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Als Hauptkommissar Toni Sanftleben in die Potsdamer Innenstadt gerufen wird, geht er zunächst von einem Routinefall aus. Doch dann findet er in den Sachen des Mordopfers das verblasste Foto einer Frau - es ist seine Frau Sofie, die vor sechzehn Jahren auf dem Baumblütenfest in Werder spurlos verschwand. Sanftleben ist wie elektrisiert. Wird er endlich herausfinden, was damals wirklich geschah?
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Seitenzahl: 339
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Tim Pieper, geboren 1970 in Stade, studierte nach einer Weltreise Neuere und Ältere deutsche Literatur und Recht. Mit seiner Familie lebt er im Südwesten von Berlin, nur wenige Kilometer vor den Toren Potsdams. Er liebt es, die idyllische Landschaft Brandenburgs mit dem Fahrrad zu erkunden. Nach zwei historischen Krimis ist »Dunkle Havel« sein erster Gegenwartskrimi im Emons Verlag. www.timpieper.net
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2015 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: ©mauritius images/Maskot Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch Lektorat: Carlos Westerkamp eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-86358-781-9 Originalausgabe
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Für Steffi und Moritz
Prolog
Baumblütenfest in Werder, 2.Mai 1998
Als von der Marktplatzbühne das Lied »Am Fenster« von der Rockgruppe City herüberschallte, griff Toni nach Sofies Hand und tanzte mit ihr ausgelassen in der Nähe des letzten Ausschanks, an dem noch alkoholische Getränke verkauft wurden. Von der aufkommenden Kühle ließ sich der Zweiundzwanzigjährige die Laune nicht verderben. Seit langer Zeit war es ihr erster freier Abend, und er wollte ihn auskosten. Während er seine Frau herumwirbelte, legte er den Kopf in den Nacken und blickte in den Nachthimmel. Das Tiefdruckgebiet »Yolly« hatte am Nachmittag einige Schauer gebracht. Mittlerweile war die Wolkendecke wieder aufgerissen, und die Sterne funkelten. Vorerst würde es trocken bleiben.
»Warte mal«, sagte Toni und griff nach dem Becher mit Sauerkirschwein, den er zwischen zwei Pfützen abgestellt hatte. Während er durstig trank, bemerkte er, dass einige Männer Sofie anstarrten. Besonders der Blick eines ungefähr sechzigjährigen Schnurrbartträgers mit Hornbrille und weichen weißen Haaren hatte sich an ihr festgesaugt.
Toni hatte sich damit abgefunden, dass sie Aufmerksamkeit erregte. Auch ohne es zu wollen, übte sie eine große erotische Anziehungskraft aus. Zudem kleidete sie sich speziell. Heute trug sie einen grünen Sari, ein traditionelles indisches Gewand, das ihre langen roten Haare, die funkelnden Katzenaugen und ihre nackten, sommersprossigen Schultern betonte. Während sie barfuß auf der Stelle tanzte, klapperten zahlreiche Silberreifen an ihren Hand- und Fußgelenken.
»Bist du etwa eifersüchtig?«, fragte sie. Anscheinend waren ihr die verlangenden Blicke auch aufgefallen.
»Da muss ich erst meinen Anwalt fragen«, erwiderte Toni.
»Scherzkeks«, sagte sie lachend und hauchte ihm einen Kuss auf den Hals, der ihm durch Mark und Bein ging. Dann wiegte sie sich aufreizend in den Hüften und sang den Liedtext mit: »…Flieg ich durch die Welt… Flieg ich durch die Welt… Flieg ich durch die Welt…«
Toni betrachtete sie stolz. Natürlich war sie heute besonders sexy, vielleicht sogar ein wenig provokant, aber das gefiel ihm besser als die Schwere, die sie in letzter Zeit in immer kürzeren Abständen befallen hatte.
Im Januar waren sie von einer zweieinhalbjährigen Weltreise heimgekehrt. An einem tristen Berliner Winterabend hatte sie ihm unter Tränen gestanden, dass es sie frustriere, dass sich während ihrer Abwesenheit nichts geändert habe. Ihre Familie und ihre Freunde würden in alten Denk- und Verhaltensmustern stagnieren. Sie habe das Gefühl, Quantensprünge gemacht zu haben, und daheim habe sich nichts verändert. Das sei einfach nur todtraurig, hatte sie gesagt.
Toni konnte sie gut verstehen. Ihm ging es ähnlich. Auch er wäre lieber in ihrer Strandhütte im indischen Bundesstaat Goa geblieben, wo ihr gemeinsamer Sohn Aroon zur Welt gekommen war, aber sie hatten sich entschlossen, dem Jungen mehr Sicherheit zu bieten. Sie trugen nun Verantwortung. Aus diesem Grund hatten sie den VW-Bus gepackt und waren viele tausend Kilometer in die alte Heimat gefahren.
In Berlin hatten sie alles unternommen, um sich eine geordnete Existenz aufzubauen. Sie hatten eine kindgerechte Wohnung gemietet, sie hatten sich an der Freien Uni eingeschrieben und sich standesamtlich trauen lassen. Sofie wurde finanziell von ihren Eltern unterstützt, und Toni verdiente mit einem Cateringjob ordentlich. Es fühlte sich gut an, wenn er am Abend zu seiner Familie heimkehrte, aber in letzter Zeit hatte er manchmal das Gefühl gehabt, dass dieses kleine Glück Sofie nicht reichen würde, dass er ihr nicht reichen würde. Insgeheim hatte er sich gefragt, ob sie eine Affäre hatte.
Plötzlich tauchte der Schnurrbartträger mit den weichen weißen Haaren an Sofies Seite auf und lud sie zu einem Getränk ein. Das ging zu weit. In solchen Situationen verstand Toni keinen Spaß. Er wollte sich schon vor Sofie stellen, als sie sich mit einem koketten Lächeln umdrehte und sich so eng an ihn schmiegte, dass er ihre kleinen, festen Brüste spürte. Er musste den Kopf nach unten beugen, um sie flüstern zu hören: »Ich möchte mit dir schlafen.«
»Was, jetzt?« Mit einem kurzen Seitenblick prüfte Toni, ob der Schnurrbartträger etwas mitbekommen hatte, aber er entfernte sich bereits auf der Uferpromenade.
Toni war überrascht. Seit der Geburt ihres Sohnes vor einem Jahr waren sie nicht mehr intim gewesen. Zwar hatte er alles versucht, um sie zurückzuerobern, aber er hatte nur liebevolle, tröstende und zuletzt auch schroffe Zurückweisungen erfahren. Auf Dauer war das frustrierend gewesen.
