Dunkelschwester - Kara Thomas - E-Book

Dunkelschwester E-Book

Kara Thomas

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Beschreibung

Als Tessa in ihre Heimatstadt Fayette zurückkehrt, verfolgt sie die Vergangenheit auf Schritt und Tritt: Hier hat ihre Mutter sie im Stich gelassen, hier ist ihre ältere Schwester Josie einfach abgehauen – und hier wurde eine ihrer Kindheitsfreundinnen umgebracht. Tessa und ihre beste Freundin mussten damals als Zeuginnen aussagen, und der Mörder sitzt bis heute hinter Gittern. Das glaubt Tessa zumindest. Doch dann verschwindet ein weiteres Mädchen, und Tessa beschleicht der furchtbare Verdacht, dass damals der Falsche verhaftet wurde. Haben vielleicht ihre Mutter und ihre Schwester der Polizei irgendetwas verheimlicht? Tessa muss die beiden finden, ehe der Mörder sich ein weiteres Opfer sucht …

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Seitenzahl: 467

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Zum Buch

In Wer’s findet, dem gehört’s gewährt Sedaris der Welt zum ersten Mal Einblick in seine privaten Aufzeichnungen – eine persönliche Erzählung davon, wie ein drogensüchtiger Schulabbrecher mit einer Schwäche für billige Pfannkuchen und dem Talent, jeden Job zu verlieren, zu einem der lustigsten Menschen auf dem Planeten wurde.

Sedaris’ Tagebücher belegen, dass er – mit seinem scharfen Blick und offenen Ohr für das Bizarre, das Schöne und das Unbequeme und mit seiner Großherzigkeit, die nicht einmal sein misanthrophischer Sinn für Humor ganz verbergen kann – zu einem unserer besten Beobachter gehört.

Zum Autor

David Sedaris, geboren 1956 in Johnson City, New York, aufgewachsen in Raleigh, North Carolina, lebt in England. Er schreibt u. a. für den New Yorker und BBC Radio 4. Mit seinen Büchern Naked, Fuselfieber, Ich ein Tag sprechen hübsch und Schöner wird’s nicht wurde er zum Bestsellerautor. Zuletzt erschienen im Blessing Verlag Das Leben ist kein Streichelzoo. Fiese Fabeln (2011) und Sprechen wir über Eulen – und Diabetes (2013).

K A R A  T H O M A S

THRILLER

Aus dem Amerikanischen

von Julia Walther

Die Originalausgabe erscheint unter dem Titel The Darkest Corners bei Delacorte Press, an imprint of Random House Children’s Books, New York

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Copyright © 2016 by Kara Thomas

Copyright © 2017 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Birgit Förster

Umschlaggestaltung: Das Illustrat, München, unter Verwendung eines Motivs von © Anat Skwong/Shutterstock und Nina Malyna/Shutterstock

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN 978-3-641-17048-6V001

Für Kevin Thomas

1

Die Hölle ist ein zweistündiger Zwischenstopp in Atlanta.Die Frau rechts neben mir beobachtet mich, seit ich mich hingesetzt habe. Sie gehört zu denen, die allein die Tatsache, dass man atmet, als Einladung verstehen, ein Gespräch anzufangen.

Kein Blickkontakt. In Gedanken wiederhole ich wieder und wieder diese Worte, während ich nach meinem iPod suche. Den habe ich immer dabei, auch wenn er schon sieben Jahre alt ist und das Display einen Sprung hat.

In meiner Nase fängt es an zu kribbeln. Die Frau neben mir bewegt sich. Kein Blickkontakt. Und auf gar keinen Fall …

Ich niese.

Verdammt!

»Gesundheit! Ganz schön heiß hier, was?« Die Frau fächelt sich mit ihrer Bordkarte Luft zu. Irgendwie erinnert sie mich an meine Großmutter: Trotz ihres Alters würde man sie eher in einer Parfümerie an dem Stand mit den Clinique-Produkten antreffen als im Gemeindehaus beim Bingo. Ich nicke ihr unverbindlich zu.

Lächelnd rutscht sie auf ihrem Sitz näher an meine Armlehne heran. Ich versuche, mich mit ihren Augen zu sehen: die fettigen Haare zu einem Knoten zusammengedreht. Immer noch die schwarze Hose und der schwarze Pulli mit V-Ausschnitt – meine Arbeitsuniform aus dem Chili’s. Zwischen den Füßen mein Rucksack. Vermutlich sehe ich aus, als müsste ich bemuttert werden.

»Und, wo kommen Sie her?«, fragt sie.

Was für eine seltsame Frage auf einem Flughafen. Interessiert die Leute da nicht eher, wo man hinwill?

Ich muss mich räuspern. »Florida.«

Derweil fächert sie sich immer noch mit der Bordkarte Luft zu und mir damit einen Geruch nach Schweiß und Puder. »Oh, Florida. Toll.«

Nicht wirklich. Nach Florida ziehen die Menschen, um zu sterben.

»Es gibt schlimmere Orte«, sage ich.

Und ich sollte es wissen, denn ich bin auf dem Weg zu einem von ihnen.

Ich wusste sofort, dass jemand gestorben war, als meine Chefin sagte, es hätte jemand für mich angerufen. Auf dem Weg von der Küche in ihr Büro redete ich mir ein, dass es Großmutter sein musste. Als ich ihre Stimme am Telefon hörte, war ich erst mal erleichtert.

Dann sagte sie: »Tessa, es geht um deinen Vater.«

Bauchspeicheldrüsenkrebs, erklärte sie. Im fortgeschrittenen Stadium. Es hätte auch nichts geändert, wenn die Gefängnisärzte es früher bemerkt hätten.

Der Direktor hatte drei Tage gebraucht, um mich ausfindig zu machen, und dann hatte der für meinen Vater zuständige Strafvollzugsbeamte bei meiner Großmutter angerufen, als ich gerade auf dem Weg zur Arbeit war.

Gram, also meine Großmutter, sagte, mein Vater würde die Nacht vielleicht nicht überleben. Deshalb holte sie mich direkt am Chili’s ab, meinen gepackten Rucksack auf dem Beifahrersitz. Sie hätte mich gerne begleitet, aber die Zeit reichte nicht, um von ihrem Kardiologen die Erlaubnis zum Fliegen einzuholen. Außerdem wussten wir beide, dass ein zweites Ticket bloß Geldverschwendung gewesen wäre.

Glenn Lowell ist nicht ihr Sohn. Sie ist diesem Mann noch nie begegnet.

Ich kaufte mir mein Ticket nach Pittsburgh direkt am Flughafenschalter. Es kostete dort zweihundert Dollar mehr, als wenn ich im Voraus gebucht hätte. Beinahe hätte ich es einfach sein lassen. Diese zweihundert Dollar brauche ich im Herbst für Bücher.

Du fragst dich jetzt wahrscheinlich, wer seinen Vater wegen zweihundert Dollar allein sterben lassen würde. Aber mein Vater hat für deutlich weniger – plus eine Schachtel Zigaretten – auf einen Supermarktbesitzer geschossen und ihn beinahe getötet.

Darum. Es ist nicht so, dass ich mich nicht verabschieden will, aber mein Vater ist für mich bereits gestorben, als ein Richter ihn vor zehn Jahren zu »lebenslänglich« verurteilt hat.

2

Maggie Greenwood wartet in der Ankunftshalle auf mich. Sie ist einige Schattierungen blonder und mehrere Kilo schwerer als früher.

Früher war vor beinahe acht Jahren. Ich denke nicht gern darüber nach, wie wenig sich seither verändert hat. Die Greenwoods nehmen mich auch dieses Mal wieder wie eine streunende Katze bei sich auf. Nur dass ich inzwischen wohlgenährt bin. Skinny Jeans kann ich jedenfalls vergessen. Wahrscheinlich sind die ganzen Mittagspausen im Chili’s schuld.

»Oh, meine Liebe.« Maggie zieht mich mit einem Arm an sich. Obwohl ich gerne Widerstand leisten würde, zwinge ich mich, sie ebenfalls zu umarmen. Dann fasst sie mich an den Schultern und bemüht sich um eine feierliche Miene, doch sie kann ein kleines Lächeln nicht unterdrücken. Ich stelle mir vor, was sie vor sich sieht – kein knochiges, mürrisches kleines Mädchen mehr mit Haaren bis zum Po.

Meine Mutter wollte mir nie die Haare schneiden. Jetzt trage ich sie kaum länger als schulterlang.

»Hallo, Maggie.«

Sie schlingt mir den Arm um die Taille und schiebt mich raus Richtung Parkplatz. »Callie wollte eigentlich mitkommen, aber sie musste früh ins Bett.«

Ich nicke und hoffe, dass Maggie nicht spürt, wie mir ein bisschen elend wird, als sie den Namen ihrer Tochter nennt.

