Die Mündung - Tim Pieper - E-Book

Die Mündung E-Book

Tim Pieper

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Beschreibung

Eine starke Heldin mit erschreckenden Flashbacks, die nicht ruht, bis der Täter gefasst ist. Kommissarin Lena Funk nimmt sich eine Auszeit auf einer abgeschiedenen Insel. Fernab der Erinnerungen, fernab des Schmerzes. Doch in einer stürmischen Nacht wird in den Dünen ein Toter freigespült. Offenbar brutal ermordet. In seiner Jackentasche findet Lena eine Handvoll Schmuckstücke. Und nicht irgendwelche: Es sind die Trophäen des Gezeitenmörders – jenes Mannes, dem auch ihre Schwester zum Opfer fiel. Endlich gibt es eine Spur, endlich eine Chance auf Gerechtigkeit. Aber je tiefer Lena in den Fall eintaucht, desto gefährlicher wird er. Jemand beobachtet sie. Jemand spielt mit ihr. Und die Wahrheit, die sie enthüllt, ist weitaus grausamer, als sie je befürchtet hatte.

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Seitenzahl: 545

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig. Zur Erklärung maritimer Ausdrücke befindet sich im Anhang ein Glossar.

© 2025 Emons Verlag GmbH

Cäcilienstraße 48, 50667 Köln

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, unter Verwendung der Motive von mauritius images/Olaf Döring/imageBROKER, Shutterstock/andrejs polivanovs; kuzmaphoto; Barbara Ash

Lektorat: Carlos Westerkamp

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-98707-231-4

Thriller

Originalausgabe

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Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß §44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

Unser Gedächtnis arbeitet konstruktiv. Es arbeitet rekonstruktiv. Das Gedächtnis funktioniert ein bisschen wie Wikipedia: Sie können es aufrufen und es verändern, aber andere können das auch.

Elizabeth Loftus, *1944,US

PROLOG

In der Nacht erreichten feuchtwarme Luftströme die Elbmündung und ließen Seenebel aufsteigen, die in dichten Schwaden über die schwarze Wasseroberfläche zogen.

Mit klammen Fingern packte er die Ruderpinne fester, hielt sein Segelboot auf Kurs. Zuerst hatte er das Containerschiff nur gehört, doch nun schälte es sich aus dem Dunst. Immer höher türmte sich der Bug auf, rauschte mit steil aufschäumender Welle heran. Die gewaltigen Antriebsmaschinen klopften dumpf, so als läuteten sie die Kollision ein.

Natürlich war es ein Wahnsinn, dass er die Fahrtlinie kreuzte. Er tat es nicht aus Leichtsinn, sondern weil er sie abschütteln musste. Meter um Meter holten sie auf. Wenn sie ihn erwischten, würden sie die Beweise stehlen, ihn über Bord schmeißen und zusehen, wie er ertrank. Es gäbe weder Zeugen noch verdächtige Spuren, sie kämen ungestraft davon.

Aber den Gefallen tat er ihnen nicht.

Im Schutz der Dunkelheit wollte er die freie Nordsee erreichen und die nächste Flut nutzen, um Richtung Spieka-Neufeld einzulaufen. Unterwegs würde er im Windschatten einer Sandbank ankern, einen Plan schmieden. Es gab nur wenige Skipper, die das Revier so kannten wie er. Er rechnete sich gute Chancen aus.

Als er den Kopf hob, war der Ozeanriese nur noch fünfzig Meter entfernt. Hatte er sich verschätzt? Der Lärm war ohrenbetäubend.

Er spannte die Muskeln an, machte sich zum Sprung bereit, als sich die rostige Stahlwand dicht an seinem Bootsheck vorüberwälzte.

Erst jetzt merkte er, dass er den Atem angehalten hatte. Geräuschvoll stieß er die Luft aus. Er hatte es geschafft. Vorerst! Jetzt musste er aufpassen.

Denn schon erreichten ihn die verdrängten Wassermassen, hoben ihn empor, stießen ihn talwärts, wo er von der nächsten Welle erwischt wurde. Die Gischt spritzte ihm in den Nacken, die Segel knatterten wie ein Maschinengewehr, die Fallen klopften im Stakkato gegen den Mast.

Seine weißen, blutleeren Finger krampften sich um die Pinne, verhinderten, dass das Boot aus dem Ruder lief und querschlug.

Allmählich ebbte das Auf und Nieder ab. Er schüttelte den Arm aus, dehnte die Schulter. Endlich erreichte er die Gewässer jenseits des Fahrwassers. Der Nebel hüllte ihn wie ein feuchter Mantel ein. In seinem Bart verfingen sich Tropfen, die ihm über die Lippen rannen.

Er konnte keine Leuchttonne entdecken. Weder vor sich noch hinter sich. Verflucht! In so einer Waschküche musste er höllisch aufpassen, dass er Abstand zu den Sänden und zum Watt einhielt. Dazu kam der auffrischende Wind. Wenn dieser gegen die Strömung stand, wurde es ungemütlich.

Wenigstens schien es so, als hätte er seine Verfolger abgehängt. Es wunderte ihn, dass er zwischen den Schwaden nirgends ihre Positionslichter sah. Hatten sie die Lampen gelöscht? War ihr Boot im Schwell des Containerschiffes gekentert?

Sosehr er seine Augen auch anstrengte, er erblickte nur den alten Stahlkoloss, der wie ein geschmückter Weihnachtsbaum im Dunst verschwand, die Maschinengeräusche schon gedämpft. Ansonsten war da eine unheilvolle Stille. Und die Wellen, die zunächst nur zu erahnen waren, sich dann aus der Schwärze lösten und gekrönt von weißen Schaumköpfen heranrollten.

Mit wackligen Knien stand er auf, für eine bessere Sicht. Er tastete nach den Trophäen des Mörders, die in seiner Anoraktasche steckten. Die Schmuckstücke waren seine Lebensversicherung.

»Schon bald«, rief er über das dunkle Wasser. »Schon bald steht ihr vor Gericht und zahlt für eure Taten. Hört ihr?«

Wie zur Antwort flammte eine Viertelmeile entfernt der gelbliche Suchscheinwerfer auf. Unruhig hüpfte er umher, tastete die diesige See ab.

Oh nein! Sie waren näher, als er gedacht hatte. Wie war das möglich? Es konnte nicht mehr lange dauern, bis der Lichtkegel ihn erwischte.

Ihm wurde zuerst heiß, dann kalt.

Die Signalpistole fiel ihm ein. Er konnte sie als Schusswaffe nutzen, sich wehren. Vor seinem geistigen Auge sah er sich zielen, sah die Verfolger in Deckung gehen.

Er merkte nicht, dass der Seegang ihn steiler anhob und tiefer niederstieß. Ins Hier und Jetzt kehrte er erst zurück, als der Rumpf hart aufsetzte.

Der plötzliche Stopp, die frei gewordenen Kräfte trafen ihn unvorbereitet. Er ruderte mit den Armen, fand keinen Halt, flog nach vorne, versuchte sich abzufangen, prallte heftig gegen die Kajüte. Knackend brachen das Handgelenk und die Rippen. Sengende Schmerzen durchzuckten ihn.

Der Wind drückte das Boot auf die Seite; die nächste Welle hob es an und schmetterte es runter. Aufstöhnend wirbelte er herum, stürzte in die Reling, federte ab, flog mit einer Rückwärtsrolle von Bord. Kerzengerade tauchte er in die Nordsee ein.

Nein!, dachte er. Nicht so!

Da erreichten seine Füße den Grund. Kaltes Wasser klatschte ihm ins Gesicht, spülte über seinen Kopf. Er verschluckte sich, würgte, das Salz brannte in den Augen, aber er konnte das Kinn hochrecken, Luft einsaugen. Vielleicht schaffte er es, vielleicht …

Der Rumpf stieg erneut in die Höhe und wurde wieder hinabgeworfen. Die Bordwand erschlug ihn beinahe. Überall aufspritzende Gischt. Er musste achtgeben, dass er nicht unter dem Großsegel begraben wurde. Er durfte nicht stehen bleiben, er musste hier weg!

Als der Scheinwerferkegel auf sein Boot traf, tauchte er unter, spürte ein glühendes Stechen im Brustkorb, das ihm fast die Besinnung raubte.

Nicht ohnmächtig werden, ermahnte er sich. Bloß nicht ohnmächtig werden!

Auch seine linke Hand war zertrümmert. Bei jeder Bewegung jagten Schmerzstöße durch seinen Arm. Gut, dass das Adrenalin durch seinen Körper pulste. Es half ihm, klar zu denken.

Bei diesen Windverhältnissen, bei der ablaufenden Tide würde er das Boot nicht flottkriegen. Selbst wenn es ihm gelänge, den Motor zu starten, den Rumpf zu stabilisieren und in tiefere Gewässer zurückzusetzen, würden die Manöver zu lang dauern. In seinem Zustand war er eine leichte Beute.

»Wo steckst du?«, tönte es verzerrt aus einem Megafon. »Wir wollen dir nichts tun. Nur reden.«

»Reden?«, murmelte er. »Kannst du deinem Friseur erzählen.«

Er musste fort, bevor sie ihn entdeckten. Also prüfte er, in welcher Richtung der schlickige Boden anstieg, stieß sich mit den Füßen ab. Mit schwebenden Schritten, mit ausholenden Armbewegungen, die ihn jedes Mal an den Rand einer Ohnmacht trieben, kämpfte er sich von der Unglücksstelle fort, tiefer in den schützenden Nebel.

»Komm jetzt her«, erklang es. »Noch finden wir eine Lösung.«

»Sonst was?«, presste er hervor.

»Langsam reicht’s!«, schrie die Megafonstimme. »Wenn du jetzt nicht rauskommst, dann …«

Jaja, du Arschloch, dachte er.

Er hörte nicht mehr zu, konzentrierte sich auf den nächsten Schritt. Der Meeresgrund wurde fester, bald reichte ihm das Wasser nur noch bis zu den Waden. In seinem Mund sammelte sich ein metallischer Geschmack, er spuckte einen Blutfaden aus. Da verhakten sich seine Füße. Er stolperte, fiel platschend auf die Knie, hustete so lange, bis ihm schwindlig wurde. Von irgendwoher tönten gedämpfte Rufe. Alles drehte sich. Für einen Augenblick war er überzeugt, dass er nicht weiterkonnte.

