Düstere Lande: Das Mahnmal - Kiara Lameika - E-Book

Düstere Lande: Das Mahnmal E-Book

Kiara Lameika

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Beschreibung

Augsburg, Spätmittelalter, 1499: Eine brutale Mordserie erschüttert die Stadt Augsburg. Die Opfer werden auf grausamste Weise entstellt und zur Schau gestellt. Als der dreizehnjährige Mathes versucht, die reiche Patriziertochter Ursula Fugger zu beeindrucken und zur Aufklärung der Morde beizutragen, stößt er auf Spuren, deren Verfolgung ihn sogar weit außerhalb der Grenzen von Augsburg in Lebensgefahr bringt... Ein spannender historischer Roman, der eine raue, mittelalterliche Abenteuer- und Detektivgeschichte mit jugendlichem Entdeckerdrang vereint. Für Jugendliche und Erwachsene gleichermaßen geeignet. "Kiara Lameika verbindet in ihrem durchweg spannenden Buch historische, gut recherchierte Fakten mit einer fiktiven Erzählung zwischen Krimi, Abenteuer und Coming-of-Age-Roman. Eine gewagte Mischung, die trotzdem gelingt - dank Einfallsreichtum und einem sympathischen Hauptcharakter." (a3kultur, Feuilleton Augsburg, Juli 2019)

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Kapitelübersicht

Erster Teil:

Der Tote am Lech

1 Blutige Erinnerungen

2

Am düsteren Fluss

3

Christusmörder

4

Durch altes Gestein

5

Ein Weg nach Rom

6

Tod am Pranger

7

Auf gefährlichen Spuren

8

Verurteilt

Zweiter Teil:

Die brennende Stadt

9

Im Schatten des Münsters

10

Wasser und Feuer

11

Landsknechte

12

Hinterhalt

13

Schneebedeckte Gipfel

14

Gewölbe des Klosters

15

Die Schlacht an der Calven

16

Rache

Dritter Teil:

Fuggergold

17

Calcio storico

18

Ein Tropfen zu viel

19

Pestkarren

20

Ennlin

21

Wahrheit und Ungerechtigkeit

Erster Teil

Der Tote am Lech

Kapitel 1

Blutige Erinnerungen

Simon kam langsam zu sich.

Wie war er hierhergekommen? Konnte das mal wieder ein Humpen Knechtswein zu viel gewesen sein? Schläfrig wollte er sich am Kopf kratzen, doch er konnte seinen Arm nicht bewegen. Der Alte versuchte, den anderen Arm zu heben, aber auch das schlug fehl. Alarmiert wurde er hellwach, hob den Kopf leicht an und erschrak: Um ihn herum waren dicke Seile geschlungen, welche seine Arme an den Rumpf pressten. Ein flackerndes Licht beleuchtete ihn, ansonsten konnte er nichts erkennen.

Außerhalb des Kerzenscheins war es stockfinster. Simon rief laut, doch nur das Echo seiner Stimme war die Antwort. Aus dem modrigen Geruch schloss er, dass er in einem Keller lag.

Gerade als der Alte Luft holen wollte, um nach Hilfe zu schreien, packte ihn eine kalte Hand am Hals.

Mit rücksichtsloser Gewalt stopfte ihm jemand einen Lumpen in den Mund. In panischer Angst die Augen aufreißend versuchte Simon, sich freizuwinden, aber er lag wie ein Stück Holz einfach nur da und konnte nichts tun.

Flinke Hände schlugen ein dünnes Seil um seinen Kopf und den Knebel. Für einen Moment sah Simon über sich das Flackern zweier heller Punkte.

Augen, die auf ihn herabsahen.

Unvermittelt verschwanden sie und er starrte ins Nichts. Die Kerze flackerte unruhig weiter – bis ein Hauchen ertönte. Mit einem Mal befand sich Simon in der totalen Finsternis. Entsetzliche Furcht überkam ihn; eine Angst, die er nie zuvor verspürt hatte. Er versuchte zu schreien, was aufgrund des Knebels nur in einem müden Gemurmel endete. Auch mit der Zunge konnte der Alte das Tuch nicht lockern, es saß durch den Strick zu fest.

Seine Nasenflügel flatterten bei jedem hektischen Atemzug. Plötzlich durchfuhr sein rechtes Bein ein stechender Schmerz.

Er schrie auf, aber wieder ertönte nur ein dumpfes Stöhnen aus seinem geknebelten Mund.

