Dunkles (eBook) - Tommie Goerz - E-Book

Dunkles (eBook) E-Book

Tommie Goerz

3,7

Beschreibung

Eine Nacht im Städtedreieck Nürnberg, Fürth, Erlangen: In Nürnberg wird ein Auto gestohlen, bei Erlangen brennt eins ab, und im Fürther Land verschwindet ein Mädchen. Haben die Ereignisse etwas miteinander zu tun? Oder war das alles nur Zufall? Als dann auch noch die Leiche der Vermissten aufgefunden wird, ist die Stunde von Mordkommissar Friedo Behütuns gekommen. Die breit gefächerten Ermittlungen im Grenzgebiet der drei fränkischen Städte erfordern etliche Dunkle - und fördern Dunkles zutage.

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TOMMIE GOERZ

 

DUNKLES

 

Kriminalroman

 

 

 

 

ars vivendi

 

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag ­erschienenen Originalausgabe (3. Auflage 2013)

 

© 2011 by ars vivendi verlag

GmbH & Co. KG, Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

 

Lektorat: Ulrike Jochum

Umschlaggestaltung: ars vivendi verlag unter Verwendung einer Fotografie von © André Baranowski/StockFood

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

eISBN 978-3-86913-310-2

 

Hier war ein Ende und zugleich ein Anfang.

John Irving, Witwe für ein Jahr

 

1. Kapitel

»Hast’n du keine Krimis?«, rief P. A. durch das Durcheinander hinüber in die Küche. P. A., also Peter Abend, half seinem Kollegen Peter Jaczek beim Umzug. Es war nicht viel los gewesen heute bei der Kriminalinspektion im Nürnberger Polizeipräsidium. Nur eine Frau hatte früh angerufen, ihre Tochter sei verschwunden. Aber die kam bestimmt bald wieder, und sie sahen das erst mal nicht als Kriminalfall an. Man hatte ihnen die Sache ohnehin nur zugeschoben, weil bei ihnen nicht so viel anlag. 17-jährige Mädchen übernachten nun mal gern außer Haus, machen ihre ersten Erfahrungen. 50 Meter jenseits der Stadtgrenze, Gott sei Dank, hatte in der Nacht ein Auto gebrannt, ein Monster, so ein überflüssiger Pick-up, Isuzu D-Max, aber das war was für die Erlanger. Das Auto schien angezündet worden zu sein. Brandstiftung. Sonst war nichts. 50 Meter, so ein Glück! Also hatten sich Jaczek und P. A. auf den Weg gemacht zu Jaczeks alter Wohnung, ein paar Kisten schleppen. Seit Wochen schon schob Jaczek den Umzug vor sich her, er brachte das einfach nicht auf die Reihe. Also nahm P. A. das nun für seinen Freund und Kollegen in die Hand. Er hatte früher, noch als Schüler und später als Student, oft als Umzugshelfer gejobbt. »Möbelpacker« hatte man das damals genannt. Die Sachen der Leute in Kisten verstauen, Kisten und Möbel auf den LKW, zur neuen Wohnung fahren und dort wieder auspacken und einräumen. Seither wusste er, wie man Geschirr richtig verpackt, Sofas abschnürt und kantet und durch enge Treppenhäuser bekommt, wie man Schränke zerlegt und was »englisch Schrauben« ist. Außerdem machte ihm körperliche Arbeit hin und wieder Spaß. Ist doch etwas ganz anderes als das Hocken im Büro. Jaczek würde das allein sowieso nie schaffen bis zur Geburt seiner Tochter. Ob er den Umzug absichtlich so hinauszögerte? Seine Freundin war jetzt schon im achten Monat schwanger und Jaczek gelang es einfach nicht, seine Sachen in die gemeinsame Wohnung zu bringen und sein 40-jähriges Junggesellenleben aufzugeben. Er hatte sich innerlich auch lange gegen die Schwangerschaft gewehrt. P. A. konnte das nicht nachvollziehen, Jaczek aber war im Grunde seines Herzens ein lonely wolf und würde das wohl nie ablegen können. Peter Abend gab der Beziehung, wenn er ehrlich war, auch keine große Zukunft. Jaczek hatte es in den vergangenen zehn, zwölf Jahren, seit P. A. ihn kannte, nie lange mit einer Frau ausgehalten. Kam Jaczek eine andere Person über längere Zeit zu nahe, drang sie zu tief in sein psychisches Revier ein – dieses Gefühl hatte P. A. zumindest –, dann biss Jaczek sie weg. Gnadenlos. Dabei waren seine Bekanntschaften immer so nett! Aber egal, jetzt mussten die Sachen endlich mal gepackt und in die neue Wohnung gebracht werden.