Ihm war klar, dass es vermutlich klüger war, nicht sofort Feuer und Flamme zu sein, aber seitdem sie es das erste Mal getan hatten, war er süchtig nach ihrem kleinen roten Mund, nach ihren langen, schlanken Gliedmaßen und nach ihrem unverwechselbaren Geruch.
»Sollen wir zum Parkplatz gehen?«, fragte er rau. »Im Bus hätten wir genügend Platz.«
»So lange kann ich nicht warten«, erwiderte sie. »Lass uns sofort etwas suchen.«
»Also los«, sagte er und zog sie mit sich. Sofie wollte ihn wieder, und das erregte ihn nicht nur, sondern machte ihn auch froh. Wie weggeblasen war die Müdigkeit wegen ihres Sohnes, der noch nie durchgeschlafen hatte und heute zum ersten Mal bei den Großeltern nächtigte. Mit seiner wunderschönen Frau im Arm, mit dem breiten Ledergürtel um die Hüfte und den schweren Beatstiefeln an den Füßen schritt er weit aus und fühlte sich wie der lässigste Familienvater der Welt.
Rechts von ihnen ragte das Schilf in den Nachthimmel, und dahinter floss die dunkle Havel vorüber. Auf einer Bank saßen drei Gestalten. Die Männer verstummten. Vermutlich fühlten sie sich ertappt. Die Rote Armee Fraktion hatte gerade ihre Auflösung bekannt gegeben. Aber für Terroristen sind sie noch zu jung, dachte Toni. Einige Wochen später sollte er versuchen, ihre Gesichter zu zeichnen, aber er hatte nicht richtig hingeschaut. Im Moment stand ihm der Sinn nach etwas anderem.
»Das Gras ist feucht«, sagte er, »aber wir haben unsere Regenponchos und die Wolldecken dabei. Daraus können wir uns ein Lager bauen.«
»Mein Experte«, sagte Sofie lächelnd und schmiegte sich enger an ihn. Sie schlang ihren Arm um seine Hüfte und ließ beiläufig ihre Finger in seiner vorderen Hosentasche verschwinden. »Ich hab dich vermisst.«
»Und ich dich erst mal«, erwiderte Toni und schluckte hart.
Beim Baumblütenfest war es Sitte, Campingstühle oder Decken mitzubringen, um sich in den Stadtgärten niederzulassen und von den hausgemachten Weinen zu kosten. Toni dankte dem Herrgott, dass er den Rucksack am Morgen gewissenhaft gepackt hatte. Direkt am Havelufer, zwischen einer kleinen Baumgruppe, Schilfgras und einem hölzernen Bootssteg, fanden sie einen geeigneten Platz. In großer Eile bereitete er alles vor, bis sie sich hinlegen und zudecken konnten.
Toni drehte sich auf die Seite, und Sofie rutschte mit dem Hintern an ihn heran. Irgendwo in der Nähe erklangen Stimmen, aber der Sinn der Worte entging ihm völlig. Er konnte sich nicht erinnern, wann er zuletzt so kopflos gewesen war. Immer wieder küsste er ihren Nacken, ließ seine Hände über ihren Leib gleiten, saugte ihren Geruch auf und drängte sich an sie. Irgendwann konnte er nicht länger warten. Unter der Decke schob er ihren Sari hoch, öffnete die Knopfleiste seiner Jeans und drang in sie ein. Sie fanden schnell in einen Rhythmus.
»Warte noch«, sagte sie. »Ich möchte dich spüren.«
»Sch, sch, sch«, machte Toni hektisch. »Hast du irgendwo die Notbremse gesehen?«
So sehr er auch die Augen verdrehte, so sehr er auch mit den Zähnen knirschte und die Zehen abspreizte– das Gefühl war überwältigend. Er konnte die aufgestaute Lust keine Sekunde länger bändigen. In immer kürzeren Wellen brandete sie an und nahm ihn mit. Mit einem Aufstöhnen packte er ihre Hüfte und ließ sich von seinem Verlangen fortreißen.
Kurz darauf lag er schwer atmend da. Er war selig, stolz und unglaublich befreit. Eine Zentnerlast war von ihm abgefallen. Zärtlich strich er über ihren schlanken Hals und über die Schultern, die kein Bildhauer schöner hätte modellieren können. Er war so entspannt, dass ihm beinahe entgangen wäre, wie sie lautlos weinte. Sogleich stützte er sich auf den Ellenbogen und griff ihr zart unters Kinn.
»Was ist?«, fragte er. »War ich zu heftig? Hab ich dir wehgetan?«
»Nein, nein«, erwiderte sie. »Es war schön. Du warst so echt. Es ist nur…«
»Was? Du kannst mir alles sagen. Das weißt du doch.«
»Ja, das weiß ich. Bitte rück ganz eng an mich ran.«
Toni legte seinen Arm um ihre Brust und drückte seine Nase in ihr duftendes Haar. Er kannte sie gut genug, um zu wissen, dass es jetzt nichts bringen würde, weiter nachzuforschen. Alles, was sie von sich preisgab, erzählte sie freiwillig oder gar nicht. Das war schon immer so gewesen und hatte ihn manchmal zur Weißglut gebracht. Momentan sah er jedoch keinen Grund, um sich Sorgen zu machen. Sie war zu ihm zurückgekehrt, und nur das zählte. Während er dem Geplätscher der Wellen und dem Motorengeräusch eines vorbeifahrenden Bootes lauschte, fielen ihm die Augen zu.
»Wo gehen wir hin, wenn das hier vorbei ist?«, fragte Sofie.
Toni riss die Augen auf. »Entschuldige– ich war kurz weg. Was hast du gesagt?«
»War nicht so wichtig.«
»Mach dir keine Sorgen. Alles wird sich einrenken. Unser Sohn wird bald durchschlafen. Dann können wir uns ausruhen und haben mehr Zeit für uns. In den Semesterferien fahren wir an die Ostsee. Und solange wir zusammen sind, wird alles gut. Hörst du? Alles wird gut.«
Er drückte sie enger an sich, küsste ihren Nacken und wollte noch etwas Kluges anfügen, aber müde von den Strapazen der vergangenen Woche, müde von dem schweren Obstwein und ermattet von der Lust stürzte er in wenigen Sekunden in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
***
Als jemand an seinem Arm rüttelte, wusste er zunächst nicht, wo er sich befand. Er fror am ganzen Leib, seine Jeans war klamm, und er hustete heftig. Mühsam setzte er sich auf und rieb sich die Augen, bis er die mondbeschienene Flusslandschaft wiedererkannte. Das Schilf raschelte im Wind.
Über ihn beugte sich ein grauhaariges Paar im Partnerlook. Sie trugen pinkfarbene Poloshirts, helle Baumwollhosen und weiße Lederslipper.