Während er im Wasser hockte, fiel ihm sein Segleranorak ein. Grellorange, mit Reflektoren ausgestattet. Machte ihn zum Ziel. Andererseits konnte er ihn nicht ausziehen. Er fror erbärmlich, ihm klapperten die Zähne. Der winddichte Stoff schützte ihn vor Auskühlung.

Auf einmal bemerkte er kleine, schäumende Strudel und querende Strömungen. Auch vernahm er die Brandung. Einer der hohen Sände musste in der Nähe sein.

Da verstecke ich mich, dachte er. Bis ich die Priele erkenne und mich zum Festland durchschlagen kann.

In seinem Rücken färbte sich der Dunst gelblich. Offenbar waren seine Verfolger vom Boot gesprungen und suchten ihn mit Taschenlampen. Der Lichtstrahl durfte seine Jacke nicht treffen!

Er stemmte sich hoch, schleppte sich weiter. Die nassen Sachen hingen schwer herab, zogen an ihm, als wollten sie ihn in die Tiefe reißen.

Nein!

Nicht aufgeben!

Jeder Meter kostete Überwindung, aber er musste weiterlaufen. Mit seiner gesunden Hand vergewisserte er sich, dass die Beweisstücke in der Tasche steckten.

Ja, er hatte Mist gebaut. Er hatte die Grundregeln des Segelns missachtet und dafür bezahlt. Aber er war nicht am Ende.

Er konnte immer noch davonkommen.

1

Gegenwart

»Stopp!«, schrie Lena. »Steig nicht zu ihm ins Auto. Verstehst du? Nicht einsteigen!«

»Schau mal«, erwiderte ihre Schwester Jette. Sie stand in der offenen Beifahrertür und deutete über das Wagendach hinweg in den Nachthimmel. Vor der silbernen Scheibe des Mondes flogen Graugänse in der typischen V-Formation. »Sie folgen einer Route, einem Zeitplan. Auch mir ist ein Weg vorgezeichnet.«

»Aber du bist ein Mensch, kein Tier. Du hast die Wahl. Ich will dich nicht verlieren! Ich könnte es nicht ertragen.«

»Verlust ist ein natürlicher Bestandteil des Lebens. Wir müssen ihn akzeptieren. Wir müssen lernen loszulassen.«

»Der Kerl ist ein Psychopath! Er wird dir wehtun, wenn du ihn begleitest. Mit seinen Opfern hat er furchtbare Dinge angestellt.«

»Du bist meine große Schwester und willst mich beschützen. Das verstehe ich, aber ich bin schon lange erwachsen und treffe eigene Entscheidungen. Außerdem habe ich dir erklärt, warum ich fortmuss.«

»Was?«

»Denk nach, Lena. Dann begreifst du es.«

»Ich habe keine Ahnung, wovon du redest.«

»Denk an die Graugänse. Es liegt in ihrer Natur, sich auf die Reise zu machen. Und jetzt finde eine Analogie zu meinem Verhalten.«

Verzweifelt erkannte Lena, dass sie nicht zu Jette durchdrang. »Bitte«, flehte sie und begann zu weinen. »Bitte, tu das nicht!«

»Sorg dich nicht. Es hat alles seine Richtigkeit. Wir alle tun, was wir tun müssen«, erwiderte ihre Schwester, setzte sich in den Wagen und zog die Beifahrertür zu. Der Kombi beschleunigte sofort, und die roten Rücklichter entfernten sich.

Lena wollte die Verfolgung aufnehmen, doch sie hing am Boden fest. Oder war sie gelähmt? Jedenfalls gehorchte ihr Körper nicht. Sie strengte sich stärker an, bewegte zuerst die Finger ihrer rechten Hand und …

… schlug schluchzend die Augen auf.

Das Tanktop klebte an ihrer Haut. Sie atmete schwer, und Tränen rannen ihr über das Gesicht. Obwohl sie noch aufgewühlt war, kapierte sie, dass es wieder der Alptraum gewesen war. In verschiedenen Variationen suchte er sie beinahe jede Nacht heim. Mal war der Wagen rot, dann weiß, dann von einer undefinierbaren Farbe. Mal antwortete ihre Schwester in ihrer typisch distanzierten Weise, dann hüllte sie sich in Schweigen. Mal wurde Jette ins Auto gezerrt, dann stieg sie freiwillig ein.

Wie sich die Entführung in der Realität zugetragen hatte, wusste Lena nicht. Es gab keine Augenzeugen, und ihre nächtlichen Hirngespinste verwirrten sie nur, anstatt sie über das tatsächliche Geschehen aufzuklären.

Der Traum machte sie jedes Mal fix und fertig. Er erinnerte sie nicht nur daran, dass sie ihre Schwester verloren hatte, er rief ihr auch ins Gedächtnis, dass sie kurz vor Jettes Verschwinden mit ihr gesprochen hatte. Vielleicht hätte sie verhindern können, dass sie das Lütte Altstadtfest in Otterndorf verließ und sich mitten in der Nacht alleine auf den Heimweg begab.

Hatte sie solche Überlegungen erst angestellt, meldete sich in ihrem Kopf schon die anklagende Stimme ihres Vaters, der sie für Jettes Tod verantwortlich machte. Obwohl Lena wusste, dass er unrecht hatte, und obwohl Lena längst kapiert hatte, dass sie ihm nur als Blitzableiter für seinen Schmerz diente, fühlte sie sich schuldig.

In Boxershorts sprang sie von dem schmalen Bett auf, tigerte durch den Wohncontainer. Er diente ihr als Unterkunft, seit sie die Stelle als Umweltpraktikantin auf der Vogelinsel Scharhörn angetreten hatte. Allerdings wusste sie bereits, dass die Bewegung allein nicht half. Sie musste ihren Geist beschäftigen.

Deshalb griff sie nach den Drumsticks, die sie überallhin begleiteten. Auf der Küchenzeile trommelte sie schnelle Paradiddles, Kombinationen aus Einzel- und Doppelschlägen. Sie begann mit altbekannten Mustern und verband sie zu längeren und komplexeren Rhythmen, die irgendwann ihre ganze Aufmerksamkeit erforderten.

2

Eine halbe Stunde später hatte Lena die düsteren Traumbilder verscheucht und setzte sich mit dem Rücken gegen die kalte Wand. Während sie die Trommelstöcke mit den Fingern wirbelte, schaute sie zwischen den Lamellen der Jalousie hindurch nach draußen. Silbrige Blitze zuckten am Nachthimmel. Am Abend hatte sich ein Unwetter zusammengebraut, das sich nun über der Elbmündung und dem Wattenmeer entlud.

Von Zeit zu Zeit verdichtete sich der Regen zu wasserfallartigen Fontänen, die so jäh gegen die Fenster schwappten, dass die Scheiben bebten. Dann übernahmen die pfeifenden Orkanböen die Gewalt und stürmten gegen den Pfahlbau an. Sie rüttelten an den Tragsäulen, zerrten an dem Laufgitter und rissen an der Photovoltaikanlage auf dem Dach, aber Lena achtete nicht auf das Klappern der Bleche.

In Gedanken war sie wieder bei ihrer Schwester Jette. Lange vor ihrer Entführung, noch im Teenageralter, hatte diese die Auswirkungen des Klimawandels auf das Verhalten der Zugvögel untersucht und einen Forschungswettbewerb gewonnen. Mit ihrem klaren Gesicht hätte sie schön aussehen können, als sie auf der erleuchteten Bühne stand und den Preis entgegennahm, aber Äußerlichkeiten bedeuteten ihr nichts. Sie trug den Pagenschnitt, den ihr der Dorffriseur seit dem Kindergarten verpasste, und die Lederkette mit dem silbernen Nonnengans-Anhänger. Im Vergleich zu der glamourösen Moderatorin, die sie mit Lobeshymnen überschüttete, und im Vergleich zu dem Vertreter des preisstiftenden Instituts, der sie väterlich wohlwollend anlächelte, wirkte sie deplatziert und überfordert. Es schien so, als ob sie die Laudatio gezwungenermaßen über sich ergehen ließ.

Schon früh hatte sich herausgestellt, dass Jette anders war als die anderen Kinder im Dorf. Im Alter von drei Jahren brachte sie sich selbst das Lesen bei, mit sieben spielte sie die »Préludes« von Rachmaninow auf dem Klavier, und kurz nach ihrem vierzehnten Geburtstag begann sie ein Medizinstudium. Zugleich zeigten sich Auffälligkeiten und Schwierigkeiten im zwischenmenschlichen Umgang.

Psychologen ermittelten einen Intelligenzquotienten zwischen hundertneunundfünfzig und hundertzweiundachtzig und nannten Jette »twice exceptional«, also in zweifacher Hinsicht außergewöhnlich. Sie verband eine Hochbegabung mit einer Autismus-Spektrum-Störung, dem Asperger-Syndrom. Damit einher ging noch eine Hochsensibilität. Trotz Einschränkungen in der sozialen Interaktion hätte sie der Welt viel geben können, wäre sie nicht von einem Serientäter entführt und umgebracht worden.

Manche Menschen bewältigten ihre Trauer, indem sie das Grab pflegten, einen Song schrieben oder Trost in Gesprächen suchten. Lena bekämpfte den Schmerz, indem sie die Ermittlungen der Soko Gezeitenmörder verfolgte. Weil sie selber Kriminalhauptkommissarin war und Tötungsdelikte aufklärte, konnte sie die Vorgehensweise beurteilen. Zunehmend gewann sie den Eindruck, dass falsche Schwerpunkte gesetzt wurden. Ihrer Kritik begegnete man erst argumentativ, dann gereizt und schließlich verärgert, bis man ihr die Tür vor der Nase zuschlug.

Das war ein Schock.