Schwül war es, ein heißer Julinachmittag. Eigentlich Vor-Nachmittag. Komisch, dafür gibt’s kein Wort. Peter Dick, der andere Kollege, war zum Bürodienst verdammt worden, einer musste ja die Stellung halten, und der Chef der drei Peters, Kommissar Friedo Behütuns, hatte sich ins Auto gesetzt und noch in die Fränkische gewollt. Zuerst ins Streitberger Bad, da kannte ihn niemand und da traute er sich auch in der Badehose hin. Seine Wampe machte ihm langsam zu schaffen. Und danach auf irgendeinen Keller. Vielleicht auf den Kir­schenkeller hinten bei Pretzfeld, hatte er gesagt. Da hatte man so eine schöne Aussicht. »Und stört mich nur, wenn wirklich was ist, ist das klar?«, hatte er noch gerufen, sich seinen Tabak geschnappt und war los.

P. A. schwitzte, außerdem waren die Bücher staubig.

»Mach doch mal die Fenster auf, dass es ein wenig durchzieht!«

Jaczek grunzte in der Küche. P. A. packte gerade die Um-zugskartons um. Jaczek hatte sie genau so gefüllt, wie P. A. es schon früher immer erlebt hatte, wenn die Leute das selber machten. Einfach dilettantisch. Die packten ganz stur von links nach rechts oder von oben nach unten in der Wohnung, ohne Sinn und Verstand: eine Kiste mit Büchern, eine mit Schallplatten, wieder eine bis oben hin voll mit Büchern, dann eine mit Sofakissen, eine mit Lampenschirmen und wieder eine mit Büchern oder CDs. Allein vier Kisten hatte er mit Tonbändern! Ist denn da überhaupt noch was drauf? Zersetzen die sich nicht im Lauf der Zeit? Die einen kannst du nicht schleppen, und die anderen fliegen dir davon. Dass sich die Leute darüber keine Gedanken machen! Also hatte P. A. erst mal umzupacken. Unten eine Lage Bücher, dann obendrauf einen Lampenschirm. Unten eine Lage Platten, dann obendrauf ein Kissen. So ging das fort. Jetzt war er bei der dritten Kiste Bücher und hatte immer noch keinen Krimi entdeckt. Was Peter Jaczek so alles las und besaß, meine Güte. Fachbücher, Fußballbücher, Lexika, Schriftsteller, die P. A. nicht einmal kannte, Bildbände von griechischen Inseln, Philosophie, Gedichte – aber nicht ein einziger Krimi dabei!

»Haste mich nicht gehört?«, rief P. A. noch mal in Richtung Küche. »Wo hast’n du deine Krimis?«

»Hab keine«, kam es lapidar zurück.

P. A. unterbrach seine Arbeit, wischte sich über die Stirn. »Keine Krimis?«

»Nee.«

»Du willst mich doch verarschen, oder?«

»Nee. Keine Krimis. Aus Überzeugung.« Jaczek war in der Küchentür aufgetaucht. P. A. spürte, dass jetzt etwas Grundsätzliches kam.