»Vor einer halben Stunde ist eine Frau nackt ins Wasser gesprungen«, sagte der Mann. »Sie ist über den Bootssteg gegangen. Deshalb konnten wir sie von der Dachterrasse aus sehen. Doris hat gesagt, behalt die mal lieber im Auge, aber dann ist mein Schwager in die Duschtür gekracht, und wir haben ja noch den halben Tennisclub zu Hause. Jedenfalls ging alles drunter und drüber. Irgendwann sind wir wieder auf die Terrasse. Da ist uns die Frau wieder eingefallen, aber wir konnten sie nicht mehr entdecken. Jetzt machen wir uns Sorgen und wollten nachschauen, ob alles in Ordnung ist.«
Unter dem fragenden Blick des Paars dämmerte Toni allmählich, was dieser Redestrom zu bedeuten hatte.
»Kennen Sie die Frau?«, fragte der Mann. »Wissen Sie, was aus ihr geworden ist? In der Nacht geht man besser nicht schwimmen. Das muss sie doch wissen. Außerdem ist das Wasser viel zu kalt. Es hat noch keine zehn Grad.«
Toni sah auf die Stelle, wo Sofie gelegen hatte, aber sie war nicht mehr da. Schnell schloss er die Knopfleiste seiner Jeans und stemmte sich auf die Füße. »Sofie?«, fragte er und schaute sich nach allen Seiten um.
»Auf dem Grünstreifen ist sie nicht«, erwiderte der Mann. »Da hätten wir sie entdeckt, aber auf dem Bootsanleger liegen noch…«
Toni schob das Paar zur Seite und sprang auf den hölzernen Steg, an dessen Ende sich ein verschattetes Bündel abzeichnete. Als er näher getreten war, identifizierte er Sofies grünen Sari, ihre Unterwäsche und die silbernen Arm- und Fußreifen. Außerdem war dort ihr Ehering, den sie eigentlich nie vom Finger zog.
An dem Steg waren zwei Ruderboote mit Eisenketten festgemacht. Die Havel floss grau wie flüssiges Blei vorüber. An einigen Stellen schimmerte das Wasser silbern, andere waren so schwarz wie dunkle Schlünde. Der Fluss war mehr als einen halben Kilometer breit. Am Ufer gegenüber hoben sich Baumkronen von dem heller werdenden Horizont ab. Nirgends war jemand zu entdecken.
»Sofie«, sagte Toni zuerst leise und schrie dann immer lauter: »Sofiee… Sofieee… Sofieeee!«
Seine Rufe gellten in die Nacht, aber eine Antwort blieb aus.
Sechzehn Jahre später
What can I say, she’s walking away
From what we’ve seen
What can I do, still loving you
It’s all a dream…
How can we hang on to a dream?
How can it, will it be, the way it seems?
Tim Hardin, US-amerikanischer Musiker, 1941–1980
Es ist die Hoffnung, die den schiffbrüchigen Matrosen mitten im Meer veranlasst, loszuschwimmen, obwohl kein Land in Sicht ist.
Ovid, römischer Dichter, 43v.Chr.–17n.
1
Neustädter Havelbucht, Potsdam
Am Morgen des 26.April saß Toni Sanftleben an Deck seines Hausboots und schaute auf das Minarett des alten Dampfmaschinenhauses, das die ersten Sonnenstrahlen des Tages golden reflektierte. Einige Enten schwammen über die glatte Wasseroberfläche, und über die Eisenbahnbrücke rollte ein roter Regionalzug. Bei den Bootsnachbarn waren die Vorhänge zugezogen, auf der Uferpromenade ging ein Frühaufsteher mit einer Brötchentüte vorüber.
Auch mit achtunddreißig Jahren hatte Toni noch die dunklen Locken, die sich durch keine Bürste bändigen ließen. Er trug auch noch die Muschelkette, die ihm einst ein französischer Althippie am Strand von Goa geschenkt hatte. Und seine Füße steckten immer noch in braunen Lederstiefeln. Obwohl er sich rein äußerlich kaum von dem Globetrotter unterschied, der er einmal gewesen war, hatten ihn die letzten sechzehn Jahre zu einem anderen Menschen geformt.
Fest schloss er beide Hände um den dampfenden Becher, pustete auf die braune Brühe und trank von dem Rumkaffee, der stark und bitter schmeckte. In Sekundenschnelle flutete der Alkohol seine Adern. Endlich ließ die nervöse Unruhe seiner Beine nach, endlich konnte er die Füße lang ausstrecken und eine bequeme Sitzhaltung einnehmen. Schon mit dem zweiten und dritten Schluck wurden auch die Kopfschmerzen erträglicher.
In der Nacht, als Sofie verschwunden war, war zunächst die Freiwillige Feuerwehr Werder vor Ort gewesen. Von einem Boot aus hatten sie den Uferbereich und den Grund systematisch abgeleuchtet, aber ihre Suche war erfolglos geblieben. Nach Ablauf der Akutphase waren Polizeitaucher aus Potsdam eingetroffen, die sofort ihre Sauerstoffgeräte aufgesetzt hatten. Rettungsschwimmer der DLRG hatten im Seichtwasser eine Suchkette gebildet. Bald hatte man auch die Rotorblätter eines Hubschraubers gehört, der, ausgerüstet mit einer Wärmebildkamera, über das Gebiet geflogen war. Hunde hatten an Sofies grünem Sari geschnüffelt und waren die Ufer hinuntergeführt worden. Alles Menschenmögliche war unternommen worden, bis der Einsatzleiter um siebzehn Uhr zu ihm gekommen war und ihm mitgeteilt hatte, dass die Suche eingestellt werden würde.
Toni war zu keiner Erwiderung fähig gewesen. Er hatte kaum glauben können, dass dies alles wirklich passiert war.
Noch am selben Abend war Sofie in INPOL, dem »Informationssystem der Polizei«, erfasst worden. Die Vermisstenstelle Berlin war für sie zuständig gewesen und hatte Schleusenwärter, Binnenhäfen, Frauenhäuser, Verkehrsbetriebe, Rettungsleitstellen, Taxibetriebe, Krankenhäuser und andere Pflegeeinrichtungen kontaktiert. Die zuständige Beamtin hatte schnell und gewissenhaft gearbeitet und war nach Ermittlung aller Umstände von einem Badeunfall oder einem Suizid ausgegangen. Sie hatte Toni ihr Beileid ausgesprochen und ihm gesagt, dass es manchmal geschehe, dass eine Wasserleiche verschwunden bliebe. Dann hatte sie sich dem nächsten Fall zugewandt.
