10,99 €
Die US-Marshals Daniels und Aule sollen im Fall einer Kindsmörderin ermitteln, die von der Gefängnisinsel Shutter Island geflohen ist. Als sie dort ankommen, erhalten sie verschlüsselte Botschaften, die sie immer tiefer in den düsteren Bau und die Machenschaften der Ärzte führen. Nichts ist so, wie es scheint. Dennis Lehanes raffiniert komponiertes Meisterwerk um Wahn und Angst in neuer Übersetzung.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 425
Dennis Lehane
Shutter Island
Roman
Aus dem Amerikanischen von Steffen Jacobs
Diogenes
Für Chris Gleason und Mike Eigen,
die zuhörten und verstanden.
Und manchmal halfen, die Bürde zu tragen.
… must we dream our dreams and have them, too?
Elizabeth Bishop, Questions of Travel
Aus dem Tagebuch des Dr. Lester Sheehan
Ich habe die Insel seit mehreren Jahren nicht mehr zu Gesicht bekommen. Das letzte Mal sah ich sie vom Boot eines Freundes aus, der sich in den Vorhafen gewagt hatte, und ich erblickte sie in der Ferne, hinter dem Innenring. Sie war von Hitzedunst umhüllt, ein Farbklecks vor dem sommerlichen Himmel.
Ich habe seit mehr als zwei Jahrzehnten keinen Fuß mehr auf die Insel gesetzt, aber Emily sagt (mal scherzend, mal im Ernst), sie wisse nicht genau, ob ich sie jemals verlassen hätte. Einmal sagte sie, dass Zeit für mich nichts anderes sei als eine Abfolge von Lesezeichen, mit deren Hilfe ich im Text meines Lebens vor und zurück springen würde. Wieder und wieder würde ich zu den Ereignissen zurückkehren, die mich in den Augen der scharfsinnigeren unter meinen Kollegen zu einem Menschen gemacht haben, der alle Merkmale des klassischen Melancholikers aufweist.
Emily könnte recht haben. Sie hat oft recht.
Bald werde ich auch sie verlieren. Es sei nur noch eine Frage von Monaten, teilte uns Dr. Axelrod am Donnerstag mit. Machen Sie diese Reise, von der Sie immer reden, riet er uns. Florenz, Rom und Venedig im Frühjahr. Er fügte hinzu: Sie selbst sehen auch nicht allzu gesund aus, Lester.
Ich glaube, auch er hat recht. In letzter Zeit verlege ich dauernd irgendwelche Sachen, vor allem meine Brille. Meinen Autoschlüssel. Ich betrete ein Geschäft und habe vergessen, weshalb ich dort bin, ich verlasse das Theater, ohne mich an das Gesehene zu erinnern. Wenn es stimmt, dass die Zeit für mich eine Abfolge von Lesezeichen ist, dann fühlt es sich an, als ob jemand all die vergilbten Zettel, Fetzen von Streichholzbriefchen und Pappstiele zum Umrühren von Kaffee aus dem Buch geschüttelt hätte. Als ob die Eselsohren geglättet worden wären.
Deshalb will ich jetzt alles aufschreiben. Nicht, um den Text so zu verändern, dass ich in besserem Licht dastehe. Nein, nein. Das hätte er niemals erlaubt. Auf seine ganz eigene Art hat er Lügen mehr gehasst, als alle Menschen, die ich kenne. Ich möchte den Text bewahren, ihn von seinem jetzigen Aufbewahrungsort (der, seien wir ehrlich, gerade beginnt, feucht und undicht zu werden) auf diese Seiten übertragen.
Das Ashecliffe Hospital lag auf einer Ebene im Nordwesten der Insel. Es machte einen durchaus freundlichen Eindruck. Man sah ihm nicht an, dass es als Anstalt für psychisch kranke Straftäter diente, und noch weniger sah es nach der Kaserne aus, die es früher einmal gewesen war. Es erinnerte die meisten von uns eher an ein Internat. Direkt vor dem eigentlichen Anstaltsgelände stand ein viktorianisches Haus, in dem der Direktor wohnte, und daneben eine finstere, aber schöne Miniaturfestung im Tudor-Stil, in der einst der hiesige Kommandant der Unionstruppen residiert hatte, und die nun unserem Chefarzt als Quartier diente. Innerhalb der Anstaltsmauern waren die Personalunterkünfte untergebracht: malerische Cottages mit Schindeldächern für die Klinikärzte, drei flache Zementbauten als Wohnheime für Wärter, Wachpersonal und Krankenschwestern. Das eigentliche Anstaltsgelände wurde von Rasenflächen und Heckenskulpturen geprägt, großen, schattigen Eichen, Kiefern und hübschem Ahorn. Apfelbäume ließen ihre Früchte im Spätherbst auf die Mauer oder direkt ins Gras fallen. Und in der Mitte des Geländes, flankiert von zwei identischen Backsteinbauten im Kolonialstil, stand ein Bauwerk aus großen, dunkelgrauen Steinen und schönem Granit. Hinter dem Gebäude lagen die Steilküste, das Marschland und ein langgestrecktes Tal, in dem einst ein landwirtschaftliches Kollektiv existiert hatte, das in den Jahren nach der amerikanischen Revolution aufgeben musste. Die Bäume, die man dort gepflanzt hatte – Pfirsich, Birne und Aronia –, hatten zwar überlebt, trugen aber keine Früchte mehr, und oft fuhr der Nachtwind heulend und mit katzenartigem Geschrei durch das Tal.
Und natürlich die Festung, die lange vor der Ankunft des ersten Krankenhauspersonals dort gestanden hatte und immer noch steht, schroff aus der südlichen Klippenwand ragend. Und dahinter der Leuchtturm, der seit dem Bürgerkrieg nicht mehr in Betrieb ist, weil der Strahl des Boston Light ihn überflüssig gemacht hat.
Vom Meer aus betrachtet, sah die Insel nach nichts aus. Man muss sie sich so vorstellen, wie Teddy Daniels sie an jenem ruhigen Morgen im September des Jahrs 1954 erblickte. Ein struppiges Eiland vor der Küste Bostons. Gar keine richtige Insel, mochte man denken, eher die Ahnung einer Insel. Welchem Zweck mag sie dienen, hatte er vielleicht gedacht. Welchem Zweck.
Ratten waren die größten Tiere, die es hier gab. Sie raschelten im Gebüsch, formierten sich nachts an der Küste zu langen Kolonnen, kletterten über nasse Felsen. Manche waren groß wie Flundern. In den Jahren nach jenen vier denkwürdigen Tagen im Spätsommer 1954 begann ich, die Ratten zu studieren. Ich postierte mich auf einem Hügel, von dem aus man die gesamte Nordküste überblicken konnte. Fasziniert stellte ich fest, dass einige Ratten versuchten, nach Paddock Island zu gelangen – einer Insel, kaum mehr als ein Fels mit etwas Sand drumherum, die an zweiundzwanzig Stunden des Tages unter Wasser lag. Wenn sie bei tiefster Ebbe für ein oder zwei Stunden auftauchte, versuchten manchmal Ratten dorthin zu schwimmen. Es war nie mehr als ein Dutzend, und immer wurden sie von der einsetzenden Flut zurückgetrieben.
Ich sage »immer«, aber das stimmt nicht. Einmal sah ich eine, die es geschafft hatte. Nur dieses eine Mal. Es war in der Nacht des Erntemondes, im Oktober ’56. Ich sah ihren ledrigen schwarzen Körper über den Sand huschen.
So dachte ich jedenfalls. Emily, die ich auf der Insel kennenlernte, würde sagen: »Das kann gar nicht sein, Lester. Es war zu weit weg.«
Sie hat recht.
Und dennoch weiß ich, was ich sah. Einen fetten, ledrigen Körper, der über den Sand schoss, perlgrauen Sand, der bereits im Wasser zu versinken begann, weil die Flut zurückkehrte und Paddock Island erneut verschlang – so wie sie wohl auch diese Ratte verschlang, denn ich sah sie nicht zurückschwimmen.