»Keine Lust auf den Käse, den die da über uns schreiben, über unsere Arbeit und so. Da kann man ja oft den größten Quatsch lesen … stimmt’s?« P. A. wollte ihm eine Vorlage geben. Etwas Unverfängliches, damit es nicht zu grundsätzlich wurde.

»Nee, weißt du …«, begann Peter Jaczek.

»Gib mir erst mal ein Bier!«

Peter Abend ging rüber in die Küche, setzte sich an den Tisch. Jaczek brachte das Bier. Hofmann hell, Neustadt/Aisch, herrlich kalt. Ein angenehmes Getränk.

»Also?« P. A. war bereit.

Jaczek überlegte, suchte einen Anfang. Dann griff er aufs Fensterbrett, nahm von dort ein Buch.

»Ehe ich lang herumerzähle – ich les dir was vor. Das sagt genau, was ich meine.« In dem Buch steckten etliche Zettel. Jaczek blätterte, las hinein, blätterte weiter, immer von Zettel zu Zettel, suchte eine ganz bestimmte Stelle. Dann hatte er offensichtlich die Passage gefunden. Jaczek las vor. Dazu setzte er ein fast feierliches Gesicht auf. Ernst.

Hmm, dachte sich P. A., als er Jaczek dabei beobachtete. An dem findest du immer wieder neue Seiten. Irgendwie lernst du den nie richtig kennen.

»Ja, hier vielleicht. Also: Wie ist denn der Zusammenhang? Hier weicht man aus – dort sucht man Thrill und Schrecken. Was lesen denn die Leute, was zeigt uns das TV? Und was zeigt es und nichts anderes? Dinge mit Spannung nur. Geschichten, die ziehen und treiben, die Tempo haben und Hitzigkeit, Hetze. Geschichten von Schrecken und Verbrechen. Kann es denn sein, dass man immer erst töten muss in den Geschichten? Dass man morden muss, zuweilen auch sehr bestialisch, damit jemand einem zuhört und auch dranbleibt, wie man heute sagt? Brauchen wir denn den Thrill?, den Mord?, den Detektiv?, die Polizei?, die Atemlosigkeit? Was suchen wir denn beim Lesen, Vorlesen, Hören? Zerstreuung? Nur Unterhaltung? Nur Kurzweil vielleicht? Will man sich denn nur wegdenken lassen aus seiner Welt? Wegtragen lassen? Sich packen lassen und entführen, hinauskatapultieren? Sich fesseln lassen von Ängsten und Nöten, von Spannung und von Grauen? Will man nur außer sich sein, außer seiner Welt, nicht bei sich selbst? Ist es nicht so, dass der Mensch, der Leser, der Zuhörer in seinem Tageslauf, in seinem Sein gerade dies, die Spannung und den Thrill, Verbrechen und Angriff auf die Person, Verletzung, Folter, Mord tunlichst zu vermeiden versucht? Dass er kein Freund ist von Gewalt, den Frieden liebt und Sicherheit? Dass er nach Polizei ruft und nach Hilfe, nach Einschreiten und Abstellung, sobald ihm etwas droht? Dass er doch Angst hat vor dem Bösen, er es nicht sucht, es meidet wie die Pest? … und trotzdem das Verbrechen sucht im Buch, in den Geschichten? Sucht man im Lesen nur die Spitzen, die Extreme? Weil alles andere so tagtäglich ist? Und jetzt zu uns und dem, was ich euch sagen will: Suchen wir denn Geschichten, um uns zu zerstreuen? Uns abzulenken? Zur Kurzweil nur? Wir, so verstand ich das …«

Jaczek setzte kurz ab, erklärte: »Also da sitzen Leute zusammen und erzählen sich Geschichten, in dem Buch, und einer spricht das …«, und las dann weiter vor:

