Durch die Zeiten - Gisela Wielert - E-Book

Durch die Zeiten E-Book

Gisela Wielert

4,9

Beschreibung

Über die Figur Gori erfahren die Leser die Geschichte der Familie Hausner und ihres Freundeskreises. An seiner Seite hat der Schutzgeist seine Freundin Tessa und viele alte und neue Kollegen, die sich mit ihm wünschen, ihre Schützlinge heil durch die Zeiten zu begleiten. In die Köpfe ihrer Lieben können die Schutzgeister nicht schauen, daraus ergeben sich immer wieder teils skurrile, teils heitere und immer wieder spannende Diskrepanzen. "Die erste Generation" umfasst die Jahre 1950 bis 1962 und führt die Leser in die Atmosphäre der jungen Bundesrepublik. Standorte der Handlung sind: Lübeck, Travemünde und Bayern. Textauszug "Ist dein Klient heute appetitreduziert?" Der indiskrete Kellnerschutzgeist sieht mich direkt an. "Sind wir dir Rechenschaft schuldig?"

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Seitenzahl: 724

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Gisela Wielert lernte noch vor Beginn des geplanten Studiums Fachrichtung Physik mit dem Ziel: Gesundheitsingenieur ihren Mann kennen und ist seit 1971 verheiratet.

Sie haben einen Sohn und leben auf dem Lande in der Nähe von Lübeck

Beruflich war sie als Arztsekretärin, zwischenzeitlich Chefarztsekretärin an der Uni Lübeck, tätig. Nebenberuflich arbeitete Wielert 10 Jahre als Buchhalterin für bis zu 4 Restaurants gleichzeitig. Von 1998 bis 2014 Tätigkeit als Managerin in einer Klinik für Ästhetisch-Plastische Chirurgie.

Ihre Schreibbegeisterung begann früh. Seit ihrem 17. Lebensjahr sind circa 100 Gedichte entstanden, viele Kurzgeschichten, Tagebuchaufzeichnungen mit Schreibmaschine ohne Seitenzahl, 2,3 kg und Essays.

2013 kam ein Kinderbuch für ihr Enkelkind hinzu. Band II der Familiensaga „Durch die Zeiten“ wird 2018 erscheinen.

Kontakt: [email protected]

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Die Gedanken sind frei

(Marcus Tuillus Cicero)

Wissenswertes über Schutzgeister

Keineswegs sind sie Engel, diese Schutzgeister. Früher, Äonen früher, waren sie ganz normale Menschen des lebendigen Mondes. Als dieser sich zur Ruhe begab, begann für seine Bewohner die Ausbildung zu Schutzgeistern für die eben erwachende Erde, auf der sie seit Anbeginn bis heute für deren Menschen tätig sind.

Schutzgeister haben weder Flügel noch Pausbacken und schon gar keinen Heiligenschein. Sie sind mehr oder weniger wohlgestaltet, und sehen den Erdbewohnern zum Verwechseln ähnlich, wobei diese sie weder sehen, fühlen noch riechen können. Schutzgeister können nicht wenig, eher ziemlich viel. Das Lesen von Gedanken gehört dazu nicht.

Schutzgeister essen und trinken nicht und haben kein Bedürfnis nach Alkohol, Drogen oder Sex. Ihre Vorgesetzten sind „Das Komitee“.

Inhaltsverzeichnis

Der neue Auftrag

Ein- und Ausblicke

Was wird werden

Der Tag nach dem ersten mit Alois

Elisabeth

Alois

Gespräche und mehr

Fremdgeschehen

Lübeck

Tage, die nicht enden wollen

Es ist Sonntag

Später

Hamburg und zurück

Im Theater

Im Zug

Elisabeth und Alois

Der Tag danach

Später

Elisabeths Geburtstag

Ohne Tessa

Vorletzter Tag vor der Abreise

Abschiedstag

Zeitsprung – Sonntag, 27. August

Die neue Woche

Wieder ein neuer Morgen

Der andere Morgen

Marienkirche

Zeitsprung, Sonntag, 15. Oktober 1950

Viel zu tun

Im Vorzimmer des Komitees und zurück

Zeitsprung nach der Hochzeit

Zeitsprung Sonntag, 20 Mai 1951

Am Tag danach

Am Nachmittag

Hannelore

Tags darauf

Wieder ein neuer Tag

Neuer Tag

Ein etwas volleres Haus

Zeitsprung, Donnerstag, 20. Dezember 1951

Krumbügels

Endlich einmal allein zu zweit

Samstag, 22. Dezember 1951

Sonntag, 23. Dezember 1951

Montag, 24. Dezember

Bescherung

Dienstag, 25. Dezember

Donnerstag, 27. Dezember

Zeitsprung Donnerstag, 6. Januar 1955

Alois ist wieder da

Sonntag an der Ostsee

Danach

Zeitsprung 20. Mai 1956

Nachmittags

Hektik, Umbau und mehr

Später

Zeitsprung Montag, 25. Aug. 1956

Später

Unglück schläft nicht

In Bayern

Samstag

Zeitsprung, Montag, der 29. April 1957

Der Alltag beginnt und noch was

Tag der Arbeit 1. Mai 1957

Später

Später

Donnerstag, 2. Mai 1957

Später

Danach

Die Aufklärung

Zeitsprung 1. September 1959 in tiefer Nacht

Der nächste Tag

Später

Tessa, die DDR und eine frühmorgendliche Reflexion

Was in der Woche noch geschah

Später

Mittwoch, 23. Dezember 1959

Heilig Abend

Zeitsprung Freitag, 16. Februar 1962

Prüfungen

Donnerstag, 22. Februar 1962

Freitag, 23. Februar 1962

Am frühen Morgen

Mittwoch, 2. Mai 1962

Abends vor dem Kamin

Die ganz unverhoffte Wende am Donnerstag, 3. Mai 1962

Tagesrückblende

Freitag, 4. Mai 1962 der Tag danach

Samstag, 5. Mai 1962

Tagesrückblende

Rückblende

Wieder eine glückliche Wende

Samstag, 7. Juli 1962

Am Morgen danach

Dienstag,10. Juli 1962

Zeitsprung, Montag, 24. Dezember 1962 in Bayern

Der neue Auftrag

Wo bin ich? In Travemünde. Den Ort kenne ich. Ich bin aufgeregt, nervös, freudig erregt, alles zusammen wie immer, wenn ich einen neuen Schützling übernehme. Es geht mir heute nicht anders als unendliche Male zuvor. Alois Hausner heißt er. Welchen Tag haben wir? Es ist Mittwoch, den will ich mir merken, unbedingt. Wir schreiben das Jahr 1950, es ist 15 Uhr, der 3. August. Wie sieht er aus, dieser Alois Hausner? Nicht schlecht, nein gut. Er ist attraktiv, ja, ist er; bestimmt 187 cm groß und 78 kg schwer, nur leicht angegrautes, dunkelbraunes Haar, grüne Augen, gut geschnittenes, ovales Gesicht mit nicht zu ausgeprägtem Kinn und leicht gebogener Nase. Er sitzt auf einer Bank. Wir sind in der Nähe des Brügmanngartens, und er schaut sich das Meer an. Beige Shorts trägt er und ein weißes, kurzärmliges Hemd, Sandalen Marke „Vorkriegsmodell“. Mehr kann ich auf den ersten Blick nicht erkennen. Wer ist er? Wie ist er? Später, ich werde es erfahren. Wer ist sein Schutzgeist? Bekanntes Gesicht, lange her: Melvis heißt er. Er sieht sich um, ungeduldig. Er will wohl weg, kann es nicht mehr erwarten.

„Melvis, Melvis, gar Unrast springt dir aus den Augen, sei dennoch herzlich gegrüßt und dich wiederzusehen finde ich exorbitant. Ich soll dich bei deinem Schützling ersetzen.“ „Ist es so? Dann grüß dich Gori, alter pigmentierter Mondherrenmensch, du bist es also. Wir haben uns lange nicht gesehen, wo hast du gesteckt?“ „Zuletzt in Köln.“ „Also, kein Wunder, ich war die ganze Zeit in Bayern, bei dem Alois Hausner. Nein, übereilig habe ich es nicht. Bevor das vergessen wird, sage ich dir was zu ihm: Der Alois ist 49, gesund und pflegeleicht. Kein Risikokandidat. Er hat eine Bierbrauerei in Bayern, ein Familienbetrieb in dritter Generation. Dann gibt es noch Mietshäuser, Grundstücke und was weiß ich noch alles. Vor 2 Jahren ist er Witwer geworden und wünscht sich, glaube ich, eine neue Partnerin. Das weiß ich aber nicht genau, er führt kein Tagebuch und spricht nicht mit sich selbst, es handelt sich um eine reine Hypothese. Er ist Vater eines erwachsenen Sohnes, der den Betrieb leitet.“ „Das hört sich harmlos an, warum bleibst du nicht bei ihm?“ „Ich habe mir endlich mal eine Frau gewünscht, eine temperamentvolle Frau, mit der ich was erleben kann.“ „Aha, bevor wir mit ihm hier unser Wunder erleben, sag mal, wie lange sitzt er schon auf der Bank, er hat einen roten Kopf.“ „Jetzt wo du das ansprichst, fällt es mir auch auf. Dumm, er trägt nie Hut, er sollte schleunigst aus der Sonne.“ „Sehe ich auch so, hat der Mann kein Bauchgefühl?“

Melvis sieht aus, als hätte er sich darüber noch nie Gedanken gemacht. Wenn das Bauchgefühl bei Herrn Hausner wenig ausgeprägt sein sollte, vielleicht funktionieren andere Gefühle bei ihm umso besser.

„Melvis sieh hin, da kommt eine Frau.“

Und was für eine, schätze mal: 163 cm groß, 48 kg schwer, unglaublich muskulös, lange dunkelblonde Haare mit Mittelscheitel, blaue Augen, volle Lippen, gerade Nase. Na, da fehlt ja gar nichts, sehr schick ihre grüne Capri Hose mit dem ärmellosen gelben Top und den flachen weißen Schuhen.