Aber in jenem Augenblick, als ich sie das Ufer hochrennen sah (und das habe ich wirklich, Entfernung hin oder her), musste ich an Teddy denken. Ich musste an Teddy denken und an Dolores Chanal, seine arme tote Frau. Und an diese beiden Satansbraten, Rachel Solando und Andrew Laeddis, und das Unheil, das sie über uns alle brachten. Ich dachte, dass Teddy, wenn er neben mir gesessen hätte, die Ratte auch gesehen hätte. Ganz bestimmt.
Und ich sage Ihnen noch etwas:
Teddy hätte applaudiert.
Der Vater von Teddy Daniels war Fischer gewesen. Im Jahr ’31, Teddy war damals elf Jahre alt, hatte er mit seinem Boot Schiffbruch erlitten. Für den Rest seines Lebens heuerte er auf anderen Booten an, wenn es dort Arbeit gab, und wenn nicht, entlud er an den Docks Frachtgut. Er legte lange Strecken zu Fuß zurück und um zehn Uhr vormittags saß er dann zu Hause in einem Sessel und starrte seine Hände an. Manchmal wurden seine Augen groß und dunkel, und er redete leise mit sich selbst.
Als Teddy ein kleiner Junge gewesen war, hatte er ihn zu den Inseln mitgenommen. Teddy war noch zu jung, um auf einem Boot von großem Nutzen zu sein – er konnte gerade mal Seile entwirren und Haken losbinden. Ein paar Mal schnitt er sich, und seine Hände waren blutverschmiert.
Sie fuhren in der Dunkelheit hinaus, und als die Sonne aufging, war sie wie kaltes Elfenbein, das sich aus dem Horizont schob, und die Inseln tauchten aus dem schwindenden Nebel auf, zusammengedrängt, als ob man sie bei etwas ertappt hätte.
Teddy sah kleine, pastellfarbene Hütten am Strand einer Insel, ein zerfallenes Anwesen aus Kalkstein auf einer anderen. Sein Vater zeigte ihm das Gefängnis auf Deer Island und die imposante Festung auf Georges Island. Auf Thompson Island waren die Bäume voller Vögel, und ihr Gekreisch klang wie ein Hagelschauer auf Glas.
Hinter ihnen allen lag die Insel namens Shutter wie etwas, das von einer spanischen Galeone heruntergeworfen worden war. Damals, im Frühjahr ’28, war die Insel lange Zeit sich selbst überlassen gewesen. Sie war völlig überwuchert, und die Festung, die sich auf ihrem höchsten Punkt erhob, verschwand fast unter Schlingpflanzen und Moos.
»Warum heißt sie Shutter?«, fragte Teddy.
Seine Vater zuckte die Schultern. »Du mit deinen Fragen. Immer stellst du Fragen.«
»Ja, aber warum?«
»Manche Orte bekommen einfach einen Namen, und der wird dann von allen benutzt. Wahrscheinlich haben Piraten die Insel so genannt.«
»Piraten?« Das gefiel Teddy. Er konnte sie vor sich sehen – große Männer mit Augenklappen, hohen Stiefeln und schimmernden Schwertern.
Sein Vater sagte: »Hier hatten sie ihre Verstecke.« Sein Arm beschrieb einen weiten Bogen. »Auf diesen Inseln. Hier haben sie sich selbst versteckt. Und ihr Gold.«
Teddy stellte sich Kisten vor, die von Goldmünzen überquollen.
Später musste er sich mehrmals heftig übergeben. In weitem Schwall spritzte das Erbrochene über die Bootswand ins Meer.
Sein Vater war überrascht, denn sie waren bereits stundenlang unterwegs gewesen und der Ozean glitzerte flach und still in der Sonne. Er sagte: »Ist schon in Ordnung. Ist ja dein erstes Mal. Deswegen musst du dich nicht schämen.«
Teddy nickte und wischte sich mit einem Lappen, den sein Vater ihm gegeben hatte, den Mund ab.
Sein Vater sagte: »Manchmal gibt es Bewegungen, die fühlst du erst, wenn sie in dir hochkriechen.«
Noch ein Nicken, denn Teddy brachte es nicht über sich, seinem Vater zu sagen, dass es keine Bewegung gewesen war, die ihm den Magen umgedreht hatte.
Es lag an all dem Wasser. Es erstreckte sich so weit um sie herum, als ob sonst nichts von der Welt geblieben wäre. Teddy hatte das Gefühl, dass es sogar den Himmel schlucken könnte. Bis zu diesem Augenblick hatte er nicht geahnt, dass sie so allein waren.
Er sah zu seinem Vater hoch, mit tränenden roten Augen, und sein Vater sagte: »Das wird wieder«, und Teddy versuchte zu lächeln.
Im Sommer ’38 fuhr sein Vater auf einem Bostoner Walfänger aus und kehrte nie wieder zurück. Im nächsten Frühjahr wurden Teile des Schiffes am Nantasket Beach von Hull angespült, der Stadt, in der Teddy aufwuchs. Ein Stück vom Kiel, eine Kochplatte, in deren Unterteil der Name des Kapitäns graviert war, Dosen mit Tomaten- und Kartoffelsuppe, einige löchrige und verformte Hummerfallen.
Der Trauergottesdienst für die vier Fischer fand in der Kirche St. Theresa statt, die direkt an der Küste jenes Ozeans stand, der so viele ihrer Gemeindemitglieder das Leben gekostet hatte, und Teddy stand da und hörte die Reden auf den Kapitän, den ersten Maat und den dritten Fischer, einen alten Seebären namens Gil Restak, der mit einer zerschmetterten Ferse und zu vielen hässlichen Bildern im Kopf aus dem Ersten Weltkrieg heimgekehrt war und seitdem in den Kneipen von Hull Angst und Schrecken verbreitet hatte. Doch mit dem Tod, so einer der Barmänner, sei alles vergeben und vergessen.
Der Schiffseigner Nikos Costa räumte ein, dass er Teddys Vater kaum gekannt habe, dass dieser im letzten Moment angeheuert habe, als ein Mitglied der Mannschaft sich beim Sturz von einem Lkw das Bein gebrochen hatte. Doch der Kapitän hatte voller Anerkennung über ihn gesprochen und gesagt, jedermann in der Stadt wisse, dass er seinen Mann stehen könne. Und welches höhere Lob konnte es geben?
Als er dort in der Kirche stand, erinnerte sich Teddy an den Tag auf dem Boot seines Vaters, weil sie danach nie wieder hinausgefahren waren. Sein Vater hatte es zwar immer wieder versprochen, aber Teddy hatte verstanden, dass er das nur sagte, damit sein Sohn seinen Stolz bewahren konnte. Sie hatten nie wirklich über das gesprochen, was an jenem Tag geschehen war, aber als sie durch die Reihe der Inseln nach Hause fuhren, hatten sie einen Blick ausgetauscht. Shutter Island lag hinter ihnen, Thompson noch vor ihnen, und die Skyline der Stadt schien so deutlich und nah zu sein, als ob man eines der Hochhäuser an der Spitze fassen und hochheben könne.
»Das macht das Meer«, sagte sein Vater und strich mit der Hand über Teddys Rücken, während sie am Heck lehnten. »Manche Menschen kommen damit klar. Manche Menschen gewöhnen sich nie daran.«
Und er sah Teddy so an, dass Teddy wusste, welche Art von Mensch aus ihm wohl werden würde.
Um im Jahr ’54 dort hinzukommen, nahmen sie die Fähre aus der Stadt und passierten eine Ansammlung anderer kleiner, vergessener Inseln – Thompson und Spectacle, Grape und Bumpkin, Rainford und Long – die sich im Meer förmlich festzukrallen schienen mit ihren kümmerlichen Bäumen, die zwischen harten Sandbänken und knochenweißen Felsen emporwuchsen. Mit Ausnahme regelmäßiger Zulieferungsfahrten an den Dienstagen und Samstagen verkehrte die Fähre unregelmäßig, und man hatte im Innenraum alles abgeschraubt bis auf das Blech, mit dem der Boden verkleidet war und zwei Stahlbänke, die unter den Fenstern standen. Die Bänke waren im Boden verankert, und an beiden Seiten erhoben sich dicke schwarze Pfosten. Handfesseln hingen wie Spaghetti von ihnen herab.
Heute jedoch transportierte die Fähre keine Patienten zum Irrenhaus, nur Teddy und seinen neuen Partner Chuck Aule, einige Postsäcke aus Segeltuch und ein paar Kisten mit medizinischen Vorräten.
