Dunkle Vergeltung - James Sallis - E-Book

Dunkle Vergeltung E-Book

James Sallis

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  • Herausgeber: Heyne
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2010
Beschreibung

Der ehemalige Cop Turner hat sich als Sheriff in einer Kleinstadt in der Nähe von Memphis niedergelassen. Doch die trügerische Ruhe wird gestört, als die örtliche Polizei ein Mitglied der Mafia verhaftet. Schon bald starten die Kriminellen einen Befreiungsversuch. Turner folgt ihnen nach Memphis, wo er sich mit seiner Vergangenheit konfrontiert sieht.

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Seitenzahl: 228

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Inhaltsverzeichnis
Zum Buch
Zum Autor
Titel
Widmung
Inschrift
Kapitel Eins
Kapitel Zwei
Kapitel Drei
Kapitel Vier
Kapitel Fünf
Kapitel Sechs
Kapitel Sieben
Kapitel Acht
Kapitel Neun
Kapitel Zehn
Kapitel Elf
Kapitel Zwölf
Kapitel Dreizehn
Kapitel Vierzehn
Kapitel Fünfzehn
Kapitel Sechzehn
Kapitel Siebzehn
Kapitel Achtzehn
Kapitel Neunzehn
Kapitel Zwanzig
Kapitel Einundzwanzig
Kapitel Zweiundzwanzig
Kapitel Dreiundzwanzig
Kapitel Vierundzwanzig
Kapitel Fünfundzwanzig
Kapitel Sechsundzwanzig
Kapitel Siebenundzwanzig
Kapitel Achtundzwanzig
Kapitel Neunundzwanzig
Kapitel Dreissig
Copyright
Zum Buch
Der ehemalige Cop Turner fühlt sich in der kleinen Stadt Cypress Grove inzwischen recht heimisch. Als Gehilfe des Sheriffs hat er kaum etwas zu tun, und seine Beziehung zur banjospielenden Lehrerin Val Bjorn hilft ihm, die Dämonen der Vergangenheit zu vergessen.
Eines Nachts verhaftet sein Kollege Don Lee einen betrunkenen Autofahrer. Im Kofferraum des Verdächtigen finden sich 200 000 $ in bar – offenbar war der Mann im Dienste der Mafia unterwegs. Sofort startet das Verbrechersyndikat eine Befreiungsaktion, bei der Don Lee schwer verletzt wird. Turner kehrt nach Memphis zurück, um Rache zu üben, und wird mit seiner Vergangenheit konfrontiert.
»James Sallis ist einer der Besten.« Ian Rankin
Zum Autor
James Sallis wurde 1944 in Arkansas geboren und verbrachte dort seine Kindheit. Er studierte Literaturwissenschaften in New Orleans und arbeitete anschließend als Lektor und Drehbuchautor. Er übersetzte Raymond Queneau und Puschkin ins Englische und veröffentlichte eine Biografie von Chester Himes. Bekannt wurde er mit seiner Romanreihe um den schwarzen Privatdetektiv Lew Griffin. Seine Kriminalromane wurden mehrfach für Literaturpreise nominiert, u.a. für den Edgar, den Shamus und den Gold Dagger Award. 2008 wurde James Sallis mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet. Er lebt in Phoenix, Arizona. Besuchen Sie den Autor im Internet unter www.jamessallis.com
Lieferbare Titel
Driver – Deine Augen hat der Tod – Dunkle Schuld
Für meinen Bruder John und meine geliebte Schwester Jerry - in Erinnerung an unsere Suche nach Essbarem ganz in der Nähe des Ortes, an dem Turner lebt.
The blood was a-running and I was running too …
- Charlie Poole and the North Carolina Ramblers
Kapitel Eins
Ich war oben in Marvell gewesen, um einen Gefangenen abzuliefern, reine Routine, nur ein Bursche, den ich wegen rücksichtslosen Fahrens angehalten hatte. Als ich die Daten von seinem Führerschein durchgab, kam heraus, dass er einen ganzen Schwung von Außenständen wegen ähnlicher Vergehen hatte, und da ich ja gern allein bin, eine Vorliebe fürs Autofahren bei Nacht habe und zu Hause auch nichts Dringendes anstand, hab ich meine Rückkehr ein bisschen hinausgezögert. Und dann bekam ich einen Mordshunger. Den ganzen Weg die County Road 51 runter musste ich an das gepökelte Schweinefleisch denken, das meine Mutter oft zum Abendessen in die Pfanne geworfen hatte, an Eichhörnchen in brauner Soße, an Wels, in Maismehl gewendet. Als ich in die Cherry Street einbog, vorbei an Jay’s Diner, dem Drugstore und Manny’s Dollar $tore, A&P, der Baptistenkirche und der Tankstelle, fiel mir dieser alte Blues ein, in dem ein Typ davon singt, wie hungrig er ist, und dass er an nichts anderes mehr denken kann als nur ans Essen: I heard the voice of a pork chop say, come unto me and rest.
