegschossen.
»Setzen Sie sich, bitte«, sagte er.
Abgesehen von Freddy und uns war nur noch eine weitere Person im Café. Der Mann saß etwa sechs Meter entfernt hinten an einem Tisch neben einem Stützpfeiler, eine Hand auf dem Tisch, die Beine an den Knöcheln übereinandergelegt. Er trug helle Khakihose, weißes Hemd und {46}graues Halstuch unter einem bernsteinfarbenen groben Leinenjackett mit Lederkragen.
Er sah uns nicht recht an, aber ich konnte auch nicht beschwören, dass er wegschaute. Der Mann hieß Pine, von einem Vornamen wusste ich nichts, und in seinen Kreisen war er eine Legende: der Mann, der vier verschiedene Bosse und drei Familienkriege überlebt hatte und dessen Feinde die Angewohnheit hatten, so restlos zu verschwinden, dass man schon bald vergaß, dass es sie je gegeben hatte. Wie er so an dem Tisch saß, wirkte er wie ein ganz normaler, beinahe farbloser Typ; irgendwie gutaussehend, aber nicht bemerkenswert; er war etwa eins achtzig, eins zweiundachtzig, hatte aschblondes Haar, grüne Augen und war normal gebaut.
Schon bei der Tatsache, im selben Raum mit ihm zu sein, huschte mir eine Gänsehaut über den Kopf.
Angie und ich setzten uns, und Fat Freddy begann: »Prostata.«
»Wie bitte?«, fragte Angie.
»Prostata«, wiederholte Freddy. Er goss Kaffee aus einer Blechkanne in eine Tasse und reichte sie Angie. »Nichts, worüber sich Ihr Geschlecht auch nur halb so viel Gedanken machen muss wie unsereiner.« Er nickte in meine Richtung und reichte mir meine Tasse, dann schob er Sahne und Zucker in unsere Richtung. »Ich sag Ihnen was«, meinte er, »ich habe den Höhepunkt meiner Karriere erreicht, meine Tochter ist gerade in Harvard angenommen worden, und finanziell fehlt es mir an nichts.« Er rutschte auf dem Stuhl herum und verzog sein Gesicht, so dass seine riesigen Hängebacken in die Gesichtsmitte rutschten und einen {47}Augenblick lang seine Lippen völlig verdeckten. »Aber ich schwöre, das alles würde ich auf der Stelle gegen eine gesunde Prostata eintauschen.« Er seufzte. »Und Sie?«
»Was denn?«, fragte ich zurück.
»Prostata gesund?«
»Als ich das letzte Mal hab nachschauen lassen, schon, Mr. Constantine.«
Er beugte sich vor. »Sie sollten sich glücklich schätzen, mein junger Freund. Überglücklich. Ein Mann ohne eine gesunde Prostata ist …« Er legte seine Hände auf den Tisch. »Tja, er ist ein Mann ohne Geheimnisse, ohne Würde. Diese Ärzte, Himmel, die operieren einen, während man auf dem Bauch liegt, und gehen da mit ihren grässlichen kleinen Instrumenten rein und stochern und stupsen, sie reißen und –«
»Klingt ja furchtbar«, meinte Angie.
Das bremste ihn, glücklicherweise.
Fat Freddy nickte. »Furchtbar trifft es nicht ganz.« Plötzlich blicke er Angie an, als hätte er sie gerade erst bemerkt. »Und Sie, meine Liebe, sind viel zu empfindsam, Sie sollten bei solchen Gesprächen gar nicht dabei sein.« Er küsste ihr die Hand, und ich bemühte mich, nicht die Augen zu verdrehen. »Ich kenne Ihren Großvater recht gut, Angela. Recht gut.«
Angie lächelte. »Er ist stolz auf die Verbindung, Mr. Constantine.«
»Ich werde ihm berichten, dass ich das Vergnügen hatte, die Bekanntschaft seiner reizenden Enkeltochter zu machen.« Dann sah er mich an, und das Funkeln in seinen Augen ließ ein wenig nach. »Und Sie, Mr. Kenzie, Sie haben {48}ein wachsames Auge auf diese Frau und sorgen dafür, dass sie nicht in Gefahr gerät?«
»Diese Frau ist sehr gut darin, auf sich selbst zu achten, Mr. Constantine«, entgegnete Angie.
