Die falsche Liga - Gisela Wielert - E-Book

Die falsche Liga E-Book

Gisela Wielert

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Beschreibung

Die falsche Liga Der allseits beliebte und geschätzte Profifußballer Hartmut Geppardt, Torjäger beim Zweitligisten Rostock, will seinen Vertrag nicht verlängern. Daran ist der neue Trainer nicht ganz unschuldig. Hartmut hat ganz genaue Vorstellungen, wie es nach den Fußballjahren für ihn weitergehen soll. Am 8. Mai 2011, seinem dreißigsten Geburtstag, werden seine Planungen bis in die Grundfesten erschüttert. Schauplätze sind Rostock, Lübeck und Reinfeld

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„Drum will ich mich berauschen an dem Leben, das ich mir nicht aussuchte“ ( G.W. 5.11.2020)

Gisela Wielert lernte noch vor Antritt ihres Studiums, Fachrichtung Physik mit dem Ziel Gesundheitsingenieur, ihren Mann kennen und heiratete. Das Paar hat einen Sohn und lebt auf dem Lande in der Nähe Lübecks. Beruflich war sie Arztsekretärin, Chefarztsekretärin in der Uni Lübeck und managte von 1998 bis 2016 eine Beauty-Klinik.

Bisher erschienen im Buchhandel:

„Durch die Zeiten“ (Band I und II)

„Samba für Charles B.“

„Amygdala“

„In Palermo ist was los“

Inhaltsverzeichnis

Hartmut

Cornelia

Beide

Unerbittlichkeit des Augenblicks

In der Chirurgie

Cornelia bekommt einen Schreck

Klinikroutine

Eine nachdenkliche Cornelia

Schlechtelaunetag

Niedergang

Aufgewacht

Frische Perspektiven

Cornelia ist irritiert und Annabelle denkt

Verhältnisse

Cornelia zweifelt

Aussprache mit Linus

Überlegungen

Vision mit Annabelle

Sechs Wochen später

Sechs Monate später

Vision mit Cornelia

Zurück in der Wirklichkeit

Cornelia

Annabelle

Annabelle und Cornelia

Hartmut und Linus auf dem Weg in die neue Reha

Annabelle denkt nach

Cornelia ist zufrieden

In der neuen Reha angekommen

Vierzehn Tage später in Connis Bad

Hartmut und seine Gedanken

Samstag

Annabelle in der Stadt

Linus auf der Fahrt zu Hartmut

Annabelle denkt nach

Hartmut und Linus

Cornelia im Organisationsstress

Am Abend bei Hartmut

Monate später, im Dezember

Hartmut, der Student

Zurück in der Klinik

Am späten Abend

Vier Tage später

Weihnachten 2011

Cornelia schmerzt der Kopf

Das Hotel wird eröffnet

Annabelle fährt heim

Freiheit, ich komme

Später auf der Heimfahrt

In der Villa Wilhelmsburg

Annabelle auf dem Weg zurück nach Reinfeld

Hartmut raucht

Conni steht vor dem Spiegel

Und Hartmut charmantelte

Der Kampf begann

Rosentage

OP-Gespräche

In der Klinik

Hartmut und Anneliese

Annabelle hatte Feierabend

Linus fährt los um Conni zu besuchen

Später bei Hartmut

Annabelle schüttelte den Kopf

Die Bachelor-Arbeit und danach

Conni und Linus allein am Esstisch

Im Restaurant

Am nächsten Morgen

Annabelle war allein

Autoroute du Soleil

In der Wilhelmsburg Leonie

Cornelia und Linus

Schlaf o komme

Um sieben Uhr in der Frühe

Wieder zurück

Und wieder zurück nach Remoulins

Zurück nach Lübeck

Montagmorgen in der Redaktion

Zurück in der Wilhelmsburg

Zurück nach Lübeck

Hartmut lernte Lars Fruböse kennen

Gewerbegebiet Reinfeld

Abends mit Til

Die Wochen vergingen

Am Abreisetag in der Wilhelmsburg

Annabelle hatte ein Date

Hartmut, einmal ganz stolz

Anneliese hütete die Wilhelmsburg

Hartmut und Leonie

Partytime

Unterwegs im Gewerbegebiet und zurück

Ein langer Tag ging zu Ende

Am anderen Morgen

Januar, neues Jahr, neues …….?

Der Laden brummt

Achtung, Achtung! Hier ….

Danksagung

Der Dichter

Hartmut

Der unleidliche Zustand von Trainer Armin Peters färbte vielleicht nur deswegen nicht ab, weil der achte Mai des Jahres 2011 sonnig war, der Himmel blau leuchtete und Hartmut Geppardt Geburtstag hatte. Das Training von heute glich dem Training von gestern oder vorgestern. Peters hatte angeblich Zahnschmerzen und verzichtete auf jegliche Abweichung vom Plan. Auf der Party am Abend würde er nicht erscheinen und niemand würde ihn vermissen. Der Mann war bis zum Abwinken unbeliebt. Früher trainierte er eine erste Liga, hier, in der zweiten Liga, fühlte er sich abgewertet. Als er vor einem guten halben Jahr die Mannschaft übernahm, zeigte er der Welt freudige Entschlossenheit und den unbedingten Willen zum Sieg. Die Vereinsgrößen glaubten seinen Beteuerungen und stellten ihn ein. Er bekam einen Vertrag und mit ihm Verantwortung. Nach wenigen Wochen begann seine Maskierung zu rutschen und zeigten die wahren Züge des Mannes, die weder edel noch erhaben waren. Dafür trugen sie Bitterkeit und Zeichen der Frustration.

Mannschaftskapitän Hartmut Geppardt steuerte gegen den Unmut seiner Jungs an und wenig später auch entschlossen gegen beginnende Resignation. Er scharrte die Kollegen fest um sich und ließ ein Nachlassen der Spielmoral nicht zu.

Noch vor zwei Monaten war er unsicher gewesen, ob er einer Vertragsverlängerung zustimmen sollte. Inzwischen stand sein Entschluss fest, das auf keinen Fall zu tun. Seinen Plan hatte er für sich behalten. Heute Abend wollte er in ungetrübter Stimmung feiern.

Schluss für heute. Das Training war vorbei. In der Kabine wurde geflüstert und verhalten gelacht. Was jetzt wohl kam? Hartmut stieg aus der Dusche, trocknete sich ab, ging rüber zu den Jungs.

„Du bekommst ein besonderes Geschenk schon mal vorweg, weil du heute dreißig geworden bist.“ Felix Drümmer, der Torwart, überreichte ihm mit schrägem Schmunzeln eine längliche Karte mit der Aufschrift „Gutschein“. Hartmut drehte sie um und las: 1 kosmetische Behandlung über 45 Minuten.