„Schau, welch ein Segen für uns, mit Schutzgeist Tessa.“ „Tessa, Tessa, hallo, du musst uns helfen.“ „Gori und Melvis, das ist eine freudige Überraschung euch zu sehen. Gori, geht es dir wieder gut? Du hast lange ausgesetzt.“ „Vor drei Minuten habe ich gerade wieder angefangen und schon gibt es ein

Problem. Mein Schützling steht knapp vor einem Sonnenstich und wir können ihn nicht ins Wasser oder wenigstens in den Schatten bewegen. Kannst du deiner Lady eingeben, sich auf die Bank zu setzen und ihn anzusprechen?“ „Klar, mache ich gerne, sie hat Rückenschmerzen.“

Prompt geht Tessas Dame auf die Bank zu, spricht Alois an.

„Entschuldigen sie, darf ich mich zu ihnen setzen?“ „Aber gerne, gnädige Frau, schauen sie nur, man hat von hier einen herrlichen Blick auf die Ostsee.“

Er hat sie tatsächlich mit „gnädige Frau“ angesprochen, Manieren scheint der Herr zu haben.

„Ja, ganz wunderbar. Aber verzeihen sie mir die Frage, sitzen sie schon länger hier in der heißen Sonne, ich fürchte, sie haben sich einen Sonnenbrand geholt.“ „Ich wollte nach dem Mittag eine kurze Rast einlegen, aber eigentlich schon lange im Wasser sein. Bin ich rot im Gesicht?“ „Ziemlich, sie sollten sich in den Schatten setzen oder möchten sie vielleicht jetzt mit ins Wasser?“ „Ja danke auch, wenn ich sie begleiten darf?“ „Sie sind kein Einheimischer, warten sie, sie könnten aus Bayern stammen.“ „Stimmt genau, hört man die Mundart so deutlich raus?“ „Ja, ich kenne sie gut aus meiner Münchner Zeit.“ „Wie, sie haben in München gelebt?“ „Während des Krieges, ich hatte von 41 bis 44 ein Engagement am Münchner Ballett.“ „Was, sie tanzen? Sie tanzen in einem Ballett?“ „Ja.“ „Und wo?“ „In Lübeck, jetzt ist Theaterpause, und ich nutze das schöne Wetter, um so oft wie möglich an den Strand zu kommen.“ „Ja das ist gut, sonst wären wir uns nicht begegnet und sie könnten mich nicht vor den Folgen eines Sonnenbrandes retten. Übrigens, mein Name ist Alois Hausner.“ „Ich heiße Elisabeth Reinhard.“.

„Tessa, du bist richtig gut, wie hast du das geschafft?“ „Elisabeth hat heute Rückenschmerzen, sie hätte sich so oder so genau hier auf die Bank gesetzt, ich wusste es einfach.“ „Sie ist doch so jung, wieso tut ihr der Rücken weh?“ „Weil sie Tänzerin ist, weil sie langsam zu alt zum Tanzen ist. Sie muss sich einen Mann zum Heiraten suchen oder einen reichen Gönner. Jetzt erzähl bitte von dir, Gori, wo bist du gewesen?“ „Ich habe geschlafen.“ „Aha, weswegen?“ „Ich hätte es mir verdient, sagte das Komitee.“ „Gori, du warst doch Schutzgeist bei der kleinen Sarah Blumenthal, ist was mit ihr passiert?“ „Ja, sie wurde umgebracht, vergast.“ „Und du musstest das mit ansehen?“ „Ja.“ „Lieber Mond! Was passierte ihren Eltern? Die hatten doch Pacca, wenn ich es richtig erinnere?“ „Ja, sie hatten Pacca. Und Pacca und ich haben in den ganzen Jahren alles versucht, die Familie für eine Ausreise aus Deutschland zu sensibilisieren. Vergebens. Ich weiß nicht, was aus den Eltern geworden ist. Wir wurden voneinander getrennt.“ „Und als Sarah tot war, kam das Komitee und hat dir Schlaf verordnet?“ „So ungefähr.“ „Gori, du verschweigst etwas.“ „Es war keine Ruhmestat von mir: ich habe meine aufgestaute Negativenergie ausgeatmet. Ein Wächter kam dadurch um.“ „Oh!“ „So war es. Das Komitee beschied mir Mondmenschlichkeit und schickte mich schlafen.“ „Du hast da oben ein hohes Ansehen, Gori.“ „Ich weiß es zu schätzen.“ „Der Krieg ist vorüber, aber die Menschen wurden nicht ausgetauscht. Es laufen hier massenweise Leute rum, die vor einigen Jahren Hitler und seinen Nazis zugejubelt haben.“ „Da kann ich nur hoffen, dass der Alois nicht zu denen gehört.“

Melvis winkt ab.

„Alois ist unpolitisch, keine Sorge, Gori, ich wünsche dir mit ihm viel Freude.“

Was immer das auch heißen mag. Melvis muss gehen, Tessa und ich sind allein.

Es ist 15 Uhr 20, Alois und Elisabeth tragen Badeanzug und Badehose, gehen gemeinsam auf die Ostsee zu. Hoffentlich will Alois nicht den Helden spielen, stürzt sich in die Flut und kriegt einen Herzinfarkt. Obwohl, er sieht gesund aus. Er hat Muskeln und keinen Bauch – das kommt bestimmt vom Stemmen der Bierfässer -. Nein, er ist schlau, er dreht sich um, geht leicht in die Knie und legt sich zuerst mit dem Rücken ins Wasser. Das ist viel schonender, den Trick hatte ich früher auch drauf. Beide schwimmen gut. Ach wie schade, Elisabeth bekommt einen Wadenkrampf.

„Tessa, Elisabeth hat einen Wadenkrampf.“ „Ja, das sehe ich auch. Sie hat ständig Wadenkrämpfe und sollte Magnesium nehmen. Aber das ist im Moment so schwer zu kriegen.“ „Die Situation ist ungefährlich. Sie können im Wasser noch stehen und Alois nimmt jetzt Elisabeths Arm und hilft ihr an Land, wir müssen nicht eingreifen.“ „Danke, Herr Hausner. Ich sollte regelmäßig Magnesium nehmen. Ohne Vorbestellung ist es in den Apotheken selten vorrätig. Ich bin schon froh, dass die Tabletten seit kurzem wieder in Deutschland produziert werden.“ „Ja, langsam wird alles etwas besser, der Adenauer und der Erhard scheinen ein gutes Gespann zu sein.“ „Tessa, wer sind diese Herren?“ „Adenauer ist Bundeskanzler und Erhard sein Wirtschaftsminister. Komm, wir verlieren unsere Schützlinge aus den Augen. Wenn du willst, erzähle ich dir bei Gelegenheit, was sich hier während deiner Abwesenheit zugetragen hat.“

Na, große Klasse, ich weiß noch nicht einmal, in welchem Jahr der Krieg beendet worden ist.

„Schutzgeister befinden sich im intellektuellen Pausenzustand.“ O-Ton des Komitees. Dabei sind wir mit Wissen vollgestopft, haben ein Universalstudium hinter uns: Geologie, Anatomie, Physiologie, Chemie, Physik, Mathematik, Sprachen, Biologie, Rechtslehre und so weiter, nichts fehlt. Fortbildungen? Gibt es nicht. Zuerst waren sie auch nicht nötig, jetzt schon. Wir sollen auch gar nicht so gebildet auftreten, nicht urteilen, konstatieren, analysieren oder reflektieren, wir dürfen als Schutzgeister positive Energie verbreiten und die intuitiven Fähigkeiten unserer Schutzbefohlenen stärken. Kann ich mich darauf beschränken? Nein, und ich will es auch nicht. In unzähligen Mondmenschenleben habe ich viel zu oft als Journalist, Wissenschaftler und Kriminalist gearbeitet. Neugier ist meine Nummer 1. Neugier ist selbst laut der irdisch katholischen Kirche keine Todsünde wie Neid oder Hass und daher besteht auch keine Therapiepflicht. Das bestätigt auch das Komitee. Neugier verlangt nach Wissen, das Wissen will die Analyse, sehnt sich nach Wahrheit – wohl dem, der jede Wahrheit ohne emotionale Bewegung erträgt -. Darin übe ich mich. Ich will alles wissen und alles verstehen, aber ich möchte darüber nicht mehr die Fassung verlieren, wie beim Tod meines kleinen Mädchens. Ich will, ich gebe es vor mir selbst offen und ehrlich zu, einmal ein guter Pontifex werden, ein wahrer Brückenbauer, der die Geschicke der Welt mit konzentriertem Blick verfolgt, großzügig, gewaltfrei. Leben lassen, grenzenloses Vertrauen haben, Liebe fühlen, gerecht walten.