Sie stellte sich in Frage, zog einen Freund zurate, den sie von der Polizeihochschule kannte, der sie mit Insiderinformationen versorgte und von dem sie sich eine objektive Einschätzung erhoffte. Gemeinsam kamen sie zu dem Ergebnis, dass die Soko entweder aus Unvermögen oder aus einem anderen Grund erhebliche Fehler beging. Wieso wurde nicht berücksichtigt, dass Jette nicht ins Opferschema passte?

Konsequent stürzte Lena sich in eigene Nachforschungen. Weder die Bedenken ihrer Eltern noch die Disziplinarandrohungen ihrer Vorgesetzten hielten sie auf. Um mehr Zeit zu haben, nahm sie unbezahlten Urlaub und drehte jeden Stein auf der Suche nach dem Gezeitenmörder um, der seine Opfer nach Volksfesten in Hafenstädten auflas. Neun waren es inzwischen! Aber nichts half. Der Kerl lief noch frei herum. Irgendwo lachte er sich ins Fäustchen und schwelgte in seinen kranken Phantasien.

Der Gedanke war unerträglich, doch am meisten belastete Lena, dass sie alle Möglichkeiten ausgeschöpft hatte und nicht weiterwusste. Wenn sie nicht bald eine zündende Idee hatte, würde der Täter die nächste junge Frau zu Tode quälen und ihren Leichnam von der ablaufenden Tide auf die freie See tragen lassen, bis er Wochen oder Monate später mit der Flut irgendwo an Land gespült wurde; und sie konnte nichts dagegen tun. Sie war machtlos! Diese Einsicht wühlte sie so auf, dass sie nur einschlief, wenn sie vor Erschöpfung umkippte.

Hier, auf der Vogelinsel Scharhörn, mitten im Wattenmeer, wollte sie Ruhe finden, aber das Gegenteil war der Fall. Zurückgeworfen auf sich selbst, kaute sie die Fakten endlos durch. Das Gedankenkarussell nagte an ihren Nerven. Die Alpträume ließen die Realität verschwimmen. Sie hatte Angst, den Verstand zu verlieren, aber sie wusste genau, dass sie lieber verrückt werden würde, als den Mörder ihrer Schwester davonkommen zu lassen.

Sie würde niemals aufgeben: nicht heute, nicht morgen und nicht in fünfzig Jahren!

3

Lena hob ruckartig den Kopf. Ein Geräusch hatte sie aufgeweckt. Es hatte sich angehört, als wäre die Metalltür zugeschlagen worden. War jemand im Wohncontainer?

Sie war im Sitzen, mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt, eingeschlafen. Mit den Fingern wischte sie sich den Speichel vom Kinn, stemmte sich hoch und blickte sich angestrengt um. Ihr Nacken schmerzte.

In der feinen Sandschicht auf dem Fußboden zeichneten sich Spuren ab, die sie aufgrund der Profilabdrücke ihren eigenen Stiefeln zuordnete. Ansonsten sahen das Stockbett, der Spind und ihr Arbeitsplatz aus wie immer. Nirgends entdeckte sie Hinweise auf einen Eindringling.

Alles in Ordnung, beruhigte sie sich. Keine Paranoia jetzt!

Hastig griff sie nach einem vollen Glas, das auf dem Tisch bereitstand. Sie stürzte das Wasser hinunter. Es stammte aus dem Tank draußen und schmeckte bitter, aber sie hatte sich daran gewöhnt und fühlte sich hinterher stabiler.

Gähnend streckte sie die Arme von sich und dehnte sich, bis der Schmerz am Hals nachließ. Danach schloss sie die Objektivabdeckung der Webcam, um sich unbeobachtet waschen zu können.

Die Kamera klemmte am Regalbrett und filmte sie bei den täglichen Verrichtungen. Zu Beginn ihres Aufenthalts hatte sie sich unbehaglich gefühlt, aber man hatte ihr erklärt, warum die Liveaufnahmen nötig waren. Ihr Vorgänger hatte nach einem Schlaganfall tagelang bewusstlos auf dem Fußboden gelegen und war schließlich gestorben. Hätte man ihn früher entdeckt, hätte er gerettet werden können. Die Überwachung erfolgte auf freiwilliger Basis und geschah zu ihrem Besten. Sie konnte sie jederzeit unterbrechen.

Als sie sich mit einem nassen Waschlappen säuberte, fröstelte sie und streifte schnell das karierte Holzfällerhemd über. Im Spiegel entdeckte sie Spuren von Möwenkot, der draußen überall vom Himmel fiel und dem kaum mit Shampoo beizukommen war. Sofort griff sie nach der Bürste und zog die Borsten durch ihr naturkrauses hellbraunes Haar, um die letzten Reste zu entfernen. Notdürftig steckte sie es mit einer dünnen Metallklammer fest. Sie hatte schon immer Probleme gehabt, ihre Locken zu bändigen. Bei diesen Wind- und Wetterverhältnissen beschränkte sie sich darauf, eine Verstruppung zu verhindern und die Vögel davon abzuhalten, ihren Kopf als Nistplatz zu benutzen.

»Sieh dich an, Lena Funk«, sagte sie und schaute auf ihr Ebenbild. »Dafür bist du selber verantwortlich.«

Unter ihren blauen Augen hatten sich gräuliche Sicheln gebildet, die gespenstisch mit ihrer Sonnenbräune kontrastierten. Ihre Nase stach zu spitz aus dem schmalen Gesicht hervor. Auch ihr restlicher Körper war zu dünn. Bei einer Körpergröße von einem Meter vierundsiebzig brachte sie noch fünfundfünfzig Kilogramm auf die Waage. Sie musste regelmäßiger essen, besser auf sich aufpassen, aber das war leichter gesagt als getan, wenn sie ins Grübeln geriet und sich im Gedankendickicht verlor.

Warum fand sie keinen »normalen« Weg, um ihre Trauer zu bewältigen? Warum konnte sie die Ermittlungen nicht anderen überlassen und ein normales Leben führen? Die Antwort stellte sich ein, als sie an ihren Traum dachte. Die Worte ihrer Schwester waren eindeutig.

»Es liegt in deiner Natur«, sagte sie zu ihrem Spiegelbild. »Dagegen kommt man nicht an.«

Seufzend band sie ihr Haar zu einem Pferdeschwanz zusammen und schlüpfte in die schwarze Cargohose. Danach entfernte sie die Objektivabdeckung von der Webcam. Weil es so hell war, setzte sie ihre Sonnenbrille auf. Wie jeden Tag.

Fast gleichzeitig meldete sich die Zentrale. Offenbar war sie beobachtet worden. Jemand hatte nur darauf gewartet, Kontakt aufzunehmen. Und sie wusste auch schon, wer das war. Widerwillig nahm sie den Anruf entgegen.

Am Apparat war Anton, ein Biologe und Mitarbeiter der Geschäftsstelle, der das Einweisungsgespräch durchgeführt hatte. Er kontaktierte sie häufiger, als es notwendig war, deshalb vermutete sie, dass er nicht nur berufliche Interessen verfolgte. Auch wenn ihr schleierhaft war, was er sonst von ihr wollte.

»Hey, du Glückliche«, sagte er zu fröhlich.

»Hallo«, antwortete sie knapp.

»Hast du rausgeschaut? Es ist herrlich. Das Unwetter hat sich gelegt. Versprengte Wolken jagen ostwärts. Auf dem Wattboden zeigt sich ein Wechselspiel aus Licht und Schatten. Am Strand wirbeln kleine Sandhosen auf …«

Das konnte ewig so weitergehen. Lena setzte sich an den Schreibtisch und legte die Füße hoch.

»… und das Dünengras schüttelt die letzten Regentropfen ab«, fuhr Anton fort. »Am Horizont läuft gerade ein Kreuzfahrtschiff in die Elbmündung ein. Siehst du die Elbmündung? Siehst du, wie das Kreuzfahrtschiff einläuft?«

Lenas winziger Arbeitsplatz befand sich direkt am Fenster. »Hab Augen im Kopf. Warum erzählst du mir das jeden Morgen?«

»Großartig«, sagte Anton. »Eigentlich wollte ich nur hören, wie es dir geht und wie du den Sturm überstanden hast.«

»Bin in Ordnung.«

»Am besten hast du immer genügend Feuerholz vorrätig. Das ist wichtig, wenn du länger nicht rauskannst. Brauchst du deine Lieblingsschokolade? Eine warme Decke?«

»Hast du gestern schon gefragt.«

Seine Fürsorge nervte. Außerdem behandelte er sie wie ein kleines Mädchen. Dabei wusste er aus ihrer Personalakte, dass sie als Teamleiterin im Dezernat für Schwere Kriminalität des LKA Niedersachsen in Hannover tätig gewesen war. Im Dienst hatte sie in Abgründe geblickt, die er sich nicht mal vorstellen konnte. Sie benötigte seinen Schutz nicht; sie kam gut alleine klar und wechselte das Thema.

»Der Sandabtrag dürfte enorm sein«, sagte sie sachlich. »Ich schieße später Fotos und schicke sie dir. Außerdem habe ich Ölklumpen gefunden, die außen rau und innen feucht und glänzend schwarz waren. Ich gebe sie Hinrich mit, wenn er mit dem Trecker die Lebensmittel bringt.«

»Gute Idee.«

»Ach ja. Hab gestern eine tote Pfeifente im Röhricht von Scharhörn-Mitte entdeckt.«

»Vom Wanderfalken ausgefressen?«

»Nein. Das Gefieder war auch nicht ölverklebt. Todesursache unklar. Ich trage das Tier später in das Formular ein.«

»Warte mal«, sagte er.

Daraufhin kehrte Stille ein. Sie konnte nicht einschätzen, ob er noch wichtige Informationen hatte, deshalb geduldete sie sich und griff nach einem Bleistift. Sie zeichnete geometrische Gebilde auf ein Blatt Papier, als sie ein an- und abschwellendes Rauschen in der Leitung vernahm. Es klang wie Interferenzen, also wie Schallwellen, die sich überschnitten. In das Knistern mischte sich eine verzerrte Stimme. Telefonierte Anton auf einer anderen Leitung? Benutzte er ein Funkgerät? Lena konzentrierte sich, um die Worte zu erfassen, aber sie blieben undeutlich und bruchstückhaft. Doch irgendwie kam ihr der Tonfall bekannt vor.