»Wir, so verstand ich das, suchen Entspannung, nicht die Spannung. Wir suchen Ruhe, nicht die Hektik. Wir wollten innehalten und nicht Raserei und Tempo. War das nicht unser Ziel? Wollten wir hier nicht ganz nah am Boden bleiben, auch am Leben, auf dem Teppich? Vagabundieren? Flanieren? Zögern? Spannung aber katapultiert uns hinweg, hinaus. Entspannung lässt uns hier. Nicht Kurzweil ist das Ziel, besser die Weile wird uns lang. Wir suchen Innehalten. Und Erbauung. Sammlung, nicht Zerstreuung. Und so auch Unterhaltung … Kurzum: Ich möchte keinen Kriminalfall hören. Ich bin gegen den Lärm. Gegen die Atemlosigkeit.«

Jaczek klappte das Buch wieder zu.

P. A. war belustigt. Und irritiert. Er fragte nicht einmal nach, von wem das wohl war. Es hätte ihm sowieso nichts gesagt.

»Ich les zwar viel, aber ich les lieber etwas, das mich zum Denken bringt«, sagte Jaczek bestimmt. »… oder etwas Erbauliches«, schob er noch nach, und das war kein bisschen despektierlich gemeint. Das war Jaczeks Ernst.

»Hmm …«, machte P. A. Darauf wusste er nichts zu sagen. Jaczek las sicher andere Sachen als er selbst, denn irgendwoher musste ja dessen ganzes Wissen stammen. Bei P. A. konnte es vorkommen, dass er sich zum Wochenende fünf Videos holte – das ist auch wieder komisch, dachte er, warum sage ich eigentlich noch »Videos«, wo es doch längst schon DVDs sind? –, sich auf das Sofa flackte und einen ganzen Tag nicht mehr aufstand. Schöne Wochenenden waren das! Ein Film nach dem anderen und sonst nichts. Der ganze Luxus der Fernbedienung. Was zum Knabbern, was zum Naschen, was zum Trinken und allenfalls mal aufs Klo. Traumhaft.

»Ich mach mich mal wieder ans Packen.« P. A. nahm sein Bier und ging zurück ins Wohnzimmer, ließ Jaczek allein. Er konnte damit einfach nichts anfangen.

»Und warum biste dann bei der Polizei? Auch noch bei den Kriminalern?«

Jaczek hatte anscheinend bloß auf diese Frage gewartet. »Mir geht es um Recht und um Unrecht. Um die Regeln des Zusammenlebens und …«

»Ach so.« P. A. packte weiter. »Ich könnte dir ein paar gute geben. Echt gute. Krimis, meine ich.«

»Nee, lass mal, zum Lesen hab ich wirklich genug.«

»Na ja, ist ja nicht jedermanns Sache. Ich jedenfalls les Krimis gern!« Er konnte sich gar nicht vorstellen, warum er etwas lesen sollte, das nicht spannend war. Oder das er nicht spannend fand. Aber vielleicht findet der Jaczek so etwas ja spannend?, dachte sich P. A. noch. Dann könnte er es ja fast verstehen. Aber eben nur fast, denn war so etwas vielleicht spannend? Philosophie? Schwere Gedanken? Er hielt gerade ein Buch in der Hand, das interessierte ihn keinen Furz. Paul Feyerabend, Naturphilosophie. So was!

»Interessiert es dich, woher der Text war, die Stelle, die ich dir vorhin vorgelesen habe?«, fragte Jaczek.

Vorgelesen? P. A. musste erst kurz überlegen. Vorgelesen? Was war das noch gewesen? Ach ja, das, dieser komische Text! Und was hatte darin gestanden, was hatte das bedeutet? Er hatte keine Ahnung mehr, es war ihm zu verschwurbelt gewesen, hatte ihn nicht interessiert. Schon allein die Sprache! So redet doch kein Mensch. Er hatte es längst schon wieder vergessen. Oder verdrängt? Wahrscheinlich Letzteres. Nein, nein, das interessierte ihn nicht, kein kleinstes bisschen.

»Nö, lass mal«, versuchte er möglichst neutral zu antworten, so, dass nichts mehr nachkam.