Zwar war Toni mittlerweile in der Realität angekommen, aber das schnelle Aufgeben der Behörde hatte er nicht akzeptieren können. Zu viele andere Konstellationen waren denkbar gewesen. Vielleicht hatte Sofie – aus welchem Grund auch immer– den Badeunfall inszeniert. Vielleicht hatte sie sich halb erfroren ans Ufer gerettet, war von einem der Festbesucher entführt worden und hatte nun Schreckliches auszustehen. Regelmäßig hatte er bei der zuständigen Beamtin angerufen, aber er war immer eisiger abgewimmelt worden, was ihn sehr wütend gemacht hatte.
Er hatte Handzettel angefertigt und sie in Werder und in den umliegenden Dörfern verteilt. Er hatte einige Festbesucher ausfindig gemacht und sie befragt. Er hatte Freunde und Bekannte mobilisiert, war mit ihnen die Ufer abgeschritten und hatte Waldstücke durchkämmt. Vielleicht hatten Tiere ihren gestrandeten Leib fortgeschleppt. Bei allen regionalen Tageszeitungen, Radio- und Fernsehsendern hatte er vorgesprochen, aber er hatte bald gemerkt, dass die Redakteure keinen Suchaufruf veröffentlichen würden. Der Fall war ihnen zu aussichtslos gewesen. Auch sonst hatte die Unterstützung schnell nachgelassen.
Die Ungewissheit war das Schlimmste gewesen. Gefangen in einem Schwebezustand zwischen Hoffen und Bangen, zwischen Resignation und dem Verfolgen einer neuen Spur wäre es wohl immer so weitergegangen, wenn ihn sein Sohn Aroon nicht davor bewahrt hätte, den Verstand zu verlieren. Der Junge war noch zu klein gewesen, um das Verschwinden seiner Mutter zu begreifen. Er hatte ganz normale Bedürfnisse gehabt, die sein Vater hatte stillen müssen.
Toni hatte ihr Leben umgekrempelt. Glücklicherweise waren er und Sofie verheiratet gewesen, und ein verständnisvoller Richter hatte schnell festgestellt, dass die elterliche Sorge der Ehefrau geruht hatte. Toni hatte fortan alle Entscheidungen alleine treffen können. Außerdem hatte er ihnen ein gemeinsames Bankkonto eingerichtet, sodass er auch finanziell handlungsfähig geblieben war.
In jener ersten Phase hatten ihm seine Eltern und die Schwiegereltern viel geholfen, aber auch sie führten ihr eigenes Leben und hatten mit ihrem Schmerz zurechtkommen müssen, sodass der Alltag dominanter geworden war. Toni war kaum noch Zeit geblieben, um Suchmaßnahmen zu ergreifen. Deshalb hatte er eine Entscheidung getroffen. Niemand hätte wohl je gedacht, dass er Kriminalbeamter werden würde, aber die Bewerbung bei der Brandenburger Polizei war notwendig gewesen, um bei der Suche mehr Handlungsspielraum zu haben.
Alle Einstellungstests hatte er bestanden und 1999 das Studium an der Fachhochschule in Basdorf begonnen. Von 2002 bis 2004 war er bei der Landeseinsatzeinheit der Polizei(LESE) stationiert. Gleich seine erste Bewerbung bei der Fahndungskoordinierungsstelle in Eberswalde war erfolgreich gewesen. Hier waren alle Vermisstenfälle in Brandenburg bearbeitet worden.
Er hatte ein klares Ziel gehabt, er hatte Sofie finden wollen, und mit dieser Motivation war es ihm gelungen, sich mit dem Behördenalltag zu arrangieren. Von einem wohlwollenden Vorgesetzten hatte er alles gelernt, was er hatte wissen müssen. Er war jedem noch so kleinen Hinweis nachgegangen. Letztendlich hatten sich jedoch alle als Sackgassen erwiesen.
Im Jahr 2008 hatte er beim BKA eine Ausbildung zum Fallanalytiker angefangen. Durch den Umgang mit der Datenbank ViCLAS hatte er sich neue Ansätze erhofft. Vielleicht hatte es einen Fall gegeben, in dem eine Frau auf ähnliche Weise verschwunden war.
Allerdings hatte sein Sohn große Anpassungsschwierigkeiten in Wiesbaden gehabt. Bei dem Jungen war schon im Vorschulalter eine Hochbegabung festgestellt worden, die eine spezielle Förderung nötig gemacht hatte. Außerdem hatten ihm seine Großeltern gefehlt, die wichtige Bezugspersonen für ihn geworden waren.
Toni hatte die Ausbildung zum Fallanalytiker abgebrochen und sich auf eine freie Stelle bei der Potsdamer Kriminalpolizei beworben. Aufgrund seiner Qualifikationen war er eingestellt und schnell zum Leiter eines Ermittlungsteams ernannt worden. In den folgenden Jahren hatte er sich mit Arbeit betäubt und so die Einsicht verdrängt, dass er die Suchmöglichkeiten nahezu ausgeschöpft hatte. Zwar hatte er sich als gründlicher Ermittler entpuppt, auch wies sein Team die beste Aufklärungsquote auf, aber diese Erfolge bedeuteten ihm nichts. Er zweifelte an sich und seinem Beruf. Immer häufiger saß er da und starrte vor sich hin.
Toni nahm einen Schluck von seinem Rumkaffee. Ein Kajütmotorboot lief gerade in die Neustädter Havelbucht ein. Der Bug teilte das Wasser, schäumte es auf und schickte es in kleinen Wellen Richtung Ufer.
Der Frühling hatte in diesem Jahr früher begonnen, überall blühte und grünte es bereits. Die Luft war erstaunlich warm. Ein erster Insektenschwarm wogte über die Wasseroberfläche.
Manchmal meinte Toni, dass er sich so lange mit der Suche nach Sofie beschäftigt hatte, dass er sich darüber selbst verloren hatte. Wenn sie nicht verschwunden wäre, hätte er einen völlig anderen Weg eingeschlagen. Vielleicht hätte er französische Romane übersetzt. Vielleicht wäre er Möbeltischler geworden. Schon als Kind hatte er gerne mit Holz gearbeitet. Er führte ein Leben, das nicht zu ihm passte. Was war überhaupt noch von ihm geblieben?
Als sein Smartphone eine unbekannte Nummer anzeigte, wurden seine Lippen schmal. Er gab sich die größte Mühe, die aufkommende Hoffnung zu ersticken und ganz normal zu reagieren. Vergeblich! Er konnte einfach nichts dagegen tun. In ihm erwachte der brennende Wunsch, Sofie möge am anderen Ende der Leitung sein und ihm endlich erklären, was damals geschehen war. Er klopfte sogar noch auf die Holzlehne seines Sonnenstuhls. Ein zwanghafter Tick, der seinen Wunsch Wirklichkeit werden lassen sollte und von dem er nicht lassen konnte.