»Sie hat morgen früh einen Twirling-Wettkampf«, erklärt Maggie. Keine Ahnung, wem sie hier was vormachen will. Ich weiß schließlich genau, dass das alles Bullshit ist und Callie selbst dann nicht mitgekommen wäre, wenn Maggie sie an den Haaren herbeigeschleift hätte.

»Das macht sie also immer noch?« Was ich eigentlich sagen will, ist: Dann wirbeln Leute tatsächlich immer noch Stöcke durch die Gegend und bezeichnen das als Sport? Aber ich will nicht unhöflich sein.

»Oh ja. Sie hat deswegen sogar ein Stipendium bekommen.« Maggies Lächeln reicht von einem Ohr zum anderen. »Für die East Stroudsburg Universität. Sie hat vor, Sportwissenschaft zu studieren.«

Natürlich weiß ich das alles schon. Ich weiß, mit wem Callie noch befreundet ist (vor allem mit Sabrina Hayes) und was sie letzte Woche zum Frühstück gegessen hat (einen Zimt-Muffin von Jim’s Deli Bäckerei). Ich weiß, dass Callie es kaum erwarten kann, aus Fayette (Fai-it ausgesprochen, Einwohnerzahl: fünftausend) rauszukommen, und dass sie bereits jetzt mehr Party macht als jeder Erstsemesterstudent.

Obwohl ich seit acht Jahren nicht mehr mit ihr gesprochen habe, weiß ich fast alles, was es über Callie Greenwood zu wissen gibt. Alles außer dieser einen Sache, die mich brennend interessiert.

Denkt sie noch daran?

»Deine Großmutter hat mir erzählt, dass du dich für Tampa entschieden hast.«

Ich nicke und lehne den Kopf an die Fensterscheibe.

Als ich Gram eröffnet habe, dass ich an der University of Tampa angenommen wurde, meinte sie, ich solle mir gut überlegen, ob ich wirklich in einer Großstadt studieren wolle. Städte fressen die Menschen auf und spucken sie dann wieder aus.

Als Maggie die Ausfahrt nach Fayette nimmt, ist mein Kopf von einem einzigen Gedanken erfüllt: Lieber lasse ich mich auffressen und wieder ausspucken, als in einem Stück verschlungen zu werden.

Maggie parkt vor einem weißen zweistöckigen Haus, das in meiner Kindheitserinnerung doppelt so groß war. Beim Geräusch der Autotüren drehen die Hunde auf dem Nachbargrundstück fast durch. Es ist kurz vor ein Uhr morgens. In ein paar Stunden wird sich Maggies Mann Rick auf den Weg machen, Brot auszufahren. Voll schlechtem Gewissen frage ich mich, ob er wohl aufgeblieben ist, bis Maggie wieder heil zu Hause ist. Er ist einer von diesen Ehemännern.

Mein Vater hingegen war einer, auf den meine Mom, krank vor Sorge, bis spät in der Nacht gewartet hat, bis er, nach Johnnie Walker stinkend, hereingestolpert kam.

Die Hunde beruhigen sich, sobald wir Maggies Veranda erreichen, sie haben schon genug vom Bellen. Die Wohnviertel von Fayette zeigen Gefühle, genau wie Menschen. Die Nachbarschaft der Greenwoods zum Beispiel ist müde, voller Arbeiterfamilien, die schon vor Tagesanbruch aufstehen. Die Sorte Menschen, die sieben Tage die Woche gemeinsam zu Abend essen, egal, wie erschöpft sie sind.

Wenn ich an unsere alte Straße denke, fällt mir Wut ein. Baufällige Reihenhäuser, so dicht zusammengequetscht, dass man den Nachbarn direkt in die Küche schauen kann. Ich sehe wütende alte Männer auf den Veranden vor mir, die über die Telefongesellschaft schimpfen oder über die Demokraten oder dass ihre Sozialhilfe nicht pünktlich kommt.

Die Greenwoods haben früher auch in meinem alten Viertel gewohnt. Ein Jahr bevor ich zu Gram nach Florida gegangen bin, sind sie umgezogen, sodass ich nicht mehr einfach die Straße runterlaufen konnte, um mit Callie zu spielen, wie ich es seit meinem sechsten Lebensjahr getan hatte.

Maggie schließt die Haustür auf, und sofort rieche ich den Unterschied. Am liebsten würde ich sie fragen, ob sie ihr altes Haus genauso vermisst wie ich.

Das tut sie natürlich nicht. Und nach dem, was in ihrem alten Haus passiert ist, wäre ich nach dieser Frage hier definitiv nicht mehr willkommen.

»Hast du Hunger?«, erkundigt sich Maggie, während sie die Tür schließt und hinter sich absperrt. »Im Flugzeug bekommt man heutzutage ja nichts mehr zu essen. Es ist noch ein bisschen Lasagne übrig.«

Ich schüttle den Kopf. »Ich bin einfach … total k. o.«

Maggies Gesichtsausdruck ist voller Mitgefühl, wobei mir die vielen Fältchen auffallen, die vor acht Jahren noch nicht da waren. Wahrscheinlich glaubt sie, dass ich durch den Wind bin, weil mein Vater stirbt.

Die Tessa, die sie kennt, wäre deswegen auch echt fertig gewesen. Sie hätte geweint und nach ihrem Daddy gerufen wie an jenem Tag, als die Polizei die Haustür aufgebrochen und ihn in Handschellen abgeführt hatte.

Maggie weiß nicht, dass an die Stelle der alten Tessa ein Monster getreten ist, das einfach nur will, dass sein Vater schnell stirbt, damit es wieder nach Hause fliegen kann.

»Aber natürlich.« Maggie drückt meine Schulter. »Dann packen wir dich mal ins Bett.«

Die Sonne geht in dem Moment auf, als ich einschlafe.

Ich muss ganz dringend duschen, aber ich weiß nicht, wo die Greenwoods ihre Handtücher aufbewahren. Im alten Haus gab es einen Wäscheschrank im Badezimmer. Statt nach unten zu gehen und Maggie um ein Handtuch zu bitten, spritze ich mir etwas Wasser ins Gesicht und trockne mich mit einem Tuch für die Hände ab.

Es fällt mir schwer, Menschen um Dinge zu bitten. Das geht mir schon so, seit ich denken kann, aber ich glaube, richtig schlimm wurde es erst, als Gram mich nach Florida geholt hat. Am Anfang, bevor sie ihr Büro in ein Zimmer für mich umwandelte, schlief ich auf einer Ausziehcouch. An den Fenstern hingen keine Vorhänge, sodass jeden Morgen um sechs die Sonne hereinschien und mich weckte.

Irgendwann fing ich an, unter dem Sofa zu schlafen, weil es dort dunkler war. Über einen Monat lang hat Gram nichts davon bemerkt. Die Fenster in meinem Zimmer haben jetzt Jalousien, aber manchmal, wenn ich nicht schlafen kann, krieche ich immer noch unters Bett und starre zu den Sprungfedern hinauf, als wären es Sternbilder.

Letzte Nacht habe ich nicht einmal versucht einzuschlafen. Als ich mit Gesichtwaschen fertig bin, finde ich unter dem Waschbecken eine Mundspülung, mit der ich einmal kurz gurgele. Ich mache mir nicht die Mühe, meine Haare zu frisieren. Wozu auch? Schlechter als mein Vater werde ich auf keinen Fall aussehen.

Als ich nach unten komme, brät Maggie gerade Arme Ritter. Auf der Anrichte gurgelt eine Kaffeemaschine.

»Milch oder Sahne?« Sie zeigt auf die Tasse, die sie für mich bereitgestellt hat. Ich bringe es nicht über mich, ihr zu sagen, dass ich Kaffee hasse.

Stattdessen zucke ich mit den Schultern. »Egal.«

Maggie hält die Pfanne schräg, um eine Brotscheibe zu wenden. »Ich habe versucht, Callie zu wecken, aber es geht ihr nicht gut.«

Ich setze mich an den Küchentisch. Ich habe gehört, wie Callie heute Morgen um drei ins Haus geschlichen kam. Garantiert hat sie einen Kater. Kaum war Callie auf der Highschool, tauchten plötzlich überall auf ihren Facebook-Bildern diese roten Plastikbecher auf.

»Sie verpasst damit auch ihren Wettkampf«, fügt Maggie stirnrunzelnd hinzu, während sie den Herd runterdreht. »Aber wahrscheinlich lasse ich sie in Ruhe ausschlafen. Schließlich sind Sommerferien.«

Ich merke, wie meine Muskeln sich verkrampfen, als mir klar wird, dass Callie mir vermutlich nicht den ganzen Tag aus dem Weg gehen kann. Vor allem wenn es nach ihrer Mutter geht.