Fat Freddy starrte mich an, und sein Blick verdüsterte sich zusehends, so als würde ihm überhaupt nicht gefallen, was er da sah. »Unsere Freunde werden sich jeden Augenblick zu uns gesellen«, sagte er.
Freddy lehnte sich zurück und goss sich eine weitere Tasse Kaffee ein; ich hörte einen der Leibwächter draußen sagen: »Gehen Sie nur rein, Mr. Rouse«, und Angies Augen weiteten sich ein wenig, als Jack Rouse und Kevin Hurlihy zur Tür hereinkamen.
Jack Rouse kontrollierte Southie, Charlestown und das ganze Gebiet zwischen Savin Hill und dem Neponset River in Dorchester. Er war schmal, hart, und seine Augenfarbe harmonierte mit dem metallischen Grau seiner kurzgeschnittenen Haare. Er wirkte nicht sonderlich bedrohlich, aber das musste er ja auch nicht – dafür hatte er Kevin.
Ich kenne Kevin, seit wir sechs waren; nichts in seinem Hirn ist jemals von einem menschlichen Impuls verunreinigt worden. Er kam zur Tür herein und vermied es, Pine anzusehen oder gar zu grüßen, aber ich wusste, Kevin wollte genau so sein wie dieser Mann. Doch Pine war ganz Ruhe und Sparsamkeit, Kevin aber ein wandelnder blanker Nerv, und seine Augen leuchteten wie ein aufgeladener Akku. Er war die Art von Typ, der alles um sich herum umnietet, nur weil ihm gerade danach ist. Pine flößte einem Angst ein, weil Morden für ihn nur ein Job war, nicht anders als tausend andere. Kevin flößte einem Angst ein, weil {49}Töten der einzige Job war, den er haben wollte, und er würde es umsonst machen.
Nachdem er Freddy die Hand gegeben hatte, setzte er sich neben mich und versenkte seine Kippe in meiner Kaffeetasse. Dann fuhr er sich mit der Hand durch das grobe, feste Haar und starrte mich an.
»Jack, Kevin, ihr kennt doch Mr. Kenzie und Ms. Gennaro, oder?«, fragte Freddy.
»Alte Freunde«, antwortete Jack und setzte sich neben Angie. »Wir sind alle aus derselben Gegend.« Rouse legte sein altes blaues Clubjackett ab und hängte es über den Stuhl. »Das ist doch die reine Wahrheit, nicht, Kev?«
Kevin war zu beschäftigt damit, mich anzustarren, um zu antworten.
»Ich möchte, dass alles offen und ehrlich abgeht«, sagte Fat Freddy. »Rogowski sagt, Sie beide sind in Ordnung, und vielleicht haben Sie ein Problem, bei dem ich behilflich sein kann – mag sein. Aber Sie beide kommen aus Jacks Gegend, deshalb habe ich Jack gefragt, ob er sich dazusetzen möchte. Verstehen Sie?«
Wir nickten.
Kevin zündete sich wieder eine Zigarette an und pustete mir den Qualm in die Haare.
Freddy drehte auf dem Tisch die Handflächen nach oben. »Dann sind wir uns einig. Also, sagen Sie mir, wo der Schuh drückt, Mr. Kenzie.«
»Wir sind von einer Klientin angeheuert worden«, begann ich, »die –«
»Wie ist der Kaffee, Jack?«, fragte Freddy. »Genug Sahne?«
{50}»Sehr gut, Mr. Constantine. Sehr gut.«
»Die«, wiederholte ich, »den Eindruck hat, einen von Jacks Männern verärgert zu haben.«
»Männer?«, fragte Freddy, runzelte die Stirn und sah erst Jack, dann wieder mich an. »Wir sind kleine Geschäftsleute, Mr. Kenzie. Wir haben Angestellte, aber deren Loyalität endet beim Gehaltsscheck.« Wieder sah er Jack an. »Männer?«, sagte er, und die beiden kicherten.
