Dunkle Schuld - James Sallis - E-Book

Dunkle Schuld E-Book

James Sallis

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  • Herausgeber: Heyne
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2009
Beschreibung

Eigentlich hatte sich Ex-Cop Turner in das kleine Provinzkaff Cypress Grove zurückgezogen, um sein altes Leben hinter sich zu lassen. Doch als der unerfahrene Sheriff des Ortes mit einem Ritualmord konfrontiert wird, bittet er den Außenseiter um Hilfe. Ein Mann wurde gepfählt und als gekreuzigte Vogelscheuche aufgebaut. Turner nimmt die Ermittlungen auf und gewinnt nicht nur neue Freunde, sondern muss sich letztlich auch seiner Vergangenheit und damit sich selbst stellen.

Der Auftakt einer neuen Krimi-Trilogie.

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Seitenzahl: 315

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Inhaltsverzeichnis
 
Zum Buch
Zum Autor
Widmung
 
Kapitel Eins
Kapitel Zwei
Kapitel Drei
Kapitel Vier
Kapitel Fünf
 
Copyright
HEYNE <
Zum Buch
Ex-Detective Turner hatte sich in das kleine Provinzkaff Cypress Grove in der Nähe von Memphis zurückgezogen, um seine dunkle Vergangenheit als Cop, Psychotherapeut und Sträfling hinter sich zu lassen. Doch als der unerfahrene Sheriff des Örtchens mit einem Ritualmord konfrontiert wird, bittet er den Außenseiter um Hilfe. Ein Unbekannter wurde gepfählt und mit über dem Kopf gekreuzten Armen als Vogelscheuche aufgebaut. Niemand weiß, wer der Mann ist. Turner nimmt die Ermittlungen auf und gewinnt nicht nur neue Freunde, sondern muss sich letzlich auch seiner Vergangenheit und damit sich selbst stellen.
 
Dunkle Schuld ist der erste Roman einer Trilogie um den Ex-Cop Turner
 
»Ein Krimi zum Genießen.« Los Angeles Times Book Review
»Ein meisterhaft komponierter Roman.« Boston Globe
Zum Autor
James Sallis wurde 1944 in Arkansas geboren und verbrachte dort seine Kindheit. Er studierte Literaturwissenschaften in New Orleans und arbeitete anschließend als Lektor und Drehbuchautor. Er übersetzte Raymond Queneau und Puschkin ins Englische und veröffentlichte eine Biografie von Chester Himes. Bekannt wurde er mit seiner Serie um den schwarzen Privatdetektiv Lew Griffin. Seine Kriminalromane wurden mehrfach für Literaturpreise nominiert, u.a. für den Edgar, den Shamus und den Gold Dagger Award. 2008 wurde James Sallis für Driver mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet. Er lebt in Phoenix, Arizona.
 