Jaczek verstand diesen speziellen Ton sehr wohl. Er hatte es auch kaum anders erwartet. Trotzdem war er ein wenig enttäuscht. Denn er hatte gerade in den letzten Tagen einen Schriftsteller gefunden, der ihn sehr ansprach und den er für ziemlich lesenswert hielt. Doch mit den Kollegen kann ich da­rüber eigentlich nicht reden, dachte er. Ich hätte es ja wissen müssen. Nach hinten hieß das Buch, von C. Mushari, wohl ein Perser, die enden meistens auf »i«. Das bedeutet so viel wie »aus«, also Mushari, »der aus Mushar kommt«. Wo immer das auch war.

In diesem Moment klingelte sein Telefon.

 

Ich betrinke mich jeden Tag. So gehe ich um mit dem Leben.

Ich betrinke mich jeden Tag.

Ludwig Fels, Der Himmel war eine große Gegenwart

 

2. Kapitel

Das war eine gute Entscheidung gewesen, mal wieder ins Streitberger Bad zu gehen. Das Beste für so einen schwülheißen Sommertag. Das Bad war auch nicht sehr voll gewesen, denn die Ferien hatten noch nicht begonnen. Es war ja erst Anfang Juli.

Inzwischen saß Kommissar Friedemann Behütuns im Kellerwald auf dem Pretzfelder Kirschenkeller, hatte das zweite Bier vor sich, schön kellerkühl – eigentlich Quatsch, denn es kam ja aus dem Kühlschrank hier oben, die Keller waren nur während des Kirschenfestes geöffnet; trotzdem konnte man sich vorstellen, es sei schön kellergekühlt –, ein fettes Stück weißen Presssack auf dem Teller vor sich, umrahmt von der hier obligaten »Musik« – Zwiebeln, Essig, Öl, Pfeffer, Zucker und Salz –, krustiges Bauernbrot, lecker sauere Gurke und Senf. Weit unten erstreckte sich das Wiesenttal, schon leicht im schrägen Gegenlicht der späten Nachmittagssonne, das Walberla, der Berg der Gegend, ein Sattelberg, auch Zeugenberg, zeigte sich in seiner ganzen Pracht, und die Landschaft leuchtete golden. Wie das Bier im Glas, Rittmayer, Hallerndorf. Warum eigentlich keines aus Pretzfeld, dachte sich Behütuns. Oder aus Wannbach, das gehörte doch fast dazu? Da gab es doch auch kleine Brauereien. Ebenso in Unterzaunsbach, Dietzhof und wie die alle hießen. Die lagen doch gleich ums Eck oder zumindest im Nebental. Hallerndorf, das war ja fast Bamberg, zumindest drüben, schon auf der anderen Seite der Regnitz. Aber egal. Der Saft war gut und wurde schon seit über 500 Jahren so gebraut. Goldgelb wie das Licht.

Ja, dieser Pretzfelder Kellerberg. Überall im Wald waren hier Keller, hineingegraben in den Sandstein. Einmal im Jahr hatten sie offen. Zum Kirschenfest. Dann saß man auf Bänken im Wald und badete seinen Magen in Bier. Einmal so richtig ausschwenken, das tat ihm gut, dem Magen, und der Seele auch. Der Kirschenkeller selbst aber befand sich auf einer Lichtung, und genau darin bestand sein Reiz. Er lag an der Terrassenkante des Berges, und man hatte die Bäume und Büsche zum Tal hin gefällt. So hatte man von den Bierbänken aus immer einen weiten Blick hinab nach Westen, übers Wiesenttal bis nach Forchheim. Unten an den Hängen standen die Obstbäume, meist Kirschen, einer nach dem anderen in Reihen und Zeilen, und die Scheiben der Autos noch weiter unten blitzten im Sonnenlicht immer wieder herauf. Die mussten alle immer irgendwohin. Echt fränkisch-schweizerische Abend­idylle.