Nach meinem Umzug nach Florida habe ich eine Woche lang täglich bei Callie angerufen. Jedes Mal ging Maggie ran. Callie war entweder beim Twirling-Training oder mit Ariel Kouchinsky Fahrradfahren oder noch bei den Hausaufgaben. Mit jedem Tag wurde Maggies Stimme verzweifelter und entschuldigender. Sie wollte nicht, dass ich aufgab.

Schließlich versuchte ich es noch einmal pro Woche, dann einmal im Monat. Dann probierte ich es gar nicht mehr.

Letztes Jahr rief mich Maggie an meinem Geburtstag an und schickte uns eine Weihnachtskarte. Beide Male erwähnte sie Callie mit keinem Wort.

Vor drei Jahren entdeckte ich Callie an einem Ort, wo ich sie als Allerletztes vermutet hätte: in einem Online-Forum, in dem es um den Mordprozess des Ohio-River-Monsters ging. Sie postete nur einen einzigen Eintrag. In zwei Zeilen erklärte sie den anderen Forumsteilnehmern, dass sie gefälligst die Schnauze halten sollten – was wüssten sie denn schon über den Fall. Sie seien ein Haufen Möchtegern-Anwälte, die bei ihren Mamis im Keller wohnten. Callie schloss mit den Worten: Wyatt Stokes ist ein Mörder. Sie kehrte nie wieder ins Forum zurück, um sich gegen die Horde von Leuten zu verteidigen, die verlangten: Beweis es.

Ich weiß, dass es Callie war, weil sie denselben Usernamen benutzt hat, den sie seit unserem zehnten Lebensjahr für alles verwendet: twirlygirly23.

Ich richtete mir einen Account ein und schickte ihr eine Nachricht: Ich bin’s, Tessa. Ich habe dieses Zeug auch gelesen. Sie hat nie geantwortet.

Jedenfalls ist sie ganz sicher nicht begeistert, dass ich wieder da bin, um sie an den schlimmsten Sommer unseres Lebens zu erinnern.

Maggie klatscht eine Scheibe Arme Ritter auf meinen Teller. Ich blicke auf und erwidere ihr müdes Lächeln. Um acht müssen wir im Gefängnis sein.

Fayette, Pennsylvania, sieht bei Tageslicht noch schlimmer aus. Schlimmer als in meiner Erinnerung. Maggie hält beim Quik Mart in der Main Street, um zu tanken. Die Hälfte der Geschäfte ist mit Brettern vernagelt oder versteckt sich hinter Geschlossen-Schildern, die vermutlich bereits Staub ansetzen.

Ein großer Teil von Fayette ist in den frühen Neunzigern zusammen mit der Stahlindustrie eingegangen. Bevor ich auf die Welt kam, arbeitete mein Vater im Nachbarort im Stahlwerk. Jetzt sieht es aus, als würde Fayette mühsam ums Überleben kämpfen. Wahrscheinlich weil hier alle so verdammt stur sind. Niemand wird zulassen, dass Jim’s Deli oder Paul der Schneider dichtmachen müssen.

Die Leute, die noch dageblieben sind, weigern sich, ihre Sachen zu packen und wegzuziehen. Aber mit etwas Glück werden ihre Kinder es tun.

Bis zum Bezirksgefängnis brauchen wir eine halbe Stunde. Ich habe gar nicht gemerkt, dass ich mit dem Bein zappele, bis Maggie den Motor abstellt und mir die Hand aufs Knie legt.

»Mädchen, bist du sicher, dass du das willst?«

Natürlich will ich nicht. »Ist schon okay«, sage ich. »Wir bleiben ja nicht lang.«

Maggie klappt den Rückspiegel nach unten, um eine frische Schicht rosafarbenen Lippenstift aufzutragen. Wir lächeln uns etwas verkrampft an, dann machen wir uns auf den Weg zum Sicherheitstor. Sie legt mir den Arm um die Schultern und zieht ihn auch nicht weg, als sich meine Muskeln bei der Berührung verkrampfen.

Gram steht nicht so auf Körperkontakt. Seit Jahren drücke ich mich jeden Abend im Flur herum und beobachte, wie sie im Wohnzimmer ihr Kreuzworträtsel macht und dabei leise die Antworten auf die Fragen bei Jeopardy! murmelt. Wie ein armseliger Penner, der um Zuneigung bettelt, bis sie irgendwann aufblickt. Dann nickt sie mir zu und sagt: »Also, dann gute Nacht, Kindchen.« Und das war’s.

Inzwischen habe ich ein Problem damit, angefasst zu werden. Maggie scheint jedoch nicht zu bemerken, dass mein suchender Griff in die Tasche nach meinem Handy in Wirklichkeit ein Versuch ist, mich von ihr zu lösen.

»Vermutlich musst du das am Eingang abgeben.« Sie deutet mit dem Kopf auf mein Telefon. »Und das Hospiz … da darf ich eventuell nicht mit rein.«

Ich schlucke den bitteren Geschmack hinunter, den der Kaffee in meinem Mund hinterlassen hat. Wahrscheinlich sollte ich ungefähr jetzt traurig werden, von Erinnerungen an meinen Vater überwältigt. Stattdessen bin ich neugierig. Ich frage mich, wie er wohl aussieht, ob seine Haut reispapierdünn ist und um seine hohen Wangenknochen herum eingefallen. Früher war er immer gesund. Keiner von uns ist je zum Arzt gegangen. Meine Mom konnte Ärzte nicht ausstehen, und mein Dad behauptete, dass es keine Krankheit gebe, die sich nicht mit einem Glas Whiskey kurieren ließe.

Wortlos folge ich Maggie zum Empfangsschalter. Hinter einer Glasscheibe sitzt eine Frau in grauer Uniform.

»Haben Sie eine Besuchserlaubnis?«, fragt sie, ohne von ihrem Computer aufzublicken.

»Ich habe gestern mit dem Vorsitzenden des Hospizes gesprochen«, erklärt Maggie kurz angebunden.

»Wen wollen Sie besuchen?«

»Glenn Lowell.« Meine Stimme klingt trocken und rau. Die Beamtin hebt den Blick. Sie mustert mich.

»Glenn Lowell ist heute Morgen verstorben«, sagt sie.

Maggie reckt das Kinn in die Höhe. »Aber wie kann das sein?«

»Leute werden krank, und sie sterben«, erwidert die Wärterin ausdruckslos. Als sie die Augen auf mich richtet, sehe ich Mitleid darin aufflackern. Sie legt den Stift beiseite. »Sein Zustand hat sich über Nacht sehr verschlechtert. Es tut mir leid.«

»Warum zum Teufel hat man uns nicht benachrichtigt? Das ist seine Tochter.« Maggies Stimme wird lauter. Die wartenden Leute auf der Bank hinter uns blicken von ihren Zeitungen auf. Mein Finger findet die Stelle an meiner Jeans, wo die Seitennaht aufgeht.

»Seine Tochter hat ein Recht darauf, ihn zu sehen«, erklärt Maggie. »Wer ist Ihr Vorgesetzter?«

Die Wärterin verschränkt die Arme vor der Brust. Auf ihrem Namensschild steht WANDA. »Ma’am, ich verstehe ja Ihren Ärger, aber Glenn Lowells Tochter war gestern Abend schon hier. Ich wusste nicht, dass er zwei Töchter hatte.«

»Moment mal.« Meine Knie werden weich. »Sie war hier?«

Ich spüre, wie Maggie sich neben mir versteift. Wortlos blättert die Gefängnisbeamtin in dem Buch vor ihr eine Seite zurück. Dann schiebt sie es unter der Glasscheibe hindurch. Mit zitternden Fingern suche ich nach ihrem Namen.

»Da steht sie aber nicht«, sage ich. Als ich das Buch zurückschieben will, hält mich Wanda zurück.

»Gestern, achtzehn Uhr fünfunddreißig«, sagt sie. »Ich habe sie selbst dort eingetragen.«

Langsam lasse ich den Finger die Spalte hinunterwandern, bis ich den Eintrag finde. Brandy Butler.

Geschrieben in der Handschrift meiner Schwester Joslin.

Meine Zehen krallen sich in die Turnschuhe. Ich erkenne ihre Schrift sofort – früher habe ich mich immer darüber lustig gemacht, wie sie den Buchstaben »e« geschrieben hat: der übertriebene Bogen, als würde der Buchstabe versuchen, seine eigenen Zehen zu berühren.

Maggie plustert sich auf und fängt an, mit der Wärterin herumzustreiten und darauf zu bestehen, dass sie den Direktor sprechen will.

»Glenn Lowell hat keine Tochter namens Brandy Butler«, sagt Maggie.

»Sie war es aber.«

Maggie dreht sich zu mir um.

»Das hier ist Jos’ Handschrift«, sage ich.

Ungläubig sieht Maggie mich an. Doch es liegt noch etwas anderes in ihrer Miene – Mitleid. Davon habe ich heute langsam echt die Schnauze voll.