Das war frech und die Erklärung für einsetzendes Gejohle. „Männer, ich danke euch. Heute Abend werde ich erscheinen wie aus dem Jungbrunnen gestiegen.“ Felix rieb sich die Hände und meinte: „Abwarten, ob Cornelia Vollmann das noch aus dir rausholen kann.“

Cornelia Vollmann gehörte mit ihrem Kosmetikinstitut ebenso auf das Vereinsgelände wie das unmittelbar anliegende Sportstudio und die Räume der Physiotherapie. Zu ihr gingen die Spielerfrauen, Spielermütter, deren Umfeld und nicht wenige Fußballer selbst, die in ihrem Leistungsanspruch auch ihr äußeres Erscheinungsbild einschlossen. Hartmut mochte Cornelia schon wegen ihrer kleinen Tochter, die Nachwuchsspielerin im Verein war und sich ganz offen für ihn begeisterte. Und natürlich fühlte sich Hartmut deswegen auch ein wenig geschmeichelt. Leonie war das Abbild ihrer Mutter mit langen hellblonden Kräusellocken und tiefblauen Augen.

Er war mehrfach in Versuchung gewesen, Cornelia zum Essen einzuladen. Jedes Mal hatte er es verworfen, weil die örtliche Nähe im Falle einer Trennung ihm zu unangenehm erschienen war. Jetzt entfiel dieser Einwand. Mit Ende der Saison würde er die Stadt verlassen und nach Hamburg für den Trainer B-Schein zurückkehren. Er freute sich darauf, eine Weile im Haus seiner Eltern wohnen zu können. In dieser Zeit würde er sich festlegen, wo er sein Sportstudio aufmachen könnte. Auf jeden Fall sollte es eine Kleinstadt mit einem Gewerbegebiet sein. Hartmut hatte gut verdient und viel gespart. Er träumte von einem Neubau mit Sauna, Pool und Petanque-Bahnen in einem Wintergartenraum. Bedachung bei Regen und Kälte und offen bei schöner Witterung. Das würde ihn eine hübsche Stange Geld kosten, aber er liebte das Spiel seines Ferienlandes Frankreich und wollte es wetterfest einnorden.

Hartmut zog sich an und lächelte glücklich vor sich hin. Die Zukunft lag klar und strahlend vor ihm.

Cornelia

Cornelia sah mit gespannter Erwartung der Begegnung mit Hartmut Geppardt entgegen. Am Rand des Fußballplatzes hatten sie häufig einige Sätze gewechselt. Meistens ging es um Leonies Begeisterung, Tore zu schießen. Ihr Vorbild war Hartmut. Cornelia war überzeugt, dass sie ihm sympathisch war und er hatte keine feste Freundin. Sie konnte sich eine Verbindung mit ihm vorstellen. Aus welchem Grund war er allein? Weswegen ist es zwischen ihnen nie zu einer Verabredung gekommen? ‚Ist er kein Mann für Frauen?’, hatte sie sich anfänglich gefragt. Doch, er hatte immer einmal wieder für kurze Zeit eine Freundin, die er jedoch nie mit auf das Vereinsgelände brachte. Er wurde von ihren Kundinnen zufällig in der Stadt gesehen, beim Essen in einem Restaurant oder durch die Straßen bummelnd. Sie wusste inzwischen eine Menge über ihn, kannte seine Vorliebe für Frankreich und nicht für schnelle Autos. Stylische Outfits ließen ihn ebenso kalt wie immer neue Haarschnitte und Tattoos. Die Fußballer-Frauen erzählten ihr, dass er Jelinek-, Grass- und Proust-Leser wäre. Sie betonten das auf eine Weise, als ob es sich um eine Art literarischen Extremismus handeln würde. Und dazu lagerten in seinem alten Auto viele Jazz-CDs. Nein, er vertrat in keinerlei Hinsicht das Image eines erfolgreichen Zweitligisten.

Erstaunlicherweise hörte Cornelia aber nie eine abfällige Bemerkung über ihn. Auf dem Sportplatz und hinter den Kulissen galt er als Teamplayer. Die Regionalpresse schätzte seine Statements zur Lage des Vereins und seine Kommentare zu gewonnenen oder verlorenen Spielen. Und dieser, recht perfekte Mann, würde gleich zu ihr kommen.

Beide

Hartmut überquerte den Innenhof, der zwischen den Gebäuden des Vereins und denen der Physiotherapie, dem Sportstudio und dem Kosmetikinstitut lag. Es war zwar Mittagszeit, aber von der Tennisanlage ließen sich die Aufschläge der Spieler hören, wie sie morgens und abends zu hören waren. Tennis ging gut, dem Verein ging es gut. Die Finanzen stimmten. Er sah Cornelia durch die Glastür an ihrem Schreibtisch vor ihrem Laptop sitzen und sein Lächeln verstärkte sich.

„Hallo, Conni,“ grüßte er beim Eintreten, „wer von den Jungs hat sich dies hier ausgedacht“?, er hielt ihr den Gutschein entgegen.

Cornelia war rasch aufgestanden und streckte ihm die Hand entgegen: „Hartmut, herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag und viele Tore im neuen Lebensjahr.“ Hartmut drehte ihre Hand rasch herum und deutete einen Kuss an. „Gut, ich wusste nicht, dass du eine Schweigepflichterklärung unterschreiben musstest. Ich bekomme das noch raus. Einer der Jungs wird schon umkippen.“ „Dann lass es mich wissen. Komm, wir fangen an.“

Sie drehte sich um und er folgte ihr in einen kleinen Raum, der von einem Behandlungsstuhl dominiert wurde, der ihn unvermittelt an seinen Zahnarzt und an die durchlittene Wurzelbehandlung erinnerte. Seine Hände wurden feucht. Das hatte ihm gerade noch gefehlt: Angst. Wovor sollte er sich hier schon fürchten müssen?

„Mach es dir bequem, Hartmut. Hattest du schon mal eine allergische Reaktion auf Kosmetika?“ Nö, wüsste er nicht. „Wunderbar.“ Das galt abzuwarten. Cornelia betätigte ein Pedal, Hartmut geriet in Halblage, erstarrte unter der Frage an sich selbst, was jetzt geschehen würde – wieder tauchte der Zahnarzt auf. Er wurde, obgleich tief innerlich darauf vorbereitet, nicht zum Mundöffnen aufgefordert, stattdessen erklärte ihm Conni, dass sie jetzt sein Gesicht und seinen Hals reinigen würde, seine Augenbrauen in Form zupfen um dann ein Peeling aufzutragen. Die Frau arbeitete an ihm, der Mann ertrug, was er geschehen lassen musste, weil der Gutschein immerhin 75 Euro gekostet hatte. Schließlich waren alle Stadien der Reinigung und Klärung vollzogen und er beschloss, die Gesichtsmassage zu genießen, was ihm nicht vollständig gelang, weil ihn die Frage quälte, wie er Cornelia fragen könnte, ob sie ihn heute Abend begleiten möchte. Er probierte unterschiedliche Formulierungen einer Einladung, die ihm alle ziemlich dünn und belanglos und irgendwie nicht überzeugend erschienen. Jetzt war sie fertig mit ihm, nein, noch eine Ampulle wurde aufgeklickt und der Inhalt leichtfingrig auf Gesicht und Hals aufgeklopft. Ob er jetzt anders aussah, fragte er sich.