Für Teddy begann die Überfahrt damit, dass er würgend vor der Toilette kniete, während der Schiffsmotor tuckerte und klapperte und ihm die schweren Gerüche von Benzin und spätsommerlicher See in die Nase stiegen. Es war bloß Wasser, das zögerlich aus ihm herausströmte, und dennoch zog seine Kehle sich zusammen und sein Magen drückte gegen die Speiseröhre.
Dem letzten Schwall folgte ein gewaltiger Rülpser, der ihm den Brustkorb zu zerreißen schien, und Teddy sank zurück auf den Metallboden. Er wischte sich mit einem Taschentuch über das Gesicht und dachte, dass dies ganz gewiss nicht die Art sei, wie man eine Partnerschaft beginnt.
Er konnte sich genau vorstellen, wie Chuck seiner Frau zu Hause von der ersten Begegnung mit dem sagenhaften Teddy Daniels erzählte: »Der Bursche mochte mich so sehr, Schatz, dass er erst mal kotzen ging.« Falls er überhaupt eine Frau hatte – noch nicht einmal das wusste Teddy bislang.
Seit seinem Ausflug als kleiner Junge war Teddy nie mehr gern auf See gewesen. Ihm bereitete das Fehlen des Festlands, der Sichtbarkeit von Festland kein Vergnügen, von Dingen, die man mit der ausgestreckten Hand berühren konnte, ohne dass sie sich verflüchtigten. Man redete sich ein, dass alles in Ordnung sei – denn das war es, was man tun musste, wenn man ein größeres Gewässer überqueren wollte –, aber es war nicht in Ordnung. Selbst im Krieg war es weniger die Erstürmung der Küste gewesen, die er am meisten gefürchtet hatte, als vielmehr jene letzten Meter von den Booten zum Strand, auf denen man durchs Wasser pflügte und einem seltsame Wesen über die Stiefel glitten.
Dennoch war er lieber draußen an Deck, stellte sich dem Wasser in der frischen Luft, als hier drinnen zu bleiben, wo es übelerregend warm war und alles schlingerte.
Als er sicher sein konnte, dass der Anfall vorbei war, sein Magen nicht länger blubberte, sein Kopf nicht länger schwindelte, wusch er sich Hände und Gesicht und warf einen prüfenden Blick in den kleinen Spiegel über dem Waschbecken. Das Glas war vom Meersalz zerfressen, und nur in der Mitte konnte Teddy sein Spiegelbild sehen: Es war das Gesicht eines immer noch recht jungen Mannes mit militärischem Bürstenschnitt. Aber in den Falten dieses Gesichts zeichneten sich der Krieg und die Jahre seitdem ab, und seine Vorliebe für den doppelten Kitzel von Jagd und Gewalt spiegelte sich in einem Blick wider, den Dolores einmal »hundetraurig« genannt hatte.
Ich bin zu jung für so einen Gesichtsausdruck, dachte Teddy.
Er richtete seinen Gürtel, so dass Pistole und Halfter auf seiner Hüfte ruhten. Er nahm seinen Hut von der Ablage und setzte ihn auf, wobei er die Krempe ein kleines Stück nach rechts neigte. Er zog den Knoten seiner Krawatte fest. Sie hatte eines dieser grellen Blumenmuster, das seit etwa einem Jahr nicht mehr in Mode war, aber er trug sie trotzdem, weil sie ein Geburtstagsgeschenk von Dolores war: Er hatte im Wohnzimmer gesessen, und sie hatte die Krawatte über seine Augen rutschen lassen. Dann hatte sie ihre Lippen auf seinen Adamsapfel gedrückt und ihre warme Hand auf seine Wange gelegt. Ihre Zunge hatte nach Orangen geschmeckt. Sie war auf seinen Schoß geglitten und hatte ihm die Krawatte abgenommen, während Teddy mit geschlossenen Augen dasaß. Um sie nur zu riechen. Sie sich vorzustellen. Sie in seinen Gedanken erstehen zu lassen und dort festzuhalten.
Das konnte er immer noch: Die Augen schließen und sie sehen. Aber in letzter Zeit hatten schmutzigweiße Flecken Teile des Bildes verzerrt – ein Ohrläppchen, ihre Wimpern, den Schwung ihres Haares. Es war noch nicht so viel, dass sie völlig verschwommen gewirkt hätte, aber Teddy befürchtete, dass die Zeit sie ihm nehmen könnte, dass sie die Bilder in seinem Kopf zerreiben könnte.
»Du fehlst mir«, sagte er und ging auf das Vordeck hinaus.
Hier draußen war es warm und wolkenlos, aber das Wasser war von dunklen Rostschlieren durchzogen und hatte eine blassgraue Färbung – als ob etwas Dunkles in seinen Tiefen wüchse und sich auftürmte.
Chuck nahm einen Schluck aus seinem Flachmann und hob fragend eine Augenbraue. Teddy schüttelte den Kopf, und Chuck ließ die Flasche wieder in einer Tasche seines Anzugs verschwinden. Er knöpfte den Mantel zu und sah hinaus auf die See.
»Alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragte er. »Sie sehen bleich aus.«
Teddy zuckte wegwerfend die Schultern. »Mir geht’s gut.«
»Bestimmt?«
Teddy nickte. »Ich muss nur noch ein wenig seefester werden.«
Sie standen eine Zeitlang schweigend da, die See wogte zu allen Seiten, und manche dunklen Wellentäler sahen glatt und geschmeidig wie Samt aus.
»Sie wissen, dass da früher ein Kriegsgefangenenlager war?«
Chuck fragte: »Auf der Insel?«
Teddy nickte. »Im Bürgerkrieg. Man hat eine Festung und Kasernen gebaut.«
»Wozu wird die Festung jetzt benutzt?«
Teddy zuckte die Schultern. »Weiß nicht. Es gibt einige Festungen auf diesen Inseln. Die meisten von ihnen haben im Krieg als Ziele für Artilleriegeschosse hergehalten. Viele sind nicht mehr übrig.«
»Und die Anstalt?«
»Soweit ich weiß, nutzen sie die alten Truppenquartiere.«
Chuck sagte: »Fast wie eine Rückkehr zum Stützpunkt, was?«
»Das sollten Sie uns nicht wünschen.« Teddy drehte sich mit dem Rücken zur Reling. »Und? Wie geht Ihre Geschichte, Chuck?«
Chuck lächelte. Er war ein bisschen gedrungener und kleiner als Teddy, vielleicht einen Meter siebzig, und er hatte volle, schwarze Locken, olivfarbene Haut und schmale, zarte Hände, die zu seiner restlichen Erscheinung nicht recht passen wollten – als ob er sie sich geborgt hätte, bis seine richtigen Hände aus der Werkstatt kamen. Auf seiner linken Wange zeichnete sich eine kleine, sichelförmige Narbe ab, und auf diese tippte er jetzt mit dem Zeigefinger.
»Ich fange immer bei der Narbe an«, sagte er. »Die meisten Leute fragen früher oder später danach.«
»In Ordnung.«
»Ich habe sie nicht aus dem Krieg«, sagte Chuck. »Meine Freundin meint, ich solle einfach sagen, es sei eine Kriegsverletzung, und basta. Na ja …« Er zuckte die Schultern. »Ich habe sie aber vom Kriegspielen. Als ich ein Kind war. Ich und dieser andere Junge haben mit Steinschleudern im Wald aufeinander geschossen. Der Stein meines Freundes hat mich knapp verfehlt – Glück gehabt, was?« Er schüttelte den Kopf. »Er ist in einen Baum eingeschlagen, und ein Stück Borke ist mir ins Gesicht geflogen. Daher kommt also die Narbe.«
»Vom Kriegspielen.«
»Vom Spielen, genau.«
»Sie wurden aus Oregon versetzt?«
»Seattle. Bin letzte Woche angekommen.«
Teddy wartete, aber Chuck gab keine weiteren Auskünfte.