Simon wollte sich aufrichten – er musste wissen, was mit ihm geschah – doch jede Bewegung war unmöglich. Er spürte sein eigenes Blut, das ihm an der Wade herablief.

Mit einem Mal rüttelte jemand an seinem Fuß.

Kurz darauf vernahm er ein sirrendes Geräusch – plötzlich war der Schmerz so brutal, dass der Alte sich durchbog und mit dem Hinterkopf auf den Steinboden krachte. Lautlos brüllte er, würgte an dem Stoff und wand sich in panischem Entsetzen und höllischer Qual.

Das letzte, was er spürte, war ein erneutes Reißen an seinem Bein.

Das letzte, was er hörte, war ein erneutes Sirren.

Dann verließen ihn die Sinne.

*

Unter Nebelschleiern floss der Lech dahin, dunkel und trübe. Es klatschte leise, wenn die kleinen Wellen der Strömung den leblosen Fuß berührten. Jedes Mal, wenn das Wasser über den Spann schwappte, sickerte frisches Blut aus der Wunde nach – ein dicker Eisendorn war durch Haut und Knochen in den Kies getrieben worden, lang genug, um den lehmigen Untergrund erreichen und nicht allzu schnell gelockert werden zu können.

Der Mann lag nackt auf dem Rücken.

Arme und Beine waren da, wo sie normalerweise auch gewesen wären. Der Abstand zwischen Körper und Gliedmaßen war jedoch unverkennbar – jemand hatte sie vom Rumpf abgetrennt. Übergroße Eisennägel fixierten jedes Teil am Boden; zwei weitere steckten in Oberbauch und Hals. An der Stelle, wo der Hoden und Penis des Mannes hätten sein müssen, war nur ein blutverkrusteter Fleck:

Das Gemächt war entfernt worden.

Neben dem Toten ragte ein Pfahl aus den Steinen.

Auf dem daran befestigten Holzbrett stand mit schwarzer Kohle ‘Irmala und Josef‘ geschrieben.

Der Gestank sandte seine unsichtbaren Finger durch die Morgenluft. Heerscharen von Fliegen summten bereits um die entstellte Leiche herum.

*

Es ist vollbracht.

Endlich.

Ein dahergelaufener Streuner, so wie Josef damals.

Die Entstellung reicht aus, dass sie hinsehen.

Weit aufgerissene Augen und ein verkrampfter, zu einem stummen Schrei geöffneter Mund – der Anblick ist wahrlich schrecklich genug, um den Menschen eine nachhaltige Warnung zu sein.

Ein Mahnmal gegen das Vergessen. Etwas, dass sich in ihren Köpfen einbrennen soll.

Im Morgengrauen – und hier wird dieses Wort seiner Zweideutigkeit gerecht – werden hunderte Menschen bei der Überquerung der Lechbrücke das Mahnmal sehen.

Händler, Bettler, Frauen, Kinder, Reiter, Herren, Arbeiter – sie alle müssen den grauenhaften Anblick aushalten, ohne dass jemand vorher die Möglichkeit hat, an diesem schwer zugänglichen Teil des Flussufers aufzuräumen.

Vielleicht schlagen einige die Hände vor die Augen, nur um anschließend doch wieder hinzusehen – zu gierig nach besonderen Geschehnissen, zu heiß auf Blut und Elend. Ein morgendliches Grauen.

*

„Mathes!“, schrie mir mein Vater hinterher, aber ich war bereits aus der Tür und schaltete meine Ohren auf taub – es blieb mir nur wenig Zeit, um zum Perlachplatz zu rennen. Normalerweise gehorchte ich meinem alten Herrn – nicht nur aus Angst vor den Prügeln, die ich trotzdem oft genug zu spüren bekam. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit hatte ich es mit meinem losen Mundwerk zu weit getrieben und mir oft Ärger eingehandelt. Doch mittlerweile war ich reifer geworden und versuchte, trotz meiner Jugend ein hilfsbereiter Sohn zu sein, auf den seine Familie und insbesondere sein Vater stolz sein konnten. Dieser hatte es immerhin zu einem Handwerker mit einer kleinen, aber gut laufenden Gerberei gebracht – mehr, als sich viele andere jemals erhoffen durften.