„Und, wie sehe ich aus, habe ich mich verändert?“ „Gut siehst du aus, frisch und sehr gepflegt.“ „Äh, vielleicht sehe ich heute Abend in meinem Ausgehanzug noch besser aus.“

Conni schaute ihn irritiert an, was sollte sie antworten? „Das halte ich nicht für unmöglich.“ „Das wollte ich hören und du trägst dafür die Verantwortung.“ „Die nehme ich gerne auf mich.“ Cornelia lächelte ihn an, das war gut so. „Findest du nicht auch, dass du mich besser im Auge behalten solltest? Gutes Aussehen macht einen Mann extrem schutzbedürftig. Und ich bin allein, ohne weiblichen Beistand. Bitte, sage ‚ja’ und begleite mich heute Abend auf meine Geburtstagsparty.“

Jetzt war sie verblüfft und zugleich äußerst zufrieden. Sie lachte: „Hartmut, das war der witzigste Date-Antrag meiner bisherigen Laufbahn als Single. Den kann ich auf keinen Fall ausschlagen. Abgemacht, ich begleite dich und verspreche, gut auf dich aufzupassen. Wo soll die Party stattfinden? Bei uns auf dem Gelände oben im Restaurant?“ „Ja, genau. Und ich freue mich darauf. Soll ich dich um kurz vor 20 Uhr von irgendwo abholen?“ „Nicht von irgendwo, aber von meiner Wohnung wäre schon angebracht.“

Sie nannte ihm ihre Adresse. Hartmut verließ angeregt das Kosmetikinstitut. Wie war ihm die Art seines Antrages nur in den Sinn gekommen? Erklären konnte er es sich nicht, auch nicht, wie es ihm eingefallen war, sie überhaupt für den Abend einzuladen. Vielleicht, weil er sich darüber geärgert hatte, wieder einmal auf einer Party ohne weibliche Begleitung erscheinen zu müssen? Er war sich sicher, den einen oder anderen dummen Spruch zu ernten, dass er mit dem Gutschein gleich noch die richtige Frau dazubekommen hätte.

Unerbittlichkeit des Augenblicks

Gedanklich abgelenkt, welche Erwiderungen er auf spitze Bemerkungen machen könnte, fiel ihm erneut die Frage ein, was ihn ganz spontan zu der Einladung bewegt haben könnte. Ihr Aussehen hatte ihm immer schon gefallen. Vor allem aber empfand er sie als überhaupt nicht albern. Hartmut fürchtete sich vor den ständig lachenden jungen Frauen seiner Fußballkameraden, wenn sie ein neues Opfer zu ihrer Belustigung gefunden hatten. Meistens gehörten die Ärmsten zu gegnerischen Mannschaften. Spieler oder Spielerfrauen, es gab nichts, worüber sie nicht witzelten: Haarschnitte, Figuren, Kleidung, Make-up, Manieren. Er fand, dass die Frauen seiner Mannschaftskameraden viel schlimmer waren als andere, die er kennenlernen durfte. Sie zählten zu Connis Kundenstamm, die exzellent mit ihnen umgehen konnte.

Hartmut hielt vor einer Bäckerei. Seine Eltern würden gleich da sein. Sie liebten Süßes und gern „bitte mit Sahne“. Er lächelte bei den Gedanken an Mutter und Vater. Sie waren über seine Fußballkarriere seinerzeit nicht sonderlich glücklich gewesen und hatten liebevoll schimpfend darauf bestanden, dass er die Schule damals nicht ohne Abitur verlassen durfte. Heute war er froh über ihre Hartnäckigkeit, die im Gegensatz zu ihrer sonst unkonventionell bürgerlich menschlichen und politischen Einstellung stand. Was hatte sein Vater gesagt, wie hieß noch sein Spruch? „Das menschliche Herz schlägt links und nicht rechts. Der Mensch sollte nicht gegen die Natur arbeiten, sondern mit ihr. Ich wähle links.“

Als jugendlicher Rebell hatte er Versuche des Widerspruchs rasch aufgegeben, weil auch er sich mit politischen Ansichten rechts der SPD überhaupt nicht identifizieren konnte. Und so war es geblieben.

In der Bäckerei sah er auf die Uhr. Das würde knapp werden, schon fast halb drei. Er würde über die Autobahn nach Hause aufs Dorf fahren.

Die Autobahn war um diese Zeit leerer als morgens und zu den Rush-hours-Zeiten gegen Abend. Er gab Gas und kam gut voran. Was war das? Ein Gegenstand auf der Fahrbahn! Er bremste ab, wollte ausweichen. Dann ein Drehen, Kreiseln, Aufschlag und nur noch Schwärze.

In der Chirurgie

„Herr Geppardt, hören Sie mich, Herr Geppardt?“

Hartmut konnte seine Augen nicht öffnen. Bleierne Müdigkeit hielt ihn fest im Griff. Er wollte den Mund öffnen, auch das gelang ihm nicht. Er hörte die Stimme, eine fremde Stimme. Wo war er? Egal. Er wollte nur schlafen, nichts als schlafen.

„Er ist noch zu schwach, um eine Reaktion zu zeigen. Gehen Sie heim und schlafen Sie gut. Er hat die Operation hervorragend überstanden. Morgen wissen wir mehr.“ „Was ist mit seinem Kopf?“ Hatte das eben seine Mutter gefragt? Was sollte mit seinem Kopf sein? „Eine leichte Gehirnerschütterung, Frau Geppardt, mehr nicht. Seien Sie deswegen ganz unbesorgt.“

Als Hartmut erwachte, stand an seinem Bett eine junge Frau. Zweifellos, er war in einem Krankenhaus. Und vorher hatte er sich auf dem Weg nach Hause befunden. Der Gegenstand auf der Straße. Er hatte einen Unfall gehabt; deswegen war er hier.