Ein- und Ausblicke

„Gori, könntest du bitte aus deinem Traum erwachen. Elisabeth fährt zurück nach Lübeck, weil sie zum Training muss. Morgen kommt sie wieder her. Sie haben sich verabredet. Mehr können wir nicht erwarten. Pass gut auf Alois auf. Er soll gleich nach dem Abendessen ins Bett gehen, und keine andere Frau kennenlernen. Hast du das verstanden?“ „Ja doch, tut mir leid, es ist mein erster Tag heute, ich bin noch nicht richtig in Form.“ „Schon gut, dann bis morgen.“ „Bis morgen, Tessa.“

Allein mit Alois, die quirlige Tessa und Versagensangst im Nacken. Was könnte ich mir mehr wünschen? Alois geht spazieren, setzt sich noch einmal auf die Bank, auf der er mit Elisabeth Reinhard gesessen hat. Nun steht sie im Schatten, da kann er sitzenbleiben. Er sitzt und sitzt und grübelt. Worüber wohl? Zeit vergeht. Na endlich, er steht auf, will wohl in sein Hotel. Richtig, wie nobel, es sind „Die Vierjahreszeiten“ mit Casino. Ob er wohl auch spielt? Na dann, auf in das Leben der schon wieder Betuchten. Der Portier ist bestimmt vornehmer als mancher Gast. Er grüßt Alois mit leichter Verbeugung, öffnet ihm die große Glastür, sehr elegant und überhaupt nicht buckelnd. Welche Pracht hier: Gold, Blinker an der Decke, viel Plüsch, blitzsauber, nicht mottig, Vorkriegsinterieur. Alois ist Sportsmann, nimmt die Treppe zwei Stufen auf mal. Er hat keine Suite. Das Zimmer ist auch plüschig. Er muss nicht gleich auf die Toilette, wie die Frauen immer. Er dreht im Badezimmer die Hähne an der Wanne auf, will wohl das Salzwasser der Ostsee abbaden. Die Abendgarderobe rauf aufs Bett: Hemd, Smoking? Ja, das muss wohl bei dem Standard des Hauses sein. - Alois, geh ins Bad, die Wanne ist voll, bitte, schnell -

Er tut es, dreht die Hähne zu, zieht sich aus. Badet, lässt sich Zeit, lächelt versonnen. Denkt er an Elisabeth, die ihm heute begegnet ist? Wird es mit ihnen weitergehen? Tessa kann es sich vorstellen. Passen sie überhaupt zusammen? Warum soll ich mir jetzt darüber Gedanken machen? Alois müsste doch Hunger haben. Hat er. Er steigt aus der Wanne, trocknet sich ab, zieht sich an, bindet sich die Schuhe zu, fertig, Blick in den Spiegel: - du siehst toll aus, Mann- Er lächelt sich an, ihm gefällt, was er sieht. Na, das mag ja heiter werden; es gibt da unten bestimmt jede Menge heiratslustige Damen, die Alois blickkontaktliche Avancen machen werden. Nach Kriegen ist das immer so. Nach jedem Krieg herrscht Frauenüberschuss. Wenn wir Alois an eine andere Frau verlieren sollten, können Tessa und ich das bedauern, was wir gar nicht dürfen, weil das zu menschlich ist. Ändern können wir es nicht. Habe ich mich tatsächlich so schnell für Alois entschieden? Ich bin Wahlschutzgeist, das Komitee wird mich in wenigen Stunden dazu befragen. Der Speisesaal: Ich muss mir alle Frauen anschauen. Keine ist so schön wie Elisabeth. Was für ein Glück! Alois geht auf einen Tisch zu, der ihm wohl zugedacht ist. Da sitzt ein älteres Paar, ein Schutzgeist ist bei ihnen, einer für zwei. Das wird oft so vom Komitee gemacht. Schutzgeistmangel. Sie lächeln Alois an, sie kennen sich.

„Einen schönen guten Abend, gnädige Frau.“

Wieder „gnädige Frau“ und dann Handkuss, raffiniert.

„Auch ihnen einen guten Abend, Herr Kramer.“ „Das wünschen wir ihnen auch, Herr Hausner und, wie es aussieht, haben sie ausgiebig die Sonne genossen.“

Sie plaudern, sollen sie. Ich will freundlich zu ihrem Schutzgeist sein.

„Hallo, ich bin Gori“, „Jam.“

Oh je, das war es auch schon mit der Konversation. Jam meditiert, der will nicht reden. Womit kann ich mich unterhalten? Mit dem Anblick der Herrschaften im Speisesaal? Es wird ausschließlich große Abendgarderobe getragen: die Herren haben schwarze Anzüge oder Smoking angelegt, die Damen Roben mit mehr oder weniger schönem Dekolleté. Wer hat, der zeigt. Kellner bewegen sich diskret, legen geschickt vor, schenken gekonnt Wein nach. Alois löffelt eine klare Ochsenschwanzsuppe. Ich weiß, wie sie gemacht wird. Ich habe früher gerne gekocht und gegessen. Was hat Frau Kramer gerade Alois gefragt? Ich glaube, ob er wieder mit in die Piano-Bar will. - Kommt nicht in Frage, Alois, du gehst ins Bett! –

„Gnädige Frau, ich bitte um Verständnis, ich habe für mich einen Leseabend geplant.“

Meine Güte, was für eine gestelzte Sprache.

„Dafür habe ich aber wirklich Verständnis; darf ich mich nach ihrer Lektüre erkundigen?“

Frau Kramer scheint interessiert.

„Ja, gerne, ich habe mir die „Buddenbrooks“ vorgenommen. Ich kenne ausgerechnet dieses Buch von Thomas Mann noch nicht und verstehe es auch als Hommage an Lübeck.“ Schweigen, die Kramers bestürzt, täusche ich mich, wieso denn? Herr Kramer holt Luft, atmet aus und?

„Lieber Herr Hausner, wir müssen gestehen, dass wir die Liebe zu diesem Schriftsteller im Laufe der vergangenen Jahre eingebüßt haben.“ „Aha, und weswegen, wenn ich fragen darf?“ „Er lässt das Politisieren nicht. Er tut doch ganz so, als säße das deutsche Volk in einem Jammertal, wenn sie wissen, was ich meine.“ „Sie wollen auf sein Pauschalurteil hinaus, alle Deutschen seien am Krieg und dem Naziunrecht schuldig?“ „Da, sehen sie, sie sagen es. Das müssen wir uns 1950 doch nicht mehr anhören.“ „Herr Kramer, ich bin kein Hellseher, nur denke ich, dass wir uns von den jüngeren Generationen künftig noch viele Fragen anhören müssen. Wir sind momentan nicht in der Situation, uns auf das hohe Ross zu schwingen.“

Herr Kramer sieht irritiert aus.

„Dann trifft das Jammertal doch auf sie zu.“

Unfeine Bemerkung. Alois lächelt, wie wird er reagieren?

„Thomas Mann war nie ein Mann der Straße. Wieviel hat er von dem mitbekommen, was sich jahrelang im Überfluss in einfachen Familien abgespielt hat. Er ist rechtzeitig gegangen, musste keine Entbehrungen ertragen. Selbst wenn ich sage, dass er moralisch im Recht ist, besteht die Frage, ob es ihm zusteht, so zu urteilen. Zumindest finde ich es etwas arrogant.“ „Ja, Herr Hausner, das haben sie ganz trefflich formuliert. Das unterschreibe ich Ihnen sofort.“

Das Ehepaar Kramer nickt freundlich. Ein Kellner kommt, unterbricht das Gespräch. Alois nippt an seinem Wein. Ob er im Krieg war? Kann ich mir nicht vorstellen; er hätte sich erschießen lassen oder wäre auf eine Mine getreten. Na gut, ich kenne ihn noch zu wenig, aber, ich glaube, er ist mir jetzt schon sympathisch, seine Einstellung gefällt mir.

Was wird werden

Weit nach Mitternacht, das Komitee hat sich gerade von mir verabschiedet, lächelnd, wohlwollend, sehr zufrieden mit meiner Entscheidung. Und ich bin über meine Wahlschutzgeistfunktion heilfroh. Ich hätte den Alois Hausner mit kurzer Begründung ablehnen können; daraus wären mir keine Nachteile erwachsen. Mir wäre ein anderer Auftrag vermittelt worden. Das Komitee wünscht keine ausgeprägten mondmenschlichen Gefühle; lehnt aber unsere Zufriedenheit nicht ab, weil wir deshalb weniger Fehler machen. Für das Komitee zählen ausschließlich positive Ergebnisse. Ich bin mit Alois vorerst zufrieden. Er kommt mir ehrlich vor und formuliert trotzdem diplomatisch; seine Antworten und Einwände im Gespräch mit dem Ehepaar Kramer haben mich von ihm überzeugt. Jetzt schläft er tief und fest. Tessa, ich freue mich über Tessa. Ja, sie hat kleine Macken, redet gerne über Sex und so, was ich nicht mag, seit mein Körper kein Verlangen mehr zeigt. Außerdem ist sie mitunter etwas ... wie soll ich sagen, sie ist zweifellos klug, trotzdem ist sie manchmal etwas naiv. Dann geht sie mir ziemlich auf den Wecker. Habe ich alles schon mit ihr erlebt. Aber sie sieht auch toll aus, klein und zierlich, schwarze Haare zum Bob geschnitten, sehr helle Haut, dunkelbraune Augen, schmale Nase, volle Lippen, hohe Wangenknochen, sie trägt ein gelbes Schneiderkostüm mit weißen, sehr hochhackigen Schuhen. Sie muss, ähnlich wie ich, mit etwa 45 Jahren abberufen worden sein.

Der Tag nach dem ersten mit Alois

Morgens, es ist 7 Uhr. Die Sonne strahlt vom blauen Himmel. Alois erwacht. Er springt aus dem Bett, was hat er vor? Er findet seine Badehose, greift sich Handtuch und Bademantel, streift sich Badeschuhe über. Aha, es geht wohl an den Strand. - Nimm den Zimmerschlüssel mit, Alois - Er stutzt an der Tür, sein Schlüssel, wo? - Der steckt in deiner Hosentasche -. Er sucht seine Hosentasche ab, findet den Schlüssel. Raus aus dem Zimmer, rein ins Badevergnügen. Alois ist die Wonne anzusehen, die er jetzt empfinden muss: bettwarmer Körper trifft kühles Nass. Verschwindet darin, taucht wieder auf. Erfrischung pur von der Zehenspitze bis unter die Haarwurzel; fast ein halber Orgasmus. Die Klarheit hinter der Stirn danach. Alois schwimmt.

Der Vormittag verging gemächlich mit Frühstück, Spaziergang durch Travemünde, einem erneuten Bad und schließlich Umziehen im Hotelzimmer zum Mittagessen. Die Kramers blieben unsichtbar, gut so. Keine erneute Diskussion. Um 14 Uhr 50 wird Elisabeths Zug im Bahnhof Travemünde eintreffen; ich bin gespannt, ob Alois sie abzuholen gedenkt.