Dienstag früh verblieb jedoch als meine einzige Möglichkeit, sie zu sehen: Ursula. Sie glich einer Göttin, obwohl das Mädchen noch nie ein Wort mit mir gewechselt, ja geschweige denn mich überhaupt bemerkt hatte. Sie schien unerreichbar – und vielleicht deswegen noch schöner in meinen Träumen, den Vorstellungen eines Dreizehnjährigen. Doch so gut unser Ansehen als Gerber in der Zunft1 war – so wenig schien dies wert zu sein, wenn man auf eine wohlhabende Patrizierfamilie2 wie die Fugger traf. Alles, was nicht mit reichbestickten, schweren Mänteln, glänzenden Schnabelschuhen und verzierten Hüten geschmückt war, wurde von den hohen Herren scheinbar nicht wahrgenommen – ja geradezu ignoriert. Trotzdem war es um mein junges, unbeflecktes Herz geschehen gewesen, seit ich Ursula Fugger im Herbst des letzten Jahres zum ersten Mal in der Kutsche ihres Vaters erblickt hatte. Sie war nach Anna die zweite Tochter Ulrich Fuggers3. Anfangs hetzte ich noch jeden Tag vergeblich auf den Markt, um sie wiederzusehen, was ich dank meines Vaters noch lange Zeit auf meiner Haut spürte. Ich merkte jedoch schnell, dass auch eine Jungfer, mochte sie womöglich etwas älter sein als ich, viele Verpflichtungen und einen geregelten Tagesablauf zu haben schien. Und so kristallisierte sich der Dienstagmorgen als ihr Einkaufstag auf dem Perlachplatz heraus, mitsamt ihrer Mutter. Seit jener Entdeckung stand ich an diesem Tag früher auf, um in der Gerberei ein paar Handgriffe im Voraus erledigen zu können. Dadurch fiel die Prügelstrafe meines Vaters aus, weil er merkte, dass ich vor und nach der Stunde, in der ich auf den Markt rannte, um meiner aussichtslosen Liebe zu frönen, härter arbeitete, um den Zeitmangel in der Werkstatt auszugleichen. Trotzdem wünschte er natürlich, dass sein Sohn sich irgendwann von diesem Hirngespinst verabschieden würde. ‘Du machst dich zum Narren!‘ hatte er mir zugerufen, als ich neulich zurück gewesen war. Für mich war die Sache allerdings klar – in meinem Kopf drehte sich alles um den Dienstag; meine Laune besserte sich ab Mittwoch mit jedem Tag. Auch wenn ich in den vergangenen Wintermonaten nicht jedes Mal das Glück hatte, dass Ursula tatsächlich auf dem Markt erschien, versuchte ich es dennoch immer wieder. Zugegebenermaßen war es hoffnungslos mit mir.

So rannte ich auch an diesem Tag in meine Gedanken vertieft durch die Gassen, bis ich auf der Lechbrücke durch einen Menschenauflauf gestoppt wurde. Aufgeregte Gespräche drangen an mein Ohr, einige Worte stachen heraus: Bluttat, Teufel, Massaker und Schande. In Verbindung mit dem Namen ‘Irmala‘ schnappte ich den Begriff ‘Hexe‘ auf.

Mit der Auffassung, dass ein Blick im Vorbeilaufen ja nicht schaden könne, kämpfte ich mich, sehr zum Unmut einiger Umstehenden, mit ein paar Knuffen meiner Ellenbogen an die Außenseite der Brücke durch.

Zuerst wusste ich nicht, was die Menschen so grausig fanden – der Lech floss wie immer unter der Überführung hervor und umspielte die kleine, nicht weit entfernte Kiesbank. Doch als ich den Blick in Richtung Stadtmauer schweifen ließ, durchfuhr mich ein Schauer – der Anblick des entstellten und gevierteilten Mannes drohte mir selbst aus dieser Entfernung den Magen umzudrehen und ich wandte mich schnell ab. Was für ein grauenvolles Bild!

Tief durchatmend zwang ich mich, noch einmal hinzusehen. Es war definitiv ein Mann – man konnte das graue Brusthaar und den Bart ausmachen. Ansonsten sah ich nur getrocknetes Blut. Lange Eisennägel waren durch den Körper hindurch in den Boden getrieben worden und fixierten ihn an seiner unrühmlichen Ruhestätte. Ein paar Krähen taten sich bereits an den Augen des Toten gütlich und krächzten gelegentlich laut auf.

Welches Monster war verantwortlich für eine solche Schreckenstat? Was für ein Mensch musste der Mörder sein?

„So etwas kann doch nur jemand gemacht haben, der mit dem Teufel im Bunde ist“, raunte eine ältere Frau neben mir. Eine andere nickte und bekreuzigte sich.