Angie seufzte.
Kevin pustete mir weiter Qualm in die Haare.
Ich war müde, und die letzten Reste Wodka machten sich an meinem Hirn zu schaffen; ich war also wirklich nicht in der Stimmung, Süßholz mit einem Haufen Schmalspurpsychopathen zu raspeln, die sich ein paarmal zu häufig Der Pate angeschaut hatten und sich für ehrenwert hielten. Dann ermahnte ich mich, dass zumindest Freddy ein sehr mächtiger Psychopath war, der morgen Abend bereits meine Milz verspeisen würde, wenn ihm danach war.
»Mr. Constantine, einer von Mr. Rouses … Mitarbeitern hat seine Wut auf unsere Klientin zum Ausdruck gebracht und gewisse Drohungen ausgesprochen –«
»Drohungen?«, fragte Freddy. »Drohungen?«
»Drohungen?«, sagte Jack und lächelte Freddy an.
»Drohungen«, sagte Angie. »Es hat den Anschein, als habe unsere Klientin das Pech gehabt, mit der Freundin Ihres Mitarbeiters zu sprechen, die behauptete, von den kriminellen Aktivitäten Ihres Freundes zu wissen, darunter die – wie soll ich formulieren?« Sie sah Freddy in die Augen. »Die fachgerechte Entsorgung ehemals lebendigen Zellgewebes?«
{51}Es dauerte einen Augenblick, bis er kapierte, doch dann wurden seine kleinen Augen zu Schlitzen, er warf den riesigen Schädel in den Nacken und lachte so dröhnend zur Zimmerdecke hinauf, dass es die halbe Prince Street entlang zu hören war. Jack schaute verwirrt. Kevin schaute angefressen, aber Kevin schaut nun mal nicht anders.
»Pine«, sagte Freddy. »Hast du das gehört?«
Pine machte keinerlei Andeutung, überhaupt etwas gehört zu haben. Nichts wies darauf hin, dass er überhaupt atmete. Er saß reglos da und schaute gleichzeitig zu uns her und auch nicht.
»›Entsorgung ehemals lebendigen Zellgewebes‹«, wiederholte Freddy keuchend. Er sah Jack an und bemerkte, dass der den Witz immer noch nicht verstanden hatte. »Scheiße, Jack, geh raus und besorg dir mal ein Gehirn, okay?«
Jack blinzelte, Kevin beugte sich vor, und Pines Kopf drehte sich leicht, um ihn beobachten zu können; Freddy tat so, als habe er nichts von alledem bemerkt.
Er wischte sich die Mundwinkel mit einer Stoffserviette ab, sah Angie an und schüttelte langsam den Kopf. »Wartet, bis ich den Jungs im Club das erzählt habe. Also wirklich, Sie haben ja vielleicht den Namen Ihres Vaters angenommen, Angela, aber Sie sind eine waschechte Patriso. Da besteht kein Zweifel.«
»Patriso?«, fragte Jack.
»Ja«, antwortete Freddy. »Das ist Mr. Patrisos Enkeltochter. Hast du das nicht gewusst?«
Hatte Jack nicht. Das schien ihn zu verdrießen. »Gib mir ’ne Zigarette, Kev«, sagte er.
{52}Kevin beugte sich über den Tisch, gab ihm Feuer und hielt mir seinen Ellbogen einen knappen Zentimeter vors Auge.
»Mr. Constantine«, fuhr Angie fort, »unsere Klientin möchte ganz entschieden nicht auf der Liste all dessen landen, was Ihr Mitarbeiter zu entsorgen wünscht.«
Freddy hielt eine fleischige Hand in die Höhe. »Über was genau reden wir hier eigentlich?«
»Unsere Klientin glaubt, dass sie möglicherweise Mr. Hurlihy verärgert haben könnte.«
»Was?«, fragte Jack.
»Erklären Sie uns das«, sagte Freddy. »Und zwar ein bisschen plötzlich.«
Das taten wir, ohne Diandras Namen zu erwähnen.