Dieses Schweinekotelett, oder seine Inkarnation, flüsterte mir genau diese Worte ins Ohr, als ich vor dem Rathaus einparkte. Don Lees Pick-up und der Jeep standen schon da. Unsere Hälfte des Gebäudes war beleuchtet. Abgesehen von den Vierzig-Watt-Birnen, die in den Geschäften aus versicherungstechnischen Gründen niemals abgeschaltet wurden, waren das die einzigen Lampen, die auf der Main Street brannten. Ich hatte gar nicht erwartet, das Büro noch offen vorzufinden. In den meisten Nächten ist entweder einer von uns unterwegs, oder wir sind beide auf einer größeren Veranstaltung. Dann lassen wir es einfach geschlossen. Etwaige Anrufe werden zu den Privatanschlüssen durchgestellt.
Drinnen saß Don Lee wie immer im Lichtkegel an seinem Schreibtisch.
»War irgendwas?«, fragte ich.
»Alles ruhig. Gegen elf musste ich eine Bierparty von ein paar Highschool-Kids beenden.«
»Woher hatten die das Bier … von Jimmy Ray?«
»Woher sonst?«
Jimmy Ray war geistig zurückgeblieben und lebte in einer Garage hinter dem Haus der alten Miss Shaugnessy. Die Kids wussten, dass er ihnen Bier kaufen ging, wenn sie ihm ein oder zwei Dollar dafür gaben. Wir hatten die Läden in der Gegend gebeten, ihm nichts zu verkaufen. Manchmal klappte das, manchmal nicht.
»Meine Nachricht hast du gekriegt?«
»Jepp. June hat sie weitergegeben. Wie war die Fahrt?«
»Ganz okay. Hab nicht erwartet, dich hier anzutreffen.«
»Ich wäre normalerweise auch nicht hier, aber wir haben einen Gast.« Was bedeutete, dass eine unserer beiden Arrestzellen belegt war. Was so selten vorkam, dass es einen immer wieder überraschte.
»Eigentlich keine große Sache. Nachdem ich die Party der Kids beendet hatte, hab ich so gegen Mitternacht noch einen kurzen Schwenk durch die Stadt gemacht und war praktisch schon auf dem Heimweg, als dieser rote Mustang an mir vorbeigerast ist. Der hatte mindestens hundertdreißig drauf, schätze ich. Also hab ich gewendet. Der Typ hat die Innenbeleuchtung eingeschaltet, er fährt mit einer Hand am Steuer, eine Karte in der anderen Hand, sein Blick pendelt ständig zwischen Straße und Karte hin und her.
Ich fahr dicht an ihn ran und schmeiß das Blaulicht an, aber der scheint überhaupt nichts mitzukriegen. Zu dem Zeitpunkt war er schon durch die halbe Stadt. Also schalte ich die Sirene ein – hast du eine Vorstellung, wann ich das letzte Mal die Sirene gebraucht habe? Ein Wunder, dass ich sie überhaupt gefunden hab. Ich lass das Ding ein paar Mal kräftig aufheulen, aber wie beim Blaulicht nimmt der Typ überhaupt keine Notiz davon. Na ja, das war dann der Punkt, an dem ich aufgedreht hab: Blaulicht, Sirene, das volle Programm.
›Gibt’s ein Problem, Officer?‹, fragt er mich. Wahrscheinlich bilde ich mir das nur ein, aber sein Knurren klingt ziemlich genau wie der im Leerlauf tuckernde Mustang. Ich bitte ihn, den Motor abzustellen, was er auch macht. Auf Anfrage gibt er mir Führerschein und Zulassung. ›Tja, schätze, bin dann wohl zu schnell gefahren, was? Ich hab einen dringenden Termin.‹
Ich gebe seine Daten durch, aber es liegt nichts gegen ihn vor. Also verpasse ich ihm einfach nur einen Strafzettel. Warum es auf die Spitze treiben, ich meine, bei dem Sammlerstück von Mustang und den feinen Klamotten ist das für den ja nur Kleingeld, oder? Gerade als ich ihm den Zettel geben will, öffnet er die Tür. ›Bleiben Sie bitte im Wagen, Sir‹, sage ich zu ihm. Aber er steigt trotzdem aus. Und dann schlägt mir auch schon ein Schwall von Schimpfwörtern entgegen.