Unter der Brücke gewahrte ich eine Bewegung und bemerkte ein kleines Ruderboot, welches sich, gefüllt mit dem Büttel4 und einigen Ratsknechten in Richtung der Leiche bewegte. Das brachte meine Gedanken wieder in Gang – wie konnte jemand solch eine schändliche Tat überhaupt unbemerkt an dieser Stelle verrichten? Die flache Böschung ließ sich nur mit einem Boot erreichen, die Strömung war stark – war da der Körper etwa schon zerstückelt gewesen?

Mit verärgertem Krächzen erhoben sich die Krähen von ihrem Schmaus. Zuallererst bedeckten die Männer die Leiche mit einem großen Leinentuch. Es waren bereits genug Menschen Zeuge dieses Anblicks geworden und ich wollte nicht wissen, wie viele kleine Kinder den Toten schon gesehen hatten. Wir Jugendliche mussten so einiges mit ansehen, doch solch eine brutale Entstellung war mir bisher nicht unter die Augen gekommen.

Der Büttel verstaute das Schild im Boot. Leider konnte ich nicht gut lesen, glaubte jedoch, drei Wörter erkannt zu haben. Schaudernd wandte ich mich wieder ab, knuffte mich durch die anderen Gaffer hindurch und rannte, so schnell ich konnte, in Richtung des Marktes weiter. Die Kunde der Bluttat verbreitete sich wie ein Lauffeuer und zahlreiche Augsburger Bürger strömten mir entgegen, um auch einen Blick auf die Leiche werfen zu können.

Insgeheim verabscheute ich diese Schaulust, das sich Ergötzen am Übel anderer – aber war ich denn besser, ich, der genauso hingesehen hatte? Außerdem wurde so ziemlich alles als Belustigung für das Volk aufgezogen, egal ob es eine Auspeitschung, ein öffentliches Gericht, das Abhacken einer Diebeshand, eine Vorführung am Pranger oder ein Tierkampf war. Immer waren die Menschen dazu angehalten, dabei zu sein. Oft sollten die Bürger auch gewarnt werden, mussten mit ansehen und mitfühlen wie denjenigen geschah, die ihren Lebensweg nicht nach Recht und Ordnung beschritten. Man wurde sozusagen dazu erzogen, hinzusehen und zu gaffen, um sich später das Maul darüber zu zerreißen.

Auf dem Markt angekommen suchte ich vergeblich nach der Kutsche der Fuggers. Hier herrschte trotz des Umstands, dass viele aufgeregt in Richtung Lechbrücke drängten, das übliche Marktgetümmel. Besonders die bunten Farben der Weberzunft stachen ins Auge. An jedem der Stände waren die Besitzer fleißig beim Anpreisen ihrer Ware. Außerhalb gammelten Bettler herum und der eine oder andere Gaukler versuchte sich in Jonglage oder Akrobatik.

Ich setzte mich auf den Rand des Prangerpodests unterhalb vom Pärle, wie der Perlachturm im Umgangssprachlichen hieß. Von hier hatte man einen guten Überblick über den gesamten Platz.

*

Eine Stunde verging, in der ich das Markttreiben beobachtete und die Seitengassen im Auge behielt, doch die ersehnte Kutsche geriet nicht in Sicht. Traurig sprang ich vom Podest. Aufgrund der vielen Menschen und Wagen, die sich über die Barfussertorstraße in Richtung des Marktplatzes schoben, entschloss ich mich kurzerhand, hintenrum übers Schwibogertor zu laufen.

Mein Weg führte mich an den Herrenstuben5 und der Stadtkanzlei vorbei, als mein Herz am Weberhaus einen Sprung machte – mit zwei kräftigen Haflingern bespannt stand die Kutsche von Ulrich Fugger davor.

Im Weberhaus war, wie der Name bereits vermuten ließ, die Weberzunft untergebracht. Die Wandmalereien im Inneren waren weithin bekannt. Hoffnungsvoll rannte ich durch die Tür, knallte jedoch mit dem Gesicht an große, leere Weidenkörbe, die ein Knecht an einem Holzbalken aus dem Haus hinaustrug. Während ich zu Boden stürzte, stolperte der Mann fluchend nach hinten und drehte sich um die eigene Achse, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Dabei rammte er den Balken einem beleibten Herrn in den Bauch, der in diesem Augenblick aus einem Seiteneingang getreten war. Mir stockte der Atem: Es war Ulrich Fugger, Ursulas Vater. Er torkelte ein paar Schritte in meine Richtung und beugte sich dann keuchend über mich, während der Knecht eilig Fersengeld gab und mit seinen Körben das Haus verließ. Ich lag starr vor Schreck auf dem Boden, während mich Ulrich mit wutverzerrtem Blick anstarrte und Schmerzen im Unterleib zu haben schien.