 

Doch zuvor noch zum Streitberger Bad. Familienbad. Behüt­uns wusste gar nicht mehr, wann er das letzte Mal hier gewesen war. Vor drei Jahren vielleicht, oder vier? Er konnte es nicht mehr sagen. In den vergangenen Sommern hatte es einfach nicht mehr geklappt, und der voriges Jahr war sowieso nur verregnet und kalt gewesen.

Von der Bundesstraße, der 470 aus, bog man in Streitberg rechts ab und rumpelte erst über die Schienen der alten Wiesenttalbahn. Da dampfte am Wochenende immer die Museumsbahn der Eisenbahnfreunde entlang. Dann querte man das Tal, an einem Häuschen vorbei, auf einer alten Holzbrücke mit breiten, glänzenden Nagelköpfen über die Wiesent und dann nur noch unter den Bäumen nach links, schon stand man auf dem geschotterten Parkplatz. Ein Kassenhäuschen im Eckturm wie anno dunnemal, mit Sprechfenster und Eintrittskarten zum Abreißen von der Rolle – Wim Wenders hätte seine wahre Freude. Und dann stand man schon im Geviert. Tränen konnten einem in die Augen schießen, wenn man dieses Bad sah. Ein Juwel, noch eine wirkliche Badeanstalt. Eingerahmt auf zwei Seiten durch hölzerne Umkleiden, die Schlüssel dazu gab es im Kassenhäuschen – und schon allein der Geruch, den diese Holzhäuschen verströmten! Das war der Duft von Freiheit und Kindheit! Von sorgloser Zeit, von Toben und Denken an nichts. Von Auf-dem-Bauch-Liegen in der Sonne, Prickeln von Brausepulver, von Wasserperlen auf der Haut. So etwas gab es überhaupt nicht mehr. Sind nicht die Gerüche der Kindheit die intensivsten? Prägen sie sich nicht am stärksten ein? Und rufen sie nicht sofort wieder die Bilder der alten, vergessenen Zeit hervor? Ja, so war’s! Dabei war diese Zeit doch eigentlich gar nicht so schön gewesen. Gestrickte Wollbadehosen hatte er tragen müssen, das war damals kaum zu ertragen. Nicht nur, dass sie unmöglich aussahen, es zog sie einem auch noch nach unten, wenn man nass aus dem Wasser kam. Denn wenn die Wolle einmal nass war, war sie chancenlos gegen die Schwerkraft. Und der Gummizug hielt nichts zusammen. Das Freischwimmerabzeichen mit den drei blauen Wellen auf dem weißen Untergrund, das rettete immer ein wenig die Badehose. Das hatten ja noch nicht alle. Egal.

Hellölfarbenblau leuchtete das Wasserbecken, allein der Anblick schon fast Erfrischung genug. Und es zog einen richtig hinein! Ein Schwimmbecken noch mit schrägen Wänden, das kannte man heute überhaupt nicht mehr. Auch noch nicht genormt auf 25 oder 50 Meter, keine Startklötze, keine Bahnen, ganz im Gegenteil in der Mitte quer eine Schnur, die den Nichtschwimmer- vom Schwimmerbereich trennte. Und dieses Wasser! Ganz klar … nein, stimmt gar nicht, es war milchig trüb und Fliegenleichen schwammen darauf. Was soll’s. Es war Quellwasser, das aus dem Berg hinter dem Bad gezapft wurde, jenem Berg, auf dem oben die Ruine Neideck stand, die über die Flusskurve drunten im Tal wachte … Jetzt muss ich mich aber mal bewegen, dachte Friedo Behütuns, der mit seinem Handtuch unterm Arm noch immer im Eingangsbereich herumstand. Die Leute gucken ja schon! Er hatte sich total verträumt.