Mit wummerndem Herzen drückte Toni auf die grüne Annahmetaste, hielt sich das Mobiltelefon ans Ohr und sagte: »Hallo?«
2
Nach Beendigung des Telefonats hinterließ Toni seinem Sohn eine Nachricht auf dem Kombüsentisch. Dann ging er über den stählernen Steg, den Uferweg und den Anwohnerparkplatz zu seinem Peugeot, der vor dem Hotel& Restaurant »Froschkasten« stand. Natürlich war nicht Sofie, sondern ein Kollege mit einer neuen Nummer in der Leitung gewesen, der ihn informiert hatte, dass in der Innenstadt eine Leiche gefunden worden war.
Toni hatte keine Lust, den Fall zu übernehmen. Er hatte Urlaub eingereicht und wollte zum ersten Mal seit sechzehn Jahren richtig verreisen. Mit seinem Sohn wollte er in die Bretagne fahren, Meeresfrüchte essen und zum Glénan-Archipel segeln. Vermutlich würde er die Ermittlungen ohnehin nicht beenden können, und mit Sicherheit hätte er sich rausreden können. Trotzdem trieb ihn etwas auf die Straße. Später sollte er nicht mehr wissen, was es gewesen war.
Toni stieg in den Wagen, steckte sich ein Pfefferminzbonbon in den Mund und fuhr los. Mit halbem Ohr lauschte er den Radionachrichten. Der deutsche Außenminister Steinmeier hatte seinen russischen Kollegen aufgefordert, sich für die Freilassung der in der Ukraine gefangenen OSZE-Mitarbeiter einzusetzen. In Werder würde heute das hundertfünfunddreißigste Baumblütenfest mit einem Umzug beginnen. Dunkle Erinnerungen wurden wach, und Toni verdrängte sie sofort.
In der Hegelallee fand er problemlos einen Parkplatz. Das Eckhaus zur Hermann-Elflein-Straße war mit Gerüsten eingedeckt, die auf umfassende Sanierungsarbeiten hindeuteten. Der Fußgängerweg und die halbe Straße waren mit hohen Gittern und rot-weißen Schranken abgesperrt. Dahinter befanden sich Dixie-Toiletten, Estrichbetonsäcke, leere Paletten, ein Stromkasten und ein dunkelblauer Bauschuttcontainer, um den sich mehrere Kollegen geschart hatten. Toni entdeckte Kriminaloberkommissarin Gesa Müsebeck, die zu seinem Ermittlungsteam gehörte.
Mit ihrer Kurzhaarfrisur, der schwarzen Jacke und den bequemen schwarzen Lederschnürschuhen sah Gesa aus wie die motivierte Pastorin einer kleinen Landgemeinde. Im Jahr 2008 hatte sie sich freiwillig nach Afghanistan gemeldet, um einheimische Polizistinnen auszubilden und die Position der Frau am Hindukusch zu stärken. Nach dem Besuch einer bewachten Mädchenschule, wo sie für einen »Girls’ Day« im Ausbildungslager geworben hatte, war ihr Konvoi von Talibankriegern angegriffen worden. Mit einer Granatpistole hatte Gesa den Weg freigeschossen. Seitdem eilte ihr ein martialischer Ruf voraus, der ihren gesunden Pragmatismus nur unzutreffend beschrieb. Nach einer Zwischenstation im Kriminalkommissariat für Eigentums- und Vermögensdelikte war sie vor zwei Jahren zu Tonis Team gestoßen.
»Morgen«, sagte er. »Was gibt’s?«
Gesa wedelte mit der Hand, so als wollte sie die Luft zwischen ihnen vertreiben. »Ist gestern wohl spät geworden, was?«
»Keine Sprüche heute. Ich will einen Lagebericht.«
»Etwas empfindlich, der Herr?«
»Das war mein Ernst!«
»Okay, okay. In seinem Personalausweis steht, dass er Klaus Hartwig heißt. Vierzig Jahre alt, kräftige Statur, ungefähr einen Meter neunzig groß. In seiner Brusttasche steckte das Foto einer rothaarigen Frau. Tatzeitpunkt: ungefähr drei Uhr morgens. Es sieht ganz so aus, als wäre er dort drüben erstochen, dann zum Bauschuttcontainer gezogen und hineingeschmissen worden.«
Toni merkte, wie der Berufsalltag seine Gedanken in vernünftige Bahnen lenkte. »Das Opfer muss schwer gewesen sein. Einen solchen Mann hebt man nicht einfach über den Kopf. Wie ist er da reingekommen?«
»Das nenne ich eine gute Frage. Der Täter hat ihn nämlich über eine breite Planke geschleift, die von den Bauarbeitern benutzt wird, um Schubkarren hochzuschieben und Schutt abzuladen. Hier, bitte sehr.«
Toni nahm den weißen Overall entgegen, steckte Arme und Beine hinein, schloss den Reißverschluss bis zur Kehle und zog die Kapuze über. Nachdem er in die Einweghandschuhe geschlüpft war, kletterte er hinter die Absperrung und fragte: »Wie ist die Spurenlage?«
»Einwandfrei. Soweit wir feststellen konnten, gab es keine Verfälschungen durch Unbefugte, Tiere oder die Witterung. Der Wetterbericht sagt, dass es trocken bleiben soll. Der Kriminaltechniker dürfte noch eine Weile brauchen. Soll ich vorsichtshalber Zelte anfordern?«
»Das wird nicht nötig sein. Die Seitenwände sind zu hoch, um im Vorbeigehen hineinzusehen. Wer hat den Toten entdeckt?«
»Ein Anwohner aus dem Mietshaus gegenüber. Sein Apartment liegt ganz oben. Auf dem Balkon hat er seine Morgenzigarette geraucht und hinuntergeschaut. Den Rest kannst du dir ja denken.«
»Na gut. Am besten befragst du jetzt die übrigen Anwohner, ob ihnen in der Nacht etwas aufgefallen ist. Danach klapperst du die umliegenden Kneipen ab. Wenn der Tote so spät noch unterwegs war, ist er vielleicht irgendwo eingekehrt. Außerdem sollen alle Passanten fotografiert werden. Wir treffen uns um zehn Uhr zur Lagebesprechung. Sag auch den anderen Bescheid. Also los.«
Toni wollte sich schon abwenden, als er am anderen Ende der Straße zwei orange Wagen der Müllabfuhr sah, die gerade mit einem hydraulischen Quietschen hielten. Mehrere Müllmänner in leuchtenden Overalls schwärmten aus und zerrten gelbe und schwarze Tonnen hinter sich her. Heute war Samstag, und Toni begriff, dass sich der Leerungstag wegen des Osterfestes um einen Tag verschoben hatte.