Wir sitzen hier im Speisesaal herum, als hätten wir unendlich viel Zeit. Es ist schon 14 Uhr 15. -Alois, schau mal auf die Uhr - Na also, er tut es, trinkt den Rest Kaffee aus, springt auf. Hoch ins Hotelzimmer, Anzug aus, zieht sich seine Shorts von gestern über die

Badehose und nimmt ein frisches weißes Hemd. Er greift sich ein Handtuch, steckt ein Taschenmesser ein. Was will er damit? Im Brügmanngarten. Wieso schaut er sich immer wieder um. Wieso macht er das? Kein anderer Mensch ist zu sehen. Er holt das Taschenmesser aus der Hosentasche, schneidet blitzschnell eine rosa Rose ab. Das ist nicht wirklich fein aber auch verwegen. Federnden Schrittes geht es weiter, der Bahnhof ist erreicht. Der Zug aus Lübeck fährt ein. Tessa winkt mir zu. Alois hebt die Hand, winkt Elisabeth zu. Jetzt stehen sie voreinander und schütteln sich die Hand. Elegant wird die geklaute Rose überreicht. Der Zweck hat schon immer das Mittel geheiligt. Frau Reinhard freut sich und Tessas Gesichtsausdruck könnte als selbstzufrieden beschrieben werden.

Elisabeth

„Gori ich habe Einsicht in die Personenakten unserer beiden Schützlinge bekommen.“ „He, wie geht so was denn?“ „Ja, das ist eine Frage der richtigen Beziehung. Mein letzter Mondmensch-Ehemann leitet das Sekretariat des Komitees. Hast du das vergessen?“ „Wo du es jetzt sagst, nee.“ Willst du zuerst über Elisabeth etwas erfahren?“ „Beginnen wir mit ihr.“ „Elisabeth wurde am 9. August 1916 als Tochter des Goldschmiedeehepaares Agnes und Herbert Meins in Hagen geboren. Das Paar lebte und arbeitete im Haus von Ingrid Bollnitz, Agnes Mutter, die früh verwitwet ebenfalls als Goldschmiedin tätig war. Mit fünf Jahren bekam Elisabeth Ballettunterricht. Vater, Mutter und Großmutter waren tolerant und politisch liberal. Das Kind wuchs in einer liebevollen und offenen Atmosphäre auf. Dann passierte die Katastrophe. Am 31. Juli 1923 befanden sich Elisabeths Eltern auf Geschäftsreise im Zug von Hamburg nach München. Um 4 Uhr morgens übersah der Zugführer ein Haltesignal und fuhr im Bahnhof von Kreinsen mit voller Reisegeschwindigkeit auf den Vorzug, der dort wegen eines Motorschadens stand, auf. Beide Eltern gehörten damals zu den achtundvierzig Toten.“ „Tessa, das ist ja unglaublich, ich war dabei.“ „Erzähl!“ „Ich war für einige Jahre Schutzgeist von Gerhard Domagk, weißt du, das ist der berühmte Bakteriologe, der seinen Nobelpreis wegen der Nazis nicht annehmen durfte, weil er Reichsdeutscher war. Jedenfalls bekam ich einen sicheren Tipp wegen des bevorstehenden Unfalls. Der Zug stand in Kreinsen. Jetzt bringe einen jungen ehrgeizigen Wissenschaftler dazu, die Arbeit zu unterbrechen und Intuition zu empfinden. Es ging gar nicht. Mir fiel nichts Besseres ein: ich habe meine ganze Energie auf seinen Gaumen konzentriert. Endlich bekam er Durst und stieg aus dem Zug, um sich etwas zu trinken zu kaufen. kurz danach knallte es.“ „Du warst das, Gori, das war ein Meisterstück. Ich hatte davon gehört, weil alle Schutzgeister davon sprachen, leider aber deinen Namen nicht kannten.“ „Kurz und gut Tessa, ich erhielt einen Belohnungsurlaub und dann einen neuen Schützling. Bitte, berichte weiter über Elisabeth.“ „Elisabeth blieb bei ihrer Großmutter. Beide waren längere Zeit schwer erschüttert, aber stabil genug, sich nicht aus der Lebensbahn werfen zu lassen. 1933 verließ Elisabeth mit Mittlerer Reife das Lyzeum und legte wenig später ihre Tanzprüfung ab. Sie bewarb sich am Theater in Hagen und wurde engagiert. Das war ein Glücksfall für Großmutter und Enkelin, die sich nicht trennen mussten. Bis 1936 verlief ihr Leben regelmäßig. Dann lernte sie den Geiger Franz Reinhard kennen. Die beiden verliebten sich ineinander und heirateten 1938. Das Glück sollte nicht lange währen. Franz erkrankte an Leukämie und starb 1940. Die Ehe blieb kinderlos. Elisabeth, untröstlich, wollte aus Hagen weg. Während einer Gastaufführung in Leipzig, wurde sie von einem Münchner Choreographen gesehen, der sie abwarb. 1941 zog sie nach München. Aus der Personenakte geht hervor, dass sie große Erfolge als Solistin ertanzte. Als die Großmutter während eines Besuches in München einem Herzinfarkt erlag, beschloss Elisabeth nach Hagen zurückzukehren, nicht zuletzt um ihr Erbe zu ordnen. Das hatte der langjährige Anwalt der Familie bereits erledigt und Pachtverträge, Mietverträge, sprich: der ganze Papierkram war geordnet. Elisabeth war eine wohlhabende Frau und ist es auch heute noch. Sie ist also weder auf einen reichen Gönner angewiesen noch muss sie eine Versorgungsehe eingehen. Das habe ich nicht gewusst. In der Folgezeit hat sie als Gastsolistin in Hagen getanzt und auch in Hamburg und Lübeck. Als der Krieg vorbei war, und irgendwann die Theater wieder öffneten, nahm Elisabeth Ende 1946 ein Engagement in Lübeck an. Ich habe Elisabeth auch erst vor zwei Monaten übernommen, weswegen ich wenig über sie weiß; mein Ex hatte Urlaub und aus dem Grund kam ich nicht an ihre Personenakte heran.“ „Sehr gut, Tessa, jetzt sehen wir deutlich klarer. Wenn sich Elisabeth für Alois interessiert, dann nicht aus pekuniären Gründen. Das ist für mich eine großartige Neuigkeit.“

Wie wahr, ich würde Tessa bestimmt nicht unterstützen, wenn Elisabeth finanzielle Interessen an Alois hätte. Ich bin kein Oberhirte meiner Schützlinge; aber, wenn ich mich als Schutzgeist für eine Person entscheide, bin ich ihr gegenüber loyal.

„Heute bin ich Magnesium gesichert, Herr Hausner, und ich freue mich aufs Schwimmen.“ „Das kann ich gut nachvollziehen, dieses Vergnügen habe ich mir noch vor dem Frühstück gegönnt. Das Wetter ist wirklich wie im Süden.“ „Was ist für sie der Süden?“

Elisabeth sieht Alois fragend an.

„Meine Frau und ich waren mit den Kindern - komisch, Melvis sprach von nur einem Kind - früher oft am Gardasee.“ „Das bietet sich für Bayern ja auch an, schade, ich habe es nie geschafft einmal dort hinzukommen. In den Ferien bin sofort nach Hagen zu meiner Großmutter gefahren, die immer noch ihr Geschäft führte. Sie hat es erst 1943 verpachtet und bitter bereut. Ich glaube, sie hätte länger gelebt, wenn sie weitergemacht hätte.“ „Warum hat sie es getan?“ „Das war eine etwas undurchsichtige Geschichte, lieber Herr Hausner. Meine Großmutter wollte das Geschäft aus Altersgründen schon gerne abgeben, aber weiterhin als Goldschmiedin arbeiten und ihre Schmuckstücke durch den neuen Pächter verkaufen lassen. Das ging am Anfang gut. Nach einer Weile passten ihre Arbeiten angeblich nicht in das Sortiment, und erschienen nicht mehr im Schaufenster, ständig war ihr Arbeitsplatz belegt, kurz, sie ist ausgebootet worden. Rechtlich konnte sie nichts machen, weil die Absprache nur mündlich getroffen war. Als ärgerlich für sie erwies sich, dass sie deshalb dem neuen Pächter einen günstigeren Vertrag für fünf Jahre zubilligte. Ihre Planung hatte ja so ausgesehen, die Differenz zur eigentlichen Pachtsumme selber zu erwirtschaften. Jetzt sah sie sich ihrer schöpferischen Tätigkeit beraubt und finanziell hintergangen. Das war keine gute Mischung für sie. Sie sah sich um ihren Lebensabend gebracht.“ „Das kann ich persönlich gut nachvollziehen, ich bin selber gerade auf der Suche, was ich mit mir beginnen soll.“ „Sie sind doch noch viel zu jung, um an einen Lebensabend zu denken.“

Alois lacht.