»Gehen wir«, sage ich. »Er ist tot, und das war’s. Können wir also bitte gehen?«

Maggie zögert. Mein Bein zappelt wieder vor sich hin. Mit einem letzten Blick in Richtung der Beamtin, als wolle sie sagen: Ich werde mich bei jemandem beschweren, greift sie nach meiner Hand.

Das Tor hinter dem Tresen summt. Ein Wärter mit Klemmbrett im Arm erscheint. Er blickt nicht auf, als er einen Namen bellt. »Edwards?«

Ein Mann im Anzug erhebt sich verlegen von der Wartebank, wie ein Schuljunge, der mitten im Unterricht ins Büro des Rektors zitiert wird.

»Ihr Klient ist jetzt bereit für Sie«, verkündet der Wärter. Edwards klemmt sich einen braunen Umschlag unter den Arm und geht mit höflichem Kopfnicken an Maggie und mir vorbei. Er hat keine Ahnung, wer wir sind.

Als Maggie meine Hand fester umklammert, weiß ich, dass auch sie ihn wiedererkannt hat. Vielleicht aus der Reportage über die Morde, Entlarvung des Monsters, falls sie es über sich gebracht hat, sich die Sendung anzusehen. Oder vielleicht hat sie auch Stokes’ Berufungsverfahren verfolgt, weil ihre Nichte sein letztes Opfer war und sie sich dazu verpflichtet fühlte.

Jedenfalls überträgt sich Maggies Nervosität sofort auf mich, und ich weiß, dass sie dasselbe sieht wie ich: den Strafverteidiger, der seit zehn Jahren versucht, ein neues Gerichtsverfahren für Wyatt Stokes zu erwirken.

Wyatt Stokes, auch Ohio-River-Monster genannt, der in der Todeszelle sitzt, weil Callie und ich ihn dorthin gebracht haben.

3

»Komm schon, Tessa«, ruft Maggie, als wäre ich diejenige, die trödelt. Sie lässt meine Hand los, und ich folge ihr nach draußen.

Hinter uns fällt krachend die Tür ins Schloss und schließt damit die Dunkelheit des Gefängnisses ein. Die Sonnenstrahlen blenden mich.

Maggies Gesicht hat denselben Ausdruck wie an jenem Tag vor dem Gerichtsgebäude, als Stokes zum Tode verurteilt worden war – als wäre alles Licht von der Erde verschwunden. Ich war bei der Urteilsverkündung nicht anwesend. Joslin, meine Mutter und ich verfolgten die Lokalnachrichten von unserem Wohnzimmer aus, damit wir die Entscheidung des Richters hören konnten. Eine der Kameras zeigte hinterher ein Bild von Maggie und Bonnie Cawley, Loris Mutter, auf den Stufen vor dem Gebäude.

Ich verstand nicht, weshalb Maggie nicht glücklich aussah. Stokes hatte schließlich die Todesstrafe bekommen, wie alle es gehofft hatten. Maggie weigerte sich, mit den Reportern zu sprechen, aber Bonnie blickte direkt in die Kamera und verkündete, sie wolle bei Wyatt Stokes’ Hinrichtung in der ersten Reihe sitzen.

Ich hatte gehört, wie Maggie Callie erklärte, dass sich ihre Tante Bonnie nach dem Mord an Lori verändert hätte. Bei Stokes’ Haftprüfungstermin hatte Bonnie auf den Stufen des Gerichtsgebäudes gewartet, bis die Wachmänner ihn brachten, damit sie ihm ins Gesicht sagen konnte, dass er eine Ausgeburt des Teufels sei. Bonnie hasste den Mann, der ihre Tochter getötet hatte, so sehr, dass sie nicht mehr weiterleben konnte ohne die Gewissheit, dass er dafür sterben würde.

Doch wenn ich Maggie jetzt so ansehe, weiß ich, dass man niemandem Hass ins Herz pflanzen kann, indem man ihm etwas Geliebtes wegnimmt. Entweder man trägt den Hass in sich oder nicht, er schlummert im Körper wie ein Geschwür und wartet nur auf den richtigen Moment, um sich auszubreiten.

Bis zu diesem Augenblick war mir nicht klar, wie viel Hass ich in mir habe. Ich hasse Wyatt Stokes nicht dafür, dass wir wegen ihm in Angst leben. Ich hasse meinen Vater nicht dafür, dass man ihn ins Gefängnis gesperrt hat, und ich hasse ihn nicht einmal dafür, dass er nicht noch ein paar Stunden durchhalten konnte, obwohl er wusste, dass ich kommen würde, um mich zu verabschieden.

Es ist meine Schwester, die ich hasse. Meine einzige Schwester, die mich sanft auf die Lider geküsst hat, wenn ich geweint habe, und zuließ, dass ich mich nachts wie ein Äffchen an sie klammerte und trotz meines winzigen Körpers fast das ganze Bett einnahm. Meine Schwester, die mich beschützte, als mein Vater ins Gefängnis kam und unsere Mutter vor unseren Augen den Halt verlor. Joslin, die versprochen hatte, mich nie zu verlassen, und dann zwei Tage nach meinem neunten Geburtstag von zu Hause weglief und nie wiederkam.

Doch, sie ist wiedergekommen. Aber eben nicht wegen mir.

Es hätte so oder so kein Begräbnis für meinen Vater gegeben, selbst wenn er mit genügend Vorlauf gestorben wäre. Es gab kein Geld, um eines zu bezahlen, und ich bin mir nicht sicher, wer überhaupt gekommen wäre, wenn wir die Trauerfeier in der Gefängniskapelle abgehalten hätten. Wanda? Die anderen Insassen? Wie demütigend. Alle, die meinem Vater etwas bedeuteten – und die Liste ist kurz –, sind längst nicht mehr da. Deshalb hatte ich meinen Rückflug nach Orlando bereits für den nächsten Abend gebucht.

Da wusste ich jedoch noch nicht, dass meine Schwester wieder da ist. Wieder da war. Wer weiß, wo sie jetzt steckt – schließlich hatte sie zwölf Stunden Vorsprung, um sich aus Pennsylvania zu verdrücken.

Was ich nicht begreife, ist: Woher wusste Jos, dass mein Dad im Sterben lag? Glenn Lowell ist nämlich gar nicht ihr richtiger Vater. Unsere Mutter hat sich von Joslins Erzeuger getrennt, als meine Schwester zwei war. Wir wussten von ihm nichts weiter, als dass er in Louisiana lebte. Er und meine Mutter waren nicht einmal verheiratet gewesen. Ich hatte mich nie getraut zu fragen, ob die Narbe an Joslins Kinn etwas damit zu tun hatte, dass meine Mutter ihn verlassen hat.

Jos sagte Daddy zu meinem Vater, der Mann in Louisiana wurde nie erwähnt. Mein Dad nannte uns beide seine Babys, und Jos weinte genau wie ich, als er wegen bewaffneten Raubüberfalls in drei Fällen und versuchten Mordes ins Gefängnis kam.

Ich bezweifle, dass Jos den Hinweis von unserer Mutter bekommen hat, denn von ihr habe ich seit fast zehn Jahren nichts mehr gehört. Und Gram doppelt so lange. Eigentlich hätte ich vermutet, dass Maggie Kontakt zu Jos aufgenommen hat – Maggie besaß schon immer eine fast mystische Eigenschaft, mit Menschen in Verbindung zu bleiben und stets zu wissen, was alle so trieben. Doch sie war genauso überrascht wie ich, als sie hörte, dass Joslin am Abend zuvor im Gefängnis gewesen war.

Außerdem hatte Maggie meine Schwester noch nie leiden können.

Callie und ich waren schon seit dem Kindergarten befreundet, und trotzdem war Joslin bis zu unserem achten Geburtstag immer »diese Schwester von dir« gewesen, begleitet von einem missbilligenden Seitenblick. Im Juni jenes Jahres kam Lori Cawley nach Fayette, um den Sommer mit den Greenwoods zu verbringen. Das war, bevor Jos an der Highschool in die neunte Klasse kam. Lori hatte gerade ihr erstes Jahr am College in Philadelphia hinter sich. Maggie versuchte, Lori mit Mädchen ihres Alters bekannt zu machen, doch als mich Jos mal bei den Greenwoods vorbeibrachte, lernten die beiden sich kennen, und das war’s. Joslin und Lori nahmen Callie und mich fast jeden Tag mit ins Freibad, wenn meine Schwester nicht arbeiten musste. Dort steckten die beiden die Köpfe über der Cosmo zusammen und redeten über Dinge, die sie mit Jungs anstellten. Und wenn Callie und ich etwas mitbekamen, erkauften sie sich unser Schweigen in der Eisdiele.