Als Ursula ebenfalls aus dem Raum trat und ihren alten Herrn bemerkte, eilte sie sofort zu ihm.

„Herr Vater, ist alles in Ordnung?“

Eine wenig intelligente Frage, wie ich fand – war er doch bleich im Gesicht und konnte sich nur mühsam erheben. Diese Überlegung muss sich in meiner Miene widergespiegelt haben, denn der wohlhabende Herr fuhr mich an: „Was glotzt du so doof, Bursche? Blöder Mistkerl!“

Jetzt nahm auch Ursula Notiz von mir und ich versuchte, nach hinten wegzukrabbeln, damit ich aufstehen konnte. Sie sah hinreißend aus mit ihrem taillierten, hellblauen, berüschten Kleid und den langen blonden Locken, die ihr feinzügiges Gesicht umspielten.

„Wer bist du denn? Ich kenne dich nicht.“ Ihr Tonfall war neugierig und angewidert zugleich.

„Mathes. Mathes Pelker, Gerbersohn“, ächzte ich zurück und konnte mich endlich aufrichten.

„Ah, deswegen …“ Sie schniefte und hob die Augenbrauen. „Der Geruch, weißt du.“

In mir kochte Wut hoch – Geruch? Nein, davon hatte ich noch nie gehört – noch niemals wurde mir gesagt, dass mir der Gerbereigeruch anhaftete. Was sollte ich denn machen, wenn bei uns tagein tagaus Leder gegerbt wurde?

Ulrich erhob sich und rieb an seinem Bauch. „So ein Trottel, dieser Gerberbengel!“, schimpfte er. „Hat mir irgendwas in den Magen gestoßen.“ Giftig starrte er mich an und bückte sich erneut, um dem Schmerz entgegenzuwirken.

Die gesamte Situation war so entgegengesetzt zu meinen Vorstellungen verlaufen, dass ich mich nur schwer beherrschen konnte. Das schönste aller Mädchen zuckte vor mir zurück, als wäre ich ein Rattenfänger und ihr Vater schnauzte mich grundlos an, weil ich gerade am falschen Fleck zu ungünstiger Zeit war.

„Ich war überhaupt nicht schuld, Herr Fugger!“, rief ich aus. In herausforderndem, leisen Tonfall fügte ich an Ursula gewandt hinzu: „Bisher hat man mir immer gesagt, dass ich nach Rosen dufte, Jungfer.“

Zu meiner Überraschung lächelte sie – da war es wieder passiert: In meinem Kopf herrschte nur noch Leere. Ursula schenkt mir ein Lächeln – so etwas war mir selbst in meinen kühnsten Träumen nicht eingefallen. Ihre ebenmäßigen weißen Zähne blitzten hinter ihren leicht geröteten Lippen hervor. Einen Augenblick lang erlag ich der Vorstellung, wie es wäre, einmal diese Lippen berühren zu dürfen.

„Das ist ein recht schickes Armband, Mathes“, unterbrach die Patriziertochter meine Gedanken. Ich trug ein einfaches Lederband am Handgelenk, nichts Besonderes – dennoch fühlte ich mich geehrt und beeilte mich, zurückzulächeln.

Es musste wie ein dümmliches Grinsen ausgesehen haben, denn Ursulas Freude verblasste schnell. Ihr Vater hatte einen Schritt in meine Richtung gemacht, sich es jedoch anders überlegt und die Hand seiner Tochter ergriffen. Um zu vermeiden, dass Ursula mich so in Erinnerung behielt, plapperte ich das Erstbeste, was mir einfiel – ohne auf ihren alten Herrn zu achten: „’tschuldigt bitte, ich bin noch etwas durcheinander wegen des Toten, den ich am Fluss gesehen hab.“

Ihr Vater drehte sich ruckartig um. Sein Gesicht gewann an Farbe, als er knurrte: „Halt den Mund, Bursche.“ Den Griff an Ursulas Hand verstärkend murmelte er zu ihr gewandt: „Das geht dich nichts an, mein Kind.“

Anscheinend hielt er sich mir gegenüber nur wegen seiner Tochter zurück. Doch Ursulas Neugierde war bereits geweckt – genau wie ich beabsichtigt hatte. Sie entzog ihre Hand der ihres Vaters und fragte mit großen Augen: „Was ist passiert? Ein Toter am Fluss?“

„Ein Ermordeter wäre richtiger“, erwiderte ich schnell, bevor Ulrich eingreifen konnte. Ursulas Augen wurden noch größer. Es war zum Dahinschmelzen.