Lieferbare Titel Driver
Die Originalausgabe CYPRESS GROVE erschien bei Walker Publishing Company, Inc., New York
In Erinnerung an DAMON KNIGHT Ein wunderbarer Mensch, ein großartiger Freund, unendlich vermisst.
If your kneebone achin’and your body cold …You just gettin’ ready, honey,for the cypress grove.Skip James, »Cypress Grove Blues«
Kapitel Eins
Den Jeep hörte ich schon, als er noch eine halbe Meile entfernt war. Er kam um den See herum, und als er die Biegung erreichte, ergriffen Vögel die Flucht. Sie stiegen aus den Bäumen auf, senkrecht in die Luft, und dann, als wären sie von einem heftigen Windstoß erfasst worden, schwenkten alle auf einmal unvermittelt scharf nach rechts. Die meisten dieser Bäume standen dort seit vierzig oder fünfzig Jahren. Die meisten der Vögel waren weniger als ein Jahr hier und würden auch nicht viel länger bleiben. Ich befand mich irgendwo dazwischen.
Ich beobachtete den Jeep, als er zwischen den Bäumen auftauchte und der Fahrer auf dem langen Hang zur Hütte hinab in den dritten Gang schaltete. Das Nachmittagslicht auf dem See verwandelte ihn in Stanniolpapier. Kaum ein Laut. Ein hohes, leises Summen des gut gewarteten Motors. Von Zeit zu Zeit das Rascheln trockener Blätter, wenn der Wind sie ergriff und sie an den Bäumen wie Glocken zu klingen versuchten.
Er hielt einige Meter entfernt an, unter dem Pekannussbaum. Die Schalen seiner Nüsse waren so hart, dass man sie brutal zertreten musste, um an einen halben Teelöffel ihres Inneren zu gelangen. Ich schwöre, dass die Eichhörnchen sie zum Knacken hübsch aufgereiht unter den Autoreifen ablegten und dann in der Nähe herumlungerten und warteten.
Der Fahrer stieg aus dem Jeep und blieb daneben stehen. Er trug graue Arbeitskleidung von Sears, altmodische Gummistiefel, oben ganz weit, und einen dem Aussehen nach teuren Hut, der allerdings eher weiter unten im Südwesten zu Hause gewesen wäre. Mit verschränkten Armen lehnte er sich gegen die Fahrertür und blickte sich um. Die Leute hier in der Gegend bewegen sich nicht schnell. Sie wachsen auf mit dem Respekt vor dem Heim anderer Leute, ihrem Land und ihrem Privatleben, vor das Linien welcher Art auch immer gezogen worden sein mögen, manche davon unsichtbar. Auch mit Respekt vor der Geschichte des Ortes. Sie schleichen sich ran, wie man hier sagt, nähern sich behutsam. Vielleicht war das der Grund, warum ich hier war.
»Guten Nachmittag«, sagte er und hob auf der letzten Silbe leicht die Stimme, so dass seine Äußerung als Beobachtung, Begrüßung, Frage aufgefasst werden konnte.
»Das sind sie alle.«
Er nickte. »So ist das. Selbst der schlechteste, hier in Gottes eigenem Land … Ich hoffe, ich störe nicht.«
Ich schüttelte den Kopf.
»Gut. Das ist gut.« Er stieß sich von der Tür ab, drehte sich um, griff in den Wagen, die Hand kam mit einer Papiertüte zum Vorschein. »Sieht aus, als wäre da oben auf der Veranda Platz für uns beide.«
Ich winkte ihn an Bord. Nachdem er sich auf den anderen Stuhl gesetzt hatte, wie mein eigener ein einfacher Küchenstuhl, der, da altersschwach und wackelig, kreuz und quer mit Sisalfaden stabilisiert wurde, reichte er die Papiertüte herüber.
»Hab ich mitgebracht.«
Ich schälte das Papier von einer Flasche Wild Turkey.
»Zufälligerweise mit Nathan geredet?«
Mein Besucher nickte. »Er sagte, da wir beide uns noch nicht begegnet sind, wär’s vielleicht keine schlechte Idee, eine Kleinigkeit mitzubringen. Um die Rädchen zu schmieren, sozusagen.«
Nathan lebte bereits seit sechzig oder mehr Jahren hier oben in einer Blockhütte. Tu einen Schritt auf sein Land, wer immer du auch bist, und du wirst mit einer Salve grobem Schrot begrüßt - das sagte zumindest jeder. Aber nicht lange nach meinem Einzug begann Nathan damit, alle paar Wochen mit einer Flasche aufzukreuzen, und dann saßen wir hier draußen auf der Veranda oder, an kälteren Tagen, drinnen am Kamin und ließen wortlos die Flasche kreisen, bis sie leer war.
Ich ging rein, um Gläser zu holen. Schenkte uns beiden ordentlich ein und reichte ihm sein Glas. Er hob es ins Licht, trank einen Schluck, seufzte.
»Wollte schon lange mal raufkommen und hallo sagen«, meinte er. »Aber irgendwie ist immer was dazwischengekommen. Dachte, es hat Zeit. Ich meine, keiner von uns geht hier fort.«
Das war’s dann für eine ganze Weile. Wir saßen da und schauten den Eichhörnchen zu, wie sie die Bäume hinaufkletterten und zwischen ihnen hin und her sprangen. Ich hatte einen alten, verrosteten Topf an den Baum genagelt und achtete darauf, dass immer Pekannüsse für sie darin waren. Von Zeit zu Zeit streckte einer von uns eine Hand aus, um die Gläser nachzufüllen. Sonst rührte sich kaum etwas. Hier oben ist man nie weit von der Erkenntnis entfernt, dass die Zeit nur eine Illusion ist, eine Lüge.
Wir waren bereits bei den letzten Zentimetern der Flasche angelangt, als er wieder etwas sagte.