»Wer redet da im Hintergrund?«, fragte sie.

»Ach, das ist nichts weiter«, erwiderte er. »Aber du … du hast dich gestern komisch angehört, Lena. Fühlst du dich manchmal verlassen?«

Aha! Er hatte den Gesprächsfaden wiederaufgenommen. »Warum willst du das wissen?«

»An einsamen Orten kann man sich leicht verlieren. Nichts scheint real zu sein. Man zweifelt Entdeckungen an, obwohl sie echt sind, obwohl man sie anfassen kann. Ich mache mir Sorgen um dich.«

»Wirklich? Na, dann lass dir gesagt sein, dass es ganz normal ist, wenn man hier sonderlich wird.«

»Stimmt. Für dich war das ein großer Schritt. Du hast früher ein anderes Leben geführt. Eigentlich wolltest du ein Drummergirl werden, du hast zuerst in der Schülerband getrommelt, dann habt ihr eine Coverband gegründet …«

Lena schaute auf ihre Armbanduhr. Allmählich war es Zeit für ihren Rundgang. Anton, dachte sie, komm endlich zum Punkt!

»In der Coverband wolltest du weiter Schlagzeug spielen«, fuhr er fort, »aber du hast dich von den anderen Mitgliedern überreden lassen und bist Sängerin geworden. Hast die Auftritte und das Bad in der Menge geliebt. Nicht jeder ist für Scharhörn geschaffen. Stimmst du mir da zu, Lena? Wann hast du gemerkt, dass du dich mit Scharhörn arrangieren musst?«

»Warum wiederholst du manche Worte zweimal? Ist das ein Tick oder so was?«

»Ich kann dir nicht folgen.«

»Vorhin hast du die Elbmündung und das Kreuzfahrtschiff betont, jetzt war es der Inselname.«

»Ich rede nur so viel, damit meine Stimme dir hilft, über schwierige Phasen hinwegzukommen. Vielleicht sollte ich dich öfters anrufen.«

»Auf keinen Fall. Das reicht jetzt. Ich habe hier einen Job zu erledigen. Warte mal«, sagte nun Lena, legte den Apparat beiseite und stand auf.

Sie kniff die Augen zusammen und suchte die Dünen ab, in denen ihr etwas Ungewöhnliches aufgefallen war. Durch das ständige Anbranden der Wellen, das Abbrechen der Kanten und den immensen Abtrag waren in der Nacht neue Steilwände entstanden. Auf einem Kliff, das ihr schräg zugewandt war, wogte der Strandhafer. Darunter befand sich eine bräunliche Wurzelschicht, die in den senkrechten Sandwall überging. Und darin steckte etwas Grelles fest. Es ragte heraus, war nach unten gekrümmt und sah aus wie …

***

Draußen, vor dem Eingang des Wohncontainers, stellte sie sich ans Geländer, rückte ihre Sonnenbrille zurecht und nahm die Stelle näher in Augenschein.

Tatsächlich!

Sie hatte sich nicht getäuscht, schluckte hart. So ein Mist! Es war nicht die Entdeckung an sich, die sie verstörte. Vergleichbares hatte sie schon dutzendfach gesehen. Es war vielmehr die Tatsache, dass der Fundort auf dieser Insel, fern von jeder Zivilisation lag.

Hastig sprang sie die hallenden Treppenstufen hinunter, rannte durch den tiefen Sand. Ringsum flogen Vögel auf, stießen Alarmrufe aus, bombardierten sie mit Kot. Lena merkte die Treffer nicht. Auch die Flut, die langsam über das grünbraune Watt herankroch, beachtete sie nicht.

Sie hatte nur Augen für den Leichnam, von dem lediglich der Oberkörper herausragte. Der Rücken wölbte sich abwärts, auf dem Schädel wehten vereinzelte Haarbüschel, die Arme waren lang ausgestreckt. Es sah aus, als hätte die Person einen Kopfsprung versucht und wäre mit der Hüfte hängen geblieben. Der grellorange Segleranorak stach ins Auge.

Lena bemühte sich, eine professionelle Distanz zu wahren. In dem Schädeldach klaffte eine Lochfraktur, die wegen der Lage nicht von einem typischen Sturz herrühren konnte. Nach der Länge und Anordnung der Bruchkanten zu urteilen, kam ein Hammer als Tatwerkzeug in Frage. Offenbar handelte es sich um das Opfer einer Gewalttat.

Neben den sterblichen Überresten kniete sie sich hin und linste auf das Gesicht, das zu verwest war, um das Geschlecht oder das Alter zu bestimmen. Trotzdem gewann sie den Eindruck, dass es sich um einen Mann handelte, der hier begraben und von dem Hochwasser freigespült worden war.

Sie zog die Ärmel ihres Holzfällerhemdes über die Fingerkuppen, um eine Kontamination zu vermeiden, und tastete zur Identitätsfeststellung die Anoraktaschen ab, bis sie auf harte Gegenstände stieß. Vorsichtig öffnete sie den Druckknopf und holte einen transparenten Gefrierbeutel heraus, in dem eine Uhr, Armbänder, Ringe und eine Lederkette steckten.

Sie riss die Augen auf.

Hitze schoss ihr ins Gesicht.

Konnte das sein?

Mit klopfendem Herzen vergewisserte sie sich, dass der Fund real war. Sie berührte ihn, spürte die Ecken und Kanten. Die meisten Schmuckstücke konnte sie Opfern zuordnen. Und die Gravur auf der Rückseite des Nonnengans-Anhängers bestätigte, dass er ihrer Schwester gehört hatte. Sie hatte ihn auf dem Altstadtfest in Otterndorf getragen, in jener Nacht, als sie entführt wurde.

Kein Zweifel! In ihrer Hand hielt Lena die Trophäen des Gezeitenmörders.

4

Vor einem knappen Jahr, 29.Juli, abends

Jette spürte eine beunruhigende Präsenz hinter sich. Hastig drehte sie sich um, suchte nach der Ursache ihres Unbehagens, überflog die Gesichter der anderen Konzertbesucher, konnte aber niemanden Bestimmtes ausmachen. Dazu war sie wohl nicht gründlich genug, auch zu angespannt, zu sehr mit der Geräuschkulisse beschäftigt.

Volksfeste wie das Lütte Altstadtfest in Otterndorf überforderten die Neunundzwanzigjährige. Ihr fehlte ein natürlicher Reizfilter. Deshalb unterschied ihr Gehirn nicht zwischen wichtigen und unwichtigen Informationen. Sie hörte den Gesang ihrer Schwester Lena und die Bestellungen am benachbarten Bierstand gleich laut. Der Lärm in ihrem Kopf stresste. Und es kostete sie Kraft, die Nebengeräusche zu ignorieren und sich auf die Musik zu konzentrieren. Genießen konnte sie »Zombie« von The Cranberries trotzdem nicht, weil der Bassist, den alle Fischbek nannten, das Tempo verschleppte.

Je länger sie im Publikum stand, desto mehr legte sich ihre Stirn in Falten, desto stärker verkrampften sich ihre Finger. Sie sehnte sich nach ihrem Labor. Nach der Stille und Aufgeräumtheit. Jeder Kugelschreiber hatte seinen Platz, die Wanduhr klickte in beruhigender Gleichmäßigkeit, vor fünfzehn Uhr fünfzehn durfte kein Assistent sie ansprechen. Die klinische Atmosphäre schirmte sie gegen störende Einflüsse ab und half ihr, den Fokus auf das Wesentliche zu lenken. Wenn sie ihren Arbeitsplatz verlor, würde man ihr nicht nur eine sinnvolle Tätigkeit, sondern auch einen Zufluchtsort nehmen.

»Du guckst so ernst«, sagte Frauke. »Tut mir leid, dass es länger gedauert hat, aber ich habe noch einen alten Bekannten getroffen und mich verquatscht. Hier, bitte schön.«

»Danke«, erwiderte Jette und nahm den Bierbecher entgegen. »Zu viele Reize führen bei manchen Menschen zu Kopfschmerzen.«

»Dann solltest du besser nichts trinken.«

»Doch, doch. Kann helfen.«

Jette reagierte auf Alkohol nicht wie andere hochsensible Menschen mit einer Reizverstärkung, sondern in der üblichen Weise. Sie nahm einen Schluck und wartete auf die Wirkung. Langsam spürte sie, wie sie etwas abstumpfte.

»Du hast dich ganz schön verändert«, sagte Frauke. »Siehst toll aus.«

»Die Wissenschaftler des Instituts treffen sich mit Förderern, um Spenden zu sammeln. Ein guter Eindruck ist nützlich. Zwei männliche und eine weibliche Mitarbeiterin wurden zu einer Stilberaterin geschickt. Ist die Kleidung unpassend?«

»Überhaupt nicht. Diese Frau sollte ich auch mal aufsuchen. Das war ein Kompliment, Jette.«

»Oh, danke. Prost!«

In Freiburg/Elbe hatten Jette und Frauke gemeinsam den Kindergarten und die erste Klasse der Grundschule besucht. Danach verliefen ihre Leben in unterschiedlichen Bahnen. Trotzdem zählte Frauke zu den wenigen Menschen, in deren Gesellschaft Jette sich weder als Zootier noch als intellektuelle Provokation fühlte. Die gleichaltrige Einzelhandelskauffrau wollte sie nicht überflügeln, begaffen oder anhimmeln. Sie stand fest im Leben und verkörperte eine wohltuende Klarheit.

Auf der Bühne kündigte Lena das nächste Stück an, ohne den Titel zu verraten. Sie machte dem Schlagzeuger ein Zeichen, der mit den Drumsticks anzählte und dann den Rhythmus vorgab. Der E-Gitarrist setzte ein, und schließlich sang ihre Schwester: »Woo-hoo / Woo-hoo / Woo-hoo / Woo-hoo / I got my head checked / By a jumbo jet / It wasn’t easy / But nothing is …«

»Song 2« von Blur. Er zählte zu Lenas Favoriten, wenn sie das Publikum zum Tanzen bringen wollte.

»Deine Schwester hat’s echt drauf!«, sagte Frauke begeistert und hüpfte auf der Stelle, sodass ihr Bier überschwappte. Lachend wischte sie sich den Handrücken ab.