Teddy fragte: »Wie lang sind Sie schon bei den Marshals?«
»Vier Jahre.«
»Dann wissen Sie ja, wie klein der Laden ist.«
»Sicher. Sie wollen wissen, wieso ich versetzt wurde.« Chuck nickte, als ob er zu einem Entschluss gekommen wäre. »Und wenn ich sage, dass ich den Regen satt hatte?«
Teddy zuckte die Schultern. »Wenn Sie’s sagen …«
»Aber der Laden ist klein, wie Sie schon bemerkten. Beim Militär kennt jeder jeden. Also wird schließlich – wie sagt man? – gemunkelt werden.«
»Wahrscheinlich.«
»Sie haben Breck gefasst, nicht wahr?«
Teddy nickte.
»Woher wussten Sie, wo er steckte? Fünfzig Leute haben ihn verfolgt, alle in Cleveland. Sie sind als einziger nach Maine gefahren.«
»Er hat da als Kind mal einen Sommer mit seiner Familie verbracht. Diese Sachen, die er mit seinen Opfern gemacht hat … so was macht man mit Pferden. Ich habe mit seiner Tante gesprochen. Sie sagte, glücklich sei er in seinem ganzen Leben nur einziges Mal gewesen: während der Zeit, die er auf einem Gestüt nahe des Ferienhauses in Maine verbracht hat. Also bin ich hingefahren.«
»Sie haben fünf Mal auf ihn geschossen«, sagte Chuck und blickte auf die Gischt hinab, die vor dem Bug schäumte.
»Ich hätte auch zehn Mal auf ihn geschossen«, sagte Teddy. »Aber es hat nur fünf gebraucht.«
Chuck nickte und spuckte über die Reling. »Meine Freundin ist Japanerin. Sie wurde zwar hier geboren, aber Sie wissen schon … Ist in einem Lager aufgewachsen. Da oben gibt’s immer noch viele Spannungen – Portland, Seattle, Tacoma. Niemandem gefällt es, dass ich mit ihr zusammen bin.«
»Deshalb wurden sie versetzt.«
Chuck nickte, spuckte noch mal und sah zu, wie der Batzen in die aufgewühlte Gischt fiel.
»Man sagt, das soll eine große Sache werden«, sagte er.
Teddy hob die Ellbogen von der Reling und richtete sich auf. Sein Gesicht war feucht, seine Lippen salzig. Seltsam, das Meer hatte ihn gefunden, obwohl er sich gar nicht daran erinnern konnte, dass ihm Wasser ins Gesicht gesprüht war.
Er klopfte auf die Taschen seines Mantels und suchte nach seinen Chesterfields. »Wer ist ›man‹? Was ist ›das‹?«
»Man. Die Zeitungen«, sagte Chuck. »Der Sturm. Soll groß werden, heißt es. Gewaltig.« Er gestikulierte mit dem Arm zum Himmel, der so blass wie die Gischt war, die um den Bug tobte. Aber im Süden wuchs eine dünne Reihe wattiger, violetter Tupfer aus dem Horizont, als wären es Tintenkleckse.
Teddy atmete schnuppernd die Luft ein. »Sie erinnern sich doch an den Krieg, Chuck, nicht wahr?«
Chuck lächelte, und Teddy hatte das Gefühl, dass sie sich bereits auf den Rhythmus des jeweils anderen einstellten und lernten, wie sie sich gegenseitig auf die Schippe nehmen konnten.
»Ein bisschen«, sagte Chuck. »Sieht so aus, als würde ich mich vor allem an Trümmer erinnern. Viele Trümmer. Die Leute halten nicht viel von Trümmern, aber ich sage, die muss es auch geben. Ich sage, die haben ihre eigene Schönheit. Ich sage, es hängt ganz davon ab, aus welcher Perspektive man die Sache betrachtet.«
»Sie reden daher wie ein Groschenroman. Haben Sie diesen Quatsch irgendwo gelesen?«
»Nein, das gehört zu meinem Repertoire.« Chuck schenkte dem Meer ein weiteres schwaches Lächeln, lehnte sich über den Bug, streckte den Rücken.
Teddy klopfte seine Hosentaschen ab, suchte in den Innentaschen seines Jacketts. »Dann erinnern Sie sich bestimmt auch, wie sehr die Truppeneinsätze von den Wettervorhersagen abhängig waren.«
Chuck rieb mit dem Handballen über die Stoppeln auf seinem Kinn. »Aber sicher doch.«
»Erinnern Sie sich, wie viele dieser Wettervorhersagen zutrafen?«
Chuck runzelte die Stirn, um Teddy zu zeigen, dass er der Frage die gebührende und angemessene Beachtung schenkte. Dann schnalzte er mit der Zunge und sagte: »Ungefähr dreißig Prozent, schätze ich.«
»Bestenfalls.«
Chuck nickte. »Bestenfalls.«
»Und jetzt, wo wir zurück in der richtigen Welt sind …«
»O ja, das sind wir«, sagte Chuck. »Haben uns richtig eingenistet, könnte man sagen.«
Teddy unterdrückte ein Lachen. Dieser Bursche war ganz nach seinem Geschmack. Eingenistet. Klasse.
»Eingenistet«, stimmte Teddy zu. »Warum sollten wir den Wetterberichten also mehr Glauben als damals schenken?«
»Na ja«, sagte Chuck. Ein kleines Dreieck mit platter Spitze lugte über den Horizont. »Ich bin mir nicht sicher, ob mein Glauben wirklich messbar ist. Zigarette?«
Teddy hielt mitten in der zweiten Runde seiner Suchaktion inne und sah, dass Chuck ihn beobachtete. Ein schiefes Grinsen hatte sich auf seinen Wangen breitgemacht, gleich unterhalb der Narbe.
»Als ich an Bord gegangen bin, hatte ich sie noch«, sagte Teddy.
Chuck sah ihn über die Schulter an. »Regierungsangestellte. Die klauen einem alles.« Er schüttelte eine Zigarette aus seiner Packung Luckies, reichte sie Teddy und gab ihm mit seinem Messing-Zippo Feuer. Der stechende Geruch von Benzin waberte durch die salzige Meeresluft und kitzelte Teddy in der Kehle. Chuck ließ das Feuerzeug zuschnappen, öffnete es wieder mit einer ruckhaften Bewegung des Handgelenks und steckte sich selbst eine an.
Teddy atmete aus, und die Dreiecksspitze der Insel verschwand für einen Augenblick in einer Rauchfahne.
»In Übersee«, sagte Chuck, »wenn eine Wettervorhersage darüber entschied, ob man mit dem Fallschirm abgeworfen wurde oder einen Brückenkopf einnehmen musste – da stand viel mehr auf dem Spiel, oder?«
»Stimmt.«
»Aber hier zu Hause, welchen Schaden kann da ein bisschen unbegründetes Vertrauen anrichten? Mehr sage ich gar nicht, Chef.«
Die Insel zeigte jetzt, dass sie mehr als bloß die Spitze eines Dreiecks war. Die tiefer gelegenen Teile rückten allmählich ins Blickfeld, bis die See sich auch auf der anderen Seite flach und weit ausbreitete, und ein unsichtbarer Pinsel schien die Farben aufzutragen: ein gedecktes Grün an den Stellen, wo die Vegetation ungehindert wucherte, ein hellbrauner Streifen an der Küste, das stumpfe Ocker der Steilküste an der Nordspitze. Und ganz oben konnten sie, während sie weiter durch die See pflügten, allmählich die niedrigen, rechteckigen Kanten der Gebäude ausmachen.
»Schade«, sagte Chuck.
»Was denn?«
»Der Preis des Fortschritts.« Er stellte einen Fuß auf das Schlepptau, lehnte sich neben Teddy über die Reling, und sie sahen zu, wie sich die Insel immer deutlicher vor dem Horizont abzeichnete. »Bei den sprunghaften Fortschritten in der Psychiatrie – und es sind wirklich sprunghafte Fortschritte, so viel steht fest – wird ein Ort wie dieser bald nicht mehr existieren. In zwanzig Jahren wird man so etwas barbarisch nennen. Eine bedauerliche Begleiterscheinung des viktorianischen Zeitalters. Weg damit, wird man sagen. Von Eingliederung wird man sprechen. Eingliederung wird die Losung des Tages sein. Kommt alle heim in unseren Schoß. Wir werden euch beruhigen. Wir werden euch kurieren. In jedem von uns steckt ein bisschen von George Marshall. Wir sind eine neue Gesellschaft, und darin ist für Ausgrenzung kein Platz mehr. Kein Elba.«
Die Gebäude waren jetzt hinter den Bäumen verschwunden, aber Teddy konnte den verschwommenen Umriss eines kegelförmigen Turms ausmachen, dann die harten, vorspringenden Kanten dessen, was die alte Festung sein musste.