»Jagd?«
Ich schüttelte den Kopf. »Hab als Junge meinen Teil davon abgehakt. Ich glaube, das war wohl das Einzige, was mein alter Herr wirklich liebte. An den meisten Tagen kam bei uns Wild auf den Tisch. Rotwild, Kaninchen, Eichhörnchen, Wachteln und Tauben. Er hat immer auch andere Leute gebeten, sich was zu nehmen. Hat nie was anderes benutzt als eine.22er.«
»Lebt er noch?«
»Gestorben, als ich zwölf war.«
»Meiner auch.«
Ich ging rein und machte Kaffee, wärmte einen Eintopf von vor ein paar Tagen auf. Als ich mit zwei Schüsseln auf die Veranda zurückkehrte, war die Dunkelheit schon bis auf halbe Höhe der Bäume angelangt, und die Geräuschkulisse um uns herum hatte sich verändert. Insekten brummten und zirpten. Frösche unten am See sangen auf diese hohle, gequälte Weise, die für sie typisch ist.
»Kaffee gibt’s nachher«, sagte ich. »Es sei denn, Sie wollen ihn jetzt.«
»Nachher ist okay.«
Wir saßen vor unserem Eintopf. Ich hatte zum Eintunken eine dicke Scheibe Brot auf jede Schüssel gelegt. Da ich das Brot vor fast einer Woche gebacken hatte und es langsam hart wurde, war das schon in Ordnung. Also löffelten, schlürften, tunkten und leckten wir eine ganze Weile. Suppe tröpfelte übers Kinn und tropfte aufs Hemd. Ich brachte die Schüsseln hinein und den Kaffee heraus.
»War noch nie meine Sache, groß in den Angelegenheiten anderer Menschen herumzuschnüffeln.«
Der von den Bechern aufsteigende Dampf waberte vor unseren Gesichtern.
»Warum man hier ist, woher man kommt, all das. Allerdings werde ich von den Leuten dafür bezahlt, dass ich mich über alles auf dem Laufenden halte. Wie bei vielen Dingen im Leben liegt auch hier das Geheimnis darin, die richtige Mischung zu finden.«
Die Frösche hatten aufgegeben. Hatten sich inzwischen gepaart. In der Dunkelheit ausgesperrt. Hatten sich damit abgefunden, den Abend oder das Leben allein zu verbringen. Zeit, dass die Moskitos übernahmen, und sie umschwärmten uns. Ich ging hinein, um Kaffee nachzuschenken, und sagte bei meiner Rückkehr zu ihm: »Ist kein großes Geheimnis. Ich war ein Bulle. Habe elf Jahre im Gefängnis gesessen. Habe einige Jahre mehr als nützlicher Bürger verbracht. Dann hab ich mich zur Ruhe gesetzt und bin hergekommen. Gibt keinen Grund, dass die Dinge noch komplizierter werden.«
Er nickte. »Werden sie dann aber doch immer. Liegt in unserer Natur.«
Ich beobachtete, wie ein Moskito auf meinem Handrücken landete, einen Moment hocken blieb und dann wegflog. Eigentlich eine Maschine. Unkompliziert. Entworfen und in Bewegung gesetzt, um seine einzige Aufgabe perfekt zu erfüllen.
»Kann ich irgendwas für Sie tun, Sheriff?«
Er hob den Becher. »Prima Kaffee.«
»Bringen Sie einen Topf Wasser zum Kochen, nehmen Sie ihn von der Kochstelle und werfen Sie den Kaffee hinein. Deckel drauf und ziehen lassen.«
»So einfach.«
Ich nickte.
Er trank einen weiteren Schluck und sah sich um. »Friedlich hier draußen, stimmt’s?«
»Nicht wirklich.«
Eine Eule flog vorbei, die Füße und der Schwanz ihrer Beute baumelten herab, irgendein Nagetier.
»Um die Wahrheit zu sagen, ich hatte irgendwie gehofft, Sie überreden zu können, mir zu helfen. Bei einem Mord.«
Kapitel Zwei
Leben, hat mal jemand gesagt, ist das, was passiert, während wir darauf warten, dass andere Dinge passieren, die nie eintreten.
Amen!, wie Bruder Douglas gesagt hätte, wobei er, umrahmt von einem bunten Kirchenfenster, welches das Gleichnis der Talente, Maria Magdalena am Grabe und die Himmelfahrt darstellte, seine Bibel wie ein Schwert hob und schwang.
Damals, zu Hause, inmitten der alles überwuchernden Kudzubohnen in der westlich gelegenen Talschüssel von Crowley’s Ridge und den im Osten angelegten Dämmen, die den Fluss zurückhalten sollten, war ich ein Goldkind mit einer großartigen Zukunft - wobei großartig lediglich die Flucht aus dieser Stadt und ihren beschränkten Horizonten meinte. Ich war mit Hilfe eines Stipendiums den Fluss hinunter nach New Orleans gegangen, anschließend zurück und hinauf bis nach Chicago (dem Lauf des Jazz folgend), wo, nachdem ich mir ein Forschungsstipendium gesichert hatte, Kopf und Zukunft wie zwei Zwillingsgeschosse auf eine Professur wiesen. Dann jedoch zog unser Präsident heimlich in den Krieg und nahm mich mit. Auf Ellbogen durch Grün kriechend, das noch grüner war als das Grün, zwischen dem ich aufgewachsen war, rezitierte ich Chaucer, rief mir Euklid ins Gedächtnis, zählte, um wach und wachsam zu bleiben, die Grundprinzipien der Wirtschaft auf - und ließ das alles hinter mir auf dem Pfad zurück: wie Sporen, Gekleckertes.