»Ja«, bestätigte Jette und meinte es ganz anders.

Sie sah in Lena nicht die Frontfrau der Coverband ScheunenROCKer, die bei Volksfesten in Hafenstädten auftrat. Sie sah auch nicht den wahr gewordenen Männertraum, der in Boots, Hotpants und hautengem Top tanzte.

Die Stärke ihrer großen Schwester lag woanders. Sie scheute sich nicht, an ihre psychischen und physischen Grenzen zu gehen. Wenn sie gefordert wurde, setzte sie sich ganz ein. Sie taktierte nicht, hielt nichts zurück. Wie würde sie erst kämpfen, wenn ein geliebter Mensch in Schwierigkeiten geriet?

Überlegungen dieser Art waren der Hauptgrund, warum Jette bislang geschwiegen hatte. Sie fürchtete die Entschlossenheit, mit der die Ältere die Sache anpacken würde. Für einen solchen Umbruch war Jette nicht bereit. Ein solcher Umbruch wäre der Beginn von Chaos und Unsicherheit. Sie hoffte noch, dass sich alles irgendwie von selbst regelte, dass sie weitermachen konnte wie bisher.

Doch tief in ihrem Inneren wusste sie es besser. Die Vorfälle waren zu schlimm, zu gravierend, zu entsetzlich, um sie einfach zu übergehen. Ein Zurück gab es nicht mehr.

5

Gegenwart

Lena war aufgekratzt, konnte nicht stillstehen. Unruhig lief sie am Strand umher. Endlich hatte sie einen Plan; endlich zeichnete sich ein Weg ab, wie sie offiziell an den Ermittlungen teilnehmen konnte. Sie musste nur behutsam vorgehen. Hatte sie das Prozedere erst ausgelöst, griff ein Rädchen ins nächste. Und am Ende stände sie mitten im Geschehen.

Noch war sie zu aufgeregt für den Anruf. Sie musste erst runterkommen. Also sprang sie auf der Stelle, boxte schnelle Kombinationen, kickte mit den Füßen, bis ihre Lunge brannte. Keuchend stützte sie sich auf den Oberschenkeln ab und wartete, bis ihr Atem abflachte.

Dann zückte sie ihr Smartphone, prüfte, ob sie ausreichenden Empfang hatte, und wählte die eingespeicherte Nummer. Es ertönte das Freizeichen.

»Dezernat für Schwere Kriminalität, Johanna Koch«, meldete sich die Sekretärin. »Wie kann ich helfen?«

»Hallo, Johanna. Ich bin’s. Lena. Kriminalhauptkommissarin Lena Funk.«

»Ach nee. Wie geht’s denn im Dauerurlaub?«

»Ich muss den Chef sprechen. Ist dringend. Ist er verfügbar?«

»Hier wird gearbeitet, Lena. Wir können nicht sofort strammstehen, wenn du dich meldest.«

»Wo ist er denn?«

»Videokonferenz.«

»Bitte richte ihm aus, dass ich auf Scharhörn bin und einen Leichnam gefunden habe. Er soll schnell zurückrufen.«

»Einen Leichnam? Auf der Vogelinsel? Ist ja kaum zu glauben.«

»Richtest du es ihm aus?«

»Ich kann dir nichts versprechen. Hier ist die Hölle los. Du kennst das ja.«

»Hast du mir zugehört, Johanna? Es geht um einen Mord. Es ist wichtig.«

»Jaja. Hier ist immer alles wichtig. Aber wenn der Chef hört, dass du dich gemeldet hast, greift er bestimmt sofort zum Hörer. Du warst ja schon immer sein Liebling.«

»Danke, Johanna.«

»Nicht dafür, Lena. Das ist mein Job. Dafür bin ich da.«

»Grüß bitte alle von mir. Tschüss.«

Schnell unterbrach Lena die Verbindung. Sie hatte ganz vergessen, wie launisch die Sekretärin war. An einigen Tagen zickte sie, an anderen sprudelte sie über vor Herzlichkeit und buk für alle Streuselkuchen.

Lena würde sich niemals so gehen lassen, dazu hatte sie zu viele männliche Neider, die nur auf einen Beweis für ihre mangelnde Eignung warteten.

Sie steckte das Smartphone in die Seitentasche ihrer Cargohose. Der erste Schritt war getan. Jetzt musste sie warten.

***

Lena setzte sich in den Sand, ließ die feinen Körner zwischen den Fingern hindurchrieseln und schaute auf die Flut, die leise flüsternd herankroch.

Silbermöwen segelten im Wind. Zwischendurch landeten sie im seichten Wasser, trampelten auf der Stelle und spülten Kleintiere frei, die sie mit schnellen Kopfbewegungen aufpickten. Dann spreizten sie ihre Flügel, stiegen wieder in die Lüfte empor, damit alles von vorne beginnen konnte.

Ja, es stimmte.

Lena war nach Scharhörn gekommen, weil sie ausgebrannt war und Ruhe brauchte. Es stimmte auch, dass ihre Schwester eine Vogelnärrin gewesen war und jahrelang von dieser Insel geschwärmt hatte, ohne jemals einen Fuß auf sie zu setzen. Als Lena die Stelle als Umweltpraktikantin antrat, klammerte sie sich an die irrationale Idee, Jette könnte von diesem Aufenthalt profitieren und an ihren Erlebnissen teilhaben. Aber eigentlich ging es um etwas anderes.

Die Wahrheit tat weh.

Und jedes Mal, wenn Lena sich ihr stellte, schnürte sich ihr der Hals zu.

Tatsächlich war das Verhältnis zu ihrer Schwester schwierig gewesen. Jette konnte unglaublich nerven. Die ganze Familie mühte sich Tag für Tag ab, um ihren Lern- und Wissensdrang zu stillen. Drei Stunden Nachtruhe genügten ihr, um sich der nächsten Aufgabe zu stellen. Zu Hause herrschte ein steter geistiger Betrieb. Gleichzeitig beschwerte sie sich ständig über Details, die sie störten. Mal war das Gespräch am Abendbrottisch zu laut, mal die Deckenbeleuchtung zu grell, mal die Argumentation zu unlogisch, dann war das Essbesteck asymmetrisch angeordnet. Nie kehrte Ruhe ein, nie konnte man sich entspannen. Für jeden Supermarkteinkauf kreierte sie eine neue Route, um die Regale zeitsparend anzusteuern. Kleinste Abweichungen führten zu Diskussionen und theoretischen Exkursen, die eine Geduldsprobe darstellten. Bei ungezwungenen Zusammenkünften war sie mit den Gedanken anderswo, oder sie wirkte desinteressiert.

Obwohl Lena diese Unarten verletzten, wurde sie von ihrem Vater gedrängt, Verständnis zu zeigen und eigene Befindlichkeiten zurückzustellen. In den Urlaub fuhren sie nach Schweden, wo sie eine Blockhütte mieteten, die fernab jeder Zivilisation lag, damit Jette sich von den intellektuellen Reizen und sozialen Herausforderungen erholen konnte. Lenas Vorschläge, einen südeuropäischen Strand oder eine coole Großstadt zu besuchen, wurden nicht mal in Erwägung gezogen.

Zu Weihnachten bekam Jette alle Wünsche erfüllt, weil ihr Vater sie als sinnvoll erachtete. Lena guckte in die Röhre. Die ersehnten Konzerttickets bekam sie nicht, weil die Band als jugendgefährdend galt. So ein Quatsch! Ihre Schwester wurde von ihrem Vater nach Frankreich und Österreich kutschiert, um an teuren Förderprogrammen teilzunehmen. Für sie blieben nicht genügend Mittel, um in Stade richtigen Schlagzeugunterricht zu erhalten. Alles musste sie sich selbst beibringen.

Meistens fühlte Lena sich unfair behandelt und forderte Gleichberechtigung. Jettes ungelenke Bemühungen, die Streitereien beizulegen und Kompromisse zu finden, wies Lena grob und manchmal verletzend zurück. Auch deshalb hatte sie es all die Jahre unterlassen, ihrer Schwester zu sagen, dass sie sie trotz aller Spannungen liebte. Jette starb in dem Glauben, eine Belastung zu sein. Diese Vorstellung war so traurig, dass sie Lena das Herz zerriss.

Alles in ihr verlangte danach, ihre Aussetzer wiedergutzumachen. Sie wollte der Welt zeigen, wie wertvoll Jette gewesen war. Niemand durfte ihr etwas antun und ungestraft davonkommen. Deshalb hatte sie sich beurlauben lassen, deshalb hatte sie eigenmächtige Ermittlungen angestellt, und deshalb ertrug sie nach ihrem Scheitern dieses Eremitendasein.

Doch nun eröffneten sich neue Möglichkeiten. Der Fund des Leichnams änderte alles. Lena war wild entschlossen, ihre Chance zu nutzen, und sie wusste auch schon, wie sie es anstellen musste.

Als ihr Smartphone vibrierte und der Name ihres Chefs auf dem Display angezeigt wurde, atmete sie durch und nahm den Anruf entgegen.

Das Spiel konnte beginnen.

6

Am nächsten Morgen beobachtete Lena, wie sich der Hubschrauber mit dem typischen Flapp-Flapp-Flapp der Rotorblätter näherte. Dröhnend setzte er am Strand auf und erzeugte so viel Wind, dass ihre Klamotten flatterten. Sandkörner stachen wie Nadeln in ihr Gesicht und verklebten ihre Wimpern, aber sie wich keinen Zentimeter zurück. Der jung gebliebene Gerichtsmediziner hüpfte aus der Passagierkabine und streckte die Hand aus, um ihrem Vorgesetzten, Kriminalrat Bruns, beim Hinabklettern zu helfen.

Du meine Güte!, dachte sie. In ihrer Abwesenheit war er noch dicker geworden. Sein Buddhakopf wirkte erbsenklein auf dem überquellenden Leib. Wenn er so weitermachte, futterte er sich noch zu Tode. Schade! Er war ein guter Mann. Ein sehr guter Mann. Und es blieb ihr ein Rätsel, wie er mit einer solchen Körperfülle eine Abteilung so souverän leiten konnte.