›Sir, es gibt keinen Grund, ausfällig zu werden‹, sage ich zu ihm. ›Steigen Sie bitte einfach wieder in Ihren Wagen. Es ist doch nur ein Strafzettel.‹
Er kommt ein, zwei Schritte auf mich zu. Er hat die Augen von jemandem, der schon viel länger wach ist, als die Natur es vorgesehen hat. Drogen? Keine Ahnung. Alkohol, definitiv – das kann ich riechen. Auf dem Boden des Wagens liegt ein nettes Fläschchen Jack Daniel’s.
Er macht noch einen Schritt auf mich zu, wobei er mir die ganze Zeit erzählt, ich wüsste ja nicht, mit wem ich’s zu tun habe. Die Hände hat er zu Fäusten geballt. Ich geb ihm mit meinem Schlagstock einen Klaps in die Kniekehlen. Als er zu Boden geht, lege ich ihm Handschellen an.«
»Und du erzählst mir, alles war ruhig.«
»Nichts, was wir nicht schon hundert Mal erlebt haben.«
»Auch wieder wahr … Hat er was zu beißen gekriegt?«
Don Lee nickte. »Der Imbiss hatte natürlich schon zu, der Grill war abgestellt. Gillie war noch da, hat aufgeräumt und geputzt. Er hat ein paar Sandwiches gemacht und sie rübergebracht.«
»Hat der Kerl seinen Anruf bekommen?«
»Ja, hat er.«
»Ich nehme nicht an, dass du noch was zu essen da hast, oder?«
»Doch, ich hab tatsächlich noch was. Ein Sandwich, das Patty Ann mir vor … tja, wann genau hat sie’s mir eingepackt? Vor zehn, zwölf Stunden? Kannst du haben, wenn du willst. Patty Ann macht den weltbesten Hackbraten.« Patty Ann war seine neue Frau. Lisa, die er Monate, bevor ich auf der Bildfläche erschien, geheiratet hatte, war schon längst abgehauen. Lonnie sagte immer, Don Lee könne zwar auf einen Blick unter Hunderten dasjenige Kind herauspicken, das draußen bei Hudson Field den Böller in die Toilette geworfen hat, schaffe es aber ums Verrecken nicht, sich eine gute Frau auszusuchen. Jetzt sah es allerdings so aus, als wär’s ihm doch noch gelungen.
Don Lee fischte das Sandwich aus unserem kleinen Kühlschrank, reichte es mir und setzte dann frischen Kaffee auf. Das Sandwich war in Wachspapier gewickelt, kleine Scheiben süßsauer eingelegter Gurken schmiegten sich zwischen die Brothälften.
»Wie geht’s mit der Arbeit an Vals Haus voran?«, erkundigte er sich.
»Drei Räume hat sie inzwischen fertig. Drück dieser Frau einen Hobel, einen Meißel und einen Hammer in die Hand, und sie renoviert dir alles. Gestern haben wir angefangen, in einem der hinteren Räume den Boden abzuschleifen. Haben uns durch vier oder fünf Schichten Farbe gearbeitet, nur um dann herauszufinden, dass darunter Linoleum verlegt ist. ›Irgendwo muss hier doch ein Fußboden sein!‹, brüllt Val und fängt an, das Zeug abzupulen. Manchmal kommt man sich so vor wie ein Archäologe bei Ausgrabungen. Übrigens ein super Sandwich.«
»Sag ich doch.«
»An manchen Tagen schaut Eldon Brown vorbei, um mit anzupacken, er sagt, das entspannt ihn. Bringt immer seine alte Gibson mit. Das Teil ist total verbeult. Er und Val machen gern mal Pause. Dann setzen sie sich raus auf die Veranda und spielen traditionellen Bluegrass.«
Don Lee schenkte uns Kaffee ein.
»Wo wir gerade davon reden«, sagte ich. »Als ich vorhin draußen im Auto saß, ist mir aufgefallen, dass dieses Haus auch mal einen neuen Anstrich gebrauchen könnte.«
Don Lee schüttelte den Kopf in gespieltem Bedauern. »Nächtliche Weisheiten.«
Eigentlich frühmorgendliche, aber er hatte nicht ganz Unrecht. Allemal besser, als sich anzuhören, was mir das Schweinekotelett zu sagen hatte.