„Sollte man meinen. Ich sehe es etwas anders. Mein Sohn ist fünfundzwanzig und mit Leidenschaft Bierbrauer. Er ist absolut tüchtig und umsichtig, er wirtschaftet und organisiert mindestens so gut wie ich und hat jede Menge gute Ideen. Unser Betrieb verkraftet keine zwei Chefs. Ich bin dort völlig überflüssig.“ „Sie haben eine Bierbrauerei?“ „Ja, es ist ein Familienbetrieb. Die künftige Chefin gibt es auch schon. Es ist die Tochter unseres besten Hopfenlieferanten. Die Kinder kennen sich seit jeher, sie wollten nie etwas anderes, als diese Verbindung.“ „Und sie sind allein und fühlen sich jetzt auch ein wenig ausgebootet?“ „Ich sollte stattdessen froh und glücklich sein, nicht wahr?“

Alois

Sie sind jetzt im Wasser und schwimmen, Tessa und ich haben uns gegenseitig unsere Betroffenheit eingestanden und schauen ihnen zu. Ich muss Tessa sagen, was ich gerade denke:

„Tessa, wir haben es mit zwei demnächst Beschäftigungslosen zu tun, die auf Betätigungssuche sind. Alois taugt nicht zum Seniorchef und Elisabeth sieht das Ende ihrer Tanzkarriere vor Augen.“ „Ja, so ist es. Ich bin gespannt, was die beiden aus der Situation machen.“ „Wie findest du Alois?“ „Ich glaube, er ist ein Mensch, der es nie nötig gehabt hat, etwas anderes zu sein, als er selbst. Er ist Alois Hausner, der Bierbrauer, der Bierbrauereiinhaber.“ „Richtig, du kennst seine Personenakte.“ „Ja, am 7. Juli 1901 geboren, blieb er einziges Kind seiner Eltern. Sicherlich zur Freude des Vaters, wuchs er in den Bierbraubetrieb von frühster Kindheit hinein. Es gab für ihn nie einen anderen Berufswunsch als den des Bierbrauers. Er lernte das Handwerk vom Vater und auch vom Großvater, der gerne half, wenn er gefragt wurde.“

„Entschuldige, hast du gesagt, wenn er gefragt wurde?“ „Ja, Gori, er war offenbar ein Mensch, der sich gut zurückhalten konnte und sich nicht ungefragt einmischte. Das nenne ich den idealen Seniorchef. Alois, das Einzelkind, wurde von Mutter und Großmutter sehr verwöhnt. Er bekam die schönsten Spielsachen und die besten Fahrrä- der, die es auf dem Markt gab. Seiner frühen Liebe zur Bierbrauerei mag es zu verdanken sein, dass er sich nicht zu einem egoistischen Tyrannen entwickelt hat. Rein theoretisch beherrschte er das Handwerk, bevor er eingeschult wurde. Nach Abitur und Lehre heiratete Alois mit zweiundzwanzig Jahren seine Louisa, die er in der Kreisstadt kennengelernt hatte. Ihre Eltern besaßen eine Apotheke und Louisa half in den Semesterferien im Verkauf. Sie verkaufte ihm Aspirin, Alois ließ sein Herz zurück. Mit Erfolg. Wenige Tage nach ihrem Examen als Grundschullehrerin wurde Hochzeit gefeiert. Schnell kam die Tochter zur Welt, knapp zwei Jahre später der Sohn. In der

Personenakte steht, dass die Ehe bis zum Tod Louisas gut und stabil gewesen sein soll. Sie starb an Tbc. Da, sie kommen aus dem Wasser.“ „Das war ganz köstlich, Herr Hausner, so warm war die Ostsee schon lange nicht mehr.“ „Der Gardasee ist zwar wärmer im Sommer, aber sie haben recht, köstlich ist genau der richtige Ausdruck. Was meinen sie, haben wir uns einen Eisbecher im Casinogarten verdient?“ „Unbedingt.“

Gespräche und mehr

Ihre Unterhaltung stockt. Kein Wunder. Ohne Umkleidekabine nasse Badesachen unter Handtüchern auszuziehen, sich abzutrocknen und trockenes Zeug wieder anzuziehen, ist mühsam und schweißtreibend. Endlich fertig, gehen sie mit Schuhen in der Hand den Strand hinauf zur Promenade, suchen die nächste Bank. Jetzt den feinen Sand von den Füßen bekommen. Geschafft. Sie plaudern leise, erreichen ihr Ziel und suchen sich einen Platz unter einem der Sonnenschirme.

„Mögen sie Ihr Eis mit oder ohne Sahne, Frau Reinhard?“ „Selbstverständlich mit, wenn ich schon sündige, dann richtig. Es gibt heute Abend nichts mehr.“ „Sie Ärmste, apropos Sahne: haben sie zufällig gelesen, dass es den Konditoren neuerdings nur mit Konzession gestattet ist, Sahne außer Haus zu verkaufen?“ „Alle Konditoren verkaufen Sahne außer Haus, das war immer schon so.“ „Ja, bis ein missgünstiger Konditornachbar einen Paragraphen von 1930 entdeckte, der besagt, Sahne außer Haus nur mit gültiger Konzession verkaufen zu dürfen. Jetzt drohen dreißig DM Buße oder ersatzweise sechs Tage Gefängnis. Diese Sahneschlacht ist noch nicht vorüber.“

Elisabeth lacht ein schönes Lachen:

“Besser eine Sahneschlacht als jene in Korea und jetzt soll die Bundesrepublik auch wieder remilitarisiert werden. Könnten wir nicht neutral bleiben?“ „Neutral können wir nicht bleiben, weil wir es nicht sind. Dafür sind wir Besatzungsgebiet und dazu auf vielfache Weise abhängig. Ich sage ihnen ganz aufrichtig, ich persönlich wünsche für unseren Staat nicht, dass er ein schutzloses Bollwerk zwischen Amerika und Sowjetunion abgibt. Wenn Bollwerk, dann wehrhaftes.“ „Komisch, irgendwie dachte ich, sie seien auch Pazifist.“

Jetzt lacht Alois ebenso laut und herzlich.

„Ich bin es auch, aber die Bundesrepublik sollte es nicht sein.“ „Aber, Herr Hausner, das ist ein glatter Widerspruch. Wir sind die Bundesrepublik.“ „Ich widerspreche ihnen nicht, möchte ihnen stattdessen ein Beispiel nennen: Gestern Abend ergab sich mit dem Ehepaar, an dessen Tisch ich sitze, beinahe ein kleiner Disput. Es ging um Thomas Mann, dessen Erstling ich zurzeit lese und seiner Aussage, wir Deutschen seien kollektiv schuldig am Krieg und den Nazi-Gräueltaten. Ich habe das Gespräch abgebogen. Schließlich einigten wir uns dahingehend, die Aussage etwas arrogant zu finden. Was ich damit jetzt sagen will, ist folgendes: Ob ich als Person für oder gegen etwas bin, ist unwichtig, weil ich Teil des Kollektivs bin. Und das Kollektiv freut sich über Siege, Nobelpreise, Fußballtore – dann sind alle Einzelwesen gerne WIR. Nur, wir sind auch dann WIR, wenn es um die hässlichen Dinge des Lebens geht. Das ist eine Frage des Anstandes, finde ich.“ „Und eine andere Sichtweise gibt es für sie nicht?“ „Mögen sie zu denjenigen Mitbürgern gehören, die sich heute hinstellen und sagen, wir wollten das alles nicht, wir waren dagegen oder, wir haben ja nicht gewusst, was da alles so passiert ist. Nein, Frau Reinhard, ich denke, diese unsere politisch verantwortliche Generation, kann sich nicht für schuldfrei erklären.“ „Jetzt haben sie mich nachdenklich gemacht. Wie sind wir überhaupt auf das Thema gekommen?“ „Über Sahne und Pazifismus.“ „Ach ja.“

Elisabeth schaut auf ihre Uhr.

„Es wird langsam Zeit für mich.“ „Ich würde sie gerne zum Zug begleiten?“ „Das würde mich freuen, sagen sie, was halten sie davon, sich morgen Vormittag von mir Lübeck zeigen zu lassen? Ich würde sie um 10 Uhr vom Bahnhof abholen?“ „Mit dem größten Vergnügen, wenn sie mich nicht gefragt hätten, hätte ich es noch getan.“ „Jetzt lock mir doch einer die Katz, Tessa, was war das denn, ein Kennenlerneinführungsgespräch?“ „Geklungen hat es jedenfalls nach einer moralphilosophischen Grundsatzerklärung. Beruhige dich, Gori, sie unterhalten sich jetzt ganz normal über Alois Heimatort.“ „Ja, das ist wirklich beruhigend.“

Der Zug fährt ab, Tessa und Elisabeth sind fort. Alois geht zum Hotel, fragt an der Rezeption nach Post; er hat keine bekommen. Sportlich geht es wieder die Treppe hoch. Im Hotelzimmer greift er nach dem Buch, geht auf den Balkon und liest. Schade, die Buddenbrooks kenne ich, die muss ich nicht noch ein drittes Mal lesen. Wieso liest Alois Thomas Manns Hauptwerk erst jetzt? Seltsam, das hat er sich doch nicht bewusst für die Reise nach Lübeck aufgespart. Ich werde es wohl nie erfahren. -Es wird langsam Zeit, sich für das Abendessen umzukleiden, Alois, schau mal auf die Uhr! - Na endlich, er steht auf, geht ins Bad. Heute braust er sich nur ab. Abtrocknen, Smoking an, zufriedener Blick in den Spiegel. Runter in den Speisesaal. Gleiches Prozedere wie am Vorabend. Die Kramers sitzen bereits am Tisch. Alois grüßt, nimmt Platz. Höflichkeitsgeplaudere und eifrige Suche in der Speisekarte.

„Ich wähle heute Abend etwas Leichtes für mich.“

-Schön Alois, Elisabeth will fasten-. Kramers nicken:

„Wir auch, wir haben vorhin einen großen Eisbecher genossen.“ „Sie auch?“

Wie erfreulich, so viel Einigkeit. Herr Kramer bestellt für sich und seine Frau gemischten Salat und Forelle Müllerin Art. Alois will Tomatensalat und Seezunge. Alle drei nehmen Weißwein. Friedliche Stimmung unter der Mahlzeit, die Salate gegessen, die Fische verspeist. So geht es doch auch. Nur kein erneutes politisches Thema heute Abend. Alois trinkt seinen Wein aus, verabschiedet sich, geht. Von der Bar nimmt er sich ein Bier mit aufs Zimmer, liest. Um 23 Uhr beendet er den Tag. Ich schalte meine Gedanken ab, fühle Frieden.