Lena nickte ihm zu, spürte ihre wackligen Knie und rief sich ins Gedächtnis, dass sie im Plan lag. Auf die gestrigen Telefonate folgte ein persönliches Gespräch. Vielleicht erreichte sie schon heute ihr Ziel, denn sie hatte sich vorbereitet.

Mit Hilfe von Tabletten hatte sie ausreichend geschlafen. Eine Strickmütze verbarg ihre verknoteten Haare; die gräulichen Augenringe hatte sie überschminkt und ihre uralten Dr.-Martens-Stiefel auf Hochglanz poliert. Sie musste als Polizistin auftreten, die nach Bewältigung einer mentalen Krise wieder einsatzfähig war.

Am Fundort redete ihr Vorgesetzter mit den Kriminaltechnikern, die auf dem Treckeranhänger durchs Watt hergefahren waren und den Leichnam mit Schaufeln freigelegt hatten. Kriminalrat Bruns ließ sich die ersten Rechercheergebnisse auf dem Laptop zeigen und untersuchte auch das Portemonnaie des Opfers, das in einer Tasche des grellorangen Segleranoraks gesteckt hatte.

Anschließend walzte er heran. Aufgrund seiner äußeren Erscheinung neigten die Beschuldigten dazu, ihn für einen Dickwanst zu halten, der nur an das nächste Stück Schokolade denken konnte. Ihren Irrtum begriffen sie erst, wenn sie sich von seiner gemütlichen Art einlullen ließen und verquatschten. Dann erkannten sie seinen wahren Charakter. Er war ein Jäger und Fallensteller.

Lena musste aufpassen. Eigentlich widerstrebte es ihr, ihm etwas vorzumachen. Er war ein idealer Mentor, der sie an seinen Erfahrungen teilhaben ließ und ihr verantwortungsvolle Aufgaben zuwies. Besonders nach dem Tod ihrer Schwester hatte er sich um sie gekümmert. Trotzdem durfte sie ihn nicht einweihen. Sie würde ihn nur zum Komplizen oder Verräter machen. Letzteres konnte sie nicht riskieren. Die Soko Gezeitenmörder durfte sich kein zweites Mal verrennen.

Es gab niemanden, der den Fall so gut kannte wie sie. Ihr würde jede Unstimmigkeit auffallen. Deshalb hatte sie sich entschieden, den Fund der Schmuckstücke zu verschweigen. Zuerst wollte sie eigene Nachforschungen anstellen. Die Ermittlungsgruppe würde sie einweihen, sobald sich ein Verdacht erhärtete.

»Wat ’n Schiet«, keuchte Bruns plattdeutsch und mied den Augenkontakt. Obwohl er den elterlichen Hof bei Padingbüttel schon vor über vierzig Jahren verlassen hatte, konnte er seine bäuerliche Herkunft nicht verleugnen. »Ich weiß nicht, wo mir der Kopf steht. Ich habe nicht genug Leute, um diesen Fall zu bearbeiten.«

»Kennt ihr schon die Identität des Opfers?«, fragte Lena.

Bruns zögerte.

»Ich bin zwar beurlaubt, aber ich gehöre noch dazu.«

»Weet ick doch, mien Deern. Niels Kröger. Segler aus Glückstadt. Verschwand im letzten Herbst. Man ging davon aus, dass er betrunken über Bord fiel. Sein Boot lief ganz in der Nähe auf Grund.«

»Echt?« Lena zeigte sich überrascht, aber in Wahrheit wusste sie längst Bescheid. Auch sie hatte das Portemonnaie gefunden, es untersucht und nach reiflicher Überlegung zurückgesteckt. »Ich kenne ihn. Bevor er verschwand, war er bei einem geselligen Bootshausabend. In meinem Heimatdorf.«

»In Freiburg/Elbe?«

»Lies die Akte, da steht es schwarz auf weiß drin. Er war der Segelkamerad eines Freundes. Deshalb bin ich mit dem Fall vertraut.« Und deshalb schloss sie Kröger als Gezeitenmörder aus, obwohl er die Trophäen bei sich hatte. Beim Emder Delft- und Hafenfest, als eine Studentin verschwand, und beim Wilhelmshavener Wochenende an der Jade, als eine Erzieherin entführt wurde, befand er sich nachweislich auf Törns an der englischen Küste.

»Wir reden und reden«, sagte Bruns und schaute sie zum ersten Mal direkt an. »Dabei habe ich ganz vergessen, dir was auszurichten. Johanna lässt dich grüßen …«

Lena war sofort hellwach. Der Augenkontakt und der überaus nette Tonfall waren verdächtig. Menschlich wurde er immer, wenn er sein Gegenüber in Sicherheit wiegen wollte. Ahnte er was?

»Gestern hast du sie auf dem falschen Fuß erwischt«, fuhr Bruns fort. »Im Sekretariat fehlte irgendeine Akte. Sie konnte sie nicht finden, machte sich Vorwürfe – und peng hat es dich erwischt! Hinterher tat es ihr leid. Sie hofft, dass du bald wieder fit bist und zu uns zurückkehrst.«

Lena war zu fokussiert, um sich mit Johannas Launen zu beschäftigen. Gerade erkannte sie die Chance für einen Vorstoß. Plötzlich war es ihr egal, ob sie in eine Falle tappte. Sie wollte Fakten schaffen. »Das bin ich«, erwiderte sie fest.

»Was?«

»Ich bin wieder fit, Chef. Du kennst mich. Diese Einöde ist nichts für mich. Ist einfach nur langweilig. Ich will zurück in den Dienst, den Fall übernehmen.«

»Jetzt mal sachte mit den jungen Pferden. Ich habe ein paar Personalprobleme, ja. Deshalb musst du aber nicht einspringen. Außerdem wäre der Fall zu groß für den Anfang.«

»Überhaupt nicht. Ich habe Heimvorteil. Einem Hannoveraner Anzugträger sagen die Leute hier nichts, mir schon.«

»Hmh. Du bist dünner geworden.«

»Kann schon sein. Ich bekomme nur einmal die Woche Lebensmittel, renne den ganzen Tag herum und zähle Vögel. Das beste Work-out der Welt, aber anstrengend. Ist fast unmöglich, Speck anzusetzen.«

»Klingt nach einer Superdiät. Vielleicht sollte ich dich ablösen …« Sein Lächeln erstarb, so als würde er sich keine heiteren Momente erlauben.

Lena stutzte. Schon vor ihrem Urlaub hatte sie ihn mehrmals kraftlos und bedrückt erlebt.

»Ist gut, mien Deern«, fuhr er schließlich fort und blickte zum Horizont. »Wie könnte ich dir was abschlagen?«

»Heißt das: ja?«

»Ich regele das, aber du musst mir was versprechen. Erstens: Sobald du Verstärkung brauchst, meldest du dich. Verstanden?«

»Na klar. Und zweitens?«

»Keine Fisimatenten!«

Vor Erleichterung kribbelte ihre Kopfhaut; ihre Beine drohten wegzusacken, aber sie bekam sich in den Griff. Sie klärte die praktischen Fragen und gab vor, dass sie die Geschäftsstelle über ihre Abreise informieren müsse. In Wahrheit wollte sie weg, weil sie fürchtete, dass er die Vereinbarung rückgängig machen und ihr die Befugnisse einer Kommissarin wieder entziehen könnte.

Zum Abschied griff sie nach seiner Hand und drückte sie fest. »Danke«, sagte sie leise, stapfte zum Wohncontainer und konzentrierte sich schon auf den Fall.

Niels Kröger war in den Besitz der Trophäen gelangt. Möglicherweise kannte er den Gezeitenmörder persönlich, möglicherweise war er ihm beim Bootshausabend begegnet. Die Spuren führten in das Dorf, in dem sie und ihre Schwester aufgewachsen waren. Hinter einer der bürgerlichen Fassaden lauerte ein Monster.

»Jette, ich finde den Kerl«, murmelte sie. »Ich verspreche dir, dass ich ihn zur Rechenschaft ziehe.«

7

Vor einem knappen Jahr, 29.Juli, abends

»Das ist Jörn«, schrie Lena gegen das Getöse auf dem Otterndorfer Altstadtfest an. »Er hat uns den Auftritt verschafft. Schmeißt nachher noch ’ne Party. So um die fünfzig Gäste.«

»Eher hundert«, brüllte Jörn mit einer Bierfahne. Er war ein rundlicher Riese mit dunklem Vollbart und Guns-N’-Roses-T-Shirt. »Und wenn die noch Leute mitbringen, werden es mehr. Volles Haus! Das ist Rock ’n’ Roll, Baby. Hahaha.«

»Hast du Lust?«, fragte Lena.

Jette sah zu dem bärenhaften Mann und wieder zurück zu ihrer Schwester. Nachdem der Auftritt zu Ende war, standen sie an einem Getränkeausschank von Bier-Harlos. Die beruhigende Wirkung des Alkohols hatte nachgelassen, und alle Reize prasselten wieder auf sie ein.

Von irgendwo erklangen Technobeats, die ihre Trommelfelle vibrieren ließen und sich mit süßlichen Elektromelodien abwechselten, die genauso penetrant waren. Ringsum grölten Leute, gerieten ins Torkeln und verströmten einen säuerlichen Schweißgeruch, den Jette nicht einatmen wollte. Immer wieder hielt sie die Luft an. Sie musste hier weg.

»Ich kann dich auch nach Hause fahren«, schrie Lena. »Ich bin nüchtern. Kein Problem. Hab mich gefreut, dass du mitgekommen bist.«

»Ey«, mischte sich Jörn ein. »Geht nicht. Du bist mein Stargast. Wenn du nicht mitkommst, sag ich die Fete ab. Hahaha.«

»Ich bringe sie schnell nach Freiburg und fahre gleich zurück«, schrie Lena. »In einer Stunde bin ich wieder da. Du wohnst doch im Koggenweg, oder?«

»Nicht nötig«, mischte sich Jette ein. Sie wollte nicht zurück in ihr Elternhaus, nicht in ihr Mädchenzimmer. Da würde sie nur auf dem Schlafsofa hocken und grübeln. Sie brauchte eine Pause, Zerstreuung. Softeis mit Schokoglasur wäre das Richtige gewesen. Deshalb hatte sie ihre Schwester begleitet. Aber nicht mal das gab es hier.