»Der Chariot müsste auch dringend mal wieder zur Inspektion.«
Der Chariot war der Jeep, den wir beide benutzten, der für uns aber immer noch Lonnie Bates gehörte. Lonnie war vor einer Weile angeschossen worden und seitdem krankgeschrieben. Als mich daraufhin der Stadtrat ansprach, ob ich seine Stelle übernehmen könnte, sagte ich ihnen, dass sie da bei mir an der falschen Adresse seien. Ihr Idioten habt den Falschen gefragt, genau das hab ich denen geantwortet. Liebenswürdigerweise entschieden sie sich, über meine schlagfertige Antwort hinwegzusehen, und ernannten Don Lee zum kommissarischen Sheriff. Er war ein Naturtalent – genau wie ich gesagt hatte. Ich bin noch nie einem Mann begegnet, der besser zum Gesetzeshüter geeignet gewesen wäre. Gegenüber den Mitgliedern des Stadtrats erklärte ich mich bereit, vorübergehend als sein Deputy auszuhelfen. Ein unerwartetes Problem ergab sich, als Lonnie Gefallen an seiner neu gewonnenen Freiheit fand, weil er gern zu Hause bei seiner Familie war, tagsüber zum Angeln gehen konnte, wenn ihm der Sinn danach stand, stundenlange Nickerchen machte und sich im Fernsehen Gerichtssendungen und Wiederholungen von Andy Griffith und Bonanza ansah. Inzwischen dauerte dieses Arrangement ein Jahr, und das Wörtchen »zeitweilig« hatte eine ganz neue Bedeutung angenommen.
Grelles Scheinwerferlicht fiel auf die Fenster unseres Büros.
»Das wird Sonny sein. Er war vorhin auf dem Geburtstag seiner Mutter. Konnte sich erst jetzt losreißen, um den Mustang in Schlepptau zu nehmen.«
Wir gingen raus, um uns bei Sonny zu bedanken und die Rechnung abzuzeichnen. Wahrscheinlich würde er zwei bis drei Monate auf sein Geld warten müssen. Das wussten wir genauso gut wie er. Der Stadtrat und Bürgermeister Sims ließen sich immer sehr viel Zeit, wenn es ums Ausstellen von Schecks ging. Die Stadtkämmerin packte Geld auf geheime Konten, um alle Rechnungen begleichen zu können, die bezahlt werden mussten, damit die Stadt funktionsfähig blieb – also Gehälter, Strom und so weiter. Auch darüber redete niemand, obwohl es allgemein bekannt war.
»Könnte eine Weile dauern, bis du dein Geld bekommst«, sagte ich, als ich ihm das Klemmbrett zurückgab.
»Kein Problem«, erwiderte Sonny. In dem einen Jahr, das ich ihn kannte, hatte ich ihn nie viel reden hören. Ich hab kurz vorn aufgetankt. Kein Problem. Der Jeep zieht nach rechts, könntest du mal einen Blick drauf werfen? Kein Problem.
Sonnys Schlusslichter verblassten, als er zurück zur Gulf-Tankstelle fuhr, um den Abschleppwagen gegen seinen Honda einzutauschen. Don Lee und ich standen neben dem Mustang. Die Außenbeleuchtung verwandelte sein Rot in ein krankes Lila.
»Du hast ihn schon am Tatort untersucht, oder?«, fragte ich.
»Nicht so richtig. Hatte alle Hände voll zu tun mit Junior da drin. War ja nicht so, als könnten er oder der Wagen irgendwohin verschwinden.«
Don Lee zog die Schlüssel aus der Tasche seines Khakihemdes aus Polyester-Mischgewebe.
Die Karre roch nach Patschuli-Aftershave und Schweiß. Im Innern befand sich die kleine Flasche Jack Daniel’s, auf dem Beifahrersitz wie ein schlecht aufgestelltes Zelt eine zerknüllte Landkarte, auf dem Fußboden ein Taschenbuch von Elmore Leonard mit abgerissenem Buchdeckel, mehrere Ersatzhemden und Hosen sowie ein Sakko mit Hahnentrittmuster am Haken über der Rückbank, eine kleine Reisetasche mit Toilettenartikeln, vier oder fünf Garnituren Unterwäsche, ein halbes Dutzend identischer dunkelblauer Socken, einige aufgerollte Krawatten.
Eine Nylon-Sporttasche im Kofferraum enthielt zweihunderttausend Dollar und ein paar Zerquetschte.