Das war auch der erste Sommer, in dem meine Mutter mich bei meiner Freundin übernachten ließ. Als ich das erste Mal bei den Greenwoods schlief, sahen Callie und ich uns den Film Mulan gleich zweimal hintereinander an, weil wir noch nicht schlafen wollten. Unsere Münder waren ganz klebrig vor lauter Süßigkeiten. Ich hatte so viel Spaß, dass ich nicht einmal meine Schwester neben mir im Bett vermisste, wie ich es in jenen Nächten tat, wenn sie sich fortschlich, um ihren Freund Danny zu treffen.

Das letzte Mal, als ich bei den Greenwoods übernachtete, war die Nacht, als Lori Cawley verschwand. In Fayette hatten wir Gerüchte gehört, dass ein Serienmörder junge Mädchen von Rastplätzen entlang der Interstate I-70 entführte. In den vergangenen zwei Jahren hatte man drei Leichen gefunden. Alles drogensüchtige Ausreißerinnen. Straßenmädchen.

Junge Frauen wie Lori hatten nichts zu befürchten. In Fayette waren wir vor dem Monster sicher, das durch die Randbezirke der Stadt streifte, auf der Suche nach dem nächsten verzweifelten Mädchen, das bereit war, bei ihm ins Auto zu steigen.

So dachten wir, bis die Polizei Loris Leiche in einem Waldstück unweit der Autobahn fand, einen Tag nachdem sie verschwunden war.

»Soll ich uns einen Tee kochen?«, fragt Maggie, als wir zurück nach Hause kommen. Ich merke, dass sie nur nett sein will. Eigentlich hat sie all das, was im Gefängnis passiert ist, ziemlich mitgenommen, und sie möchte am liebsten allein sein.

Das ist mir ganz recht. »Ich sollte wahrscheinlich mal meine Großmutter anrufen.«

»In Ordnung.« Maggie lehnt sich mit dem Rücken an die Arbeitsfläche. Sie drückt die Finger in die Augen. Dann blinzelt sie, als sähe sie mich zum ersten Mal. Schnell hat sie sich wieder im Griff und ringt sich ein Lächeln ab. »Wenn du irgendwas brauchst, lass es mich wissen. Egal was.«

Das Einzige, was ich wirklich brauche, kann ich nicht erbitten. Nämlich, dass Maggie mich nach Pittsburgh fährt, damit ich meinen Flug auf heute Abend umbuchen kann, weil ich nicht weiß, wie ich es bis morgen durchstehen soll.

Das sind nur zwei Tage. Wenn du zehn Jahre hier überlebt hast, wirst du wohl zwei weitere Tage auch noch schaffen.

Ich murmle Maggie ein »Danke« zu und mache mich auf den Weg nach oben. Mein Handy liegt zum Aufladen auf dem Nachttisch, wo ich es morgens deponiert habe. Ich wähle die Festnetznummer meiner Großmutter und erwische den Anrufbeantworter. Während ihr Begrüßungstext läuft, überlege ich, was ich sagen soll.

Ich kann Gram nicht erzählen, dass mein Vater, noch bevor ich ihn gesehen habe, gestorben ist. Dann würde sie sich nur schuldig fühlen, obwohl sie nichts dafür kann. Ich lege auf.

Auf meinem Handy habe ich kein Internet. Ich teile mir die Prepaid-Minuten mit Gram, auch wenn ihr Handy meistens ausgeschaltet ist, vergraben unter dem Müll in den Tiefen ihrer Handtasche. Wenn ich meinen Rucksack selbst hätte packen können, hätte ich meinen Laptop mitgebracht.

Ich schlucke den Kloß hinunter, der plötzlich in meinem Hals steckt. Unten im Wohnzimmer habe ich einen Computer gesehen.

Die oberste Treppenstufe ächzt unter meinem Gewicht, und ich zucke zusammen. Ich bin nicht gerne in einem Haus, das ich nicht kenne und wo man mit dem kleinsten Fehltritt Aufmerksamkeit auf sich ziehen kann. In Grams Haus habe ich inzwischen gelernt, alle diese Stellen zu meiden, als wären sie Landminen – die knarrende dritte Stufe von unten auf der Treppe, die Fliegengittertür hinten, deren Scharniere dringend geölt werden müssten.

Das Geräusch der zuknallenden Haustür lässt mich erstarren.

»Callie?«, ruft Maggie aus der Küche.

Ich wage es nicht zu atmen. Ich fühle mich wieder, als wäre ich zehn Jahre alt – stinksauer, weil Callie mich hat fallen lassen, aber trotzdem bereit, alles zu tun, um einen Blick auf sie zu erhaschen.

In den ersten Monaten bei Gram habe ich nicht viel geredet. Irgendwann hatte sie genug von meiner Trauermiene. Sie stellte mich zur Rede und entlockte mir die Wahrheit, auf ähnliche Weise wie mich einst mein Vater verfolgt und mir die Milchzähne ausgerissen hatte, weil er nicht länger mit ansehen mochte, wie ich daran herumwackelte.

Gram erwartete vermutlich zu hören, dass ich meine Mom oder Joslin vermisste, aber um ehrlich zu sein hatte ich bereits akzeptiert, dass die beiden weg waren. Mir blieb nur noch Callie, und Maggie konnte sie nicht einmal für mich ans Telefon holen.

»Ja?« Callies Stimme ist leise, etwas heiser. Ganz anders als in meiner Erinnerung. Ich höre, wie etwas auf dem Sofa im Eingangsbereich landet – eine Handtasche wahrscheinlich –, dann verklingen ihre Schritte Richtung Küche.

Ich klammere mich am Treppengeländer fest. Das ist lächerlich. Ich kann mich nicht zwei Tage lang im Gästezimmer verstecken.

Vorsichtig schleiche ich auf Zehenspitzen hinunter. Maggie und Callie unterhalten sich murmelnd in der Küche. Im Flur bleibe ich stehen, mit dem unguten Gefühl, dass ich bei dieser Unterhaltung nicht unbedingt erwünscht bin.

Teile davon schnappe ich auf. Maggies Stimme. »… weiß, dass es schwer für dich ist. Aber wo hätte sie denn sonst hinsollen?«

»Wir sind doch kein Resozialisierungszentrum, Mom.« Callies Stimme. Wütend.

Als ich mich gerade wieder auf den Weg nach oben machen will, knarrt der Wohnzimmerfußboden unter mir. In der Küche herrscht vielsagendes Schweigen.

»Tess, Liebes?« Maggie klingt nervös. »Bist du das?«

Scheiße. Ich kneife die Augen fest zu. »Ich wollte mir nur ein Glas Wasser holen.«

Maggie taucht neben mir im Wohnzimmer auf. »Oh, natürlich. Ich bin froh, dass du runtergekommen bist. Rate mal, wer zu Hause ist?«

Sie führt mich durch den Torbogen. Callie blickt vom Tisch auf. Sie trägt ein grünes East Stroudsberg University-Sweatshirt, und um ihre honigbraunen Augen ist der Eyeliner von gestern verwischt. Sie ist auf eine Weise schön, die mir immer das Gefühl gibt, als wäre ich gerade aus irgendeinem dreckigen Loch gekrochen.

Callie begegnet meinem Blick, und die Farbe weicht aus ihrem Gesicht. In diesem Moment sehe ich mich mit ihren Augen: Tessa Lowell, ihre peinliche Assi-Kindergartenfreundin.

Die ewige Erinnerung an das Kindheitsjahr, das ihr durch den Prozess geraubt wurde.

Maggie blickt zwischen ihrer Tochter und mir hin und her. Ihre Augen sind gerötet. Ich stelle mir vor, wie sie sich nach unserer Rückkehr vom Gefängnis davongeschlichen hat, um eine Runde zu heulen, weil sie Tim Edwards gesehen hat.

»Ich bin ja so froh, dass ihr zwei endlich ein bisschen Zeit miteinander verbringen könnt«, sagt sie.

Callie schnaubt. »Ja, klar, weil ich da ja so scharf drauf bin.«

Sie steht auf und schiebt ihren Stuhl an den Tisch. Bevor sich der Schock in Maggies Gesicht in Ärger verwandeln kann, ist sie schon verschwunden. Mit angespannter Miene wendet sich Maggie an mich.

»Tessa, es tut mir so …«

»Schon okay«, sage ich. »Wirklich.«

Maggie greift nach meiner Hand und drückt sie. »Ich muss noch ein paar Sachen im Supermarkt besorgen. Magst du vielleicht mitkommen?«

Ich schüttle den Kopf und behaupte, mich ein bisschen hinlegen zu wollen, dann verdrücke ich mich nach oben ins Gästezimmer. Dort setze ich mich auf die Bettkante, die Hände auf die Knie gestützt, bis ich die Haustür ins Schloss fallen höre. Dann laufe ich schnell hinunter an den Familiencomputer.

Ich habe seinen Namen schon so oft eingegeben, dass meine Finger die Tasten von ganz allein finden.