»Was hast du gesagt?«, schrie Lena.

»An den Ortsausgängen stehen Taxis«, sagte Jette lauter. »Eine Tour nach Freiburg lohnt sich für den Fahrer.«

»Soll ich dich nicht lieber bringen? Du weißt doch, was an der Küste los ist.«

»Dein Ernst? Meinst du den Gezeitenmörder?«, fragte Jörn und kicherte nervös. »Doch nicht hier. Nicht bei uns. Oder … oder doch?«

»Wenn der Taxifahrer lieber Kurzstrecken fährt«, sagte Jette, »könnte man ihm einen großzügigen Obolus anbieten.«

»Meinetwegen«, erwiderte Lena. »Wenn du keinen Wagen kriegst, dann kommst du zurück, und ich bringe dich. Will sowieso nichts trinken. Du findest mich hier oder im Koggenweg. Hast du genug Geld dabei?«

Jette bejahte. Jörn feuerte einen weiteren Kommentar ab. Dieses Mal war er so lustig, dass Lena lachte. Sie kannte keine Scheu. Auch keine Berührungsängste. Sie ließ es sogar geschehen, als der bärtige Riese einen Arm um sie legte und ihren bloßen Oberarm berührte.

Haut auf Haut! Ekelhaft!

Jette schauderte, nuschelte ein paar Abschiedsworte und zwängte sich fluchtartig an fremden Leuten vorbei, die berauscht waren und Grimassen zogen. Ein Mann stopfte eine fette Bratwurst in sich hinein. Totes Tier! Mehrmals riss sie die Arme hoch, in Abwehrhaltung, damit ihr niemand zu nahe kam.

Etwas abseits wippte der Schlagzeuger der ScheunenROCKer, den alle Eimi nannten, auf den Fußballen. Ununterbrochen. Immer auf und ab. Sein Oberkörper war nackt; er trug lediglich eine blaue Arbeitslatzhose. Aus blutunterlaufenen Augen starrte er sie an. Durchdringend. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm.

Jette drehte schnell den Kopf weg, erreichte den Ausschank, an dem Mickel, der Gitarrist der ScheunenROCKer, auf seine Bestellung wartete und zu Lena hinübersah. Obwohl er der einzige Musiker in der Band war, der fehlerfrei gespielt hatte, wirkte er niedergeschlagen. Warum?

Den Kopf mit den dunkelblonden Stoppelhaaren ließ er hängen. Seine große und muskulöse Statur wirkte zusammengesunken. Eine brünette Frau tänzelte um ihn herum, streifte mehrmals seine Schulter, seinen Rücken, warf ihm glitzernde Blicke zu. Sie wollte seine Aufmerksamkeit erregen, aber er bekam es nicht mit, oder es war ihm egal.

»Hallo!«, sagte Jette.

Er reagierte nicht.

»Hallo! Mickel!«

Endlich schaute er auf.

Sie lächelte. Zum ersten Mal seit Stunden. Er war ihr ältester Freund. Wenn man es genau nahm, ihr einziger. An seinem Handgelenk trug er die Nonnengans, die sie ihm zu seinem fünfzehnten Geburtstag geschenkt hatte, an einem Armband. Es war der gleiche Anhänger wie der an der Lederkette um ihren Hals.

»Da bist du ja«, sagte er. »Hab ein Bier bestellt. Bin völlig ausgedörrt. Willst du auch eins?«

»Jenseits des neuen Hauptdeichs, im Kehdinger Außendeich, brüten Säbelschnäblerpaare«, erwiderte sie.

»Das heißt, dass du morgen in Freiburg bist und sie beobachten willst?«

»Sie schreiten so grazil dahin, schwenken den Schnabel so schön hin und her.«

»Okay, können wir machen. Hol mich im Hafen ab, aber nicht zu früh. Ich weiß nicht, wie lang der Abbau dauert. Anschließend wollen wir noch auf ’ne Party. Hast du dich mittlerweile entschieden?«

Jette zuckte zusammen. Ihr Magen verkrampfte sich, wurde zu einem Klumpen, der schwer in ihren Eingeweiden lag. Mickel war der einzige Mensch, den sie eingeweiht hatte. Warum fing er jetzt davon an? Sie wollte nicht darüber nachdenken, nicht darüber reden, wollte sich in seiner Gesellschaft entspannen. Das konnte sie nun vergessen. Schon hörte sie wieder den nervtötenden Technobeat, die heiseren Pöbeleien eines Halbstarken. Es wurde ihr alles zu viel. In ihrem Kopf wurde alles zu viel. Sie hielt es hier nicht länger aus.

»Also nicht«, sagte er und nahm einen Schluck von seinem Bier. Nachdenklich wischte er sich den Schaum vom Mund. »Du hast schon viel zu lange gewartet, Jette. Regel das endlich. Eine Woche hast du noch Zeit, nicht länger. Sonst übernehme ich das und gehe zur Staatsanwaltschaft.«

8

Gegenwart

Als Lena in der Polizeiinspektion Stade eintraf und man ihr den Schlüssel für ein Dienstfahrzeug aushändigte, fühlte sie sich fast wieder wie eine vollwertige Kriminalbeamtin. Für Ortsdurchfahrten und Tempo-dreißig-Zonen fehlte ihr der Nerv. Deshalb wählte sie die Route durchs Kehdinger Moor, die zu dieser Uhrzeit verlassen war.

Von der welligen Landstraße wurde sie mehrmals im Sitz hochgeworfen, sodass sie sich am Dachhimmel den Kopf stieß. In den Kurven zerrten die Fliehkräfte an ihr und pressten sie in die Seitenverkleidung. Du fährst zu schnell, ermahnte sie sich. Immer mit der Ruhe. Zwar wollte sie die neuen Erkenntnisse endlich nutzen, aber auf ein paar Minuten kam es nicht an. Also kontrollierte sie die Tachonadel und bremste auf die erlaubte Höchstgeschwindigkeit ab.

Ringsum erstreckten sich Weiden, die von schwarzen Gräben durchzogen waren. Ein einzelner Baum stand so krumm da, als litte er unter Schmerzen. Hinter den hohen Büschen versteckten sich die Bauernhöfe und hüteten ihre Geheimnisse.

Je länger die Moorlandschaft auf Lena wirkte, desto bedrückter wurde sie. Die Abgeschiedenheit spiegelte ihre eigene Einsamkeit wider. Schon bereute sie ihre Entscheidung. Hätte sie doch die belebte Strecke über die Dörfer genommen!

Dann wurde auch noch ein Lied der Waterboys im Radio gespielt. Schon die ersten Klänge katapultierten sie ins Jahr 2010 zurück. Leider funktionierte ihr Gedächtnis so, dass es Songs mit Lebenssituationen verknüpfte. Damals befand sie sich in einer schwierigen Phase, mitten in der Berufswahl. Gleichzeitig entdeckte sie die britische Folkrock-Band. Wenn sie jetzt Mike Scott »The Big Music« singen hörte, erlebte sie die damalige Achterbahnfahrt der Gefühle neu.

Eigentlich wollte sie nach dem Abitur Schlagzeug an der Musikhochschule studieren. Die Prüfer bescheinigten ihr Talent, aber lehnten sie mit der Begründung ab, dass es ihr an einer klassischen Ausbildung fehle und sie technische Defizite aufweise.

Aus Trotz bewarb sie sich für den Studiengang Musical. Dort lobte man ihre raue Stimme und ihre Bühnenpräsenz, kritisierte jedoch ihre mangelnde Variabilität und ihre tänzerischen Fähigkeiten. Ihr rhythmisches Hüpfen reichte anscheinend für Partys und Auftritte aus, aber nicht für eine professionelle Choreografie.

Ungefähr zeitgleich landete die Zusage der Polizei im Briefkasten. Im Grunde hatte sie sich nur beworben, weil die Berufsberaterin sie für geeignet hielt. Aus dem Schreiben ging hervor, dass sie bei dem Auswahlverfahren hohe Punktzahlen erreicht hatte. Das Bundesland Niedersachsen wollte sie einstellen.

Schon beim Interview hatte ihr imponiert, wie fair die Beamten vorgingen. Mit dem Umgangston kam sie besser klar als mit dem Künstler- und Musikergerede, das ihr zu unkonkret war. Nach den Niederlagen tat es gut, dass ihre Leistungen anerkannt wurden. Ohne lange zu überlegen, sagte sie zu und sollte die Entscheidung nie bereuen.

In ihrem Beruf wurde sie ständig mit Tötungsdelikten konfrontiert. Daher wusste sie, dass viele Hinterbliebene von der Vergangenheit mit den Opfern zehrten. Sie verkrafteten die Heimsuchung des Bösen besser, wenn sie Dankbarkeit für die gemeinsamen Jahre empfanden.

Doch Lena gelang keine Trennung zwischen dem Davor und dem Danach. In ihrer Brust verschmolzen die unbelasteten und belasteten Eindrücke zu einem Gefühlsklumpen, an dem sie so schwer trug, dass sie es an schlechten Tagen kaum aus dem Bett schaffte. Sie wollte, dass diese Torturen aufhörten. Sie wollte wieder ein richtiges Leben haben. Und zum ersten Mal zeichnete sich ein Weg ab, wie sie es zurück in die Normalität schaffen konnte.

***

Das norddeutsche Freiburg lag am Südwestufer der Niederelbe, ungefähr vierzig Kilometer von Cuxhaven entfernt. Die dünn besiedelte Gegend bestand früher aus einer Insellandschaft und wurde von schweren Sturmfluten getroffen. Mittlerweile trotzten die Deiche auch hohen Wasserständen. Mit rund tausendachthundert Einwohnern zählte der Flecken zu den größten Ortschaften im Umland.