Kapitel Zwei
Zwei Tage zuvor hatte ich mit dem letzten Rest vom Kanincheneintopf auf meiner Veranda gesessen. Nicht, dass ich selbst auf die Jagd ging. Mein Nachbar Nathan hatte das Kaninchen geschossen. Nathan lebte seit über sechzig Jahren hier oben in einer Blockhütte. »Wenn du auch nur einen Fuß auf sein Land setzt, musst du mit einer Ladung Schrot rechnen«, pflegten die Leute zu sagen, aber unmittelbar nach meinem Einzug war er mit einer Flasche Selbstgebranntem bei mir aufgetaucht. Wir saßen hier draußen schweigend zusammen und tranken seinen Fusel. Seitdem kreuzt Nathan alle paar Wochen auf. Bringt immer eine Flasche mit, manchmal auch ein paar Eichhörnchen, so frisch geschlachtet, dass sie noch diesen typischen Geruch von Blut an sich haben, nach Erde und Kupfer, oder einen Schwung Wachteln, eine Ente, ein Kaninchen.
Ich bin mit Verwandten aufgewachsen, die Nathan sehr ähnlich waren. Wir sahen sie vielleicht ein-, zweimal im Jahr. Irgendwann sonntags stiegen wir alle in unseren cremefarbenen Dodge mit dem grünen Plastik-Blendschutz an der Oberkante der Windschutzscheibe und vor den vorderen Fensterflügeln, und fuhren auf schmalen Landstraßen zu Asphaltstraßen, an beiden Seiten flankiert von Baumwollfeldern, mit Bällen so weiß und unregelmäßig wie Popcorn, über die dann und wann ein Doppeldecker im Tiefflug massenweise Insektizide versprühte; dann weiter über Schotterstraßen zu einem mit Spurrillen durchzogenen Abladeplatz an der Nähe der Madden Bay, auf dem Pick-ups und leere Bootsanhänger herumstanden und wo Louis oder Monty uns von der Bucht aus zuwinkte, während er den Außenborder drosselte, ihn schließlich abstellte, die Ruder ergriff und das Boot langsam zurück an Land ruderte.
Wie schwerfällig das Boot ohne seinen Motor wirkte.
Was sich wohl auf Louis oder Monty übertrug, nehme ich an.
Ich wusste nie so recht, worüber ich mit ihnen reden sollte. Es waren freundliche Männer, die sich bemühten, meinen Bruder und mich miteinzubeziehen, sie kümmerten sich rührend um uns, aber die Wahrheit ist, dass sie sich in unserer Gesellschaft unwohl fühlten. Wir waren ihnen ebenso suspekt wie all die Städte, die um sie herum aus dem Boden gestampft wurden, mit ihren Scharen von Entscheidungsträgern und Müllsammlern, Rechnungen und Pfandverschreibungen. Ich vermute, dass Louis und Monty sich mit den nach Luft schnappenden Barschen und Brassen, die sie aus der Bucht zogen, verbundener fühlten als mit Thomas oder mir. In ihrem tiefsten Innern sehnten sich meine Onkel nach Außenposten, Grenzland, Wäldern und der Einöde.
Deine eigene Neigung, am Rande der Gesellschaft zu leben, könnte die etwas mit Louis und Monty zu tun haben?, soufflierte mir mein innerer Psychologe, der ewige stille Begleiter hier auf der Veranda – oder leider nicht so still, wie ich es mir gewünscht hätte. Auch so etwas, von dem ich gedacht hatte, ich hätte es hinter mir gelassen, als ich hierherkam.
Der Eintopf war lecker. Ich hatte das Kaninchen zerlegt, mit grobem Salz und Pfeffer eingerieben und in einen Schmortopf gelegt, dann einen Schuss aus einer von Nathans Flaschen hinzugegeben, dazu ein paar Möhren, Sellerie, Lauch und Petersilie, schließlich das Ganze abgedeckt und die Flamme so klein wie nur möglich gestellt.
Val war gegen Mitternacht gegangen. Sie hatte sich nicht nur unheimlich gut auf mein Bedürfnis nach Einsamkeit eingestellt, sie teilte dieses Verlangen sogar. Wir hatten vorher an ihrem Haus gearbeitet und waren danach hierhergekommen, wo ich den Eintopf aufsetzte und köcheln ließ. Währenddessen saßen wir auf der Veranda, wo wir über nichts Besonderes redeten, während der Whiskypegel in der Flasche Glenfiddich barometergleich sank, im Takt mit dem rhythmischen Zirpen der Zikaden und Heuschrecken, das in der Abenddämmerung anschwoll und wieder verebbte. Vögel flogen dicht über den See, zeichneten sich ab gegen einen Himmel, der glühte wie ein Korb voller abstrakter Früchte: Pfirsich, Pflaume, rosa Grapefruit.