„Sie sind wach, hallo Herr Geppardt. Mein Name ist Franka und ich bin ihre Krankenschwester. Wie fühlen Sie sich? Haben sie Schmerzen?“ „Ich glaube nicht. Was fehlt mir? Was ist mit meinem Kopf?“ „Sie haben eine leichte Gehirnerschütterung, mehr nicht. Ihr Bein wurde operiert. Ich rufe jetzt den Arzt, der wird Ihnen alles erklären.“

Sie hatte eine Klingel gedrückt und kurz darauf wurde die Tür geöffnet und ein Mann trat ein. Linus Weiß, sein Freund und Mannschaftsarzt, schaute ihn mit breitem Lächeln an.

„He, Du Pfeife, hier wollte ich dich nicht sehen. Ich war zu deiner Party eingeladen. Wolltest du das Geld für die Feier sparen?“ „Quatsch Linus, wir holen die Party nach, verrate mir lieber, was ich habe.“

Der junge Chirurg zog sich einen Stuhl ans Bett und setzte sich. „Meine Kollegen haben dir einen nicht ganz unkomplizierten Schienbeinbruch richten müssen. Ich fürchte, für das nächste halbe Jahr kannst du dich beim Fußball abmelden.“ „Bah, Mist!“ Hartmut zog hörbar Luft in die Lunge. „Dann werden die Herren im Vorstand heilfroh sein, dass ich meinen Vertrag, trotz ihrer Nötigung, noch nicht verlängert habe.“ „Hast du keine Lust mehr, Hartmut? Hattest du vor, mit dem Spielen aufzuhören?“ „Linus, meine Antwort bleibt bitte hier im Raum: Ja, ich wollte Schluss machen.“ „Wegen des neuen Trainers?“ „Sagen wir so: er hat meinen Entschluss beflügelt, ausschlaggebend war er nicht. Ich möchte nach Hamburg zurück und einen Trainerschein machen. Aus der Perspektive meines alten Kinderzimmers will ich mir dann einen Standort für ein Fitnesscenter suchen.“ „Du Glückspilz hast dir ja auch die Kohle dafür zusammensparen können. Wenn ich mich als Chirurg niederlassen will, werde ich mit meinem Verdienst die Bank füttern müssen.“ „Wirklich bedauern kann ich dich nicht. Apropos Mitleid: wie lange muss ich hier liegen?“ „Du kannst dir heute nach dem Frühstück drüben im Badezimmer die Zähne putzen. Die Kollegen konnten ein Verfahren bei dir anwenden, das eine Belastung des Beines am Tag nach der Operation möglich macht. Ich zeige dir nachher die Röntgenbilder und erkläre dir die Operation genau.“ „Danke, Linus, das klingt gut.“

Der junge Chirurg erhob sich, als Schwester Franka mit dem Frühstück erschien.

Cornelia bekommt einen Schreck

Hartmut Geppardts Unfall hatte sich lauffeuerartig auf dem Vereinsgelände herumgesprochen, nachdem sein Vater die Party im Restaurant absagen musste. Cornelia Vollmann erfuhr die Nachricht von einer Fußballer-Mutter, die regelmäßig zur Kosmetik kam. Sie riss sich zusammen, um das Maß ihrer Bestürzung nicht sichtbar werden zu lassen. Wie hatte sie sich auf den Abend gefreut. Als ob ihr ein unerwarteter Sieg in einem aussichtslosen Kampf zugefallen wäre, so hatte sie die Einladung empfunden. Jetzt stand sie wieder bei null. Oder doch nicht? Sie könnte ihn im Krankenhaus besuchen. Wenn sie Leonie mitnähme, wäre das weder aufdringlich noch zu vertraulich. Woran er wohl litt? Herumgesprochen hatte sich das noch nicht. Hoffentlich nicht irgendetwas sehr Unangenehmes.

Cornelia fühlte sich nicht vom Leben verwöhnt. Sie hatte in Berlin, obgleich ihr das Arbeitsamt davon abriet, eine Ausbildung zur Fremdsprachenkorrespondentin für russisch gemacht. Sie fand tatsächlich einen Arbeitsplatz und übersetzte für eine Exportfirma.

Dann lernte sie Lutz kennen und lieben wurde schwanger. Fünf Tage vor ihrer Hochzeit verunglückte er mit seinem Motorroller. Glücklicherweise hatte er sein Testament und eine Lebensversicherung zu ihren Gunsten umschreiben lassen.

Nach Trauerzeit und Geburt ihrer Tochter überlegte sich Cornelia Möglichkeiten, wie sie ihre Berufstätigkeit und das Kind unter einen Hut bringen konnte. Sie entschied sich, Berlin den Rücken zu kehren und in ihrer Heimatstadt Rostock eine Ausbildung zur Kosmetikerin zu machen. Als Selbständige zog sie in ein freies Gebäude auf dem Vereinsgelände des Sportclubs ein. Diese Entscheidung hatte sie nie bereut. Sie besaß ein solides Finanzpolster und konnte sich ohne Nervosität einen Kundenstamm aufbauen.

Damit endete jedoch ihr Glück bereits. Sie arbeitete fünf Tagen in der Woche von 9 bis 18 Uhr und auch an Samstagen immer mindestens bis 14 Uhr. Freizeit verblieb nur gemeinsam mit ihrer kleinen Tochter. Männerbekanntschaften schlossen sich damit aus. Cornelia lebte keusch wie eine Nonne. Sie war 28 Jahre und wollte nicht mehr länger allein sein. Sie hatte Träume und Pläne, zu denen ein Partner gehörte, der nach Möglichkeit über Kapital verfügen sollte. Seit Jahren stand eine alte hochherrschaftliche Villa am Strand leer. Wie lange noch? Nein, viel Zeit ihren Traum zu verwirklichen blieb Cornelia gewiss nicht. Sie schwor sich, sie zu nutzen.

Klinikroutine

Nach dem Frühstück kam eine Physiotherapeutin zu Hartmut, die ihm eine erste Lymphdrainage gab. Unter ihrer Anleitung lernte er mit Krücken das Badezimmer aufzusuchen. Das war neu erworbene Selbständigkeit. Ein klein wenig atemlos lag er wieder in seinem Krankenhausbett und wartete auf die angekündigte Visite.

‚Menschen warten unablässig auf irgendetwas, das bevorsteht‘, dachte er. ‚Der Schlaflose auf das erste Morgenrot, das kleine Kind auf Beschäftigung, Schüler auf den Beginn des Unterrichts, die Alten auf Aufforderungen zum Frühstück oder Mittagessen, die Lehrer auf die Pause, die Liebenden auf das nächste Wiedersehen. Die sich Suchenden auf das Glück der Begegnung. Was wohl gestern abgegangen war, nachdem sein Vater die Party absagen musste? Ob Cornelia es rechtzeitig erfahren hatte?‘

Gestern, als er endlich den Mut aufbrachte, sie einzuladen, musste dieser dummer Unfall dazwischenkommen. Ihm kam immer etwas dazwischen, wenn ihm eine Frau wichtig war.