Als Lena sich auf der Landesbrücker Straße näherte, stürmten Erinnerungen auf sie ein. Hinter dem Schleusenfleth ragte die Grund- und Oberschule auf, wo sie auf dem Pausenhof mit ihren Freundinnen »Himmel und Hölle« und Gummitwist gespielt hatte, während ihre Schwester stumm dabeistand. Gleich daneben erhob sich die Turnhalle, von der sie die sechsjährige Jette abgeholt hatte, als sie einen ihrer denkwürdigen Wutanfälle bekam.

Trotz ihrer Eigenheiten hatte ihre Schwester zur dörflichen Gemeinschaft gehört. Für die Einwohner war es ein Schock gewesen, dass jemand aus ihrer Mitte brutal getötet wurde. Die Berichterstattung in den Medien trug zur kollektiven Traumatisierung bei. Plötzlich wurden Videoüberwachungsanlagen in den Gärten installiert. Familienväter bewaffneten sich mit Stemmeisen, wenn sie ihre Töchter zum Voltigierunterricht begleiteten. Jeder Fremde, der auf dem Fernradweg unterwegs war und im Gasthof einkehrte, wurde argwöhnisch beäugt. Würde sich die Angst jemals legen?

Lena passierte das Ortsschild und stellte erstaunt fest, dass die Kreuzung von der freiwilligen Feuerwehr abgeriegelt war. Zwei Autos standen vor der Absperrung. Die Insassen waren ausgestiegen, stützten die Ellenbogen auf dem Wagendach ab und warteten.

Lena hielt ebenfalls an und tippte nervös mit den Fingern aufs Lenkrad. Sie überlegte, ob sie den Stopp umfahren sollte, aber hinter ihr parkte bereits das nächste Fahrzeug. Es stand viel zu nah. Verhinderte ein Zurücksetzen.

War das Absicht?

Sie fühlte sich bedrängt.

Was ging hier vor?

Als sie die Tür aufstieß, hörte sie den Grund für die Verzögerung. Der Musikmarsch »Hoch Heidecksburg« erklang. Angeführt vom Tambourmajor, der seinen Stab hob und senkte, marschierte das Trommler- und Pfeifercorps heran, passierte den Tank-Treff Hoyer und bog in Richtung Ortskern ab. Es folgte die Schützengilde.

Wie hatte sie vergessen können, dass am letzten Juniwochenende das Schützenfest stattfand? Es war das größte gesellschaftliche Ereignis des Ortes! Augenblicklich stiegen Bilder in ihr hoch, wie sie als Mädchen neben dem Umzug herrannte – voller gespannter Erwartung auf das Vogelstechen, auf die Zuckerwatte und das Kettenkarussell. Eine heile Welt, die von der Dunkelheit heimgesucht wurde und für immer verloren war.

»Lena!«, rief eine grauhaarige Frau über ihr Wagendach hinweg. »Was willst du hier? Verschwinde! Wir wollen dich nicht haben.«

Sie war die Mutter von Svenja, einer Dorfschönheit, mit der Lena als kleines Mädchen befreundet gewesen war, bis sie in der Pubertät unterschiedliche Interessen entwickelten und sich unspektakulär auseinanderlebten.

»Frau Dierksen«, erwiderte Lena. »Was hab ich Ihnen getan? Warum reden Sie so mit mir?«

»Weil du abhauen sollst. Beim letzten Mal hast du alle verrückt gemacht und mit Dreck um dich geworfen.«

»Äh … Ich weiß nicht, was Sie meinen. Ich bin Polizistin, ich will nur helfen.«

»Wir alle wissen, wie deine Hilfe aussieht.«

»Lass sie in Ruhe«, mischte sich Herr Dierksen ein, der auf der Fahrerseite des Wagens stand. Er war ein stiller Mann, der gerne zum Deich spazierte, um den Kreuzfahrtschiffen und Containerriesen hinterherzuschauen. »Jette ist ihre Schwester. Sie will wissen, was geschehen ist. Das ist ihr gutes Recht.«

»Jetzt fall mir nicht in den Rücken«, sagte Frau Dierksen. »Immerhin ist sie auch deine Tochter.«

»Geht es um Svenja?«, fragte Lena. »Was ist mit ihr?«

»Tu bloß nicht so scheinheilig«, schimpfte Frau Dierksen. »Das weißt du genau.«

»Ich habe keine Ahnung. Ehrlich nicht.«

»Die Feuerwehr gibt die Straße frei. Wir fahren jetzt weiter«, bestimmte Herr Dierksen und wandte sich an Lena: »Bitte entschuldige. Meine Frau meint es nicht so. Bei uns allen liegen die Nerven manchmal blank. Vielleicht sehen wir uns später auf dem Festplatz. Tschüss.«

»Tschüss«, erwiderte Lena und nickte nachdenklich. Natürlich! Die Leute wollten weiterleben, als wäre ihre Welt nie erschüttert worden, aber sie blendeten aus, dass die Gefahr nicht vorbei war. Irgendwo hier in der Gegend gab es einen Mörder, der Jagd auf junge Frauen machte. Er konnte jederzeit wieder zuschlagen.

9

Lena wusste bereits, wer ihr die ersten Antworten liefern würde.

Ihr Herz schlug schneller, als sie im Handelshafen parkte und sich zu den Boxenplätzen begab. Das abgestorbene Plankton und die toten Algen verbreiteten den modrigen Geruch nach Vergänglichkeit. Die Möwen kreischten alarmiert.

Unruhig lief Lena über den Steg, an dem Kielboote mit bis zu zwei Metern Tiefgang anlegten und bei Ebbe im Schlick trockenfielen. Auch Mickel machte hier seine Segelyacht manchmal fest. War er da?

Für Lena war er mehr als ihr bester Freund, er war für sie wie ein Bruder. Gemeinsam hatten sie den Kindergarten und die Schule besucht. Als seine Mutter ihn und seinen schwermütigen Vater verließ, um in Süddeutschland ein neues Leben anzufangen, wurde Mickel praktisch von Lenas Familie adoptiert. Er bekam sogar einen eigenen Haustürschlüssel.

Lenas Mutter fing ihn auf, damit er den Verlust verarbeiten konnte. Mit Jette verband ihn eine besondere Beziehung, denn beide liebten die Natur und streiften durch den Außendeich, um die Zugvögel zu beobachten. Und auch mit Lena stimmte die Chemie. Sie hatten sich immer was zu erzählen und meistens eine Idee, was sie anstellen konnten.

Später entdeckten sie eine gemeinsame Leidenschaft: die Rockmusik! Kurt Cobain und Dave Grohl wurden ihre ersten Idole, denen sie nacheiferten. Jeden Cent, den sie beim Stallausmisten, Rasenmähen und Zeitungaustragen verdienten, steckten sie in ihre Instrumente. Mit Schlagzeug und Gitarre spielten sie bekannte Songs nach. Eine Zeit lang gehörten sie einer Schülerband an, bis sie irgendwann die ScheunenROCKer gründeten.

Auch danach blieben sie füreinander da. Als Mickels Vater sich in seiner Tischlerwerkstatt aufhängte, gingen sie tagelang spazieren und redeten viel. Später war er es, der sie gewissenhaft auf die Aufnahmeprüfungen an den Musikhochschulen vorbereitete. Er begleitete sie quer durch Deutschland und tröstete sie, wenn es wieder nicht geklappt hatte.

Aus beruflichen Gründen sahen sie sich nicht mehr so oft. Lena war nach Hannover zum LKA gegangen, Mickel war in Freiburg geblieben und arbeitete im hiesigen Dachdeckerbetrieb. Trotzdem reichten ihnen normalerweise ein paar Worte, um die alte Vertrautheit wiederherzustellen.

»Ey, Sicherheit«, sagte sie und merkte, wie sie von einer Welle von Zuneigung erfasst wurde. Den Spitznamen »Sicherheit« trug er, weil er sich von allen in der Band am besten mit Elektronik auskannte. Vor Auftritten verfiel er regelmäßig in Panik, dass einer von ihnen einen tödlichen Stromschlag erleiden könnte. Erst wenn er das Equipment geprüft hatte, erklang sein erlösender Ruf »Sicherheit«, und sie konnten beginnen.

Mit seinen dunkelblonden Stoppelhaaren, dem sonnenverbrannten Nacken und den breiten Schultern kniete er auf dem Deck seines Bootes und spannte die Wanten. Als er den Kopf hob, bemerkte sie sofort, wie elend er aussah. Sein Blick flackerte, die Wangen waren ausgehöhlt, als würde er von innen aufgezehrt. An seinem Handgelenk trug er das Armband, das Jette ihm zu seinem fünfzehnten Geburtstag geschenkt hatte. Auch Lena hatte ihm ein Freundschaftsband geschenkt, aber offenbar hatte er es nicht mehr.

»Du?«, sagte er und stemmte sich hoch. »Bist du … bist du das wirklich?«

»Begrüßt man so seine älteste Freundin?«, erwiderte sie, kletterte aufs Boot und drückte ihn an sich.

»Ich …«, murmelte er und erwiderte ihre Umarmung halbherzig, bis er sich grob losmachte. »Wo warst du? Ich bin fast durchgedreht. Warum hast du nicht auf meine Anrufe reagiert? Oder auf meine Mails? Ich wusste überhaupt nicht, was los ist. Ich habe mir Sorgen gemacht. Und dann schickst du mir diese komische Nachricht, teilst mir so nebenbei mit, dass du eine Auszeit nimmst. Kein Wort darüber, wann du zurückkehrst oder wie es dir geht.«

»Ich war auf der Vogelinsel.«

»Auf welcher Vogelinsel?«

»Na, Scharhörn. Du weißt doch, dass Jette immer hinwollte. Ich habe mich als Umweltpraktikantin beworben und ihren Traum verwirklicht.«

»Moment mal. Kapier ich nicht. Nee, das kapier ich nicht. Vor drei Monaten kommst du her. Hast einen neuen Ermittlungsansatz. Bist aufgekratzt. Und dann verschwindest du von einem Tag auf den anderen, um Austernfischer zu zählen?«

»Sorry. Klingt vielleicht seltsam. Aber … aber jetzt bin ich ja wieder hier und muss unbedingt –«

»Kannst du vergessen«, unterbrach er sie hart und kniete sich wieder hin. »Ich will nix hören. Hab Wichtigeres zu tun.«