»Dritter Sitzungstag in einem Sorgerechtsfall«, antwortete Val, als ich mich nach ihrem Tag erkundigte. Neben der Tätigkeit als Rechtsberaterin der State Police betrieb sie noch eine auf Familienrecht spezialisierte kleine Kanzlei. »Die Mutter gehört der Church of the Old God an.«
»Was ist das? Eine Art Sekte?«
»Fast. Sie behaupten, zur Ur-Kirche zurückgekehrt zu sein, wie sie zu biblischer Zeit war. Stell dir die Baptisten oder die Church of Christ im Turbogang vor.«
»Lieber nicht.«
»Genau … Der Vater ist Lehrer. Mittelalterliche Geschichte auf Universitätsniveau.«
»Je nach Sichtweise ist das sicher ein interessanter Unterricht.«
»Ich nehm’s an, ja.«
»Wie alt ist das Mädchen?«
»Ich habe nicht gesagt, dass es ein Mädchen ist.«
»Geraten.«
»Sie ist dreizehn. Sarah.«
»Was will sie denn?«
Val schnappte sich die Flasche und schenkte uns beiden noch zwei Fingerbreit Single Malt ein.
»Was will man schon in diesem Alter? Alles.«
Es war inzwischen stockdunkel. Tiefe Stille – nur unterbrochen vom Quaken eines Frosches unten am See.
»Riecht gut da drinnen.« Val hob ihren Whisky und visierte den Mond an, als ob das Glas ein Sextant wäre. Finde deine Position und peile deinen Kurs. »Ich vermute, sie wird wahrscheinlich bei ihrer Mutter landen.«
»Du vertrittst den Vater?«
Sie nickte. »Obwohl mir eindeutig Sarah am Herzen liegt.«
»In Anbetracht der Umstände müsste sie einen Soundso haben … wie nennt ihr das noch? Vom Gericht bestellter Rechtsanwalt, Fürsprecher?«
»Verfahrenspfleger, ein Vormund ad item, allerdings fürchte ich, in diesem Fall wohl eher ein Vormund pro forma.«
Ich nahm mein Glas mit dem Rest Glenfiddich und ging hinein, um nach dem Abendessen zu schauen. Morgen würde es zwar noch besser schmecken, aber es war fertig, und wir hatten Hunger. Ich nahm zwei Schüsseln aus dem Schrank, schöpfte Kanincheneintopf mit Graupen und dicken Karottenstücken hinein und legte Brotscheiben oben drauf.
Wieder draußen, saßen Val und ich nebeneinander, löffelten und pusteten den dampfenden Eintopf.
»Das ganze System taugt nichts«, sagte Val heftig nach Luft schnappend, als sie sich die Zunge verbrannt hatte. »Es gibt viel zu viele Schlupflöcher.«
»Die du aber auch nutzen kannst.«
Ich erinnerte sie an Sally Gene, eine Sozialarbeiterin damals in Memphis. Die Sache fing irgendwann an zu wachsen und immer weiter zu wachsen, hatte mir Sally Gene mal erzählt, dieses ganze System des Kinderschutzes und die dazugehörigen Gesetze – so, wie Leute sich einen Wohnwagen nehmen und anfangen anzubauen, eine Terrasse hier, einen Extra-Raum dort. Ohne Plan. Also fällt die Hälfte um dich herum fast zusammen, keine der Türen schließt mehr richtig, durch die Fenster fliegt der Staub rein oder raus, je nachdem, wie der Wind gerade steht. Du kannst das für dich nutzen, es kann dich aber auch fertigmachen.
»Genau«, sagte Val. »Und das, was ich letztendlich erreiche, hat häufig mehr mit Beliebigkeit zu tun als mit Recht und Gesetz. Du stehst da vor einem Richter, du denkst, du hast die Lage im Griff, denkst, du kennst das Gesetz und hast starke Argumente, aber was immer dieser Richter sagt, es ist das letzte Wort in dieser Sache. Sollte irgendein Mensch so viel Macht haben? Letztendlich kannst du nur hoffen, dass der Richter gut geschlafen hat und ihm seine eigenen Kinder am Frühstückstisch nicht auf die Nerven gegangen sind.«
Wir aßen, dann hielt Val ihre Schüssel hoch wie ein Bettler, der um Almosen bittet. Ich füllte auch meine noch mal bis zum Rand und kehrte auf die Veranda zurück. Die Fliegengittertür hinter mir schlug zu. Val tunkte das Brot ein und ließ es abtropfen.
»Immer so gesittet. So manierlich.«
Sie streckte mir die Zunge raus. Ich deutete auf meinen Mundwinkel, um sie darauf aufmerksam zu machen, dass sie dort Essen kleben hatte. Was nicht der Fall war.
»Sehr oft gibt es keine einfache Antwort, keine Patentlösung«, sagte sie.