»Also was?«, fragte Freddy. »Irgendeine Schlampe, die Kevin vögelt, erzählt dieser Psychiaterin irgendeinen Scheiß über – habe ich recht verstanden? – eine Leiche oder so was, und Kevin regt sich ein wenig auf und ruft sie an und haut auf den Putz?« Er schüttelte den Kopf. »Kevin, hast du mir was zu sagen?«
Kevin sah Jack an.
»Kevin«, drängte Freddy.
Kevin drehte den Kopf.
»Hast du eine Freundin?«
Kevins Stimme klang, als rasselten Glasscherben durch einen Automotor. »Nein, Mr. Constantine.«
Freddy sah Jack an, und die beiden lachten. Kevin sah aus, als sei er von einer Nonne dabei ertappt worden, wie er Pornos kaufen wollte.
Freddy wandte sich an uns. »Wollen Sie mich {53}verarschen?« Er lachte noch lauter. »Bei allem Respekt Kevin gegenüber, aber er ist nicht gerade der Schwarm aller Frauen, wenn Sie verstehen.«
»Mr. Constantine«, sagte Angie, »bitte versetzen Sie sich in unsere Lage – wir haben uns das nicht ausgedacht.«
Freddy beugte sich vor und tätschelte ihr die Hand. »Angela, das sage ich ja auch nicht. Aber man hat Sie reingelegt. Irgendeine Mieze behauptet, sie sei von Kevin wegen seiner Freundin bedroht worden? Kommen Sie.«
»Und dafür«, erklärte Jack, »habe ich eine Pokerrunde sausenlassen? Für diesen Scheiß?« Er schnaubte und wollte schon aufstehen.
»Setz dich, Jack«, sagte Freddy.
Jack erstarrte auf halber Höhe zwischen Sitzen und Stehen.
Freddy sah Kevin an. »Setz dich, Jack.«
Jack setzte sich.
Freddy lächelte uns an: »Haben wir Ihr Problem geklärt?«
Ich griff in die Innentasche meiner Jacke, um das Foto von Jason Warren herauszuziehen, Kevins Hand verschwand in seiner Jacke, Jack lehnte sich zurück, und Pine rutschte ein wenig auf seinem Stuhl herum. Freddys Blick wich nicht von meiner Hand. Ganz langsam zog ich das Foto heraus und legte es auf den Tisch.
»Unsere Klientin bekam das hier vor kurzem mit der Post.«
Eine der haarigen Raupen über Freddys Augen krümmte sich. »Und?«
»Und«, sagte Angie, »wir dachten, dies sei eine Botschaft {54}von Kevin, um unsere Klientin wissen zu lassen, dass er ihre Schwächen kennt. Wir gehen zwar davon aus, dass dies nicht stimmt, aber wir sind verwirrt.«
Jack nickte zu Kevin, und Kevin zog seine Hand aus der Jacke.
Falls Freddy etwas davon bemerkte, ließ er es sich nicht anmerken. Er warf einen Blick auf das Foto von Jason Warren und trank einen Schluck Kaffee. »Dieser Bursche, ist das der Sohn Ihrer Klientin?«
»Na, meiner ist es nicht«, antwortete ich.
Freddy hob langsam seinen riesigen Schädel und sah mich an. »Kennt dich jemand, du Arschloch?« Seine bislang so warmen Augen wirkten auf einmal beruhigend wie Eispickel. »Rede ja nie wieder so mit mir. Verstanden?«
Mein Mund fühlte sich plötzlich an, als hätte ich einen Wollpullover verschluckt.
Kevin kicherte ganz leise.
Freddy griff in die Falten seines Jacketts, ohne den Blick von mir zu nehmen, und zog ein in Leder gebundenes Notizbuch heraus. Er schlug es auf, blätterte ein paar Seiten und fand die Stelle, nach der er gesucht hatte.
»Patrick Kenzie«, las er vor. »Alter 33. Mutter und Vater verstorben. Eine Schwester, Erin Margolis, 36, lebt in Seattle, Washington. Letztes Jahr belief sich Ihr Bruttoeinkommen aus Ihrer Partnerschaft mit Miss Gennaro hier auf 48000