Als er neunzehn war, verliebte er sich in Annabelle, siebzehn Jahre, ein East-Side-Mädchen mit der Gedankentiefe einer reifen Frau, Tennisspielerin mit Pepe-Jeans und Max Mara Klamotten, Kreditkarte, einem Chauffeur bei Bedarf. Er spielte das erste Jahr in der dritten Liga seiner Heimatstadt, die neben der Elbe, der Reeperbahn und dem Neumeier-Ballett auch eine Privatbank beheimatete deren Eigentümer mit Argusaugen die verliebte Tochter und ihre junge Beziehung betrachtete. Er konnte zwar nicht verhindern, dass sich seine ohnehin nicht mehr jungfräuliche Tochter spät nachmittägliche Treffen mit dem Drittligisten leistete, wohl aber, dass die ungebührlich unpassende Beziehung längerfristig anhielt. Unverzüglich wurde Annabelle für ein Schuljahr in die USA verfrachtet. Er war sich nie ganz sicher gewesen, ob der Herr Bankinhaber bei seinem Transfer in die zweite Liga des aufstrebenden Fußballvereins an der östlichen Ostsee nicht seine Hände im Spiel gehabt hatte.

Er, Hartmut, liebeskrank jedoch frisch aus eigener Erfahrung wissend, dass es in Deutschland krasse soziale Unterschiede gab, und er in der Elbchausseeliga weder gemocht noch geduldet wurde, nahm seinen neuen Vertrag ernst und schwor bei sich, dass er zumindest die Verlängerung seinen Toren zu verdanken haben würde. Der Trennungsschock von Annabelle saß tief und hielt seinen Testosteronspiegel in Dosishöhe älterer Priester. Da jedoch kein Zustand von Dauer ist, verliebte er sich nach seinem zweiundzwanzigsten Jahr mehrfach. Nicht immer unglücklich, jedoch nie lange anhaltend. Keine der Frauen betrat je die elterliche Wohnung. Die eine oder andere Beziehung war auch den Entfernungstod gestorben. Hartmut Urlaubsvorliebe galt Frankreich. Seine Liebe zu dem Land und zur Sprache schloss die Frauen nicht aus, die jedoch wenig Neigung zeigten, ein volles Jahr auf eine nächste Begegnung zu warten. Und immer und überall war Annabelle dabei in seinem Kopf. Sie verglich er mit den anderen Frauen. Würde ihm das mit Cornelia auch passieren? Mit ihr hatte noch nichts begonnen. Ob sie ihn besuchen käme?

Die Visite unterbrach seine Gedanken. Der Chefarzt erklärte ihm das Behandlungskonzept der nächsten Tage und Linus lächelte ihm aufmunternd zu. Der Bruch seines Beines war nicht ganz unkompliziert gewesen, aber sie hätten es gut richten können. Bei der Sportlichkeit des Patienten befürchteten sie auch keine Komplikationen. Nach fünf Minuten hatte die Gruppe sein Zimmer wieder verlassen.

Hartmut atmete erleichtert auf und kehrte mit seinen Gedanken wieder zu Cornelia zurück. Ob er sich in sie verlieben könnte? Warum eigentlich nicht? Sie war nicht nur eine attraktive Frau, sondern genoss auch den Ruf, eine gute Geschäftsfrau zu sein. Ihre vielen Stammkundinnen betrachteten sie als Freundin, die für jedes Gesicht und jede Haut genau die Produkte auswählte, die sich anfühlten wie eigens für sie entwickelt. Falls es Männer in ihrem Leben geben sollte, hielt sie diese gut versteckt. Cornelia mit einer Affäre schien es nicht zu geben.

Es klopfte erneut an seiner Tür und Hartmuts Eltern traten ein, die dem Sohn gestern nicht einmal zum Geburtstag gratulieren konnten. Sie hatten ihm einen Koffer mit Kleidung, Wäsche und Körperpflegemittel gebracht und seinen Laptop. Gute Wünsche wurden ausgesprochen, dann musste Hartmut Pakete auspacken. Ein Weinglas für seine Rotter-Serie, ein Sommer-Hemd und den Uwe Tellkamp Roman; Der Turm. Hartmut hatte sich das Buch gewünscht, weil die Protagonisten in der DDR angesiedelt sind. Ein Zustandsbericht vor der Wende. Fußball, Boule und deutsche Geschichte auch gerne in Verbindung mit Literatur. Das waren schon immer seine Interessen.

„Jetzt hast du endlich genügend Zeit zum Lesen.“ Die Feststellung seiner Mutter klang, als hätte er sich diese Situation herbeigesehnt. Prompt schüttelte sein Vater den Kopf und meinte: „Charlotte, um Zeit zum Lesen zu haben, muss sich niemand zwangsläufig das Bein brechen lassen. Was wird jetzt aus deinem Zeitplan, Hartmut?“

„Ich kann dem Unfall und meinem Beinbruch überhaupt nichts Gutes abgewinnen. Davon abgesehen, ist die Sache keine komplette Katastrophe für mich. Ihr wisst, dass ich mich vom aktiven Fußball ohnehin verabschieden wollte. Außerdem bin ich gut versichert und muss mir keine finanziellen Sorgen machen. Über einen Zeitplan kann ich im Augenblick überhaupt nichts sagen, weil der vom Heilungsprozess abhängig ist. Auch Linus, ihr habt ihn kennengelernt, tippt auf ein halbes Jahr, bis ich wieder meine volle Belastbarkeit erreiche. Mehr kann ich euch im Augenblick nicht sagen.“

„Das musst du auch nicht, mein Junge. Deine Mutter und ich hoffen für dich, dass keine Komplikationen auftreten.“

„Weißt du, wie lange du in der Klinik bleiben musst?“ „Ich fürchte, nicht allzu lange, Mama. Ich kann mich fortbewegen. Ich bin nicht hilflos. Also höchstens ein paar Tage.“ „Ja, und dann, wie willst du draußen auf dem Dorf allein zurechtkommen?“ „Da sprichst du ein Riesenproblem an. Ich kann nicht Autofahren.“ „Sollen wir dich nach Hamburg holen?“ „Mama, ihr seid den ganzen Tag außer Haus, das ist doch dasselbe in grün.“ „Dann musst du in ein Pflegeheim.“ Sein Vater sah ihn schief lächelnd dabei an. Hartmut nickte. „Das werde ich in der Tat in Erwägung ziehen müssen. Eine Pension wäre mir allerdings lieber, von der aus ich Behandlungstermine zu Fuß erreichen kann.“

„Pension“, wiederholte seine Mutter unwirsch, „wenn du schon nicht in deinem Haus bleiben kannst, weswegen nimmst du dir dann keine Ferienwohnung in der Stadt?“ Hartmuts Augen leuchteten auf. „Mama, das ist eine sehr gute Idee. Dann kann ich mich wenigstens selbst versorgen.“

Seine Eltern verabschiedeten sich kurz vor Mittag. Sie wollten eine Kleinigkeit essen und dann zurück nach Hamburg fahren.