»Aber verlieren wir unsere Vergangenheit, wenn wir der Zukunft Platz machen?« Chuck schnippte seine Zigarette ins Meer. »Das ist die Frage. Was geht verloren, wenn man einen Boden wischt, Teddy? Staub. Krümel, die sonst die Ameisen anziehen würden. Aber was ist mit dem Ohrring, den sie verloren hat? Liegt der jetzt auch im Müll?«
»Wer ist ›sie‹? Wo kommt ›sie‹ her, Chuck?«
»Es gibt immer eine sie. Oder?«
Das Heulen der Motoren hinter ihnen veränderte sich. Teddy spürte, wie die Fähre unter seinen Füßen leicht ins Schlingern geriet, und als sie auf die Westseite der Insel zusteuerten, zeichnete sich die Festung auf der südlichen Klippenwand klarer ab. Es gab keine Kanonen mehr, aber die Geschütztürme waren noch gut erkennbar. Hinter der Festung erstreckte sich eine Hügellandschaft, und Teddy nahm an, dass dort die Anstaltsmauer war, die sich aus seinem jetzigen Blickwinkel in der Umgebung verlor, und dass Ashecliffe Hospital irgendwo hinter den Klippen lag, mit Blick auf die Westküste.
»Haben Sie eine Freundin, Teddy? Sind Sie verheiratet?«, fragte Chuck.
»Ich war’s«, sagte Teddy und dachte an Dolores, den Blick, den sie ihm in ihren Flitterwochen einmal zugeworfen hatte: Sie hatte den Kopf gedreht, ihr Kinn hatte fast ihre nackte Schulter berührt, und das Spiel ihrer Rückenmuskeln entlang der Wirbelsäule war deutlich sichtbar. »Sie ist tot.«
Chuck löste sich von der Reling, und sein Nacken lief rot an. »Herrgott!«
»Ist schon in Ordnung«, sagte Teddy.
»Nein, nein.« Chuck hob entschuldigend die Handflächen. »Ich … ich hatte davon gehört. Keine Ahnung, wie ich das vergessen konnte. Es geschah vor einigen Jahren, nicht wahr?«
Teddy nickte.
»Ich komme mir wie ein Idiot vor, Teddy. Es tut mir sehr leid.«
Teddy sah sie wieder vor sich. Sie ging den Flur der Wohnung hinab und wandte ihm den Rücken zu. Sie trug eines seiner alten Uniformhemden und summte ein Lied, dann bog sie in die Küche ab. Er spürte die vertraute Erschöpfung in den Knochen. Über alles andere hätte er sich lieber unterhalten – wäre vielleicht sogar lieber in diesem Wasser geschwommen –, als über Dolores zu sprechen, darüber, dass sie einunddreißig Jahre auf dieser Erde zugebracht und sie dann verlassen hatte. Einfach so. Noch da, als er morgens zur Arbeit gegangen war. Fort, als er nachmittags zurückkehrte.
Aber mit dieser Geschichte verhielt es sich vermutlich ebenso wie mit der über Chucks Narbe – sie mussten das Thema erledigen, ehe sie weitermachen konnten, andernfalls würde es immer zwischen ihnen stehen. Das Wie. Das Wo. Das Warum.
Dolores war seit zwei Jahren tot, aber nachts in seinen Träumen erwachte sie zum Leben, und morgens dauerte es manchmal Minuten, ehe er begriff, dass sie nicht in der Küche war oder ihren Morgenkaffee auf der Eingangstreppe zu ihrer Wohnung an der Buttonwood Street trank. Ja, es war ein grausamer Streich, den sein Verstand ihm spielte, aber Teddy hatte sich längst ergeben. Immerhin besaß das Ganze eine gewisse Schlüssigkeit, weil das Aufwachen ein fast geburtsartiger Vorgang ist. Man taucht ohne Vorgeschichte aus dem Schlaf auf, verbringt einige Zeit blinzelnd und gähnend damit, die eigene Vergangenheit zusammenzusetzen und ihre Bruchstücke in eine chronologische Abfolge zu bringen, ehe man sich für die Gegenwart rüstet.
Weit grausamer war die Art, in der scheinbar beliebige Dinge wie brennende Streichhölzer Erinnerungen an seine Frau entzünden konnten. Es gelang ihm nie, vorherzusagen, was für Dinge das sein würden – ein Salzstreuer, der Gang einer fremden Frau auf einer belebten Straße, eine Flasche Coca-Cola, verschmierter Lippenstift an einem Glas, ein Sofakissen.
Aber von all diesen Auslösern war keiner so unlogisch und doch wirkungsvoll wie Wasser – Wasser, das aus dem Hahn tropfte, auf die Straße prasselte, auf dem Bürgersteig Pfützen bildete oder sich, wie jetzt, meilenweit in alle Richtungen erstreckte.
Er sagte zu Chuck: »In unserem Wohnhaus brach ein Feuer aus. Ich war bei der Arbeit. Vier Menschen starben. Sie war einer dieser Menschen. Es war der Rauch, Chuck, nicht das Feuer. Sie hat nicht gelitten. Vielleicht hat sie Angst gehabt. Aber keine Schmerzen. Das ist wichtig.«
Chuck nahm noch einen Schluck aus seinem Flachmann und bot ihn Teddy erneut an.
Teddy schüttelte den Kopf. »Ich habe aufgehört. Nach dem Feuer. Sie hat sich Sorgen gemacht deswegen. Sie meinte, dass wir Soldaten und Polizisten alle zu viel trinken. Und deshalb …« Er spürte, wie Chuck neben ihm vor Verlegenheit ganz klein wurde, und er sagte: »Man lernt, damit umzugehen, Chuck. Es bleibt einem gar keine andere Wahl. Wie der ganze Scheiß, den man im Krieg erlebt hat. Du erinnerst dich?« Der Übergang zum Du fiel ihm leicht.
Chuck nickte. Seine Augen verengten sich und nahmen einen abwesenden Ausdruck an, als er sich erinnerte. Doch das dauerte nur einen Moment.
»Es sind Taten, die zählen«, sagte Teddy leise.
»Natürlich«, sagte Chuck, und sein Gesicht war immer noch rot angelaufen.
Die Anlegestelle erschien so plötzlich, als ob sie eine optische Täuschung wäre. Sie ragte vom Strand ins Meer, und aus der Entfernung wirkte sie so grau und banal wie ein Streifen Kaugummi.
Teddy fühlte sich nach seinem Anfall von Seekrankheit völlig ausgedörrt, und vielleicht hatten ihn auch die letzten Minuten mitgenommen: So gut er auch lernte, seine Bürde zu tragen, ihren Tod zu ertragen – das Gewicht konnte ihn immer noch niederdrücken. Ein stumpfer Schmerz setzte sich in seiner linken Kopfhälfte fest, gleich hinter den Augen, als ob die flache Seite eines Löffels dagegen drückte. Er konnte noch nicht sagen, ob es sich nur um eine unbedeutende Nebenwirkung der Dehydration handelte, die Anfänge normaler Kopfschmerzen, oder ob dies der erste Hinweis auf etwas Schlimmeres wäre: die Migräne, die ihn seit seiner Jugend quälte, und die manchmal so stark war, dass sie ihm auf einem Auge die Sehkraft raubte und Licht in einen Hagelschauer aus heißen Nägeln verwandelte. Einmal – gottlob nur einmal – war er anderthalb Tage lang teilweise gelähmt gewesen. Die Migräne suchte ihn niemals heim, wenn er unter Druck stand, sondern erst, wenn die Dinge sich beruhigt hatten: wenn die Bomben gefallen waren, wenn die Verfolgungsjagd beendet war. Dann, in einem Basislager oder einer Kaserne oder – seit dem Krieg – in Motelzimmern oder wenn er auf Highways durch ländliche Gegenden nach Hause fuhr, war sie am schlimmsten. Teddy hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass Beschäftigung und Konzentration die besten Gegenmittel waren. Solange er immer weiterlief, konnte die Migräne ihn nicht einholen.