Fremdgeschehen

5. August? Ja. Früh ist es, 6 Uhr 30. Alois erwacht, springt aus dem Bett, Toilette, Badehose. Also wieder Morgenschwimmen, es ist noch kein Mensch am Strand. Mein Schützling geht nicht ins Wasser, legt Handtuch, Bademantel, Schuhe in den Sand. Er läuft zügig Richtung Brodtner Ufer. Die Promenade liegt hinter uns. Hier ist es landschaftlich, wie heißt es umgangssprachlich so schön? - ursprünglich. Das bedeutet, es wird weder aufgeräumt noch geharkt. Angeschwemmtes Strandgut liegt überall herum, Hundenachlässe, Butterbrotpapier, Zigarettenkippen. Noch etwas weiter beginnt die Steilküste. Der Strand ist schmal geworden, verziert mit viel Felsgestein. Huch, ein Schrei. Lang, anhaltend, dann Stille. Was war das denn? Alois bleibt stehen, erschrocken, so wie ich. Jetzt läuft er in Richtung des gehörten Schreies los. Da, wer kommt uns entgegen? Ich traue kaum meinen Augen: Melvis.

„Hierher, sie ist ohnmächtig.“

Melvis ist sehr aufgeregt. Keine Zeit für Fragen und Erklärungen. Da liegt eine Frau an einem Felsen auf dem Bauch: Die rechte Kopfseite blutig, der linke Arm nach vorn gestreckt, der rechte Arm unter dem Oberkörper. Alois ist jetzt bei ihr, kniet nieder, prüft ihren Puls.

„Hallo, können sie mich hören?“

Sie reagiert nicht, aber sie atmet. Etwas mühsam, ziemlich ungeübt bringt er die große etwas füllige Frau in stabile Seitenlage. -Gut gemacht, Alois-

„Diese Wuchtbrumme kostet Nerven, aber sie ist toll. Sie singt Mezzosopran, göttlich. Sie ist ein Vulkan. Alois ist mir in der letzten Zeit etwas langweilig geworden. Das jetzt, hätte natürlich nicht passieren dürfen, ich habe sie noch nicht so ganz gut im Griff.“

Melvis wirkt zerknirscht, verwirrt? Irgendwie ja.

„Und was soll jetzt mit deinem Vulkan passieren, hier ist doch weit und breit kein Mensch, der Hilfe holen könnte?“ „Doch, es kommt gleich einer, ich habe ihn schon gesehen, keine Sorge. Es ist ein alter Herr, der Steine sammelt.“

Melvis hat recht, da kommt er. Alois sieht ihn auch:

„Bitte, mein Herr, können sie mir helfen?“

Der Herr hört nicht, der Herr hat schwache Ohren, kein Schutzgeist ist zu sehen, der ist bestimmt bei seiner Frau.

Alois springt auf, läuft zu ihm.

„Guten Morgen. Bitte, können sie mir helfen?“ „Ihnen auch, Guten Morgen, was gibt es denn?“ „Eine Frau ist wohl den Steilhang herabgestürzt und liegt verletzt da drüben. Ich möchte sie bitten, bei ihr zu bleiben, damit ich Hilfe holen kann. Sie ist ohne Besinnung, wenn sie hier ganz allein erwacht, wird sie Angst bekommen.“ „Na ja, ich will kein Unmensch sein, sie müssen sich aber ein bisschen sputen, weil meine Frau mit dem Frühstück wartet, die kriegt auch Angst, wenn ich nicht pünktlich bin.“ „Danke!“

Alois rennt los, schnell ist er, zurück gehts nach Travemünde. Mein armer Schützling keucht, das Tempo ist etwas zu heftig. Er geht im Schritt weiter. Die Promenade rückt näher. Was sehe ich da? Besser kann es nicht kommen: eine grüne Minna mit zwei Polizisten. Die haben Schutzgeister, die wie Türsteher aussehen. -Alois, verliere keine Zeit, ran an die Uniformierten! -

Macht er. Erzählt vom Unfall. Die Herren Polizisten teilen sich auf, einer greift sich den Verbandskasten aus dem Kofferraum, der andere braust mit der Minna davon. Der Polizist heißt Beck und ist Oberpolizeimeister oder Polizeiobermeister. Alois hat sich ebenfalls vorgestellt.

„Haben sie den Unfall sehen können?“

Herr Oberpolizeimeister Beck sieht Alois fragend von der Seite an.

„Ich habe nur den langen Schrei gehört.“ „Na, besser als gar nichts. Sie haben sie jedenfalls gefunden. Und wenn sie mich fragen, die Dame hätte ohne sie schlechte Karten gehabt, wer weiß, wann sie sonst mal entdeckt worden wäre.“

Mein Alois schweigt betreten. Wir nähern uns dem Unfallort. Melvis winkt mir zu:

„Der Vulkan ist erwacht und spuckt.“

Lava ist es nicht, nur das Abendessen kommt wieder hoch.

„Melvis, sie hat bestimmt eine Gehirnerschütterung, du musst sie beruhigen.“ „Ach so, ja? Na klar, Gori, geht sofort los.“

Na hoffentlich, Melvis kommt mir sehr seltsam vor.

Der alte Herr sagt ärgerlich, ihm sei jetzt der Frühstücksappetit verdorben. Der Herr Oberpolizeimeister Beck will die Dame zum Unfallhergang befragen, was ihm nicht gelingt, weil ihr schlecht ist. Alois bittet um ein Taschentuch für sie, was er nicht bekommt. Sie hat aber selber eins und zieht es aus der Jackentasche. Alois geht damit zum Wasser, macht es nass. Zurück bei der Dame betupft er ihr das Gesicht und wischt ihr den Mund ab. Dem Türsteherschutzgeist von Oberpolizeimeister Beck gelingt, was Melvis versagt bleibt. Er beruhigt den Magen der Dame. Der alte Herr will nach Hause, was ihm gestattet wird; seine Personalien stehen im Polizeinotizblock. Der Dame ist nicht mehr schlecht.

„Margot Müller, Opernsängerin.“

Na, das ist doch toll. Oberpolizeimeister Beck sieht zwei Sekunden beeindruckt aus:

„Wo treten sie auf?“

Er kennt sie nicht, er geht wohl nicht ins Lübecker Theater. Alois scheint erfreut, fragt eben mal Frau Müller, ob sie Frau Reinhard kennt.

„Selbstverständlich, wir vom Theater sind eine große Familie, und Frau Reinhard und ich sind befreundet.“

Alois sieht verlegen aus. Bestimmt überlegt er, was er sagen soll, wenn er gefragt wird, woher er Elisabeth kennt. Sie fragt aber nicht, woher er sie kennt, klagt stattdessen über starke Kopfschmerzen, die nachvollziehbar sind.

Draußen auf See wird ein Rettungsboot sichtbar, das kommt näher. Drei Personen steigen mit ihren Schutzgeistern in ein Beiboot und rudern zu uns rüber. Herr Oberpolizeimeister Beck befragt Frau Opernsängerin Margot Müller zu ihrem Familienstand. Zwei Sanitäter verlassen das Beiboot und waten durch das Wasser. Der dritte Mann steigt aus, zieht es ans Ufer. Die Formalitäten sind geklärt. Die ehefreie und kinderlose große und etwas füllige Dame wird von den Sanitätern zum Beiboot geführt, Melvis erscheint mir ungemein bedrückt. Es ist 8 Uhr 45 Uhr, Alois und Polizeiobermeister Beck gehen zusammen den Weg zurück in Richtung Promenade. Ich muss unbedingt Tessa informieren. Ich weiß, wo sich Elisabeths Wohnung befindet. Tessa sieht Elisabeth beim Frisieren zu.

„Tessa, wir haben ein Problem.“ „Bitte nicht, kein Problem, Elisabeth freut sich so, was für ein Problem? Doch nicht mit Alois, was ist mit ihm?“ „Er wird nicht pünktlich kommen können, die Verabredung wird platzen.“ „Will er nicht oder kann er nicht?“ „Ist dir Frau Margot Müller schon mal begegnet?“ „Ja sicher, sie ist eine ganz großartige Sängerin und mit Elisabeth eng befreundet, was soll das heißen, Gori, was hat Alois mit Margot zu tun?“ „Er hat sie heute Morgen sozusagen gerettet, weil sie von der Steilküste rutschte und sich den Kopf aufschlug. Alois hörte ihren Schrei und lief zu ihr. Er hat sie erstversorgt, einen Helfer bei ihr zurückgelassen, die Polizei alarmiert, die ihrerseits die Küstenwache verständigte, weil ein Transport auf dem Landweg wegen der Unwegsamkeit nicht möglich war. Ein Polizist kam mit ihm mit. Dann haben sie zusammen bei der Verletzten auf ihren Abtransport gewartet. Jetzt geht Alois gerade in Richtung Hotel zurück, ist aber noch weit davon entfernt. Niemals wird er den Zug pünktlich erreichen. Und er hat auch ihre Adresse nicht, weil Elisabeth ihn von der Bahn abholen will, somit ist auch keiner von beiden auf die Idee gekommen sie abzufordern oder bekannt zu geben. Was nun?“ „Spontan fällt mir da wirklich nichts ein, das ist richtig kompliziert, findest du nicht auch?“ „Ja, Tessa, es ist kompliziert, deswegen bin ich zu dir gekommen. Wenn dir jetzt nichts einfällt, gehe ich zu Alois zurück und sage dir später, was werden wird.“

„Ach, sagen sie mal, Herr Beck, gibt es noch eine andere Möglichkeit als mit der Bahn nach Lübeck zu kommen?“

Alois sieht den Herrn Oberpolizeimeister fragend an. Der schüttelt mit dem Kopf:

„Nee, momentan fahren keine Busse, ich habe aber gehört, dass so was geplant wird. Fragen sie das für sich?“ „Ja, ich bin um 10 Uhr im Bahnhof von Lübeck verabredet.“ „Das schaffen sie nicht. Ist sie hübsch?“

Alois lacht, schön, dass er das noch kann.