Wyatt Stokes. Er wird nicht mehr oft in den Nachrichten erwähnt, aber der jüngste Artikel ist von letzter Woche. Ich muss ihn verpasst haben wegen all der Extraschichten, die ich übernommen habe, um die zweite Hälfte meiner Studiengebühren rechtzeitig bezahlen zu können.

RICHTER GENEHMIGT ANTRAG ZUR VORLAGE NEUER BEWEISE IM WYATT-STOKES-BERUFUNGSVERFAHREN

Natürlich wusste ich, dass er Berufung eingelegt hatte. Stokes hatte seinen ersten Verteidiger gleich nach der Verurteilung gefeuert und durch Tim Edwards ersetzt. Nachdem er jahrelang versucht hatte, das Urteil revidieren zu lassen, verweigerte ein Richter Stokes ein neues Verfahren mit der Begründung, das erste wäre angemessen gewesen. Doch Edwards kündigte an, bei der höchsten Instanz Berufung einzulegen.

Das behaupten sie immer, aber es wird nie was draus, hatte meine Mutter erklärt, als ich Angst bekam, Stokes könnte freigelassen werden und sich Callie und mich vorknöpfen, weil wir gegen ihn ausgesagt hatten. Damals, bevor ich begriff, dass niemand – egal, ob schuldig oder unschuldig – kampflos aufgibt.

Ich überfliege den Artikel, doch es steht nicht darin, um welche neuen Beweise es sich handelt. Auch nicht, wann die erneute Anhörung stattfinden wird. Bis dahin könnte es noch Jahre dauern, denn Häftlinge in der Todeszelle haben Zeit im Überfluss. Bis zu jenem Tag, wo auch damit Schluss ist.

Ich habe einen Knoten im Magen, hart und voller Wut.

Im oberen Stock knallt eine Tür.

Shit. Hektisch lösche ich den Artikel aus dem Browserspeicher. Als ich gerade Wyatt Stokes aus der Liste der Suchbegriffe entferne, erreichen die Schritte den Fuß der Treppe.

Im selben Moment, als ich vom Schreibtischstuhl aufspringe, biegt Callie um die Ecke ins Wohnzimmer. Als sie mich sieht, bleibt sie abrupt stehen. Ich erwarte, dass sie mich ignoriert und so tut, als wäre ich unsichtbar, während sie sich auf die Couch fallen lässt und den Fernseher einschaltet.

Stattdessen schnappt sie hörbar nach Luft. Ich meine, Alkohol zu riechen. Hektisch fasst sie sich an den Scheitel und streicht ihre ohnehin schon glatten blonden Haare glatt. Als Kind hat sie immer daran gezogen – so sehr, dass sie beim Prozess eine kahle Stelle hatte.

Wir starren einander an. Das Zimmer ist klein, und sie versperrt mir den Ausgang.

Callie hatte schon immer von allem mehr als ich. Ich war die bedürftige Freundin, der es immer an irgendetwas mangelte. Aber ich werde jetzt nicht hier stehen und diejenige sein, die nicht den Mut hat, den Mund aufzumachen.

»Wie geht’s dir?«, frage ich.

»Kein Bock.« Sie zieht sich die Kapuze ihres Sweatshirts über den Kopf und geht an mir vorbei.

Ich unterdrücke den Impuls, sie zu packen und gegen die Wand zu schleudern. Ihr die Haare auszureißen. Bis zu diesem Moment war mir gar nicht bewusst, wie stinkwütend ich auf sie bin.

Das letzte Mal habe ich mich Ende der zehnten Klasse mit jemandem geprügelt. Weil so ein bescheuerter Pimpf, den alle bloß Bobby Buckteeth nannten, in Gemeinschaftskunde meinte, die Klappe zum Thema Sozialhilfe aufreißen zu müssen. Er käute alles wieder, was seine Mutter über die Frauen gesagt hatte, die bei ihr im Supermarkt das Geld der Steuerzahler ausgaben und dabei mit ihren iPhones, Designerhandtäschchen und fünf Kindern protzten.

Nach der Schule passte ich ihn ab und fragte ihn, ob diese Kinder denn seiner Meinung nach verhungern sollten. Vielleicht saßen diese Frauen ja mit ihren vielen Kindern daheim, weil der Vater plötzlich tot umgefallen war oder ins Gefängnis musste. Bobby versuchte, sich an mir vorbeizudrängen, und murmelte dabei seinem Freund zu, ich sei selbst bloß Abschaum. Da bin ich hinter ihm her und habe sein Gesicht gegen einen Spind geknallt.

Als Gram mich danach von der Schule abholte, packte sie mich vor den Augen des stellvertretenden Schulleiters so fest am Kinn, dass sich ihre Fingernägel in meine Haut bohrten. »Verwechsle meine Nettigkeit ja nicht mit Schwäche, Tessa.«

In diesem Moment begriff ich, dass sie eben doch mit meiner Mutter verwandt war. Bei beiden schlummert die Gewaltbereitschaft unter einer scheinbar harmlosen äußeren Hülle.

Callie zieht auf der Couch die Knie an die Brust. Dann holt sie ihr Handy heraus, offenbar, um so tun zu können, als wäre ich nicht mehr da.

»Was willst du?«, fragt sie, als ich keine Anstalten mache zu gehen.

Schau mich an! Ich will, dass du dein verdammtes Handy weglegst und nicht so tust, als wärst du nie meine beste Freundin gewesen.

Aber ich habe nicht den Mumm, das zu sagen. Hab ich nie, und werde ich wahrscheinlich auch nie haben. Stattdessen räuspere ich mich.

»Nur weil ich gerade hier bin, musst du deine Mom nicht zusammenscheißen«, sage ich. »Wir waren heute Morgen im Gefängnis.«

»Ich weiß.« Callie balanciert ihr Handy auf einem Knie. Das Display wird schwarz. »Tut mir leid mit deinem Dad«, fügt sie noch hinzu.

»Wir haben gar nicht … Das ist nicht der Grund, weshalb sie durch den Wind ist.« Ich schlucke. »Es ist wegen Stokes.«

Callie zuckt zusammen, und aus irgendeinem Grund gibt mir das Mut.

»Wir haben seinen Anwalt gesehen«, sage ich. »Den, der Berufung eingelegt hat.«

»O-kay.« Callie zieht das Wort in die Länge, als würde sie nicht begreifen, weshalb ich ihr das erzähle. Aber ich sehe, wie sich ihre Finger in die Armlehne des Sofas krallen.

Ich zucke mit den Schultern. »Ich dachte nur, du solltest das wissen. Kann sein, dass es in den Nachrichten kommt.«

Nun verändert sich Callies Miene, und diesen Gesichtsausdruck kenne ich von früher nur zu gut. Damals hielt ich danach Ausschau, als wäre er eine Tornadosirene. Jetzt hingegen bin ich froh, dass sie wütend ist. Und ich bin froh, dass ich schuld daran bin.

»Warum zur Hölle fängst du jetzt damit an?«, zischt sie, und ihre Wangen sind rot vor Wut.

»Weil es uns betrifft.«

»Tut es nicht mehr. Er ist schuldig, und er wird nie wieder freikommen.« Diesen Satz hat zweifellos Maggie ihrer Tochter im Lauf der Jahre eingetrichtert. Callie sieht sogar aus wie ihre Mutter, als sie das sagt – mit derselben schmalen, trotzigen Oberlippe. Ich kann ihr nicht sagen, dass in diesem Artikel behauptet wird, seine Anwälte hätten neue Beweise. Sie wird sofort wissen wollen, was für welche, und wenn ich darauf keine Antwort habe, wird sie mir einen dieser vernichtenden Blicke zuwerfen.

Callie war schon immer eine von denen, auf die die Leute hören. Acht Jahre alt, aber altklug wie achtzehn, sagte Maggie immer. Selbst jetzt, wo wir tatsächlich beide achtzehn sind, fühle ich mich in ihrer Gegenwart wie ein dummes kleines Mädchen.

»Die Dinge haben sich verändert«, murmle ich.

»Was redest du denn da?« Callie springt vom Sofa auf. Schließt die Wohnzimmertür. »Sag jetzt bloß nicht, diese Verrückten von Cyber Sleuths haben dir ins Hirn geschissen und du willst deine Aussage zurückziehen.«

Also hat sie meine Nachricht doch erhalten.

»Natürlich nicht«, antworte ich. »Aber das ist zehn Jahre her. Wer weiß, was die finden, wenn sie die Beweislage neu aufrollen.«

Callie verschränkt die Arme vor der Brust. »Tessa. Er hat Lori verfolgt, und er hat sie umgebracht. Du warst dabei, als er ihr im Freibad gedroht hat. Erinnerst du dich denn nicht mehr?«

Natürlich erinnere ich mich. Seit zehn Jahren erinnere ich mich jeden einzelnen Tag daran. Wir waren zu dritt auf dem Weg zu Loris Auto auf dem Parkplatz. Wyatt Stokes lehnte am Maschendrahtzaun und rauchte einen Joint. Am Tag zuvor hatte Joslin ihm ihr Feuerzeug geliehen. Ich weiß nicht, was Stokes zu Lori sagte, aber es war ihr irgendwie unangenehm, und sie ignorierte ihn.