Es war keine Seltenheit, dass der Täter auf dem Fluchtweg sein Tatwerkzeug, die blutverschmierte Kleidung oder Teile der Beute wegschmiss. Mülltonnen waren dafür prädestiniert. In den Entsorgungsanlagen war schon vieles gelandet, was nie mehr aufgetaucht war.
»Gesa«, rief er. »Warte noch. Siehst du die Fahrzeuge da hinten? Halt sie auf. Die Tonnen dürfen nicht geleert werden, solange wir den Inhalt nicht untersucht haben.«
»Mach ich«, erwiderte die Kollegin und rannte los.
Toni griff sich eine leere Palette und lehnte sie gegen den Bauschuttcontainer. Er stieg die provisorische Leiter hoch und erblickte den Kriminaltechniker, der dem Toten gerade eine Klebefolie auf das Sportsakko drückte, um Faserspuren zu sichern.
Der LKA-Beamte Christoph Roth galt als launisch und schweigsam. Er konnte ungemütlich werden, wenn er bei der Verrichtung seiner Arbeit mit Fragen behelligt wurde und Mutmaßungen anstellen sollte, die er später relativieren musste. Toni ließ ihn einfach gewähren und wandte sich dem Opfer zu.
Der Tod hatte die Solariumsbräune des breiten Gesichts fleckig und brüchig werden lassen. Es hatte den Anschein, als könnte die Haut abblättern. Sah er deshalb so verlebt aus? Oder hatte ihn sein Lebenswandel frühzeitig altern lassen? Das Sakko war an der Seite zerknautscht und leicht nach oben gerutscht. An seinem rechten, unbeschuhten Fuß trug er einen hellgrauen Socken, der im Fersenbereich schwarzen Dreck aufwies. Beide Beobachtungen stützten Gesas Vermutung. Wahrscheinlich hatte jemand den Mann unter den Achseln gepackt und hierhergeschleift. Er lag auf Schutt, der mit zerbrochenen Ziegelsteinen, leeren Softdrinkflaschen, Zigarettenstummeln und weißen Plastikbändern gespickt war. Toni holte sein Smartphone aus der Tasche und machte einige Fotos von dem Leichnam, der Auffindposition und dem Containerinhalt.
»Wo sind seine Sachen?«, fragte er.
»Na da«, erwiderte der Kriminaltechniker Christoph Roth. »Auf dem Gehweg. Das sieht doch ein Blinder mit Krückstock.«
»Christoph, es ist immer wieder eine Freude, mit dir zusammenzuarbeiten«, erwiderte Toni, kletterte hinab und legte die Palette zurück auf den Stapel.
Nachdem er sich zu der milchigen Plastikbox begeben hatte, nahm er den Deckel ab und untersuchte den Inhalt. In dem Portemonnaie steckten noch vierhundert Euro in Fünfzigerscheinen. Das Handy war ausgeschaltet. Neben dem Ehering lag eine Vorratspackung Kondome. Der Schlüsselanhänger stellte eine Krankenschwester aus Gummi dar, die mit einem offenherzigen Dekolleté und Strapsen bekleidet war. Von ihrem prallen Hintern baumelte ein Mazda-Schlüssel.
Schließlich hob Toni die transparente Tüte an, in der das Foto steckte. Als er es umdrehte und der Frau ins Gesicht blickte, stockte ihm der Atem. Für einen Moment stand die Welt still, kein Laut drang zu ihm durch. Auch wenn die katzengrünen Augen verweint waren, auch wenn sich die Flügel ihrer feinen Nase blähten, auch wenn sie ihre Lippen schürzte, konnte es keinen Zweifel geben. Er hatte ihr schönes Antlitz sofort wiedererkannt. Das war nicht die Ehefrau des Mordopfers, das war seine eigene Ehefrau, das war Sofie.
Er hatte keine Ahnung, wie lange er da hockte und auf die Aufnahme starrte. Erst als jemand seinen Namen rief, begriff er, dass er hier wegmusste. Schnell fotografierte er das Bild ab, legte es zusammen mit den anderen Sachen zurück und schloss den Deckel. In Rekordtempo riss er sich die Handschuhe und den Overall herunter. Als er losstürmte, stieß er beinahe mit der Staatsanwältin zusammen, die im Justizzentrum, nur ein paar hundert Meter entfernt, ihr Büro hatte und sich einen Eindruck vor Ort machen wollte.
»Toni«, sagte sie und blickte irritiert zur Plastikbox. »Wir müssen uns unterhalten.«
»Nicht jetzt«, erwiderte er, drängte sich vorbei und eilte davon.
»Toni«, rief die Staatsanwältin. »Es ist wichtig. Nun warten Sie doch.«
Als er in seinem Rücken ihre eleganten Stiefeletten hörte, beschleunigte er seine Schritte noch. Er erreichte seinen Wagen, sprang hinein und fuhr mit kreischenden Reifen los. In seinem Kopf hallte nur ein einziger Name wider:
3
Toni bog von der Jägerallee in die Gregor-Mendel-Straße ein. Diese fuhr er hoch, bis er das Lenkrad einschlug und am Bordstein hielt.
In der einsetzenden Stille merkte er, wie heftig sein Herz schlug. Hell gestrichene Häuser umgaben ihn, die geschmackvoll renoviert waren und in der Morgensonne erstrahlten. In den Vorgärten standen die Fliederbüsche in voller Blüte. Die Grundstücke wurden durch geschmiedete Zäune begrenzt. An den Garagentoren blitzten verchromte Gegensprechanlagen.
Toni griff sich an die Wange und stellte fest, dass seine Fingerspitzen nass waren. Er hätte nicht gedacht, dass er noch weinen konnte. In den vergangenen sechzehn Jahren war er zu einem Funktionszombie geworden, aber jetzt, in diesem Moment, löste sich ein Klumpen in ihm. Ja, er war beinahe froh, als er seinen Kopf gegen die Seitenscheibe legte und der Kühle des Glases nachspürte.
Die Bedeutung des Fotos konnte er noch nicht einschätzen, aber er begriff, dass etwas Unglaubliches geschehen war. Auf diesen Moment hatte er zahllose schlaflose Nächte gewartet, auf diesen Moment hatte er all die Jahre hingearbeitet. Endlich hatte er eine vielversprechende Spur von Sofie gefunden. Wie war ihr Foto in die Tasche des Toten gelangt? War es möglich, dass sie noch lebte?
Von seiner Tätigkeit in der Fahndungskoordinierungsstelle in Eberswalde wusste er, dass Tagebüchern, Briefen und persönlichen Aufzeichnungen eine große Bedeutung zukam. In ihnen hielten Mädchen und Frauen ihre Gedanken, neue Bekanntschaften und Probleme fest, die einen entscheidenden Hinweis geben konnten.