Als er nach einer passenden Wohnung im Internet suchen wollte, fiel ihm ein, dass sich ein Mannschaftskamerad im letzten Jahr eine gekauft hatte und vermietete. Er rief ihn an und buchte sie bis Ende Oktober. Erledigt. Seine nahe Zukunft war gesichert. Am Nachmittag stand Physiotherapie auf seinem Behandlungsplan und danach nur noch das Abendessen. Hartmut hatte ein Zweibettzimmer, das er mit keinem Bettnachbarn teilte. Das war komfortabel, aber auch eine einsame Angelegenheit. Er war es nicht gewohnt, über Stunden ohne Ansprache zu sein. War er in Wirklichkeit auch nicht. Mehrfach am Tag kam eine Schwester und kontrollierte seine Temperatur und seinen Blutdruck. Es ergab sich dabei nur kein persönliches Gespräch.

Gegen Abend rief Armin Peters, sein Trainer, an. Peters Stimme am Telefon klang noch übellauniger als auf dem Fußballplatz. Nachdem er von Hartmut Auskunft über seinen Gesundheitszustand abgefragt hatte, war das Gespräch recht schnell beendet, weil die beiden Männer nichts verband.

Als sich Hartmut nach dem Abendessen seinem Buch zuwenden wollte, klopfte es an seiner Zimmertür und herein kamen Mutter und Tochter Vollmann.

„Mein lieber Hartmut, ich habe mir nicht so viel Mühe mit deinem Gesicht gegeben, damit du damit das Krankenhauspersonal erfreuen sollst. Ich wollte mit dir auf deine Geburtstagsparty. Was machst du nur für Geschichten.“ „Leonie, Conni, wie lieb von euch, mich zu besuchen. Ich habe immer gedacht, mir kann nichts passieren. Das war ein Irrtum, wie ihr seht.“ „Erzähle doch mal, wie das gekommen ist“, forderte ihn Leonie auf.

„Irgendetwas lag auf der Straße, ich wollte ausweichen, verlor die Kontrolle über das Auto, fing an zu drehen und an mehr kann ich mich nicht erinnern. Aufgewacht bin ich hier heute Morgen in diesem Bett.“ „Das ist echt Scheiße für dich, du kannst wohl lange nicht spielen, oder?“ „Leonie, bitte keine Kraftausdrücke.“ Cornelia schüttelte ihren Kopf. Hartmut konnte sich ein feines Lächeln nicht verkneifen und meinte: „Unangenehme Dinge verlangen auf den Punkt gebracht zu werden und lassen sich durch einen freundlicher klingenden Ausdruck nicht beschönigen. Leonie, ich belasse es bei deinem Wort.“ „Ja? Gut. Mama, kann ich draußen auf den Spielplatz? Da sind noch andere Kinder.“ „Ja, ich hole dich von da ab.“ Leonie verabschiedete sich und war verschwunden.

„Kannst du schon absehen, welche Konsequenzen dein Ausfall für dich hat?“ „Die halten sich in relativ engen Grenzen, Conni. Ich hatte nicht vor, meinen Vertrag zu verlängern. Insofern ist nur die Art meines Abschieds etwas anders, als ich ihn mir vorgestellt hatte.“ „Aha, und was, wenn ich fragen darf, hattest du vor?“ „Trainerschein machen und mir ein Sportcenter aufbauen.“ „Das hört sich gut an. Das kannst du ja immer noch. Wolltest du hier in der Gegend bleiben?“ „Nicht unbedingt. Ich wollte in den Stormarner Raum. Meine Eltern wohnen in Hamburg, das liegt dann näher für mich.“

Cornelia verspürte eine heftige Enttäuschung. Wozu, fragte sie sich, hatte er sie eingeladen? Um sich alsbald wieder von ihr zu verabschieden?

Hartmut sah ihrem Gesichtsausdruck an, dass sie seine Aussage irritiert hat. „Conni, wenn du dich jetzt fragen solltest, weswegen ich dich gestern eingeladen habe, wenn ich doch vorhatte, von hier fortzugehen, kann ich dir nur sagen, dass mein Entschluss aufzuhören ungefähr seit einem Jahr besteht. Ich überlegte nicht, was dieser Verabredung folgen würde. Das wird so oder so auch kein Problem werden, weil die Fahrstrecke zwischen hier und Hamburg knapp 2 Stunden beträgt.“ „Hartmut, du musst dich für deine Einladung nicht rechtfertigen. Ich habe mein Geschäft auf dem Vereinsgelände und bin immer diejenige, die zurückbleiben wird.“ „Conni, ich mag dich schon ziemlich lange. Ich habe mir deswegen den Versuch, eine Verabredung mit dir zu treffen, verkniffen, weil wir uns im Fall eines möglichen nicht guten Ausganges nicht wirklich aus dem Wege gehen könnten. Ich möchte dich sehr gerne näher kennenlernen. Und wenn sich aus dem Kennenlernen mehr ergibt, werden wir zu allen Probleme Lösungen finden.“ „Ist das nicht sehr berechnend gedacht?“ Sie war noch nicht überzeugt.

„Cornelia, ja, du darfst es auch berechnend nennen. Ich sah es aus dem Blickwinkel der Verantwortung Leonie gegenüber. Deine Tochter schwärmt für mich, das ist ganz offensichtlich. Ich wollte auch ihr eine mögliche Enttäuschung ersparen.“

„Nun gut, Hartmut, eine mögliche Enttäuschung können wir Leonie nicht ersparen, wohl aber deine tägliche Präsenz auf dem Fußballplatz und auf dem Vereinsgelände.“ „Und, verstehst du jetzt mein Zaudern?“ „Absolut. Das war auch meine Vorstellung, mich nicht mit einem Mann aus Vereinskreisen zu befreunden.“ „Conni, das ist doch großartig. Dann lass uns doch offen mit der Situation umgehen. Ich werde auf jeden Fall über die gesamte Länge der Reha-Zeit hier sein. Weißt du, was ich heute gemacht habe?“ „Erzähl!“ „Ich habe mir eine Ferienwohnung in der Innenstadt gemietet. Von da aus kann ich kleinere Besorgungen zu Fuß erledigen und auch zur Physiotherapie gehen. „Das ist gut, natürlich, du kannst ja nicht mit dem Auto fahren. Ach, ist das kompliziert. Daran hatte ich noch nicht gedacht.“ „Sagen wir mal so, die Schwierigkeiten sind zu meistern. Übrigens, wohnst du direkt um die Ecke.“ „Wenn das kein Zufall ist.“

Cornelia hatte sich in bester Stimmung von Hartmut verabschiedet, als es höchste Zeit wurde, mit Leonie nach Hause zu fahren. Sie hatten ihre Handy-Nummern ausgetauscht und verabredet, sich per SMS zu informieren. Worüber sollte Conni ihn informieren? Egal, das würde sich ergeben, wie sich immer alles ergibt. Hartmut war mit dem Gespräch zufrieden. Er hatte ihr seine Zukunft vorgestellt, wie er sie sich im Moment vorstellte. Und er hatte den Eindruck gewonnen, dass sie seine Erklärungen akzeptierte.