Kein Problem für diesen Jungen, sich wieder in die Gesellschaft einzugliedern. An einem Freitag stieg ich in Memphis aus dem Flugzeug, stand ungefähr eine Stunde vor dem Busbahnhof, ohne hineinzugehen, und ging dann. Schaffte es nie bis nach Hause. Fand ein billiges Hotel. Am Montag lief ich zu Fuß quer durch die halbe Stadt zum Polizeipräsidium, wo ich ein Bewerbungsformular ausfüllte. Warum die Polizei? Nach all den Jahren kann ich mich nicht mehr an einen speziellen Gedanken erinnern, der mich damals dorthin führte. Ich hatte zweieinhalb Jahre auf mich schie ßen lassen. Vielleicht dachte ich mir, das sei Qualifikation genug.
Statt auf Ellbogen zu gehen, saß ich Wochen später in einem Ford, der wie verrückt schaukelte und bockte, während die Zylinder permanent knallten. Irgendwie kämpfte ich mich immer noch durch die Wildnis. Falls so etwas überhaupt möglich war, dann war mir die Stadt noch fremder, als es der Dschungel je gewesen war. Officer Billy Nabors saß am Steuer. Er hatte einen Atem, der die Farbe und die Tapeten von den Wänden schälen und Hühnchen die Federkiele abflämmen konnte.
»Was ich von dir erwarte«, sagte er, »ist Folgendes: Halt einfach die Schnauze, sitz da und sperr die Augen auf. Bis ich dir sage, dass du was anderes machen sollst, ist das alles, was ich von dir erwarte.«
Er jagte die Karre die Jefferson runter Richtung Washington Bottoms, über eine geradezu spektakuläre Ansammlung von Schlaglöchern in eine Gegend, die entweder ein lange aufgegebenes Gewerbegebiet war oder aber die Kulisse eines nach dem Krieg spielenden Science-Fiction-Thrillers. Wir hielten auf einer Höhe mit den einzigen, weit und breit sichtbaren Exemplaren einer Lebensform, die allesamt in der Nähe einer Tankstelle herumlungerten, die mit dem Schild BEST BARBECUE warb. Ein vierstöckiges Wohnhaus auf der anderen Straßenseite war eingestürzt, und auf dem Bordstein davor saß eine junge Frau und starrte auf ihre Schuhe, während ihr Speichel sich in trägen Fäden das schwarze T-Shirt mit dem Aufdruck ATEFUL DE D hinunterschlängelte. Ein riesiger kariöser Holzzahn hing vor der ehemaligen Zahnarztpraxis rechts. Das leere Grundstück links war überwuchert mit abgefahrenen Autoreifen, Mülltüten, Einzelteilen von Einkaufswägen, Fahrrädern und Plastikkühlboxen, schartigen Fragmenten von Ziegeln und Hohlblocksteinen.
Nabors nahm das Special auf einem Kaiserbrötchen, Fritos und dazu einen halben Liter Kaffee. Den Kaffee nahm ich auch und schenkte mir den ganzen Rest. Meine Güte, ich hätte eine Woche allein von dem leben können, was er auf sein Hemd kleckerte. An diesem Tag jedoch sollte sein Hemd noch eine Weile länger sauber bleiben, denn als wir uns gerade wieder in den Streifenwagen gesetzt hatten und er anfing auszupacken, kam der Funkspruch rein. Nächtliche Ruhestörung. Magnolia Arms, Apartment 24.
Er fuhr uns zwölf Blocks weit an einen Ort, an dem es ziemlich genauso aussah wie dort, wo wir gerade herkamen.
»Deine erste Ruhestörung, stimmt’s?«
Ich nickte.
»Scheiße.« Er schaute auf sein noch verpacktes Barbecue. Fett kroch langsam daraus hervor aufs Armaturenbrett. »Du bleibst hier sitzen. Wenn dir irgendwas komisch vorkommt, wenn du irgendwas hörst, setzt du sofort ›Kollege braucht Hilfe‹ ab. Denk nicht groß drüber nach, versuch nicht, draus schlau zu werden, gib den Spruch einfach nur gottverdammt durch. Kapiert?«
»Mensch, Cap’n, weiß nich so genau. Sie kennen das ja selbst.«
Nabors verdrehte die Augen. »Was hab ich nur getan? Womit hab ich das verdient?«
Er öffnete die Tür, wuchtete sich hinaus und mühte sich eine schlichte Treppenkonstruktion hinauf. Ich beobachtete, wie er die erste Etage entlangging. Vorsichtig, konzentriert. Ich streckte die Hand aus, nahm sein beschissenes Sandwich und warf es aus dem Fenster. Er klopfte an die Tür von Apartment 24. Unterhielt sich, stand noch einen Moment dort, ging dann hinein. Die Tür schloss sich hinter ihm.
Die Tür schloss sich, und sonst passierte nichts weiter. Drinnen brannte Licht. Sehr lange geschah nichts anderes. Ich stieg aus dem Streifenwagen, ging zur Rückseite des Hauses. Basierend auf irgendeiner Verfügung war eine billige, nicht wirklich passende Feuerleiter nachträglich angebaut worden. Ich zog an der unteren beweglichen Leiter, sah die Konstruktion über mir gefährlich schwanken, Schrauben, die arg strapaziert wurden. Kletterte hinauf, dachte dabei an all die Filme, in denen Hängebrücken vorkamen.
Ich hatte das Fenster von 24 erreicht und wollte gerade nachsehen, ob es vielleicht offen war, als ich von einem Schuss überrascht wurde. Ich trat das Fenster ein und sprang hinein.
Durch die Badezimmertür sah ich Nabors auf dem Boden liegen. Keine Ahnung, wie übel es ihn erwischt hatte. Ein junger Latino stand mit einer Kanone in der herunterhängenden Hand über ihm. Er blickte zu mir auf, seine Nase lief, die Augen waren leer wie zwei Hälften einer Pekannussschale. Wie die Typen, die schon zu lange im Land sind und einfach die Schotten dicht gemacht haben, weil das der einzige Weg für sie ist, damit fertig zu werden. Ich erschoss ihn.