Auch Sofie hatte Tagebücher geführt, aber er hatte sie nie gefunden. Zudem waren einige Unterwäschestücke verschwunden gewesen. Hatte sie eine Tasche mit Dingen gepackt, die ihr wichtig erschienen waren? Und wenn ja– warum hatte sie das getan?
Toni musste sich überlegen, wie er vorgehen sollte. Wenn jemand ihre Identität herausfände, würde er wegen Befangenheit abgezogen werden. Durch Zurückhaltung ihres Namens machte er sich eines Dienstvergehens schuldig– aber er war Polizist geworden, um sie zu suchen. Das war der einzige Grund gewesen. Wenn er ihr Schicksal aufklären könnte, wäre es ohnehin fraglich, ob er länger Kriminalbeamter bleiben würde. Vielleicht würde er ein neues Leben anfangen, vielleicht würde er zurück nach Goa gehen.
Eine bessere Chance als jetzt hatte er noch nie gehabt. Es würde Wochen dauern, bis er jemanden in sein privates Archiv eingearbeitet hätte, das mehrere tausend Fotos, unzählige Akten und Fachartikel enthielt. Er musste einfach am Ball bleiben, weil er alle Zeugenaussagen und alle Umstände ihres Verschwindens bis ins Detail kannte. Ihm würde sofort auffallen, wenn etwas nicht stimmte.
Toni überlegte angestrengt, wer etwas wissen konnte. Als er in Potsdam angefangen hatte, war Sofie bereits viele Jahre verschwunden gewesen. Er hatte seinen Kollegen nichts von ihr erzählt, weil es häufig vorkam, dass Angehörige falschen Verdächtigungen und Verleumdungen ausgesetzt waren. Den persönlichen Fragen seiner Kollegen war er deshalb stets ausgewichen.
Der Einzige, der etwas wissen konnte, war sein alter Chef gewesen, der ihn eingestellt und zum Leiter des Ermittlungsteams gemacht hatte. Der gewiefte Kriminalist war jedoch längst pensioniert worden und so redselig wie ein Feldstein gewesen. Toni konnte sich nicht vorstellen, dass er etwas erzählt hatte. Der neue Kommissionsleiter war erst seit vier Jahren im Amt und ein Vollblutkarrierist. Über seine Ermittler machte er sich nur Gedanken, wenn sie nicht die gewünschte Aufklärungsquote erzielten.
Toni konnte also loslegen.
Als er den Zündschlüssel drehte, wurde auf dem Multimedia-Touchscreen ein Anruf der Staatsanwältin angezeigt. Was hatte sie vorhin gesagt? Hatte sie etwas gemerkt? Egal. Toni drückte den Anruf weg.
Er musste so lange ermitteln, wie es irgendwie ging und wie er die Befugnisse seines Amtes nutzen konnte. Er musste schnell und hart vorgehen. Er würde jeden Stein nach ihr umdrehen und nicht eher ruhen, bis er die ganze Wahrheit ans Licht gebracht hatte.
4
Wenige Minuten später traf Toni im Kommissariat ein. Während er durch den Flur marschierte, fragte er sich, wie er die Ermittlungen führen sollte. Mit Gewissheit konnte er nur sagen, dass es einen Grund geben musste, warum das Opfer Sofies Foto bei sich gehabt hatte. Dieser Grund lag jedoch völlig im Dunklen. Also gab es nur einen vernünftigen Ansatz. Er musste mehr über den Toten herausfinden. Möglicherweise würde er dabei auf Hinweise stoßen, die er mit Sofies Verschwinden in Verbindung bringen konnte.
Als Toni den Besprechungsraum betrat, war Kriminalkommissar Nguyen Duc Phong bereits anwesend. Seine Eltern waren vietnamesische »Boatpeople« gewesen, die Ende der siebziger Jahre nach Westberlin gekommen waren. Unter seinem glatten schwarzen Pony trug er eine dunkel getönte Brille mit dicken Gläsern, die seine Augen stark vergrößerten. Er war einen Meter sechzig groß und hatte die Figur eines untrainierten Sumoringers. Von Natur aus zeigte er nur wenig Bewegungsdrang und drückte sich gern vorm Außendienst. Toni setzte ihn daher vor allem als Verbindungsmann zur Kriminaltechnik und Gerichtsmedizin ein. Außerdem war er für technische Fragen und Recherchen zuständig, worin er es zu einem echten Könner gebracht hatte.
»Wie ich sehe, hat Gesa dir den Namen des Opfers schon durchgegeben«, sagte er mit einem Blick auf die Computerausdrucke. »Bereite dich schon mal auf deinen Vortrag vor. Gleich muss es schnell gehen.«
»Nur keinen Stress«, sagte Phong und trottete zu seinem Platz. Er entfernte die Verpackung eines Schokoriegels und biss genussvoll hinein.
Toni rückte seinen Stuhl zurecht und ließ ungeduldig seinen Blick über das Foto des Bundespräsidenten, die leere Magnettafel und die verdurstenden Topfpflanzen schweifen. Der Kühlschrank stand offen, jemand hatte den Stecker rausgezogen. Wo blieben sie nur?
Endlich öffnete sich die Tür, und der Mordkommissionsleiter trat – gefolgt von Gesa– ein.
Kriminalrat Frank Schmitz hatte seinen Seidenschal leger um den Hals drapiert. Während er den geflochtenen Einkaufskorb mit Spargel und Petersilie auf dem Tisch abstellte, zupfte er einige Strähnen seiner Kurzhaarfrisur zurecht. Schmitz war einundvierzig Jahre alt und hatte seine Karriere in der Inselstadt Werder begonnen. Durch seinen Ehrgeiz hatte er das Kunststück vollbracht, zwei Laufbahnsprünge – von dem mittleren in den gehobenen und von dem gehobenen in den höheren Dienst– hinzulegen. Seit vier Jahren war er nicht mehr befördert worden. Einige Kollegen munkelten, dass man ihn als Blender durchschaut hätte. Andere behaupteten, dass man begriffen hätte, dass er zu dumm für höhere Aufgaben sei. Schmitz zeigte sich von solchem Gerede unbeeindruckt. Seit die Stelle als Leiter des Führungsstabs ausgeschrieben worden war und er sich intern beworben hatte, hatte er andere Dinge im Kopf.
»Setzen Sie sich, Frau Müsebeck«, sagte er und ließ seine gebleichten Zähne aufblitzen. »Ich finde es ganz toll, dass Sie Ihr Wochenende so bereitwillig opfern wollen, um…«
»Ich opfere gar nichts«, erwiderte Gesa. »Morgen hat meine Nichte Geburtstag, und da gehe ich hin. In den vergangenen Monaten habe ich schon genug Überstunden gemacht.«
»Wie Sie das hier managen, ist mir egal, aber bis Ende nächster Woche will ich die Identität des Täters. Ich höre!«, sagte Schmitz beleidigt, setzte sich auf einen Stuhl und zückte sein Smartphone, um eine Textnachricht zu verfassen.