Ob sich Cornelia unter diesen Bedingungen auf ihn einlassen würde? ’Wenn sie jetzt überhaupt nicht in mich verliebt ist, täte sie gut daran, es in Zukunft auch dabei zu belassen’, dachte er. Was würde er ihr bieten können, wenn er erst in Hamburg wäre? Eben mal abends zwei Stunden über die Autobahn fahren? Nein, daran wollte er nicht denken. Wenn sich tatsächlich eine ernste Beziehung ergeben sollte, müssten sie sich auf einen Standort einigen. Soviel er wusste, hatte sie hier keine Angehörigen mehr. Ihre Mutter war vor zwei Jahren gestorben, das hatte er mitbekommen. Leonies Vater war ebenfalls tot. Spielerfrauen hatten sich darüber unterhalten. Kurz vor der Hochzeit soll er einen Motorradunfall gehabt haben. Mehr wusste er nicht.

Es klopfte schon wieder an seiner Tür. Es war Linus, der Nachtdienst hatte.

„Wenn ein Mann Besuch von einer so schönen Frau hatte, will ich ihn nicht lange vom Träumen abhalten. Hartmut, wie geht es dir?“ „Von den Schmerzen abgesehen, nicht zu übel.“ „Ich gebe dir noch was zur Nacht. Sag mal, wie kommt das, dass dich Cornelia, die Oberzurückhaltende besucht?“ „Stehst du auch in Privatgesprächen unter Schweigepflicht oder kennt meine Antwort übermorgen der ganze Verein?“ „Selbstverständlich stehe ich hier in der Klinik unter Schweigepflicht. Von mir wird kein Mensch etwas erfahren.“ „Also, es war so, die Jungs hatten mir doch zu meinem Geburtstag einen Kosmetik-Gutschein geschenkt. Als Conni mich gut gepflegt entlassen wollte, habe ich sie auf meine Party eingeladen.“ „Das glaube ich ja wohl nicht und sie hat zugesagt?“ „Ja, hat sie, wieso?“ „Ich möchte nicht wissen, wer sich bei ihr schon alles einen Korb geholt hat. Und jetzt, wie geht das weiter?“ „Ich habe ihr heute gesagt, wie ich mir die Zukunft vorstelle. Sie weiß, dass ich nach Hamburg gehe, wenn ich wiederhergestellt bin.“ „Dann wäre sie hübsch unklug, wenn sie sich auf dich einließe.“ „Danke, Linus, so weit war ich gedanklich auch schon. Ich mag Cornelia schon seit langem, und war immer wieder versucht, sie einzuladen. Eigentlich habe ich es wegen ihrer Tochter unterlassen. Die Kleine schwärmt ein bisschen für mich, weil ich ihr Torjäger-Vorbild bin. Stelle dir vor, zwischen mir und Cornelia würde es doch nicht gut gehen. Das wäre für Leonie eine arge Enttäuschung, und wir laufen uns ständig im Vereinsgelände über den Weg. Und gestern hatte ich keinen Grund mehr zu zögern, weil ich eh bald weg bin.“ „Ist das nicht ein wenig viel Kalkül, mein Lieber? So kenne ich dich nicht.“ „Nein, um Himmels Willen, es ist überhaupt nicht in dem Sinne berechnend von mir gemeint. Verstehe doch bitte, es ging mir dabei vor allem um Leonie, die ich sehr ins Herz geschlossen habe. Linus, wenn sich zwei erwachsene Menschen begegnen, ist doch keine Garantie gegeben, das aus ihnen letztlich ein Paar wird.“

Linus überlegte angestrengt. Hartmut dachte zwar etwas kompliziert, aber bei näherer Betrachtung, fand er seine Haltung gegenüber dem Kind rücksichtsvoll.

„Verstehe. Und jetzt?“ „Linus, ich weiß es auch nicht. Wenn Conni den Kontakt zu mir nicht abbricht, und wir irgendwie zusammenkommen sollten, werden wir uns etwas einfallen lassen müssen. Denn ständig Zwischenfahren wird auf Dauer nicht funktionieren. Das ist mir bewusst und diese Überlegung wird Conni auch anstellen. Und soviel ich weiß, hat sie auch keine Angehörigen mehr hier. Meine Eltern leben dagegen in Hamburg und werden auch älter. Ich würde gerne in ihrer Nähe wohnen.“

Linus nickte zustimmend seinen Kopf: „Ja, du wirst das schon hinbekommen. Cornelia ist noch jung und kann sich anderswo ihr Geschäft wieder aufbauen. So, ich lass dich jetzt allein, weil ich dringend arbeiten muss. Schlaf nachher gut; die Schwester bringt dir noch ein Schmerzmittel.“

Eine nachdenkliche Cornelia

Leonie war müde gewesen und protestierte nicht, als sie ins Bett sollte. Cornelia war tief nachdenklich nach Hause gefahren. Jetzt saß sie in ihrem Lieblingssessel und ließ das Gespräch mit Hartmut noch einmal Revue passieren. Fakt war, sein zukünftiger Standort lag gute zwei Stunden von dem Objekt ihrer Träume, der alten Villa, entfernt. Ab jetzt blieb ihr ein halbes Jahr Zeit, ihn von ihrer Idee zu überzeugen. Sie gestand sich ein, dass sie zuvor Hartmut von sich überzeugen musste, bevor sie ihn für die alte Villa interessieren konnte. Gab es überhaupt einen Anhaltspunkt, dass er sich in sie verlieben würde? Nein, gab es nicht. Sicher, er hatte sich über ihr Erscheinen gefreut oder mehr über Leonies? An ihre Tochter dachte er. Auf sie nahm er Rücksicht. Auf jeden Fall hatte er eine recht komplizierte Überlegung angestellt, sich nicht früher mit ihr zu verabreden. Das würde für sein ausgeprägtes Verantwortungsbewusstsein sprechen, nicht jedoch für eine starke Anziehungskraft, der er kaum widerstehen konnte.