Er fragte Chuck: »Was weißt du über die Anstalt?«
»Ein Irrenhaus, das ist so ziemlich alles, was ich weiß.«
»Für geistesgestörte Straftäter«, sagte Teddy.
»Wenn’s anders wäre, wären wir ja nicht hier«, sagte Chuck.
Teddy fiel wieder sein schiefes Grinsen auf. »Man kann nie wissen, Chuck. Du scheinst mir auch nicht gerade hundertprozentig stabil zu sein.«
»Vielleicht zahle ich ein Bett an, wo wir schon hier sind. Damit sie mir für später ein Plätzchen freihalten.«
»Kein schlechter Einfall«, sagte Teddy. Die Motoren setzten einen Moment lang aus, und der Bug schwang nach Steuerbord, als sie mit der Strömung beidrehten. Dann setzte die Maschine wieder ein, und gleich darauf blickten Teddy und Chuck auf die offene See, während die Fähre sich rückwärts dem Anleger näherte.
»Soweit ich weiß«, sagte Teddy, »hat man sich hier auf einen radikalen Ansatz spezialisiert.«
»Rot?«
»Nicht rot«, sagte Teddy. »Bloß radikal. Das ist nicht das Gleiche.«
»Ist in letzter Zeit schwierig zu unterscheiden.«
»Manchmal schon«, stimmte Teddy zu.
»Und was ist mit dieser Frau, die geflüchtet ist?«
»Darüber weiß ich nicht viel. Sie hat sich letzte Nacht davongemacht. Ihr Name steht in meinem Notizbuch. Den Rest werden sie uns schon erzählen.«
Chuck ließ den Blick über das Wasser schweifen. »Wo soll sie denn hin? Vielleicht nach Hause schwimmen?«
Teddy zuckte die Schultern. »Die Patienten hier leiden offenbar unter vielen verschiedenen Wahnvorstellungen.«
»Schizophrenie?«
»Nehme ich an, ja. Ein paar harmlosen Mongoloiden werden wir hier jedenfalls nicht begegnen. Oder jemandem, der Angst vor Rissen im Bürgersteig hat. Oder zuviel schläft. Nach der Akte zu urteilen, sind die hier alle wirklich verrückt.«
Nun ging auch Chuck zum Duzen über: »Und wie viele simulieren deiner Meinung nach? Das habe ich mich immer gefragt. Erinnerst du dich an all die Typen, die im Krieg wegen geistiger Störungen zurückgestellt wurden? Wie viele von denen waren wohl wirklich verrückt?«
»In den Ardennen gab es da mal einen Burschen …«
»Du warst dort?«
Teddy nickte. »Dieser Kerl ist eines Morgens aufgewacht und hat rückwärts gesprochen.«
»Die Wörter oder die Sätze?«
»Die Sätze«, sagte Teddy. »Er sagte zum Beispiel: ›Sergeant, Blut viel zu heute ist hier.‹ Am späten Nachmittag stand er dann in einem Schützenloch und schlug mit einem Stein auf seinen Kopf ein. Schlug einfach zu. Immer wieder. Wir waren so verstört, als wir ihn fanden, dass wir gar nicht gleich bemerkten, dass er sich die Augen ausgekratzt hatte.«
»Willst du mich auf den Arm nehmen?«
Teddy schüttelte den Kopf. »Ein paar Jahre später habe ich einen getroffen, der dem Blinden in einem Veteranen-Krankenhaus in San Diego über den Weg gelaufen ist. Der Bursche hat immer noch rückwärts gesprochen, und er hatte eine Form von Lähmung, die sich keiner der Ärzte erklären konnte. Er hat den ganzen Tag in einem Rollstuhl am Fenster gesessen und über seine Ernte gesprochen. Dass er zur Ernte nach Hause müsse. Das Komische daran ist, er kam aus Brooklyn.«
»Tja, wenn sich einer aus Brooklyn für einen Farmer hält, dann hat er wohl wirklich einen Sparren locker.«
»Das kannst du laut sagen.«
Der stellvertretende Direktor, ein Mann namens McPherson, erwartete sie am Landungssteg. Für jemanden in seiner Stellung war er jung, und sein blondes Haar war etwas länger als üblich. In seinen Bewegungen lag eine gewisse schlaksige Anmut, die Teddy mit Texanern in Verbindung brachte, oder zumindest mit Männern, die mit Pferden aufgewachsen sind.
Er wurde von mehreren Krankenwärtern begleitet, die meisten davon Schwarze. Es gab auch einige Weiße mit abgestumpften Gesichtern, die so verkümmert aussahen, als hätte man sie als Babys nicht ausreichend gefüttert.
Die Krankenwärter trugen weiße Hemden und weiße Hosen und bewegten sich nur als Gruppe. Sie würdigten Teddy und Chuck kaum eines Blickes. Sie würdigten überhaupt kaum etwas eines Blickes, sondern liefen über den Landungssteg auf die Fähre zu und warteten darauf, dass die Fracht ausgeladen wurde.
Teddy und Chuck zeigten auf Anfrage ihre Dienstmarken vor, und McPherson betrachtete sie ausgiebig. Er kniff die Augen zusammen und sah abwechselnd auf ihre Ausweise und in ihre Gesichter.
»Ich glaube, ich habe noch nie die Dienstmarke eines US-Marshals gesehen«, sagte er.
»Und jetzt sehen Sie gleich zwei«, sagte Chuck. »Was für ein Tag.«
McPherson grinste Chuck träge an und warf ihm die Marke zu.
Der Strand sah aus, als ob die Brandung in den letzten Tagen besonders stark gewesen wäre. Er war mit Muschelschalen, Treibholz und toten Fischen übersät, an denen sich schon die Aasfresser gütlich getan hatten. Teddy sah Abfälle, die wohl mit dem Wind vom Bostoner Innenhafen herbeigetrieben worden waren – Dosen und durchweichte Papierbündel. Ein Nummernschild war bis zur Baumlinie hochgeschwemmt worden, und die Sonne hatte es so lange ausgebleicht, dass es jetzt beigefarben war; die Zahlen und Buchstaben ließen sich kaum noch entziffern. Bei den Bäumen handelte es sich größtenteils um Kiefern und Ahorn. Sie waren dünn und karg, und durch die Lücken sah Teddy einige der Gebäude, die auf der Anhöhe standen.
Dolores, die Sonnenbäder geliebt hatte, hätte dieses Plätzchen vermutlich gefallen, aber Teddy spürte bloß den ständigen Sog der Meeresbrise, eine Warnung der See, dass sie nach Belieben zuschlagen und ihre Opfer zu sich hinabziehen konnte.
Die Krankenwärter kamen mit der Post und den Vorratskisten zurück, die sie auf Handkarren luden, und McPherson bestätigte den Empfang mit seiner Unterschrift. Er gab einem der Fährangestellten das Klemmbrett mit dem Formular zurück, und der Mann sagte: »Dann legen wir jetzt ab.«
McPherson blinzelte in der Sonne.
»Der Sturm«, sagte der Mann. »Niemand weiß so recht, wie viel Schaden er anrichten wird.«
McPherson nickte.
»Wir geben Bescheid, wenn wir abgeholt werden müssen«, sagte Teddy.
Der Mann nickte. »Der Sturm«, sagte er wieder.
»Natürlich«, sagte Chuck. »Wir denken daran.«
McPherson ging ihnen auf dem sanft ansteigenden Weg durch die Bäume voraus. Dahinter kreuzte eine gepflasterte Straße ihren Weg. Sowohl zu seiner Linken als auch zu seiner Rechten sah Teddy ein Haus. Das Haus auf der Linken war das einfachere von beiden, ein viktorianischer Bau mit kastanienbraunem Dach und schmalen, schwarzen Fenstern, die wie Markierungen in dem Gemäuer wirkten. Das Haus auf der Rechten war ein Bauwerk der Tudor-Zeit, und es beherrschte seine kleine Anhöhe mit der Stattlichkeit einer Burg.