»Darüber reden wir noch, Gesa«, sagte Toni. Ihm war es recht, dass sein Vorgesetzter gleich zur Sache gekommen war und sich nun seiner Lieblingsbeschäftigung, dem Networking, widmete. So würde er nicht auf die kriminalistisch bedeutungslosen Kommentare des Kriminalrats eingehen müssen. »Phong, dein Einsatz. Was hast du über das Opfer herausgefunden?«
Der Kriminalkommissar nahm einen Schluck von seiner Cherry-Cola und schob seine getönte Brille den Nasenrücken hinauf. »Der Tote ist bei uns nicht aktenkundig. Im sozialen Netzwerk habe ich jedoch einiges über ihn herausgefunden. Er wohnt in Werder, ist verheiratet und von Beruf Obstbauer. Er hat drei Kinder, die fünfzehn, siebzehn und achtzehn Jahre alt sind und noch zur Schule gehen. Klaus Hartwig baut Spargel, Erdbeeren, Süßkirschen, Himbeeren, Johannisbeeren, Sauerkirschen, Pflaumen, Äpfel und Birnen an. Er vertreibt seine Produkte in seinem Hofladen, auf Wochenmarktständen und bei Selbstpflückaktionen. Manchmal findet man sie auch in Supermärkten. Bislang konnte ich nichts Ungewöhnliches feststellen.«
»Einer meiner Brüder wohnt in Werder«, sagte Gesa. »Er ist Friseur und kennt Gott und die Welt. Wenn es Gerüchte gibt, hat er bestimmt davon gehört. Soll ich mal nachfragen?«
Toni wusste, dass die Kriminaloberkommissarin mit acht Geschwistern auf einem Wiedereinrichterhof in Brandenburg aufgewachsen war. Alle Müsebecks waren in der Mark geblieben und bis ins kleinste Dorf verwandtschaftlich vernetzt. »Sehr gut, mach das.«
Plötzlich sah Kriminalrat Schmitz von seinem Smartphone auf. »Wie hieß der Mann doch gleich?«
»Klaus Hartwig«, wiederholte Phong.
»Ich kenne ihn«, sagte Schmitz. »Ich bin sogar mit ihm zur Schule gegangen. Das ist ja… ganz, ganz schrecklich.«
Toni, Phong und Gesa sahen sich überrascht an und überlegten, ob sie nachbohren sollten, aber ihr Chef verfasste bereits eine neue SMS und sagte: »Ich hab keine Ahnung, was Klaus in letzter Zeit getrieben hat. Wir hatten seit zwanzig Jahren keinen Kontakt mehr. Also verschonen Sie mich mit Ihren Fragen. Berichten Sie mir lieber, was die Vernehmung der Anwohner ergeben hat. Und fassen Sie sich kurz, Frau Müsebeck. Ich muss gleich noch zum Neuland-Schlachter.«
»Von den Anwohnern hat ein Mann angegeben, einen Schrei gehört zu haben«, erwiderte Gesa. »Allerdings war er vor dem Fernseher eingeschlafen und ist sich nicht sicher, ob der Schrei von draußen oder aus dem Nachtprogramm kam. Ich hab mir die genaue Uhrzeit aufgeschrieben, einen Moment… Das war um drei Uhr einundzwanzig. Er weiß das so genau, weil er auf die Anzeige seines DVD-Rekorders geschaut hat.«
»Seine Aussage könnte noch von Bedeutung sein«, sagte Toni. »Was machen die Mülltonnen?«
»Fehlanzeige. Die Kollegen haben auch die umliegenden Straßen, Hauseingänge und Hinterhöfe abgesucht, aber sie haben nichts gefunden.«
»Hast du die Kneipen abgeklappert?«
»Ich kann ja nicht hexen. Außerdem waren die noch gar nicht auf. Ich erledige das heute Nachmittag.«
In diesem Moment gab das Smartphone von Schmitz ein »Piep, piep« von sich. Nachdem er die Nachricht gelesen hatte, breitete sich ein Grinsen auf seinem Gesicht aus, das von einem Ohr zum anderen reichte. Der Kriminalrat erhob sich von seinem Stuhl, griff nach seinem Einkaufskorb und sagte: »Das war der Polizeipräsident. Er kommt heute zum Essen. Gerichtsmedizin und Kriminaltechnik habe ich bereits Dampf gemacht. Sie können sich auf die Unterstützung der Assistenztruppen verlassen.« Mit seinen hellblauen Augen fixierte er einen nach dem anderen, als wollte er sein Team auf einen grandiosen Erfolg einschwören. »Wenn der Mensch kein Ziel hat, ist ihm jeder Weg zu weit«, sagte er bedeutungsschwanger und entschwand.
»Was war das denn?«, sagte Gesa. »Er sollte lieber den Kühlschrank reparieren lassen, als heiße Luft zu verbreiten.«
Phong knibbelte an seinem Daumennagel.
»Hier spielt die Musik«, sagte Toni. »Wir haben ein Opfer, das Autoschlüssel, Geld und Wertsachen noch bei sich trug. Einen Raubmord können wir also ausschließen. An den Händen habe ich keinerlei Abwehrspuren entdeckt. Entweder ist er von dem Angriff überrascht worden, und/oder er kannte den Täter. Jedenfalls hat kein Kampf stattgefunden. Wenn ich dich richtig verstanden habe, ist das Opfer erstochen worden?«
»Das hat die Gerichtsmedizinerin gesagt, ja«, bestätigte Gesa. »Aber wir wissen noch nichts Genaues. Das Stichwerkzeug kann das Opfer oder der Täter bei sich gehabt haben.«
»Okay«, sagte Toni. »Phong, du hältst Kontakt zur Gerichtsmedizin und informierst uns, wenn die ersten Fakten raus sind. Um die Frau auf dem Foto kümmere ich mich. Ansonsten gehen wir vor wie immer und rekonstruieren die letzten Stunden des Opfers. Wo hat er sich aufgehalten? Mit wem hat er sich getroffen? Und welchen Weg hat er wann zurückgelegt? Ihr wisst, was zu tun ist. Ich überbringe in der Zwischenzeit der Familie die Todesnachricht. Vielleicht erhalte ich ein paar nützliche Infos. Morgen früh um acht treffen wir uns wieder. Habt ihr sonst noch Anmerkungen?«
»Was ist mit dem Geburtstag meiner Nichte?«, fragte Gesa.
»Später.«
In diesem Moment klingelte Phongs Handy. Er sah auf das Display und sagte: »Christoph Roth, der beste Kriminaltechniker der Welt.«
»Dann geh ran«, drängte Toni.