»Wir bestehen aber darauf, dass es eine gibt. Ist wohl ein menschliches Bedürfnis, nehme ich an.«
Eine Weile sprach keiner von uns. Der gespenstische Schrei einer Eule von einem Baum in der Nähe.
»Das ist wahrscheinlich das Beste, was ich je gegessen habe. Wir sollten für das Kaninchen eine Schweigeminute einlegen.«
»Das sein Leben gegeben hat …«
»Kann mir kaum vorstellen, dass es das freiwillig getan hat. Obwohl die Vorstellung höchst faszinierend ist, wie ein Kaninchen an Nathans Hintertür anklopft und sich für den guten Zweck opfert.«
Als sie mit Essen fertig war, stellte sie die leere Schüssel neben ihrem Stuhl auf den Boden.
»Sarah ist verloren«, sagte sie. »Und es gibt nichts, was ich dagegen tun könnte. Das Leben mit ihrer Mutter wird ihr zweifellos einen seelischen Knacks versetzen. Ihr Vater ist so gerade eben lebenstüchtig. Zieht immer an, was in seinem Schrank links hängt, und arbeitet sich im Lauf des Monats nach rechts durch, hat seine CDs durchnummeriert und spielt sie der Reihenfolge nach ab. Die Bücher in seinem Regal sind der Größe nach sortiert.«
»Vielleicht kann sie sich selbst retten.«
»Vielleicht. Manche von uns schaffen das, stimmt’s? Es sind nur die anderen, die wir nie retten können.«
Eine knappe Stunde später begleitete ich Val zu ihrem Wagen. Wusste, dass sie nicht bleiben würde, fragte aber trotzdem. Sie zog mich dicht an sich, und wir standen eine Weile in einer stillen Umarmung. Diese Umarmung und die Wärme ihres Körpers, ganz zu schweigen von der Stille, erschienen mir Antwort genug auf alle Fragen, die die Welt mir entgegenschleudern könnte. Vom Dach schaute uns eine Schleiereule zu, vielleicht dieselbe, die wir zuvor gehört hatten.
»Fabelhaftes Abendessen«, sagte sie.
»Fabelhafte Gesellschaft.«
»Ja. Das bist du.«
Die Eule und ich sahen zu, als der Volvo zurücksetzte und schließlich die weite Kurve um den See herum und in die Nacht hineinfuhr. Die Eule drehte den Kopf einmal um hundertachtzig Grad, wie ein Geschützturm. Während das Motorengeräusch von Vals Wagen vernehmlich über dem Wasser schwebte, musste ich daran denken, wie ich auf Lonnies Jeep gelauscht hatte, als er das erste Mal um den See herumgefahren war. Ich hatte einen Strauß Iris in den Kofferraum gelegt, wo Val ihre Aktentasche verstaute, und freute mich an der Vorstellung, wie sie die Blumen dort fand.
In der Flasche war nur noch ein kleiner Rest Glenfiddich.
Ich schenkte ein, als die Eule wegflog, um ihren Geschäften nachzugehen. Dieser Scotch gehörte mir, und dem wollte ich mich jetzt widmen.
Ich war fast zwei Jahre auf der Straße gewesen, als ich in einem weißen Raum aufwachte, Pieptöne hörte und ein Rauschen wie von Pumpen ganz in meiner Nähe, weiter weg Gesprächsfetzen und klingelnde Telefone. Ich wollte mich aufsetzen, konnte aber nicht. Ein matronenhaftes Gesicht tauchte über mir auf.
»Sie wurden angeschossen, Officer. Jetzt geht’s Ihnen wieder gut. Sie müssen sich allerdings ausruhen.«
Ihre Hand langte an den Tropf neben mir und fingerte an dem kleinen Rädchen herum – und ich versank wieder.
Als ich das nächste Mal wach wurde, tauchte ein anderes Gesicht über mir auf und spähte hinter einer konischen Lampe hervor in meine Augen.
»Sie fühlen sich hoffentlich besser?«
Männlich diesmal, britischer oder australischer Akzent.
Als Nächstes ging er zum Fußende des Bettes und stocherte an meinen Füßen rum. Kontrollierte den Puls, wie ich später erfuhr. Er machte sich ein paar Notizen auf einem Klemmbrett, legte es beiseite und griff nach dem Tropf.
Ich packte seine Hand und schüttelte den Kopf.
»Anweisung des Arztes«, sagte er.