Das alles passierte in vielleicht zwanzig Sekunden, und noch Jahre später zählte ich es in der Erinnerung aus, eintausend, zweitausend … Als es passierte, schien es eine Ewigkeit zu dauern, besonders dieser letzte Moment, als er dort zusammengesunken an der Wand saß, während ich immer noch mit meiner.38er S&W in der ausgestreckten Hand da stand. Nur die rechte Hand und nicht der offiziell trainierte und gebilligte Griff, ohne zu zielen, allein aus dem Bauch heraus schießen, so wie ich zu Hause das Schießen gelernt hatte, die einzige Methode, die für mich infrage kam.
Ich hatte ihn vielleicht zwei, drei Zentimeter neben der Mitte seiner Brust erwischt. Als ich mich über ihn beugte, war da einen Augenblick lang ein leises Pfeifen, Blut sprudelte in Bläschen aus der erstaunlich kleinen Wunde, bevor alles aufhörte. Er hatte sich drei Kruzifixe um den Hals geschlungen, darunter ein tätowierter Stacheldrahtkranz. Nabors lag da und jammerte seinem verlorenen Barbecue hinterher. Ein Mann wie er sollte mit so einer Bemerkung abtreten. Aber er trat nicht ab, nicht diesmal. Ich nahm das Telefon, gab »Officer angeschossen« und den Ort durch. Erst da fiel mir ein, dass ich den Rest der Wohnung noch nicht gesichert hatte.
Aber wie die Dinge lagen, gab’s da nicht viel zu sichern. Ein stinkendes Bad, ein Flur mit Allwetter-Teppichboden. Ein Teppich, dessen Ränder ausgefranst waren wie Wildleder. Überall Kisten und Kartons, die meisten ausgepackt, manche aufgerissen und durchwühlt, der Inhalt quoll halb heraus. Das Mädchen steckte in dem hinteren Schlafzimmer in einem Kleiderschrank, die Arme an die Stange gebunden, die Füße mit Wäscheleine gefesselt, die durch aufgestapelte Hohlblocksteine gezogen war. Ihre Brüste hingen traurig herab, Blut tröpfelte ihre Schenkel hinunter, und ihre Augen leuchteten. Sie war vierzehn.
Kapitel Drei
»Ich seh kein Land mehr«, sagte Sheriff Bates. »Sie sind hier in der Gegend aufgewachsen, stimmt’s?«
»Fast.«
»Dann wissen Sie ja, wie’s ist.«
Wir saßen in seinem Jeep, fuhren zurück in die Stadt. Feldwege mit Kratern übersät wie das Gesicht eines Teenagers. Jetzt verließen wir die Bäume und bogen auf abgefahrenen Asphalt ein. Das unter dem Armaturenbrett montierte Funkgerät knackte.
»An den Wochenenden beenden wir Kneipenschlägereien und buchten betrunkene Autofahrer ein. Vielleicht geben ein paar Kids jemandem Geld, der ihnen eine Kiste Bier kauft, und dann machen sie Party, bis sie irgendwen nerven. Oder ein vom Pech verfolgter Kerl klettert in ein Fenster und kommt mit einer Tüte voller Besteck, verschreibungspflichtigen Medikamenten, einem Laptop oder einem Fernseher wieder raus. Nicht, dass er irgendwohin damit gehen könnte. Alle Jubeljahre schlägt ein Ehemann seine Frau dies eine Mal zu viel und hat plötzlich ein Fleischermesser in der Schulter stecken oder eine Bratpfanne auf dem Schädel.«
Das Radio knackte wieder. Hörte sich für mich nicht anders an als das vorherige Geknacke, aber Bates nahm das Mikro zur Hand.
»Ich bin auf dem Rückweg.«
»Zehn-Vier.« Der Typ am anderen Ende der Leitung liebte diese Vokale, rollte sie im Mund wie Murmeln.
Bates hängte das Mikro wieder zurück an den Bügel.
»Don Lee. Sie werden ihn schon bald kennenlernen. Kann’s kaum erwarten, nach Hause zu seinem Six-Pack und seiner neuen Frau zu kommen, sehr wahrscheinlich genau in dieser Reihenfolge. Wie spät ist es eigentlich?«
»Kurz nach acht.«
»Mein Monat, die Nächte abzudecken. Naturgemäß wäre Don Lee schon vor Stunden gegangen. Lisa hätte sein Fleisch und die Kartoffeln fertig auf dem Tisch stehen, und er wäre bereits auf der Couch bei seinem zweiten Bier, während sie in der Küche den Abwasch macht. Aber solange ich nicht da bin, sitzt er fest.«
Bates zog den Jeep hart nach rechts, wir schleuderten auf etwas, das man hier Highway nennt, und nahmen Fahrt auf. Unmittelbar danach schaltete er allerdings wieder runter und bremste.
»Brauchst du da Hilfe, Ida?«
Ein Buick wie ein Oxford-Herrenschuh, cremefarben auf blau, Oldtimer, circa 1948, stand qualmend auf dem rechten Fahrstreifen. Eine ältere Dame, ganz in Weiß, ein deutlich älterer Jahrgang, stand daneben.
Sie trug einen Hut, in dem man gerne Ostereier verstecken würde.
»’türlich nicht. Muss ihn nur runterkühlen lassen, wie immer.«
»Hab ich angenommen. Sag Karl’nen Gruß von mir.«
»Ich richt’s aus. Wenn er’s hört …«
Ungefähr eine Meile weiter sagte der Sheriff: »Damals in Memphis hatten Sie die höchste Mord-Aufklärungsrate der ganzen Truppe.«
»Sie haben Ihre Hausaufgaben gemacht.«
»Ich bin es nicht gewohnt, Hilfe hinzuzuziehen. Also bin ich vorsichtig damit.«
»Dann wissen Sie auch, dass nicht ich es war, es waren wir. Alles, was nicht pures Glück war, ist in erster Linie meinem Partner zu verdanken. Während ich in Eingebungen schwelgte, stand er mit beiden Beinen fest am Boden und dachte die Dinge methodisch durch.«