Er zog an seinem Joint und meinte: »Was ist rot, weiß und blau und treibt im Wasser?«

Lori schob uns in Richtung Auto, als er rief: »Eine tote Schlampe«, und lachend im Wald verschwand.

Ich merke, dass ich Callie nicht geantwortet habe, denn sie funkelt mich böse an. »Ich habe ihn gesehen«, sagt sie, aber ich höre, was sie wirklich meint: Wyatt Stokes ist der Mann, der ihre Cousine ermordet hat. Allein schon die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass das nicht stimmt, ist Verrat.

Ich hebe den Kopf, damit ich ihr in die Augen sehen kann, denn Callie war schon immer größer als ich. Inzwischen ragt sie jedoch über mir auf, und über ihren tief sitzenden Jeans ist ein Streifen muskulöser Bauch zu sehen.

»Woher willst du wissen, was du gesehen hast?« Meine Stimme zittert. »Es war dunkel. Wir waren erst acht.«

Callie lacht entnervt und greift nach der Türklinke. »Für mich ist dieses Thema erledigt.«

Doch dann fährt sie auf einmal herum. Erschrocken zucke ich zusammen. Ihre Züge werden weicher – oder vielleicht habe ich mir das auch nur eingebildet, denn nun funkelt sie mich wieder an. »Vergiss ja nicht, dass du gesagt hast, du hast ihn auch gesehen. Du kannst nicht behaupten, ich hätte gelogen, ohne dich ebenfalls zu beschuldigen.«

Dann schlägt sie die Tür hinter sich zu. Der Knall ist wie der Punkt am Ende des Satzes Wyatt Stokes ist schuldig.

Noch zwei Tage in Fayette.

Es könnten ebenso gut zwei Jahre sein.

In jener Nacht bettelten wir Lori an, auf der geschlossenen Veranda der Greenwoods schlafen zu dürfen. Maggie hatte uns strikt verboten, Ricks Zelt hinten im Garten aufzubauen. Dafür hatte sie versprochen, dass wir ein andermal draußen übernachten durften, wenn sie und Rick zu Hause waren und mit uns im Zelt schlafen konnten.

Die Veranda war die zweitbeste Wahl. Es gefiel Lori nicht, dass wir nur durch ein Fliegengitter von der Außenwelt abgetrennt sein würden, aber Callie beharrte darauf, dass in unserem Viertel noch nie etwas Schlimmes passiert war. Schließlich gab Lori nach, und wir wühlten uns durch die Campingausrüstung im Schrank unter der Kellertreppe, auf der Suche nach einem alten Schlafsack für mich. Wir schworen uns, die ganze Nacht wach zu bleiben und nach Bären Ausschau zu halten, aber gegen zehn fielen uns die Augen zu, glücklich und erschöpft von Sonne und Chlorwasser.

Ich wachte auf, weil Callie an mir rüttelte. Ihr Cinderella-Schlafsack bauschte sich um ihre Schultern.

»Tessa. Da draußen ist jemand.«

Ich kann mich nicht daran erinnern, Angst gehabt zu haben. Ich dachte, es wäre vermutlich irgendein Tier, bis wir einen weiteren Zweig knacken hörten. Schritte. Callie grub die Fingernägel in meinen Unterarm. »Was, wenn das der Mann vom Schwimmbad ist?«

»Pst«, machte ich, und zusammen spähten wir durchs Gitter. Callie stieß einen spitzen Schrei aus, als eine dunkle Gestalt am Rand des Gartens auftauchte. Schnell zog ich sie durch die Wintergartentür ins Wohnzimmer, wo Lori mit einem umgedrehten Buch auf dem Bauch auf der Couch lag, während der Fernseher ohne Ton lief.

»Da draußen ist jemand«, jammerte Callie.

Lori griff nach einer Taschenlampe. Callie fing an zu weinen.

»Das ist bestimmt ein Waschbär«, erklärte Lori ihr. »Geht in dein Zimmer, und wartet da.«

Wir kauerten uns auf Callies Bett zusammen, bis Lori einige Minuten später zurückkam.

»Im Garten ist niemand«, sagte sie. »Aber vielleicht solltet ihr doch besser hier drin schlafen, einverstanden?«

»Kannst du nicht hier bei uns bleiben?«, bettelte Callie.

Lori lachte. Wir hätten niemals zu dritt in das schmale Bett gepasst. Doch Lori hatte behauptet, dass wir in Callies Zimmer sicher wären.

Stell dir vor, sie hätte das nicht getan, hörte ich meine Mutter hinterher Maggie zuflüstern. Lori war der Schutzengel der Mädchen.

Als Maggie und Rick vom Abendessen bei Freunden zurückkamen, war Lori nicht im Gästezimmer, und ihr Bett war immer noch gemacht. Callie und ich hatten keinen Laut gehört. Das Gästezimmer lag aber auch am anderen Ende des Hauses. Loris Mörder hatte sie überrascht, sie wahrscheinlich überrumpelt, als sie nach der Aufregung von zuvor auf dem Sofa eingeschlafen war. Sie hatte nicht einmal die Gelegenheit gehabt zu schreien.

Callie und ich mussten die Ereignisse jener Nacht unzählige Male beschreiben. Irgendwann fühlte es sich an, als wären wir die Verbrecher. Maggie versicherte uns immer wieder, dass die Staatsanwälte nur ganz sicher sein wollten, den Mann einsperren zu können, der unserer Lori wehgetan hatte. Sie zerpflückten unsere Zeugenaussagen, suchten nach Stellen, an denen unsere Berichte nicht zusammenpassten. Callie fing an zu weinen, als der stellvertretende Staatsanwalt sie wegen des Abendessens in die Mangel nahm. Ich hatte gesagt, Maggie hätte uns Maiskolben zu den Hotdogs gemacht. Callie hatte den Mais vergessen. Jede mögliche Schwachstelle in unserer Aussage musste gestopft werden. Vor Gericht mussten wir aussagen, dass wir gesehen hatten, wie Wyatt Stokes sich aufs Grundstück der Greenwoods geschlichen hatte, doch die Staatsanwaltschaft konnte nicht riskieren, dass wir unglaubwürdig wirkten und ihre Anklage zu Fall brachten.

Inzwischen kann ich mich nicht mehr daran erinnern, den Mais gegessen zu haben. Ich weiß auch nicht mehr, wie der Hotdog schmeckte oder was für einen Schlafanzug ich damals trug.

Ist es jetzt wirklich noch wichtig, dass Callie und ich Stokes’ Gesicht nie wirklich gesehen haben? Sobald er im Knast saß, wurden keine toten Mädchen mehr entlang des Ohio Rivers gefunden.

Marisa Perez. Rae Felice. Kristal Davis. Alle erdrosselt, ausgeraubt und wie Müll halb nackt am Flussufer abgelegt. Drei Mädchen, die so ganz anders waren als Lori, abgesehen von ihrer Nähe zu Wyatt Stokes.

Sag uns einfach, was du gesehen hast, Liebes. Es gibt keine falschen Antworten.

Ab und zu taucht aus den dunkelsten Winkeln meines Gehirns eine neue Antwort zu den Ereignissen jener Nacht auf. Normalerweise zerquetsche ich sie wie eine Stechmücke – es hat keinen Sinn, über Fragen nachzugrübeln, die mir niemand beantworten kann.

Doch jetzt, wo ich hier bin, kann ich einiges nicht länger ignorieren.

Es gibt schlimmere Dinge auf dieser Welt als Monster, und irgendwie gelingt es denen immer, mich zu finden.

4

Als ich aufwache, geht die Sonne gerade unter. Ich liege zusammengerollt auf dem Bett im Gästezimmer, den Kopf halb neben dem Kissen. Mir fällt auf, dass ich nicht mal die Schuhe ausgezogen habe, und ich setze mich schuldbewusst auf.

Jemand klopft. Maggie öffnet vorsichtig die Tür und streckt den Kopf herein. »Hast du ein bisschen schlafen können?«

»Sieht so aus.« Ich versuche, mich daran zu erinnern, was ich vor ein paar Stunden gemacht habe, aber in meinem Hirn herrscht Nebel. Wahrscheinlich hat mich einfach die Müdigkeit eingeholt, weil ich mehr als vierundzwanzig Stunden wach war.