“Ja, sehr sogar. Leider habe ich ihre Adresse nicht und damit keine Möglichkeit, sie zu erreichen.“ „Passen sie mal auf, Herr?“ „Hausner.“ „Herr Hausner. Es heißt: die

Polizei dein Freund und Helfer, nicht wahr?“ „Ja.“ „Genau. Ich mache ihnen einen Vorschlag: Sie gehen ins Hotel, ziehen sich an und um 9 Uhr 30 stehen wir vor dem Hotel, sie steigen zu uns ein, und wir fahren sie direkt zum Lübecker Bahnhof.“ „Aber so viel Großzügigkeit kann ich gar nicht annehmen.“

-Alois, halte doch den Mund und lass dir Gutes tun! -

„Wir müssen wichtige Akten nach Lübeck fahren, Herr Hausner und sie kommen einfach mit. “Danke, vielen Dank.“

Alois ist selig, nennt sein Hotel, sprintet davon. Ich müsste Tessa sagen, dass doch alles in Ordnung kommt.

Lübeck

Herr Polizeimeister Kühl fährt unter Vernachlässigung der Geschwindigkeitsregeln. Darf er auch, weil er Blaulicht hat, glaube ich jedenfalls. Es geht zügig voran. In dem VW-Käfer ist es sehr warm, alle Herren transpirieren. Alois Blässe unter der Bräune ist auf einen ausgeprägten Hungerzustand zurückzuführen. Sein Blutzuckerspiegel befindet sich ganz bestimmt im Keller. Das Frühstück fiel aus. Die beiden Türsteherschutzgeister sind momentan abwesend. Sie sitzen auf dem Dach, die sehen wohl keine Gefahr. Ich gebe dem Fahrer Energie und akzeptiere Alois Blässe. Auf dem Bahnhofsplatz in Lübeck endet die rasante Fahrt sportlich mit quietschenden Reifen. Das Blaulicht wird abgestellt. Alois verabschiedet sich herzlich von den beiden Polizeibeamten, die ihn wie die Pfadfinder anstrahlen, weil sie die gute Tat des Tages vollbracht haben. Elisabeth und Tessa kommen schnellen Schrittes über den Platz, sie sind spät dran, der Zug aus Travemünde fährt gerade ein. Alois schaut sich um, erkennt Elisabeth.

„Frau Reinhard, guten Morgen, wie sie sehen, blieb mir der Zug erspart.“ „Ja, guten Morgen, Herr Hausner, sie haben sicher etwas zu erzählen.“ „Und ob, darf ich vorher einen Vorschlag machen? Ich habe noch nicht gefrühstückt und bin hungrig wie ein Löwe. Wollen sie uns zuerst dahin führen, wo sich die Mahlzeit schnellstens nachholen ließe?“ „Haben sie schon mal den Namen „Niederegger“ gehört, berühmt wegen seines Marzipans und seiner vorzüglichen Gastlichkeit?“ „Habe ich, also auf ins „Niederegger“. „Und wie kam es, dass die Polizei sie nach Lübeck fuhr?“

Alois berichtet. Danke sehr, wir kennen die Geschichte.

„Tessa, wie könnt ihr Frauen auf so hohen Schuhen so schnell und anmutig gehen, nie werde ich das verstehen.“ „Ach, Gori, erstens ist das Übung und zweitens sieht es schick aus. Ist das jetzt ein Thema für dich? Lass uns lieber den Einfall deines Alois loben, den Polizisten wegen einer Fahrmöglichkeit nach Lübeck zu befragen, und die Polizisten für ihr großherziges Beispiel echter Mitmenschlichkeit.“ „Gut, gut, so soll es sein. Die Situation hat sich bestens aufgelöst. Mir geht Melvis nicht aus dem Kopf. Sein ganzes Benehmen und Verhalten hatte etwas zu ‚menschlich aus der Bahn geworfenes‘ an sich, er kam mir überfordert vor, Tessa.“ „Margot überfordert alle und jeden, auch jeden Schutzgeist. Keiner hält es lange bei ihr aus. Gutmütige würden ihr ein beträchtliches Temperament zubilligen, weniger Wohlgesonnene sagen ihr eine unterentwickelte Selbstdisziplin nach. Beides trifft zu. Ihre reaktive Intuition ist in aller Regel schneller als ihre mentale Intellektualität. Das führt zu allerlei Schwierigkeiten: sie zieht verschiedenfarbige Pumps an, sie verlegt Wohnungsschlüssel, sie vollzieht einen bühnenreifen Ausfallschritt zur Unterstützung der zu singenden Tonleiter auf einer Steilküste und rutscht ab. Sie ist eine großartige Improvisatorin, die sich niemals von einem falschen Ton ablenken lassen würde. Sie lebt Freundlichkeit und Freundschaft voll aus und ist manchmal deshalb sehr anstrengend, weil sie beständig gute Laune wie eine Krone über ihrem Kopf trägt. Gori, Melvis ist in den Schlaf geschickt worden, ich hätte es dir bei nächster Gelegenheit gesagt. Margot wurde jetzt von dem Schutzgeist des Polizisten übernommen, der mit euch ihren Abtransport überwachte.“ „Woher weißt du das alles, Tessa?“ „Margot kenne ich aus eigenem Erleben und Melvis hat sich von mir in den Schlaf verabschiedet, wir kennen uns seit ewigen Zeiten.“ „Freut mich, Tessa, das wusste ich nicht.“

„Das nenne ich eine gelungene Einrichtung, was sagen sie, Frau Reinhard?“ „Wissen sie, wie die Lübecker dazu sagen? Gediegen.“ „Und was heißt das?“ „Gut, solide, ordentlich, so in etwa.“ „Den Ausdruck habe ich noch nie gehört.“ „Machen sie sich nichts daraus, ich habe ihn auch neu in meinem Wortschatz aufnehmen müssen. “Schauen sie, dort oben ist ein Fensterplatz frei.“

Sie setzen sich, ein Kellner reicht die Karte. Alois bestellt: zwei Brötchen, Wurst, Käse, Honig, Butter und ein gekochtes Ei, ein Kännchen Kaffee und für Elisabeth eine Tasse Kaffee, ein Wasser und ein Mandelhörnchen. Das Frühstück kommt schnell, Elisabeth staunt:

“Ein Mann kann aber viel essen.“ „Ja“, ich bin eben kein Männchen.“

Sie schauen sich an, lachen beide, wie über einen guten Witz, eine Weile wird nur gegessen und getrunken. Alois bestellt für sich auch noch ein Glas Wasser.

„Herr Hausner, unser gestriges Gespräch hat mich sehr beschäftigt. Mir ist dadurch bewusstgeworden, in welch starkem Maße ich Politik immer aus meinem Leben ausgeklammert habe. Ich habe mir die Frage gestellt, woran das liegt. Wir vom Theater sind froh, ein Engagement zu haben, um von unserer Kunst unseren Lebensunterhalt bestreiten zu können, eher uninteressant, wer das finanziert. Auf der anderen Seite gelten wir als tolerant. Uns ist es einerlei, ob unsere Bühnenkollegen aus Russland, England oder Frankreich kommen. Ich persönlich kenne keine Musiker- oder Tanzkollegen, die nicht mit Personen die schwarz, gelb, jüdisch, was auch immer sind, zusammenarbeiten möchten. Für uns zählt nicht die Rasse, sondern die Klasse, die jemand mitbringt. Jetzt denken sie bestimmt, ich rede um die Sache herum, oder?“ „Nein, ich verstehe sehr gut, was sie meinen. Tut es ihnen heute leid, sich unpolitisch gestellt zu haben?“ „Ich fühle mich unwohl aber schuldig? Nein. Ich war 1933 gerade siebzehn Jahre alt und nicht wahlberechtigt. Was muss ich mir vorwerfen? Zweifellos meine Ignoranz. Ich habe in der Vorstellung gelebt, dass das, was ich mache, wichtiger als mein Lebensumfeld ist.“ „So ging es mir auch, ich bildete mir ein, mein Betrieb sei der Nabel der Welt. Den galt es aufrecht zu halten. Wenn meine persönliche Welt heil bleibt, bleibt die Welt auch heil, dachte ich. Oder war ich demokratieungeübt oder war ich feige? Ich denke heute, alles trifft zu.“ „Denken sie, wir hätten nach 1933 politisch noch etwas ändern können?“ „Nur, wenn es jemandem gelungen wäre, Hitler auszuschalten. Und das sollte nicht sein, wie uns die Geschichte lehrt.“ „Ja, das ist wohl wahr. Dennoch und trotzdem, was meinen sie, Herr Hausner, wollen wir uns Lübeck ansehen?“ „Auf der Stelle, lassen sie es uns tun.“ „Tessa, willst du dir Elisabeths Führung durch Lübeck ansehen?“ „Ja.“ „Dann lass dich nicht stören.“

Es gibt verlassene Städte, die langsam über die Jahrhunderte verfallen sind. Es gibt Städte, die durch Erdbeben oder Brände vernichtet wurden. Seit dem 2. Weltkrieg gibt es Städte, die durch Luftangriffe mehr oder weniger geschädigt wurden. Lübeck wurde nicht getötet, aber schwer verwundet. Das Rathaus, die Marienkirche, ganze Straßenzüge wie ausradiert, hier und da Ansätze von Neubauten, Häuserruinen zwischen unversehrten, alten prächtigen Gebäuden.

„Bis das alles wiederaufgebaut ist, werden Jahrzehnte vergehen.“

Elisabeth weiß das, wir auch.

„Ganz ohne Spenden wird es nicht gehen, denn Lübecks Geldsack ist immer leer.“

Hätten wir auch nicht treffender formulieren können.

Wer ist das? Neben Tessa steht der ehemalige Türsteherschutzgeist des Polizeiobermeisters Beck und nun der von Frau Müller.

„Du bist doch die, die zu Frau Reinhard gehört?“

Tessa ist gemeint.