»Das wäre dann Randy gewesen - richtig?«
Ich nickte.
»Wie ich schon sagte, ich sehe kein Land mehr. Expertise, Glück, Intuition - wir nehmen, was immer Sie haben.«
Wir kamen von Norden rein, auf verlassenen Straßen. »Pop. 1280« stand auf einem Schild. Fuhren vorbei an Jay’s Diner mit den wenigen, weit auseinander parkenden Autos und Trucks davor, der Drugstore und die Eisenwarenhandlung waren schon dunkel, vorbei an A&P, Dollar Store, Baptisten-Kirche und Tankstelle. Hielten hinter dem Rathaus an. Einstöckiger Fertigbau, grau gestrichen. Haben wahrscheinlich eine Woche gebraucht, es aufzustellen, und da steht es nun für die Ewigkeit, solange Kleber eben hält. Der Anstrich war neu und gehuscht, mit einem leichten Hauch grauen Raureifs auf den Büschen daneben. Drau ßen stand ein einzelner Schwarz-Weißer dicht dran. Drinnen saß ein hochgewachsener Mann in Polyester, das sich bemühte, wie Khaki auszusehen, dicht am Schreibtisch. Darauf standen ein Radio, ein zehn Jahre alter Apple Computer und ein Stapel Magazine, von denen er eines gerade durchblätterte. Er sah auf, als wir hereinkamen. Feuchte braune Augen, die mich an einen Spaniel erinnerten, rötliches Gesicht, schmal und glatt wie eine Schaufel, dünnes Haar. Aber irgendwie hatte er etwas Elektrisches an sich. Funken und kleine Stromverbindungen sprühten durch die Gegend, unbemerkt.
»War irgendwas los?«, fragte Bates.
»Was man so erwartet.’n paar kleine Unfälle am Feierabend. Die alte Lady Siler hat ihr Portemonnaie als gestohlen gemeldet, aber dann ist ihr wieder eingefallen, dass sie es in den Kofferraum ihres Autos eingeschlossen hatte. Ich bin mit dem Ersatzschlüssel hin, wie immer. Jimmy Allen tauchte gegen Abend am Haus seiner Frau auf und fing an, gegen die Tür zu bollern. Dann versuchte er, ihr Auto zu stehlen. Als ich ankam, hatte er zwei Kabel aus dem Radio gepult und war damit beschäftigt, den Wagen kurzzuschließen.«
»Wie ich Jimmy kenne, hat er dazu mindestens’ne Stunde gebraucht.«
»Wahrscheinlich.«
»Isser hinten?«
»Total breit.«
»Geht das so weiter, kann Jimmy sich seine Post gleich hierhin zustellen lassen.«
Bates ging rüber und schaltete drei der vier Lichtschalter an der Tür aus. Der größte Teil des Raumes verdunkelte sich und ließ nur uns und den Schreibtisch in einem Lichtkegel zurück, an dessen Rand die Schatten hüpften und schwankten.
»Don Lee, dies hier ist Mr. Turner.«
Der Deputy streckte ein feste, hagere Hand aus, die ich ergriff. Ein guter Händedruck, keine Show dabei, einfach nur das, was es war. Wie der Mann selbst, nahm ich an.
»Schön, dass Sie dabei sind, Detective.«
»Einfach nur Turner, bitte. Ich bin schon lange kein Detective mehr.«
»Hoffe, Sie sagen uns jetzt nicht, dass Sie vergessen haben, wie das geht«, sagte Bates.
»Nein. Was passiert ist, ist wohl eher, dass man aufhört zu glauben, es habe etwas zu bedeuten.«
»Und, tut es das?« Das kam jetzt von Don Lee.
»Dass es etwas bedeutet oder dass es aufhört?«
»Gibt’s da’nen Unterschied?«
In diesem Moment wusste ich, dass ich ihn mochte. Sie beide mochte. Alles, was ich wollte, war, in Ruhe gelassen zu werden, und ich hatte enorme Schritte unternommen, um genau das sicherzustellen. Selten hatte ich mich beim Herumstreunen weit von der Hütte entfernt, hatte mir die Lebensmittel monatlich liefern lassen. Das Letzte, was ich wollte, war, noch einmal Teil einer Ermittlung zu sein, im Leben anderer Leute herumzuwühlen, in ihrem Schlamassel und Fehlverhalten, im Irrsinn anderer Menschen, anderer Seelen.
»Warum bringen Sie mich nicht auf den aktuellen Stand?«, schlug ich vor.
»Kannst nach Hause gehn«, sagte Bates zu dem Deputy. »Weiß zu schätzen, dass du die Stellung so lange gehalten hast. Das Abendessen wird mit jeder Minute kälter.«
»Das gilt auch für dich. Ich bleibe«, sagte Don Lee.
Kapitel Vier
Nabors kam durch, er überlebte die Schüsse, ist damit gemeint, aber er kehrte nie wieder zurück in den aktiven Dienst. Montags, an meinem freien Tag, besuchte ich ihn in der Reha-Klinik draußen in Whitehaven. Getrimmte, unglaublich grüne Rasenflächen mit Sprinklern, die wie Mini-Geysire losgingen, und gedrungene, hässliche Häuser. Hab nie rausgefunden, woraus sie gebaut waren, aber sie erinnerten mich an Legosteine. Ärzte mit sanften Händen und Kolonnen von ondulierten, elegant wimperngetuschten jungen Krankenschwestern bedienten die Automatiktüren. Alle hatten sie den Mund voll mit einem Brei aus Trost für beide, Besucher und Patienten, deren Klumpen guter Ratschläge sie gar nicht schnell genug ausspucken konnten.