Sie gingen weiter, einen steilen, von Strandhafer überwucherten Hang hinauf. Danach wurde das Land um sie herum grüner, weicher und flacher. Das Gras war jetzt kürzer und wich schließlich ganz normalem Rasen, der sich hunderte von Metern vor ihnen erstreckte, bis er vor einer Mauer aus orangefarbenem Backstein endete, die über die gesamte Länge der Insel zu führen schien. Sie war drei Meter hoch, und auf ihrer Spitze verlief ein einzelner Draht. Etwas am Anblick dieses Drahtes berührte Teddy. Er fühlte ein jähes Bedauern für all die Menschen auf der Innenseite der Mauer, die diesen Draht als das erkannten, was er war, und begriffen, wie sehr die Außenwelt sie isolieren wollte. Direkt vor der Mauer sah Teddy mehrere Männer in dunkelblauen Uniformen, die den Kopf gesenkt hielten und eingehend den Boden musterten.
Chuck sagte: »Justizvollzugsbeamte in einer psychiatrischen Klinik. Ein seltsamer Anblick, wenn ich das sagen darf, Mr. McPherson.«
»Dies ist eine Hochsicherheitseinrichtung«, sagte McPherson. »Wir arbeiten für zwei Institutionen: die Justizbehörde von Massachusetts und das Amt für geistige Gesundheit.«
»Das ist mir klar«, sagte Chuck. »Trotzdem habe ich mich schon die ganze Zeit gefragt, worüber die Leute in der Kantine eigentlich miteinander reden.«
McPherson lächelte und nickte andeutungsweise.
Teddy sah einen Mann mit schwarzen Haaren, dessen Uniform sich von denen der anderen durch gelbe Epauletten und einen Stehkragen unterschied. Seine Armbinde war goldfarben. Er war der Einzige, der mit erhobenem Kopf ging, und er hielt eine Hand hinter dem Rücken, während er zwischen den Männern umherstolzierte. Sein Gang erinnerte Teddy an Colonels, die ihm im Krieg begegnet waren: Männer, für die das Kommando nicht nur eine notwendige militärische Bürde war, sondern von Gott auferlegt. Er hielt ein kleines schwarzes Buch an die Brust gedrückt, und er nickte ihnen zu ehe er den Hang hinabging, den sie heraufgekommen waren. Sein Haar bewegte sich nicht im Wind.
»Der Direktor«, sagte McPherson. »Sie werden ihn später kennenlernen.«
Teddy nickte und fragte sich, warum er nicht jetzt zu ihnen herüberkam. Der Direktor verschwand auf der anderen Seite des Abhangs.
Einer der Krankenwärter öffnete mit einem Schlüssel das Tor in der Mauer. Es schwang weit auf, und die Wärter gingen mit ihren Handkarren hinein. Zwei Wachen näherten sich McPherson und blieben links und rechts von ihm stehen.
McPherson richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Er war jetzt sehr geschäftsmäßig und sagte: »Meine Herren, ich muss Sie mit der allgemeinen Lage vertraut machen.«
»Natürlich.«
»Wir werden Ihnen zuvorkommend begegnen und Ihnen helfen, wo uns dies möglich ist. Während Ihres Aufenthalts, wie kurz er auch sein mag, haben Sie sich jedoch an die Regeln unserer Anstalt zu halten. Ist das klar?«
Teddy nickte, und Chuck sagte: »Vollkommen.«
McPherson richtete seinen Blick starr auf einen Punkt knapp über ihren Köpfen. »Dr. Cawley wird Ihnen die Details unserer Hausregeln sicherlich noch näher erläutern, aber ich muss Folgendes betonen: Unbeaufsichtigter Kontakt mit den Patienten dieser Einrichtung ist verboten. Ist das klar?«
Teddy hätte beinahe Ja, Sir geantwortet, als ob er sich wieder in der Grundausbildung befände, aber er hielt gerade noch rechtzeitig nach einem einfachen »Ja« inne.
»Station A dieser Einrichtung ist in dem Gebäude untergebracht, das sich hinter mir, zu meiner Rechten, befindet. Dies ist die Männerstation. Station B, die Frauenstation, befindet sich zu meiner Linken. Abteilung C befindet sich jenseits der Klippen direkt hinter diesem Gelände und den Personalquartieren, im ehemaligen Fort Walton. Zugang zu Station C ist ohne die schriftliche Genehmigung und die Anwesenheit sowohl des Direktors als auch Dr. Cawleys verboten. Verstanden?«
Ein weiteres Doppelnicken.
McPherson streckte eine seiner großen Hände aus, als ob er die Hilfe der Sonne erbitten wolle. »Sie werden hiermit ersucht, Ihre Schusswaffen auszuhändigen.«
Chuck warf Teddy einen Blick zu. Teddy schüttelte den Kopf.
Teddy sagte: »Mr. McPherson, wir sind rechtmäßig eingesetzte Bundes-Marshals. Wir sind gesetzlich dazu verpflichtet, unsere Schusswaffen ständig bei uns zu tragen.«
McPhersons Stimme klang, als würde ein Stahlseil durch die Luft zischen. »Anordnung Drei-Neun-Eins des Bundesgesetzbuchs für Strafanstalten und Einrichtungen für geistig gestörte Straftäter besagt, dass die Verpflichtung eines Gesetzeshüters, Waffen zu tragen, nur durch den Befehl seiner direkten Vorgesetzten oder von Personen aufgehoben werden kann, die mit der Verwaltung und Sicherung von Strafanstalten oder Institutionen der geistigen Gesundheit betraut wurden. Meine Herren, Sie unterliegen gegenwärtig einer solchen Ausnahme. Man wird Ihnen nicht gestatten, mit Ihren Schusswaffen durch dieses Tor zu treten.«
Teddy sah Chuck an. Chuck deutete mit dem Kopf auf McPhersons ausgestreckte Handfläche und zuckte die Schultern.
Teddy sagte: »Wir hätten gern, dass diese Ausnahme schriftlich zu Protokoll genommen wird.«
McPhersons sagte: »Wache, bitte vermerken Sie die Ausnahme für die Marshals Daniels und Aule.«
»Vermerkt, Sir.«
»Meine Herren …«, sagte McPherson. Die Wache rechts von McPherson öffnete einen kleinen Lederbeutel.
Teddy öffnete seinen Mantel und nahm den Dienstrevolver aus seinem Halfter. Er ließ den Zylinder mit einer raschen Bewegung aus dem Handgelenk aufschnappen, dann legte er die Waffe in McPhersons Hand. McPherson reichte sie der Wache, und die Wache legte sie in den Lederbeutel. McPherson streckte die Hand erneut aus.
Chuck war ein wenig langsamer mit seiner Waffe. Er nestelte am Druckknopf des Pistolenhalfters herum, aber McPherson ließ keine Ungeduld erkennen und wartete ruhig, bis Chuck ihm die Waffe unbeholfen ausgehändigt hatte.
McPherson gab die Waffe an die Wache weiter, und die Waffe legte sie in den Beutel und schritt durch das Tor.
»Ihre Waffen werden in der Asservatenkammer vor dem Büro des Direktors verwahrt«, sagte McPherson, und seine Worte raschelten sanft wie Blätter, »das sich im Hauptgebäude in der Mitte des Anstaltsgeländes befindet. Am Tag Ihrer Abreise können Sie die Waffen dort wieder abholen.« McPhersons lässiges Cowboy-Grinsen kehrte plötzlich zurück. »Soviel zum offiziellen Teil. Ich weiß ja nicht, wie’s Ihnen geht, aber ich bin froh, dass wir das hinter uns haben. Was halten Sie davon, wenn wir Dr. Cawley jetzt einen Besuch abstatten?«
Und damit drehte er sich um und ging durch das Tor voran, das hinter ihnen verschlossen wurde.
Innerhalb der Mauern erstreckte sich der Rasen zu beiden Seiten eines Hauptweges, der aus denselben Steinen wie die Mauer bestand. Gartenarbeiter mit aneinandergeketteten Fußknöcheln kümmerten sich um den Rasen, die Bäume und die Blumenbeete. Rund um das Krankenhaus gab es sogar Rosenbüsche. Die Gärtner wurden von Krankenwärtern beaufsichtigt, und Teddy sah andere Patienten mit Fußketten, die sich mit ungelenken, entenartigen Schritten über das Gelände bewegten. Die meisten waren Männer, einige waren Frauen.