Conni hatte Lutz sofort geliebt und er sie. Sie saß in der Mittagspause mit einer Kollegin in einem Bistro, als er zur Tür hereinkam. Ihre Blicke trafen sich, hielten einander fest. Als sie aufstand, um den Waschraum aufzusuchen, war er ihr gefolgt. Sie trafen sich im Flur und verabredeten sich für den Abend. Mit Lutz verlor ihr Leben den Grauschimmer. Die Tage wurden hell, die Nächte in seinen Armen gaben ihr Geborgenheit. Dann der Tag des Unfalls, als er auf der Straße starb und sie ihre innere Balance verlor. Eine fassungslose junge Frau blieb zurück, die im fünften Monat schwanger war.

Dass Lutz seine Lebensversicherung noch vor der Hochzeit zu ihren Gunsten umschreiben ließ, war ihr anfangs gleichgültig. Als sich nach Tagen der Verzweiflung der Schleier ein wenig lichtete, erkannte sie darin die Chance, etwas Neues beginnen zu können. Cornelia war schmerzerfüllt, aber nicht lebensmüde. Und weil sie Mutter wurde und sich auf das Kind freute, kehrten allmählich Fassung und Gleichgewicht zu ihr zurück. Bis zum unerwarteten Tod von Lutz, war sie eine sehr junge Frau gewesen, die sich eine große Familie wünschte, deren Mittelpunkt sie sein wollte. Eine Alternative als Geschäftsfrau, hätte sie sich früher nie vorstellen können. Jetzt musste sie für sich und das Kind handeln. Wenn sie nicht ein Leben unter bedrückenden finanziellen Verhältnissen, unsicheren Arbeitsplätzen und viel zu kleinen Wohnungen in zweiter Reihe unfreundlicher Gebäude verbringen wollte, musste sie den vielzitierten Sprung ins kalte Wasser wagen. Conni hatte neben ihrem Sprachtalent ruhige geschickte Hände, Interesse an Körperpflege, kosmetischen Produkten und an der Kunst des Schminkens. Damit wollte sie ihr Geld verdienen. Noch während der Schwangerschaft begann sie eine Abendausbildung zur Kosmetikerin. Unterstützung bekam Conni von ihrer Mutter, die früh Witwe geworden und sich in den Zustand ihrer Tochter nur zu gut hineinversetzen konnte. Als Conni aus Berlin zurückkam, kümmerte sich Renate Vollmann um den gemeinsamen Haushalt und nach der Geburt Leonies auch um das Baby. Conni nutzte das erste Lebensjahr ihres Kindes für den Aufbau ihres Schönheitssalons. Nach kurzer Suche hatte sie den Standort auf dem Vereinsgelände gefunden. Die Miete war akzeptabel und die Lage mit einem großen Parkplatz vor der Tür, ideal erreichbar. Noch bevor Leonie in den Hort kam, hatte Conni eine Zusatzausbildung in Permanent-Make-up abgeschlossen, die sich nach Eröffnung ihres Geschäftes als Goldgrube erwies. Morgens mit fertigen Augenbrauen, Lidstrichen und schön gezeichneten Lippen aufzuwachen, waren unwiderstehliche Angebote an die Spielerfrauen, die sich untereinander einen erbitterten Schönheits- und Konkurrenzkampf lieferten. Keine wollte den anderen in irgendeiner Hinsicht nachstehen. Cornelia verstand sich darin, das Wettbewerbsdenken ihrer Kundinnen anzustacheln, ohne über eine von ihnen auch nur die geringste Intrige in die Welt zu setzen. Zufällig lernte sie in ihrem dritten Geschäftsjahr in einer der raren Mittagsstunden am Strand eine junge Designerin kennen, deren Kollektionen sie schon bald gewinnbringend verkaufen konnte.

Beruflich war Conni erfolgreich, privat gab es außer ihrer kleinen Tochter in all den zurückliegenden Jahren nichts, was sie als persönliches Glück bezeichnet hätte. Sie war eine attraktive Frau und es mangelte ihr nicht an Bewerbern aus den unterschiedlichen Vereinskreisen. Sie hatte von vornherein jedes Angebot für Treffen abgelehnt, weil sie unter keinen Umständen ins Gerede kommen wollte. Hartmut war der einzige Mann, dessen Verabredungsantrag sie angenommen hatte und den sie sich zu einem früheren Zeitpunkt bereits gewünscht hätte. Hartmut mochte Leonie. Das war eine solide Basis, auf der sie aufbauen wollte.

Schlechtelaunetag

Hartmuts zweiter Tag nach Unfall und Operation verlief beinahe still. Außer Lymphdrainage und Physiotherapie gab es die Visite, die Mahlzeiten, die obligatorischen Temperatur- und Blutdruckmessungen.

Keine Besucher, keine Störungen, dafür Zeit zum Lesen und Nachdenken. Er konnte sich recht gut auf den Krücken bewegen, was er seiner Sportlichkeit verdankte. Im Übrigen quälten ihn Schmerzen, weil er sich an die Schmerzmittel nicht gewöhnen wollte. Nur zur Nacht ließ er sie zu, damit er schlafen konnte. Das machte ihn unleidlich und seine Stimmung erhielt einen weiteren Dämpfer, als Cornelia sich telefonisch bei ihm meldete und kurz erklärte, dass sie ihn heute Abend nicht besuchen könnte. Sie versprach aber am Folgetag zu kommen, um ihm beim Packen seiner Sachen zu helfen. Das hätte er auch allein geschafft, aber er war erleichtert, dass sie überhaupt kommen wollte. Hatte er gestern einen Fehler gemacht, als er Conni die Illusion nahm, sich hier in der Gegend mit einem Sportcenter anzusiedeln? Vielleicht hätte er die Standortfrage offenlassen sollen. Konnte er sich unter den jetzigen Umständen einbilden, sie für sich zu gewinnen? Was wäre umgekehrt? Wie würde er sich verhalten? Er kam zu dem Schluss, ‚ja’ zu einer Beziehung zu sagen, auch wenn der Ausgang ungewiss sein würde. Vielleicht würde sich herausstellen, dass sie nicht zusammenpassten, sich in vielen Fragen des Lebens uneinig waren. Er kannte sie nicht. Er hatte sie ausschließlich auf dem Vereinsgelände erlebt, auf dem sie die sympathische und vor allem verschwiegene Geschäftsfrau war. Cornelia war eine Meisterin in Unanfechtbarkeit.

Niedergang

Klatschende Mütter, brüllende Väter, dunkler Himmel – regenbereit. Hartmut saß auf einem Klapphocker in der ersten Reihe neben dem Fußballfeld. Die kleinen Mädchen hatten ein Spiel und Leonie schoss ihr zweites Tor. Die Begeisterung kletterte in die Höhe.