„Ein Mord?“ Sie drehte sich zu ihrem Vater um. „Wusstet Ihr das, Herr Vater?“

„Ich hab nur gehört, was die Leute so reden und du weißt ja, sie klatschen zu viel. Jetzt komm, wir müssen los.“

„Du hast den Toten gesehen?“, flüsterte sie aufgeregt an mich gewandt, Ulrichs Bemühungen ignorierend. „Wer ist es? Wie sah er aus? Und was geschieht jetzt?“

„Der Büttel war vorhin bereits da, mehr weiß ich auch nicht“, antwortete ich und fügte raunend hinzu: „Die Leiche sah schrecklich aus. Ein Massaker.“

Ulrich hatte derweil den Arm seiner Tochter ergriffen und sich zur Tür gewandt. Er funkelte mich über die Schulter an und zischte: „Schnauze jetzt!“ Dann zerrte der Patrizier das Mädchen nach draußen.

Ich klopfte mir den gröbsten Schmutz ab und lief ebenfalls hinaus, als der Fuhrmann bereits Anstalten machte, die Pferde anzutreiben. Ursula blickte aus dem Fenster und rief: „Das ist so spannend, Mathes! Finde bis zu unserem nächsten Treffen den Mörder, ja?“

Damit ratterte die Kutsche davon und hinterließ mich mit dem einen, in meinem benebelten Kopf widerhallenden Gedanken: ‘Nächstes Treffen? Sie wollte mich wiedersehen?‘

So schnell war ich selten nach Hause gerannt, denn mittlerweile mussten fast zwei Stunden vergangen sein. Zu meinem Glück war Vater gar nicht in der Gerberei, nur mein älterer Bruder Karl, der Holz in die Werkstatt schleppte.

„Ich dachte, du wärst bei Mutter“, begrüßte er mich. „Sie ist unterwegs.“

Erleichtert, keine Schelte oder Prügel zu bekommen, machte ich mich ans Werk und fing an, eine Schweinehaut zu entfleischen – eine anstrengende und unschöne Arbeit. Vater würde sich jedoch freuen, wenn er anschließend mit dem darauffolgenden Spalten6 beginnen konnte.

Meine Gedanken kreisten um Ursulas Worte. Sie wollte mich wiedersehen? Wie um Himmels willen sollte ich einen Mord aufklären? Bestimmt hatte sie beides nur so dahingesagt. Mein Bauchgefühl war während des Gesprächs sowieso eigenartig gewesen – irgendwie wirkte ihre Art so aufgesetzt. Vielleicht war das ein Ergebnis der vielen strengen Benimmregeln, denen sie täglich ausgesetzt war. ‘Schau immer recht freundlich, mach große Augen, damit du hübsch aussiehst, halte den Rücken gerade, rede akzent- und fehlerfrei‘ und so weiter und so fort. Wo blieb denn da der Spaß im Leben?

So durchschaubar ich das alles fand, so hinreißend war ihr Anblick gewesen. Wie mich diese graublauen Augen angesehen hatten – ich seufzte. Warum sollte ich es nicht versuchen? Wahrscheinlich bekam der Büttel sowieso schnell heraus, wer der Mörder war, doch womöglich konnte ich ihm dabei helfen? Ich beschloss, in meiner freien Zeit der Sache nachzugehen.

*

Leider kam es so, dass ich erst am übernächsten Tag die Gelegenheit hatte, in die Stadt zu laufen und den Büttel zu sprechen. Auf dem Weg traf ich auf Ennlin, ein anstrengendes Energiebündel von einer kleinen Göre, die mit ihrer Mutter ebenfalls in Lechhausen wohnte. Das Mädchen war überall zu finden, wo es nicht sein sollte. Und besonders da, wo man Ennlin nicht haben wollte, war sie am liebsten – so kam es mir jedenfalls vor. Ich erinnerte mich an früher, als mir die Kleine ihre Zunge entgegengestreckt hatte, aber damit hatte ich kein Problem, denn ansonsten ließ sie mich in Ruhe.

Ihre Mutter Alheyt war Kräuterkundlerin und mit allerlei Krankheiten vertraut. Die ärmeren Leute aus Lechhausen und der Umgebung, die sich keinen Bader leisten konnten, suchten sie mit ihren Gebrechen auf – daher wurde sie, wenn man gesund war, gemieden. Karl und ich waren ebenso schon bei ihr gewesen, wenn uns etwas geplagt hatte. Manche sagten Alheyt Bruckner nach, dass sie eine Hexe sei, doch das wurde ja bei vielen Weibern gemunkelt, die einem nicht ganz geheuer waren.