»Es ist fast Abendbrotzeit«, sagt Maggie, während draußen im Flur eine Tür geschlossen wird. »Ich dachte, wir vier könnten vielleicht ins Boathouse gehen.«

Bevor sie erläutern kann, wen genau sie mit wir vier meint, taucht Callies Kopf über Maggies Schulter auf. »Ich bin heute Abend auf Ems Abschlussfeier. Das hab ich dir doch gesagt.«

Maggie sieht kurz ihre Tochter an, dann wieder mich. »Na ja, es war ein langer Tag, und es ist zu heiß zum Kochen, also bist du herzlich eingeladen, mit Rick und mir essen zu gehen.«

Rick Greenwood hat in all den Jahren, in denen ich ihn kenne, vielleicht zehn Worte mit mir gewechselt. Das ist sicherlich nicht persönlich gemeint, er ist einfach so. Ein stiller Typ, die Art von Mann, der von der Arbeit nach Hause kommt und sich eine Runde Online-Poker gönnt. Der bei Callies Tambourstock-Twirling-Wettbewerben mit versteinerter Miene unter den Zuschauern saß und jedes Mal seufzend wegsah, wenn die Darbietung irgendeine Art von Arschgewackel beinhaltete.

»Sie kann mit mir mitkommen«, meint Callie. Als sie merkt, dass wir sie beide sprachlos anstarren, zupft sie am Ende ihres Pferdeschwanzes herum. »Ich meine, wenn sie will.«

Ich weiß nicht, ob ich dankbar sein sollte, dass Callie mir anbietet, mich vor dem unangenehmsten Dinner aller Zeiten zu retten, oder genervt, weil sie mir dabei nicht mal in die Augen sehen kann.

»Tessa kennt Emily«, fügt sie hinzu, als sie Maggies skeptischen Blick bemerkt. »Als Kinder waren sie befreundet.«

»Ich bin aber nicht eingeladen«, werfe ich ein. Beide sehen mich an, als hätten sie ganz vergessen, dass ich direkt vor ihnen sitze.

»Bei so was kann jeder kommen.« Callie scheint davon auszugehen, diese Tatsache sowohl Maggie als auch mir erklären zu müssen. »Vermutlich ist die Hälfte der Leute, die dort auftauchen, nicht eingeladen.«

Maggies Augenbrauen bilden ein V. »Das klingt aber nicht gut.«

»Mom, Emilys Eltern schmeißen die Party für sie«, meint Callie. »Das wird kein Saufgelage oder so was. Ich will, dass Tessa mitkommt.«

Ihr Blick weicht dabei nach rechts aus. Also will sie nicht wirklich, dass ich mit ihr dort hingehe. Warum zum Teufel tut sie dann so als ob?

So oder so, ich möchte genauso wenig zu dieser Party gehen, wie Callie mich dabeihaben will. Am liebsten würde ich hierbleiben – damit ich mich wieder an den Computer der Greenwoods setzen und die erste Spur weiterverfolgen kann, die ich seit Jahren von meiner Schwester habe. Aber ich kenne Maggie: Sie würde mich nie allein hier zurücklassen.

Ich schlucke und sehe sie an. »Vielleicht geh ich dann mit auf die Party. Wenn das okay ist.«

Mir entgeht nicht, wie sich ihre Mundwinkel leicht nach unten biegen, bevor sie sich wieder unter Kontrolle hat. »Natürlich. Aber passt auf euch auf, ja?«

Callie verdreht die Augen. »Ich schick dir ’ne Nachricht, sobald wir dort sind.«

Lächelnd wünscht Maggie uns viel Spaß und erinnert uns daran, die Haustür abzuschließen, wenn wir gehen. Daraufhin nickt Callie mir seltsam zu, als wolle sie sagen: Okay, also dann, bevor sie in ihrem Zimmer verschwindet.

Ich blicke an meinem Sweatshirt hinab. Auf dem Ärmel entdecke ich einen Fettfleck von dem Grillkäse, den Maggie mir zu Mittag gemacht hat. Aber es muss trotzdem irgendwie gehen – ich habe keine Wechselklamotten für die kühleren Temperaturen am Abend. Wahrscheinlich wird es sowieso so dunkel sein, dass niemand es sieht.

Als Callie wieder im Türrahmen erscheint, binde ich gerade meine Haare zu einem frischen Knoten. »Fertig?«

Nein. »Ja.« Nun trägt sie eine Jeans, die noch tiefer auf den Hüften sitzt, und eine folkloristisch aussehende Bluse. Ich kremple die Bündchen meines Sweatshirts hoch, um den Fettfleck zu verstecken, und folge ihr nach unten.

»Sollten wir nicht wenigstens eine Karte oder so was mitbringen?« Ich zeige auf Callies leere Hände, als sie die Haustür hinter uns absperrt.

Sie geht an mir vorbei ein Stück die Einfahrt hinunter. »Das ist gar keine Party.«

»Klang aber vorhin ziemlich überzeugend.«

In der Windschutzscheibe von Maggies Minivan spiegelt sich ihr Gesicht. Sie wirkt genervt.

»Willst du etwa lieber den ganzen Abend bei mir zu Hause in der Depri-Bude rumhocken?« Sie schließt das Auto auf, und wir steigen ein.

Callie hat nicht die leiseste Ahnung, was deprimierend ist. Grams Haus ist vollgestopft mit Aschenbechern und Klatschzeitschriften aus der Zeit von Prinzessin Dianas Tod. Aber ich beantworte ihre Frage nicht, und sie hakt auch nicht nach. Callie fährt Richtung Hauptstraße, an den Ampeln tue ich so, als würde ich die Schilder und Plakate studieren. Eines wirbt für einen Gruselspaziergang hinter der Feuerwache – zu Halloween, das ist neun Monate her.

Als Callie sich räuspert, gebe ich die Hoffnung auf, die restliche Fahrt schweigend verbringen zu können. Sie sieht aus, als würde sie gleich ohnmächtig werden.

»Das war wirklich nicht persönlich gemeint.« Sie umklammert das Lenkrad so fest, dass ihre Nagelbetten weiß werden. »Ich meine, wie ich mich verhalten habe, als du weggezogen bist … Es war einfach hart für mich.«

Wenn ich nicht so feige wäre, würde ich sie fragen, was genau ihrer Ansicht nach für mich einfacher war. Dass meine Mutter mich im Stich gelassen hat? Bei einer Frau einzuziehen, der ich noch nie zuvor begegnet war?

»Ist alles lange her«, sage ich bloß.

Sie nimmt eine Hand vom Lenkrad, um sich eine Haarsträhne hinters Ohr zu streichen. Ihre Finger verweilen dort, als könnte sie nicht anders. Fast tut sie mir leid. Aber nicht wirklich.

»Hast du mich gefragt, ob ich mitkomme, damit ich nicht allein mit deiner Mom bin?«, erkundige ich mich. »Hast du Angst davor, worüber ich mit ihr reden könnte?«

Callie lässt die Hand in den Schoß sinken. »Es gibt nichts, was du meiner Mom erzählen könntest.«

Die Unsicherheit, die eben noch in ihrer Stimme lag, ist verschwunden. Ich bohre einen Finger durch ein Loch in meiner Jeans.

»Der Prozess hat meine Familie fast zerstört«, fährt Callie leise fort. »Meine Mom hat sich jahrelang Vorwürfe gemacht – sie meinte, wenn sie und mein Dad an diesem Abend nicht ausgegangen wären, würde Lori vielleicht noch leben.«

Pathos. Diesen Begriff habe ich letztes Jahr in meinem Rhetorikkurs gelernt. Pathos ist ein Appell an die Gefühle des anderen. Callies Botschaft ist deutlich: Wenn ich versuchen würde, Dinge aufzuwühlen, die seit dem Prozess begraben wurden, würde ich den Greenwoods nur noch mehr Schmerz bereiten.

Ich würde Maggie Schmerz zufügen. Maggie, die mich in jener Nacht an der Tankstelle abgeholt und davor bewahrt hat, in eine Pflegefamilie abgeschoben zu werden. Maggie, die immer ein zweites belegtes Brot in Callies Frühstücksdose gepackt hat, für den Fall, dass mein Vater das Geld fürs Mittagessen aus meiner Jackentasche gestohlen hatte, während ich schlief.

Ich halte den Blick auf den Punkt am Horizont gerichtet, wo die Sonne verschwindet. Während ich mir eine widerspenstige Locke aus der Stirn streiche, denke ich an Lori Cawley und ihre Hände, die immer nach Fliederlotion geduftet haben. Ich stelle mir ihren Körper vor, aufgedunsen vom Flusswasser und farblos, abgesehen von dem Ring aus blauen Würgemalen um ihren Hals. Das kann nur das Werk eines Monsters sein, hatte der Staatsanwalt gesagt und auf die Leichenfotos der Opfer gezeigt, die für die Jury nebeneinander aufgereiht waren. Das unangenehme Gefühl in meinem Bauch ist wieder da.

Nicht zum ersten Mal verspüre ich einen Anflug von Neid auf Wyatt Stokes. Denn zumindest wenn er schuldig ist, muss er nicht mehr ewig mit sich leben.