Im Polizeirevier wussten plötzlich alle, wer ich war. Alte Bullen, die mich vorher betont ignoriert hatten, die, wie so oft, nach Schweißsocken, fadem Bourbon oder Bier, Aftershave oder der Nutte der vergangenen Nacht stanken, nickten mir in der Umkleide zu. Zwei Schichten hintereinander fuhr ich in einem Streifenwagen mit, der nicht nach links zog oder neue Reifen brauchte, und wurde stadtauswärts eingesetzt. Wusste so richtig, dass ich ein gemachter Mann war, als Fishbelly Joe - der blinde Albino, der, solange man denken kann, vor der Wache seinen Hot-Dog-Stand hatte - mein Geld ablehnte.
Dann, eines Montagnachmittags, als ich mich zum 3-11 meldete, hieß es, ich solle zum Captain kommen.
»Ich persönlich halte es für einen Fehler, Turner«, sagte er. »Du bist noch nicht so weit. Aber man hat dich zum Detective befördert.«
Ich war zu dem Zeitpunkt wie viel, vielleicht drei, vier Monate Polizist? Die meisten Männer, mit denen ich zusammenarbeitete, waren zehn, zwanzig Jahre älter, und fast alle lebten für ihren Job. Kein Wunder, dass sie gezögert hatten, mich zu akzeptieren, und auch jetzt erst langsam damit anfingen.
Hab ich jemals auch nur für einen Moment begriffen, dass es eine Wiederholung dessen war, was beim Militär passiert war? Nein. (Aber wieso habe ich das nicht kapiert?) Da war ich - und wechselte bereits nach wenigen Wochen direkt von der Grundausbildung zu den Spezialeinheiten, wie in einer dieser Fernsehshows, wo die Ereignisse sich überschlagen, als versuchten sie, einander zu überholen.
Ich lerne schnell, habe einen eigenartigen Verstand, der direkt zur Sache kommt. Während andere noch immer ins Schwimmen geraten und ihre Bauchplatscher machen, laufe ich rum und sehe gut aus - aber ich kratze nur an der Oberfläche, nie weiter drunter.
Zu dem Zeitpunkt, erinnere ich mich, hatte ich gerade mal genug Training und fast keine Erfahrung. Und die Tatsache, dass Nabors und ich die Regeln übertreten hatten, war etwas, das ich nicht in meinen Kopf reinbekam. Das ging so weiter, jede Minute, in jeder Schicht, jeden Tag. Niemand arbeitete streng nach Vorschrift. Du kürzt ab, die Jury wird zusammengebastelt, du improvisierst, tust so als ob, kommst damit durch. Aber wenige dieser Abkürzungen enden mit einer tödlichen Schießerei und einem älteren Officer, der zu Boden geht. Ich bin wieder und wieder im Kopf die Fehler durchgegangen.
Wir sollten immer zusammenbleiben. Wir hätten beide gemeinsam reagieren müssen.
Als ich das Gefühl hatte, dass da gerade etwas ziemlich schieflief, ging ich rein, ohne Verstärkung zu rufen.
Ich versäumte es, den Anordnungen meines älteren, erfahreneren Partners Folge zu leisten.
Nachdem ich dann weiterhin versäumte, mich zu erkennen zu geben oder einen Warnschuss abzufeuern (was damals, vor dem Verfahren Garner gegen den Staat Tennessee, die Regel war), schoss ich einen Mann tot.
Interessanterweise wurden außerhalb meines eigenen Kopfes nur wenige Fragen gestellt, und nichts davon unterlag je irgendeiner Nachprüfung. Aber direkt nach Zigeunern und Seeleuten sind Polizisten die abergläubischsten Menschen der Welt. Und während ich noch neu auf der Liste der Guten war, zu denen in einer seltsamen, abstrakten Art aufgeblickt wurde, war eine Sache seltsam: Niemand wollte mein Partner sein.
So fuhr ich also eine Weile, in offener Verletzung der allgemeinen Dienstvorschriften, allein in den besten Fahrzeugen, die das Department zu bieten hatte. Auch wenn ich nun Detective war, verbrachte ich doch den größten Teil meiner Schicht mit Routineeinsätzen.
Was als Nächstes passierte, ist mir bis heute nicht klar, jedenfalls wurde irgendwo (völlig willkürlich, wie ich basierend auf meiner Erfahrung mit Bürokratien vor- und nachher vermute) eine Entscheidung getroffen, und ich fand mich an der Seite von Jungs wieder, mit denen niemand sonst zurechtkam. Gleich und gleich gesellt sich gern? Oder vielleicht kamen sie auch zu mir als letzter, verzweifelter Versuch der hohen Tiere des Departments, sie doch noch loszuwerden. Wir reden hier über Anfänger, zu dumm für Gilligan’s Insel, über Gesetzeshüter, denen der archetypisch gute Polizist Andy nicht mal eine Kugel anvertrauen würde, Rabauken frisch vom Schulhof, ungehobelte Südstaatler, die zwar aufstanden, wenn Damen und Ältere den Raum betraten, in deren Köpfen aber ununterbrochen Filme wie Mein großer Freund Shane oder Ritt zum Ox-Bow abliefen.
Dann blickte ich eines Morgens nach rechts, so kam’s mir wenigstens vor, und da saß dann Gardner. Wir waren gerade zurück von einem Einsatz wegen unzulässiger Ruhestörung, bei dem ich ihm freie Hand gelassen hatte, und der Junge hatte seine Sache gut gemacht.
Du musst in ihre Haut schlüpfen, so wie in einen Morgenrock oder ein altes T-Shirt, erklärte er mir. Wenn du nur da draußen rumstehst und glotzt, hast du weder die Chance, dass du was siehst, noch dass sie dir vertrauen.
So was bringen sie euch heutzutage bei?
Direkt nach dem Würgegriff, sagte er.