»Als die ersten Ärzte ankamen«, sagte McPherson, »gab es hier nichts als Strandhafer und Gestrüpp. Sie sollten mal die Fotos sehen. Aber jetzt …«
Rechts und links des Krankenhauses standen zwei identische rote Backsteingebäude im Kolonialstil, deren Verzierungen in strahlendem Weiß gestrichen waren. Die Fenster waren vergittert, und die Scheiben durch das Salz und die Feuchtigkeit in der Luft gelblich angelaufen. Das Krankenhaus selbst war dunkelgrau und wuchs sechs Stockwerke in die Höhe, die Backsteine glatt geschliffen von der Witterung. Die Mansardenfenster schienen auf sie herabzustarren.
McPherson sagte: »Es wurde kurz vor dem Bürgerkrieg als Hauptquartier eines Bataillions erbaut. Es gab offenbar Pläne, das Gelände in eine Ausbildungseinrichtung umzuwandeln. Als der Krieg unmittelbar bevorzustehen schien, konzentrierte man sich auf die Festung, und später auf den Umbau in ein Kriegsgefangenenlager.«
Terry fiel der Turm ins Auge, den er bereits von der Fähre aus gesehen hatte. Seine Spitze ragte auf der anderen Seite der Insel knapp über die Baumlinie.
»Was ist das für ein Turm?«
»Ein alter Leuchtturm«, sagte McPherson. »Wurde seit Beginn des neunzehnten Jahrhunderts nicht mehr als solcher benutzt. Die Unionsarmee postierte dort Wachen, so hat man mir zumindest gesagt. Aber jetzt ist er eine Versorgungseinrichtung.«
»Für Patienten?«
Er schüttelte den Kopf. »Wasseraufbereitung. Sie können sich gar nicht vorstellen, was hier so alles angeschwemmt wird. Von der Fähre aus sieht es gar nicht so schlimm aus, aber jedes Stück Abfall in so ziemlich jedem Fluss, der durch diesen Staat fließt, wird erst in den Innenhafen, dann in den mittleren Hafen geschwemmt, und von da aus landet es hier.«
»Faszinierend«, sagte Chuck und zündete sich eine Zigarette an. Er nahm sie aus dem Mund, um ein Gähnen zu unterdrücken, während er in die Sonne blinzelte.
»Dort drüben, hinter der Mauer« – McPherson deutete auf das Gelände hinter Station B – »befindet sich das ursprüngliche Quartier des Kommandeurs. Sie haben es vermutlich beim Heraufkommen gesehen. Der Bau hat seinerzeit ein Vermögen gekostet, und der Kommandeur wurde des Dienstes enthoben, als Onkel Sam die Rechnung bekam. Sie sollten sich das Gebäude ansehen.«
»Wer wohnt jetzt dort?«, fragte Teddy.
»Dr. Cawley«, sagte McPherson. »Nichts von alldem, was Sie hier sehen, würde ohne Dr. Cawley existieren. Und den Direktor. Sie haben hier etwas wirklich Einzigartiges geschaffen.«
Sie liefen um das Krankenhaus herum, sahen weitere Krankenwärter und an den Füßen gefesselte Gartenarbeiter. Ein ganzer Trupp von ihnen hackte die harte Lehmerde vor der Mauer. Eine der Gartenarbeiterinnen, eine Frau mittleren Alters mit dünnem, weizenblondem Haar, das oben auf dem Kopf fast völlig ausgefallen war, starrte Teddy im Vorbeigehen an und hob den Zeigefinger an die Lippen. Teddy bemerkte eine dunkelrote Narbe, dick wie ein Strang Lakritze, die quer über ihren Kehlkopf verlief. Sie lächelte, den Finger immer noch an den Lippen, dann schüttelte sie sehr langsam den Kopf.
»Cawley ist auf seinem Gebiet eine Legende«, sagte McPherson, als sie wieder zur Vorderseite des Krankenhauses kamen. »Jahrgangsbester sowohl am John Hopkins als auch in Harvard. Er hat seinen ersten Aufsatz über Wahnstörungen mit zwanzig publiziert und wurde oft von Scotland Yard, vom MI5 und der OSS konsultiert.«
»Warum?«, fragte Teddy.
»Warum?«
Teddy nickte. Die Frage erschien ihm vernünftig.
»Tja …« McPherson wirkte ratlos.
»Die OSS«, sagte Teddy. »Fangen Sie mal mit der an. Warum sollten die einen Psychiater konsultieren?«
»Kriegsangelegenheiten.«
»Sicher«, sagte Teddy langsam, »aber welcher Art?«
»Die geheime Art, nehme ich an«, sagte McPherson.
»Wie geheim kann es denn sein«, sagte Chuck und warf Teddy einen nachdenklichen Blick zu, »wenn wir darüber reden?«
McPherson blieb vor dem Krankenhaus stehen, einen Fuß auf der untersten Treppenstufe. Er wirkte verdutzt. Einen Moment lang schaute er auf die orangefarbene Mauer, dann sagte er: »Sie können ihn ja fragen. Seine Besprechung dürfte inzwischen beendet sein.«
Sie gingen die Stufen hoch und durch eine mit Marmor verkleidete Eingangshalle. Über ihnen wölbte sich eine kuppelförmige Kassettendecke. Ein Tor sprang summend auf, als sie sich näherten, und sie betraten einen großen Vorraum. Zwei Krankenwärter saßen sich an Pulten gegenüber. Hinter einem weiteren Tor begann ein langer Gang. Sie gaben dem Wärter ihre Dienstmarken, und McPherson trug ihre drei Namen auf einem Formular ein, während der Wärter ihre Marken und Ausweise prüfte und sie zurückgab. Hinter dem Wärter befand sich eine Art vergitterte Kabine, und darin sah Teddy einen Mann, der eine ähnliche Uniform wie der Direktor trug. An der Wand hingen Schlüssel an ihren Ringen.
Sie stiegen in den ersten Stock hinauf und betraten einen Gang, in dem es nach Holzreiniger roch. Der Eichenboden unter ihren Füßen glänzte und strahlte in dem weißen Licht, das durch das große Fenster am Ende des Ganges fiel.
»Viel Sicherheitspersonal«, sagte Teddy.
McPherson sagte: »Wir treffen alle nötigen Vorkehrungen.«
Chuck sagte: »Die Öffentlichkeit wird es Ihnen zu danken wissen, nehme ich an.«
»Sie müssen eines begreifen«, sagte McPherson und drehte sich zu Teddy um, während sie an mehreren Räumen vorbeikamen, deren Türen alle verschlossen waren. Auf kleinen silbernen Schildern standen die Namen von Ärzten. »Es gibt in den Vereinigten Staaten keine zweite Einrichtung wie diese. Wir nehmen nur die schwersten Fälle auf. Wir nehmen die auf, mit denen keine andere Einrichtung zurechtkommt.«
»Gryce ist hier, nicht wahr?«, fragte Teddy.
McPherson nickte. »Vincent Gryce, richtig. Auf Station C.«
Chuck sagte zu Teddy: »Gryce war der, der …«
Teddy nickte. »Er hat all seine Verwandten umgebracht, skalpiert und Hüte draus gemacht.«
Chuck nickte mehrmals. »Und sie dann in der Öffentlichkeit getragen, nicht wahr?«
»So stand es in den Zeitungen.«
Sie waren vor einer Doppeltür stehen geblieben. Auf einem Messingschild in der Mitte der rechten Tür stand CHEFARZT DR. J. CAWLEY.
McPherson wandte sich ihnen zu, eine Hand auf dem Türgriff, und sah sie mit schwer zu deutender Eindringlichkeit an.
Er sagte: »In einem weniger aufgeklärten Zeitalter hätte man einen Patienten wie Gryce zum Tode verurteilt. Aber hier kann man ihn beobachten, sein Krankheitsbild studieren, vielleicht sogar die geistige Abnormität definieren, die ihn dazu brachte, sich von allen akzeptablen Verhaltensformen so vollständig loszulösen. Wenn das gelingt, dann können wir unsere Gesellschaft eines Tages vielleicht vollständig von solchen Krankheiten befreien.«
Er schien eine Antwort zu erwarten, denn seine Hand lag weiter starr auf dem Türgriff.
»Es ist wichtig, Träume zu haben«, sagte Chuck. »Finden Sie nicht auch?«
D