Das Wasser dieses Bades, das hatte ihm einmal der Bademeister erzählt, wird wöchentlich gewechselt. Dann ist es so richtig kalt, direkt aus dem Berg. Doch mehr als 19, 20 Grad hat es selten, denn am Nachmittag liegt das Bad schon wieder im Schatten. Auf der gegenüberliegenden Seite dann ein Pavillon wie aus Modellbahn- und Faller-Häuschen-Zeiten, original 1950er-Jahre, ein kleiner Biergarten davor, die Tafeln mit den mit Kreide geschriebenen Angeboten an der Wand – Zwetschgenkuchen, Streuselkuchen, Knoblauchwurst, Pom­mes und so. Und auf der Längsseite schließlich eine niedrige Hecke, zwischen der hindurch die Treppe hinunterführte zur Wiesent. Ein Bad darin war Abkühlung pur. Denn dieser Fluss hatte selten mehr als 14 oder 16 Grad, in heißen Sommern vielleicht auch mal 18. Doch man musste bei jedem Besuch einmal hinein, so lange, bis einem die Haut brannte und das Herz immer schneller schlug. Dort unten am Holzsteg waren auch Kähne festgezurrt. Die konnte man sich leihen – Bezahlung oben am Badeingang – und auf der Wiesent stromaufwärts rudern, bis unter die alte Eisenbahnbrücke. Flussabwärts befand sich ein Wehr, da war es nicht ratsam, hinunterzufahren. Es bestand aber auch keine Gefahr, das verhinderten allein schon quer schwimmend verankerte Holzstämme.

Wohin? Behütuns legte sich hinten rechts ins schräge Hanggras, noch in der Nähe des Holzkabinengeruchs und nicht zu weit weg vom Kiosk. Das war strategisch sehr klug. Dann zog er sich um, duschte und stieg ins kalte Wasser. Sofort griff ihn eine Bremse an. Das Schöne an Bremsen: Man kann sie sehr leicht erschlagen. Sie fliegen zu langsam weg. Behütuns erlegte sie gleich auf der Stirn, dann tauchte er unter und schwamm ein paar Züge.

So herrlich kann der Sommer sein!

Nach einer Weile tauchte er wieder auf, schwamm hin­über auf die andere Seite, zog sich am schrägen Beckenrand hoch – als Kind ging das noch alles viel leichter – schlug sich das Schienbein an und lief dann hinunter zur Wiesent. Nein, sportlich hatte das nicht mehr ausgesehen, wie er sich dort aus dem Wasser gehievt hatte.

Zehn Minuten später saß er auf der Bank vor dem Kiosk. Hier trank er sein erstes Bier. Dann schlief er auf seinem Handtuch vor den Kabinen ein und erwachte wieder, weil Kinder lachten. Er hatte wahrscheinlich geschnarcht. Noch einmal ging er ins Wasser, noch einmal hinunter zur Wiesent, und beim Hinausgehen trug er sich dann in die Unterstützerliste zur Erhaltung des Bades ein. Wie konnte man daran nur zweifeln, dass dieses Bad so erhalten werden sollte, wie es war? Ganz Westeuropa hatte kein solches Bad mehr, davon war er zutiefst überzeugt. Manchmal wünscht man sich einfach viel Geld, dass man sagen könnte: Ja, macht mal, ich zahl das dann schon. Aber so ein Polizistengehalt? Damit reicht’s ja gerade für den Eintritt. Einsfünfzig ohne Kabine, zweifünfzig mit.

 

Jetzt, am frühen Abend, saß der Nürnberger Kommissar Friedemann Behütuns auf dem Kirschenkeller, hatte einen leichten Sonnenbrand, einen hochroten Kopf und einen unbändigen Durst. Doch mehr als dieses zweite Bier hier auf dem Keller durfte er heute nicht mehr trinken, er musste ja schließlich noch fahren. Auch wenn der Herr Beckstein sagt, er fahre noch nach der zweiten Maß – dieser Herr ließ sich ja fahren. Außerdem, was Politiker so alles sagen – glaubt denen denn überhaupt jemand etwas?