Ennlin sah mich die Straße entlanglaufen. Entgegen ihrer früheren Gepflogenheiten beließ sie es nicht beim Herausstrecken der Zunge, sondern passte mich auf dem Weg ab.

„Wohin gehst du?“, fragte der Blondschopf mit der hohen Stimme.

„In die Stadt“, antwortete ich knapp und lief langsam weiter.

„Ich komme mit!“, rief sie sofort aus.

Ich seufzte und wollte sie schon abwimmeln, als mir eine Idee kam. Alles schien so abzulaufen wie immer, wenn Ennlin irgendwo auftauchte. Sie wollte überall dabei sein. Die älteren Kinder wiesen sie jedoch ab; das Mädchen hingegen wurde immer aufdringlicher, sobald sie abgelehnt wurde. Vielleicht fragte sie deswegen auch gar nicht mehr, ob sie mitmachen dürfe, sondern entschied das selbst, bevor man ihr eine Abfuhr erteilen konnte. Ich beschloss, den Spieß umzudrehen.

„Ja klar, in Ordnung!“, gab ich freundlich zurück und lächelte sie an.

Sofort bekam das Mädchen große Augen und ihr Blick wurde skeptisch. Das hatte sie wahrscheinlich noch nie von jemandem gehört und ich triumphierte innerlich. Die Kleine schien nicht die passenden Worte zu finden – auch dies musste eine Ausnahme sein, denn auf ihre schmutzigen Wangen trat ein zartes Rosa. Ennlin verlagerte ihr Gewicht von einem Fuß auf den anderen, während sie überlegte. „Na gut“, erwiderte sie schließlich – ganz zu meiner Überraschung – und lief neben mir her.

‘Schade‘, dachte ich, während sie mich musterte, ‘hätte ja auch klappen können.‘

„Wie alt bist du?“, fragte das Mädchen.

„Dreizehn.“

„Ich auch!“, rief sie erfreut. Ich musste ein Auflachen unterdrücken, denn ich schätzte sie auf höchstens elf, eher zehn Jahre. Sie war dünn wie ein Stecken und immerzu schmutzig, wobei ihr Gesicht, wenn ich ehrlich zu mir selbst war, eigentlich hübsch aussah.

„So, so“, murmelte ich und kratzte mich hinter dem Ohr. „Du glaubst mir wohl nicht?“, fragte sie schnippisch.

„Hmm …, nein.“

„Pff!“, machte Ennlin und blieb stehen, die Hände in die Hüften gestemmt. Als ich unbeeindruckt weiterging, rief sie mir hinterher: „Oh, ich kann gar nicht mit in die Stadt, ich muss nach Hause!“

Ich winkte blind nach hinten und setzte meinen Weg fort. Bestimmt suchte das Mädchen nur einen Vorwand, um hierbleiben zu können, denn anscheinend war ihr mein Verhalten nicht geheuer – zumindest aber ungewohnt gewesen.

Von der Lechbrücke aus warf ich nochmals einen Blick auf die Stelle, wo der Tote gelegen hatte – man konnte jedoch nichts mehr erkennen, was auf die Gräueltat schließen ließ. Um zum Büttel vorgelassen zu werden und ihn ausfragen zu können, wollte ich vorgeben, dass ich die Eisendorne vorher bei einem Schmied gesehen hatte. Das war zwar eine glatte Lüge, doch ich konnte bei Bedarf einfach wieder die Wahrheit sagen und versichern, dass es nicht dieselbe Art von Nagel wie bei dem Handwerker gewesen wäre.