Zu dem Zeitpunkt fuhren wir bereits zwei bis drei Monate zusammen Streife. Warum war er anders als die anderen? Ich bin mir gar nicht so sicher, dass er es überhaupt war. Vielleicht lag’s ja auch an mir selbst: Vielleicht war ich einfach nur an dem Punkt angelangt, an dem ich wieder engere Bindungen zu anderen aufbauen konnte. Oder vielleicht war es dieser Hurensohn, der einfach nicht aufgegeben hat. Ich tat alles, um ihn zu ignorieren, zu frustrieren, ihn zu erniedrigen, und er saß einfach nur da, nippte an seinem Kaffee und lächelte, fragte, was ich zum Mittagessen wollte. Während ich drauf und dran war, mich in Nabors zu verwandeln.
Wie ich selbst stammte Gardner aus der tiefsten Provinz. Doch während ich Städte liebte und brauchte oder es mir zumindest einbildete, gewöhnte er sich nie an das Stadtleben. Ein Teil von ihm lief immer irgendeinen Schotterweg an irgendwelchen Bahngleisen entlang und kaufte sich in einem Angelladen einen kühlen Drink. Er war ein guter, einfacher Mann.
Eines Morgens beim Kaffee eröffnete Gardner mir, dass er kündigen werde. Sein Mädel zu Hause hatte ihm geschrieben, sie sei schwanger. Er fuhr hin, fand ziemlich schnell raus, dass sie nicht schwanger war, sondern nur einsam, und tauchte kurz darauf wieder in Memphis auf. Ich fuhr inzwischen mit jemand anderem, aber wir blieben in Kontakt. Seit dieser Sache ließ ihn sein Herz nie wieder so richtig zurück in den Job.
Eines Nachts, als er allein auf Streife war, wurde er wegen einer Ruhestörung in ein Motel gerufen, ein Zank zwischen einer Prostituierten namens L’il Sal und ihrem Freier. Alle von uns kannten L’il Sal. Sie machte aus Schwarz Weiß und konnte die Sonne bezirzen unterzugehen, wenn es ihr etwas nützte. Entweder hatte Gardner alles vergessen, was er über L’il Sal wusste, oder es war ihm egal. Jedenfalls hörte er sich gerade ihre Geschichte an, als ihr Freier ihn von hinten angriff und ihm mit einem Klappmesser die Kehle durchschnitt.
Kapitel Fünf
»Normalerweise würden wir das hier so machen, dass die State Police jemanden rüberschickt. Die Highway Patrol. Aber die haben gerade zu wenig Leute. Einige Jungs sind kurzfristig krank, ein paar andere in Virginia zur Fortbildung. Ganz zu schweigen von den Ersatzleuten für ihre eigenen Fälle. Irgendwer wird schon kommen, sagte mir der Befehlshaber der Kaserne, fragt sich nur wann …« Bates stöhnte. »Ich habe außerdem noch den kleinen Hinweis bekommen, dass es nicht unbedingt der Beste der Kaserne sein wird.«
»Da haben Sie sich sicher gleich besser gefühlt.«
»Da drauf können Sie wetten. Bekommen wir noch Frühstück, Thelma?«, sagte er zu der Kellnerin, die uns Kaffees hingestellt und sich zwischendurch um etwas anderes gekümmert hatte. Nun kam sie an unseren Tisch zurück. Sie trug fusselige graue Polyesterhosen und einen schwarzen Pullover, der ihr vorne fast bis zu den Knien reichte und hinten labberig über ihren Po hing. Die Haare hatte sie zu einem lockeren Knoten hochgesteckt, aus dem sich einzelne Strähnen gelöst hatten, die nun wie Insektenbeine heraushingen.
»Siehst du das, hier auf der Karte, wo draufsteht, dass es vierundzwanzig Stunden am Tag Frühstück gibt, Lonnie?«
»Ihr habt gar nicht vierundzwanzig Stunden am Tag geöffnet, Thelma.«
»Dir entgeht nicht viel, stimmt’s? Das muss es sein, was die kriminellen Elemente hier in Schach hält und warum die guten Leute dich immer wieder wählen.«
»Was kannst du uns empfehlen?«
»Nichts. Aber das meiste kann man essen.«
Ich fragte mich, wie viele Male sie dieses Spiel schon gespielt hatten.
»Wieso fragst du überhaupt? Wie beide wissen doch genau, was du bestellen wirst. Drei Spiegeleier, von beiden Seiten gebraten, Porrigde und Speck. Und wenn du endlich fertig bist, haben die anderen Leute hier vielleicht auch mal eine Chance zu bestellen.«
»Hast alles im Griff, hm?«
»Jepp. Willst du noch was anderes außer Kaffee, Don Lee?«
»Kaffee reicht mir«, antwortete er.
»Eigentlich sollte heute ein neues Mädel hier sein. Hat gestern eine halbe Schicht gearbeitet und dann beschlossen, dass es nicht unbedingt das ist, was sie mit ihrem Leben noch vorhat. Ihr Pech. Es gibt weiß Gott noch Belohnungen. Toast?«
Sheriff Bates nickte.
»Weißt du was, ich nehm auch einen Toast«, sagte Don Lee.
»Muss mindestens eine Stunde her sein, seit der Junge was zwischen den Zähnen hatte«, kommentierte Bates.
»Und was kann ich Ihnen bringen, Sir?«
Ich bestellte ein trockenes Clubsandwich ohne Mayo und einen Salat, kein Dressing. Der Kaffee war wirklich sehr gut. Lange Zeit hatte ich in Restaurants nie Kaffee
Holmen Book Cream liefert Holmen Papier, Hallstavik, Schweden.
 
 
Vollständige deutsche Erstausgabe 08/2009
Copyright © 2003 by James Sallis
Copyright © 2009 der deutschen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Redaktion: Angela Kuepper Umschlagfoto: © David Sacks/Photographer’s Choice/Getty Images
eISBN : 978-3-641-03302-6
 
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