Ein tiefer Zufriedenheitsseufzer kam ihm aus der Brust und ein Bierrülpser gleich hinterher. Der schmeckte schon stark nach Zwiebeln. Oder vielleicht lass ich mich mal volllaufen heute, hier, schön langsam, eins nach dem anderen? Vielleicht nehme ich mir ein Zimmer unten in Pretzfeld, oder ich schlaf einfach im Auto? Die Nacht würde sicherlich warm werden, das war klar. Und die Gelegenheit kam so schnell nicht wieder.

Behütuns träumte vor sich hin. Der Presssack auf dem Teller lachte, das Bier im Glaskrug auch, drüben lachten ein paar Frauen und irgendwann würde der Mond … Die Welt war so schön! Ginge es nach ihm, könnte die Zeit jetzt stehen bleiben.

In diesem Moment klingelte sein Telefon. Natürlich. Das ist ein Ärger mit diesen Handys. Man ist keinen Moment mehr allein. Früher gab es ja noch diese Funklöcher, mit denen man sich herausreden konnte, aber die Zeiten sind leider vorbei. Nirgendwo ist man heute mehr sicher. Was konnte denn nur so wichtig sein? Nichts!

Er drückte den Anruf einfach weg.

Zwei Minuten später klingelte es wieder.

»Behütuns beim Presssack«, meldete er sich mit vollem Mund. Ein kleines Stück dieser Götterspeise klebte schon am Telefon. Wahrscheinlich beim »Pr« mit hinausgeflogen. Beim Essen sollte man auch nicht telefonieren. Mit der Gabel trennte er noch ein Stück Presssack ab, spießte einen Zwiebelring mit auf und schob sich alles zusammen, während er zuhörte, zwischen die Zähne, einen Bissen Bauernbrot hinterher. Man musste das immer in dieser Kombination essen, nur so kam das richtige Aroma zustande. Noch eine Messerspitze Senf, dann war es gut.

»Bist du noch dran?«, fragte es besorgt aus dem Telefon.

»Grmmpf, hmmm«, kam es zwischen seinen Lippen hervor.

Die Stimme am Telefon sprach weiter.

Gibt es einen unerfreulicheren Job als Kriminalpolizist in Bereitschaft? Freiwillige Feuerwehr vielleicht, oder Arzt, aber sonst sicher keinen. Immer und überall kannst du angerufen werden und musst dann sofort los. Nichts war’s mit Übernachten in Pretzfeld oder damit, sich volllaufen zu lassen und dann im Auto zu schlafen. Ab in die Kiste, auf die Landstraße, die B 470, von dort auf den Frankenschnellweg und ganz schnell zurück. Zurück in die Realität. Behütuns warf sich einen Fisherman’s Friend ein. Das dämpfte die Fahne und man hatte das Gefühl sauberen Atems. Ade, schöne Fränkische, jetzt geht’s in die Großstadt nach Nürnberg.

Peter Dick hatte angerufen, und, wie es klang, nicht ganz ohne Grund. Sauer war er natürlich gewesen, das konnte man gut verstehen.

Bin ich der einzige, der es hört? Aus der Ferne kommt es,

ein formloses Heulen, Unheilsgesumm.

Cees Nooteboom, Der Umweg nach Santiago

3. Kapitel

Dass Peter Dick sauer war, war nur zu gut verständlich. Die anderen haben frei, der Chef liegt in der Fränkischen im Bad, und er sitzt im heißen Büro. Beobachtet Staub in der Sonne. Spitzt Bleistifte und so. Gelangweilt hatte er sich, die Füße hochgelegt und den Dreck unter den Fingernägeln herausgekratzt. Hatte sich dann noch mal die paar Sachen angeguckt, die herumlagen. Das Mädchen, das nicht heimgekommen war. Hatte sich den Bericht noch einmal angeschaut und mit der Mutter telefoniert. Die Arbeit gemacht für die Kollegen.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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