„Ja, ich heiße Tessa.“ „Tessa, ich bin Llano. Kannst du mir etwas über Margot erzählen, was mir hilft. Heute war es wieder schlimm. Bei der Visite hat sie sich mit dem Professor über ihr Bühnenfach gestritten. Er bezeichnete sie als Sopranistin, sie bestand auf Mezzosopranistin. Eine Lernschwester war deshalb so aufgeregt, dass sie das Gummi aus der Verschalung des Reflexhammers zerrte. Der Professor ohrfeigte sie und verdonnerte sie dazu, das Ding in Lübeck auf eigene Kosten reparieren zu lassen. Margot nannte ihn Oberflegel und schnauzte ihn an, er solle sofort das Zimmer verlassen. Der Professor beschuldigte sie daraufhin hausfriedensbrüchig zu sein. Er drohte ihr einen Krankentransport ins Lübecker Krankenhaus Süd an, den sie wegen Eigenverschuldung selbst zu tragen habe. Margot konterte mit einer Klage wegen Misshandlung einer Schutzbefohlenen. Dann war sie am Ende, hyperventilierte und wurde bewusstlos. Und die ganze Zeit über habe ich versucht, ihr Herz zu beruhigen. Was habe ich falsch gemacht?“ „Du kannst Margots Herz auslassen, stattdessen sende ruhige Energie in den Hypothalamus, der befindet sich bei ihr in ständigem Zustand der Aufruhr.“ „Mann, Tessa, du bist gut, darauf hätte ich eigentlich selber kommen können. Jedenfalls hast du etwas gut bei mir, dank dir schön.“ „Dafür doch nicht. Ist Margot jetzt wieder in Ordnung?“ „Ja, der Professor hat sich eigenhändig um sie bemüht. Dann haben sie sich wieder vertragen. Margot hat ihm eine Freikarte versprochen, damit er den Unterschied zwischen Sopran und Mezzosopran verstehen lernt. Dann hat sie der Lernschwester noch Geld für die Reparatur des Reflexhammers und auch Bahngeld gegeben.“ „Ja, sie ist eben in jeder Beziehung großzügig. Viel Freude mit ihr, Llano.“ „Danke.“

Er ist verschwunden.

„Oh, schau mal, Alois nimmt Elisabeths Hand und sie lässt es zu, sie gehen händchenhaltend, ist das süß.“ „Nun krieg dich wieder ein, Gori, applaudieren tue ich erst nach dem Sündenfall.“ „Was für ein Sündenfall?“ „Den Fall in die Sünde der fleischlichen Lust, Kamerad, wir werden dabei sein und dann können wir einen echten Etappensieg feiern.“ „Das kommt für mich überhaupt nicht in Frage, ich schaue mir so etwas nicht an, das Komitee hat auch gesagt, wir müssen das nicht.“ „Bist du prüde Gori, oder was soll deine Abwehr bedeuten? Du musst doch deinen Alois stärken und schützen, damit es gut klappt und meine Elisabeth Genuss und Freude an ihm hat.“-„Tessa, nein, ich bin Schutzgeist und kein Voyeur. Schutz bei diesen Tätigkeiten anzubieten dient nicht meiner Zielsetzung.“ So, das musste ich ihr jetzt in aller Deutlichkeit zu verstehen geben. Tessa ist unbeeindruckt:

„Wir werden schon sehen.“

„Es ist schon 14 Uhr, Herr Hausner, wie schade, ich hatte mir überlegt, in dem Karstadt-Restaurant eine Kleinigkeit zu Mittag zu essen, jetzt ist dort schon zu.“ „Natürlich, es ist ja Samstag. Was schlagen sie jetzt vor?“ „Ich fürchte, uns bleibt nur das kleine Lokal neben dem Theater, das hat ständig auf und auch die Küche ist eigentlich nie zu.“ „Und, ist es zum Fürchten?“

Elisabeth lacht ein schönes, perlendes Lachen, ich mag das an ihr.

„Nein, keineswegs, ich wollte die Qualität des Lokals nicht schmälern, wohl die Quantität unserer Auswahlmöglichkeiten andeuten.“ „Kommen sie, gehen wir dorthin.“ „Um 16 Uhr habe ich Training.“ „Ich dachte, das Ballett hat Saisonpause und doch jeden Tag Training. Ist das Pflicht oder ein Angebot?“ „Im Prinzip schon Pflicht für die Ensemblemitglieder, die in Lübeck verbleiben. Man kann sich für Urlaube oder Gastspiele allerdings problemlos freistellen lassen. Es geht auch nicht anders, wir können nicht wochenlang ohne Proben auskommen, dann sind wir eingerostet.“ „Das verstehe ich.“

Alois nickt dazu und Tessa und ich verstehen das auch. Im Lokal bestellen beide eine Bockwurst. Alois mit Kartoffelsalat, Elisabeth nur mit Brot, weil sie fürchtet, die Mayonnaise könne ihr zu schwer im Magen liegen. Alois nippt an seinem Bier, Elisabeth darf nur Wasser trinken.

„Morgen möchte ich auf jeden Fall die Margot im Krankenhaus besuchen.“

Elisabeth sieht Alois fragend an.

„Hätten sie nicht Lust mitzukommen, sie wird sich bestimmt freuen.“ „Ich mag Krankenhäuser nicht.“

Aber dann schaut er Elisabeth mit Augen an, wie es entweder Leute tun, die unbedingt gefallen wollen oder ziemlich schwer verliebt sind.

„Ich komme trotzdem gerne mit, weil ich keine überflüssige Stunde an ihrer Seite entbehren möchte.“

Ein bisschen Schmachte lag auch in seiner Stimme, vornehmer formuliert: das Timbre klang ein wenig dunkler. Elisabeth wird rot, Tessa klatscht voller Freude in die Hände, und ich fremdschäme mich tief, fühle mich ebenfalls erröten. Jetzt geht durch Elisabeth ein Ruck:

„Herr Hausner, ich habe sie kennengelernt, als ich sie auf der Bank ansprach, ich möchte daher eine weitere Initiative übernehmen und sie fragen, ob wir uns nicht duzen wollen, ich heiße Elisabeth.“ „Wie schön, dass sie mich fragen, ich heiße Alois.“

Sie prosten sich mit Bier- und Wasserglas zu, und dann spitzt Alois die Lippen, kommt Elisabeth über dem Tisch entgegen, Elisabeth spitzt ebenfalls die Lippen und hebt sich ihm entgegen und ihre beiden Lippen berühren sich ganz zart, der Duzbund ist besiegelt, hoffentlich lässt die gewonnene Intimität auch eine etwas legerere Umgangssprache zu, Tessa ist nun doch sprachlos vom Fremdglück, auch gut, ich schweige mich ebenfalls aus. Wir sitzen im Zug. Es geht zurück nach Travemünde. Es ist eintönig, Alois hat einen Fensterplatz und schläft. Ich will ein bisschen durch die Abteile ziehen; auf ein bekanntes Gesicht hoffen. Da, sie ist es: groß, schlank, elegant, weißes Haar.

„Pacca, Pacca!“

Sie dreht sich zu mir um, ihre Augen leuchten auf.

„Gori, mein Freund.“

Wir umarmen uns.

„Was ist mit Sarah geschehen?“ „Sie wurde getötet.“ „Ich habe es befürchtet, die Eltern auch. Wo warst du die ganze Zeit, ich habe mich immer wieder nach dir erkundigt.“ „Als es mit Sarah geschah, habe ich einen Wächter mit Negativenergie getroffen. Er starb.“ „Das kann ich gar nicht glauben, dass dir so etwas passiert ist. Du bist doch extrem diszipliniert und besonnen, was haben sie mit dir gemacht, bist du bestraft worden?“ „Nein, das Komitee hat mich sieben Jahre in Schlaf versetzt, seit ein paar Tagen bin ich wieder im Einsatz. Und du?“ „Du kannst davon ausgehen, bei der Etage über uns ein sehr hohes Ansehen zu genießen, du hast wirklich Glück gehabt. Ich hatte zwei Jahre Urlaub und bekam dann hier den Walter. Er ist Lokführer. Ein guter Mann. Und wen betreust du, bist du zufrieden?“ „Unbedingt, mein Alois ist ein sehr sympathischer Mensch mit Herz und Hirn, er gefällt mir ausgezeichnet. Jetzt ist er verliebt in die Frau, die Tessa beschützt, ich glaube, ihr seid euch schon begegnet.“ „Na klar, die Tessa, mit den guten Beziehungen ins Vorzimmer des Komitees.“ „Ja, die hat sie, die schaden auch nicht, wir konnten sie gut gebrauchen.“ „Gori, ich muss jetzt auf Walter aufpassen, obgleich bei ihm nicht viel aufzupassen ist, wir werden uns oft sehen?“ „Nichts lieber als das.“

Wir nennen uns unsere Adressen, verabschieden uns, in meinen Ohren braust das Glück, mein Herz ist satt vor lauter mondmenschlicher Freude, meine beste Freundin, sie ist wieder in meiner Nähe.

Tage, die nicht enden wollen

Alois erwacht gerade, schaut auf seine Uhr, es geht auf 18 Uhr zu. Ich wette mit mir selbst, er denkt jetzt ans Schwimmen. Der Zug hält, Alois geht mit langen Schritten aus dem Bahnhof, eilt in sein Hotel. Richtig, oben im Zimmer sucht er nach der Badehose, die er heute Morgen achtlos irgendwo ablegte. Das Zimmermädchen hat das Handtuch darüber gepackt. Er findet sie, kleidet sich um. Am Strand liegen nur noch vereinzelte Personen, meistens Paare mit Kindern, die nicht aus dem Wasser finden oder mehr oder weniger das Auge erfreuende architektonische Burgenveränderungen vornehmen. Alois schwimmt, ich suche einen Zeitungsleser. Finde ihn. Hinter ihm steht sein Schutzgeist, eine graue Maus-Frau.

„Hallo, darf ich kurz mal mit in die Zeitung schauen?“ “Ich kann mir nicht vorstellen, dass du dazu Zeit hast. Geh zu deinem Schützling zurück und tue deine Pflicht.“