»Ist der Arzt hier?«
»Im Moment nicht, Kollege.«
»Er ist nicht da, wir aber schon. Und trotzdem trifft er für uns beide Entscheidungen?«
»Sie lehnen die Behandlung ab?«
»Brauche ich sie?«
»Sie müssen es mir sagen.«
»Dass ich sie ablehne?«
»Ja. Dann kann ich’s in die Krankenakte aufnehmen.«
»Okay, ich lehne die Behandlung ab.«
»Also schön.« Er nahm das Klemmbrett und machte eine weitere Notiz. »Die Chirurgen verpassen den Patienten die ersten vierundzwanzig bis sechsunddreißig Stunden meistens eine ziemliche Dröhnung. Einige vom Pflegepersonal stellen das in Frage, und das zu Recht. Aber wer sind wir schon?«
»Sie meinen, abgesehen davon, am Bett zu stehen und mit uns diese Scheiße durchzumachen.«
»Genau das meine ich.«
»Wie lange bin ich schon hier?«
»Sie sind so gegen sechs Uhr nachmittags reingekommen, kurz vor Beginn meiner Schicht. Auf die Intensivstation, wohlgemerkt. Davor waren Sie im OP, ich schätze, so ungefähr eine Stunde, davor in der Notaufnahme. Mit einer Schussverletzung werden die Sie da unten nicht lange behalten haben, wo Sie doch Polizist sind und so.«
»Wie heißen Sie?«
»Ion.«
Die Abenddämmerung nagte am Fenster.
»Wissen Sie, was mit mir passiert ist, Ion?«
»Im Dienst angeschossen, entnehme ich dem Bericht, frisch aus dem OP, Standardanweisungen für den Aufenthalt auf der Intensivstation, keine Komplikationen. Billie kann’s immer kaum erwarten, zu ihrem jungen Ehemann nach Hause zu kommen. Momentchen mal. Ich hole die Krankenakte, dann klären wir das.«
Er war gleich wieder zurück. Unaufhörlich bimmelten Telefone auf der Schwesternstation vor meinem Zimmer. Ganz in der Nähe musste sich ein Fahrstuhlschacht befinden. Ständig hörte ich das kehlige Jaulen des sich auf und ab bewegenden Aufzugs, den dumpfen Schlag, wenn er auf einer Etage andockte, die sich verändernde Geräuschkulisse auf dem Gang, wenn die Fahrstuhltür aufglitt.
Ion zog sich einen Plastik-Besucherstuhl an mein Bett und stöberte in den Krankenunterlagen.
»Anscheinend wurden Sie von Nachbarn wegen eines Familienstreits angerufen. Bei Ihrem Eintreffen war ein Mann gerade damit beschäftigt, seine Frau mit einem Stück Gartenschlauch zu verprügeln. Sie haben ihn dann zurückgehalten …«
»Von hinten, mit einem Würgegriff.«
»Ach ja?«
»Und die Frau hat auf mich geschossen.«
»Sie erinnern sich also wieder?«
»Noch nicht so ganz. Aber ich weiß, wie so was normalerweise abläuft.«
Jemand klopfte der Form halber an die Tür, dann tauchte ein Gesicht im Rahmen auf. Eine junge Frau mit einer Frisur, die stark an einen militärischen Bürstenhaarschnitt erinnerte, und einem Diamantstecker in der Nase.
»Schon wieder so spät?«, fragte Ion. »Okay, bin gleich bei dir, C.C. Gib mir noch eine Minute.«
»Schichtwechsel«, erklärte er mir und warf einen Blick auf mein Krankenblatt. »Also, dann weiter … Die Kugel durchschlug glatt Ihren Oberschenkel, ohne irgendwelche wichtigen Gefäße zu verletzen. Ich vermute allerdings, dass es ziemlich stark geblutet hat. Mehrere wichtige Muskelgruppen wurden mehr oder weniger komplett durchtrennt. Alles wieder repariert, aber Muskeln verzeihen einem das nicht so schnell.«
»Ist das der Grund, warum ich mich nicht bewegen kann?«
»Das sind wohl eher die Gurte.’tschuldigung.« Ion löste mehrere herabhängende Nylonbänder von den Querstangen des Bettes und nahm die gepolsterten Manschetten von meinen Hand- und Fußgelenken ab. »Anscheinend hat bei Ihnen eines der Beruhigungsmittel nicht ausreichend gewirkt, was nicht weiter ungewöhnlich ist. Inzwischen sollte das Zeug jedoch aus Ihrem Körper raus sein.«
Das Gesicht mit dem Nasenpiercing tauchte erneut im Türrahmen auf.
»C.C.! Was ist denn, musst du irgendeinen verdammten Bus erwischen? Du bist zwölf Stunden hier. Geh bei ein paar Patienten die Vitalfunktionen überprüfen und tu einfach so, als wärst du’ne Krankenschwester. Wie gesagt, ich bin gleich bei dir.«
Ich bedankte mich bei ihm.