Das Lügen – ja, das war so eine schlechte Eigenschaft von mir. Mama nannte mich schon immer vorlaut, aber später kam zu dem lockeren Mundwerk eben noch das Schwindeln hinzu. Es half mir jedoch oft und handelte mir nur selten Ärger ein. Andere gleichaltrige Jungen mussten vor dem Priester ihre Sünden bekennen, um Vergebung vor dem Herrn bitten und dabei ihre Lügen offenlegen. Wenn mich der Gottesmann fragte, was ich zu beichten hätte, antwortete ich entweder mit unwichtigen Kleinigkeiten oder erfand etwas weniger Arges, wofür ich dann beten musste. Ich fand das ein bisschen unsinnig – wieso sollte ein Gebet an Gott meine Sünden vermindern? Er war doch allmächtig, also hatte er sowieso von meinen Taten gehört, er wusste auch, dass ich es wieder tun würde und ihm war klar, dass ich keine ehrliche Reue verspürte. Also konnten wir das Ganze auch sein lassen. So konnten wir beide uns den wichtigeren Dingen zuwenden. Natürlich erzählte ich das niemandem, nicht mal meinen Eltern oder meinem Bruder. Und auf keinen Fall der strenggläubigen Ordensschwester Sarah aus dem Frauenstift7 Sankt Stefan, die sich öfters um die ärmeren Leute in der Vorstadt und Lechhausen kümmerte. Zu meiner Verteidigung versuchte ich, das Lügen nur zum guten Zweck einzusetzen. Wenn ein rechtschaffener Grund dahinterstand, müsste es Gott doch gefallen, dachte ich. Jetzt galt es, einen Mord aufzuklären – das musste reichen!

Rüdiger Schirmig, der Büttel, war ein untersetzter, älterer Herr mit wenig Haaren und einem Bierbauch. Als ich ihn im Rathaus aufsuchte, kam er gleich zur Sache und wollte wissen, bei welchem Schmied ich die Stangen gesehen hätte. Das durfte ich ihm verständlicherweise nicht sagen, weil ich ja keinem Handwerker Ärger einhandeln wollte. Folglich erklärte ich ihm, dass ich erst sichergehen wolle, bevor der Ruf des Schmieds zerstört wäre. Der Mann sah missmutig drein, fand das aber anscheinend doch irgendwie sinnvoll und führte mich in einen Raum, in dem allerlei rostige Waffen und Gerätschaften herumlagen.

„Wo befindet sich der Tote denn jetzt, Herr?“, versuchte ich, ihn auszufragen.

„Im Spital natürlich. Bald wird er begraben.“

Auf meine nächste Frage ‘Habt Ihr schon den Täter, Herr?‘ reagierte er schon unwirscher: „Wir verfolgen eine Spur. Ich verfüge nicht über so viele Männer, da die meisten für den Krieg abgezogen wurden.“

Damit meinte er den Schweizerkrieg, der südlich des Bodensees ausgebrochen war. Der schwäbische Reichskreis, zu dem bald auch Augsburg gehören sollte, hatte von König Maximilian I. den Auftrag erhalten, einzugreifen und den Aufstand der Eidgenossen aus den Bergen zu beenden. Es schien jedoch für unsere Kämpfer nicht gut zu laufen, denn die eintreffenden Boten berichteten fast ausschließlich über Niederlagen.

„Wer war denn der Tote, Herr?“, fragte ich beiläufig.

Der Büttel durchsuchte einige Kisten und brummte: „Tatsächlich ist der Gammler gar nicht wichtig genug, als dass ich hier meine Zeit mit dir verschwende.“

Schließlich reichte er mir aus einer Truhe eine Art Nagel. Es war ein schwerer, fast zolldicker8, dreikantiger Eisendorn, etwa eine halbe Elle lang, der nach unten gleichmäßig zu einer Spitze zulief. Die Oberseite des Kopfes war durch häufige Benutzung bereits abgerieben. Mir schauderte, als ich an die Leiche dachte und wozu diese Nägel am Lechufer verwendet worden waren.

Das ungeduldige Hüsteln des Büttels riss mich aus meinen Gedanken. Ich versuchte, ihn freundlich und gleichzeitig unschuldig anzusehen, um eine weitere Frage loszuwerden: „Wer ist denn eigentlich Irmala?“

Ein erneutes Räuspern, lauter als zuvor, brachte sein Doppelkinn in Bewegung. Der Kopf des Mannes wurde zusehends röter. Mit einem Mal packte er mich bei den Schultern und blaffte mir ins Gesicht: „Was hältst du denn nun von den Eisenstangen!? Welcher Schmied hat sie hergestellt?“

Es blieb mir keine Wahl; ich musste meinen Besuch beenden. Folglich erklärte ich, dass mir die Eisendorne noch nie vorher unter die Augen gekommen wären und es mir leidtäte, wenn ich seine Zeit vergeudet hätte – ich würde es ja nur gut meinen. Mit hochrotem Kopf zog er mich mehr als dass ich hinter ihm herlaufen konnte durch den Raum, öffnete die Tür und schrie nach der Wache, welche mich mit einem süffisanten Grinsen aus dem Rathaus bugsierte.

„Wenn er sogar mich anhört, weiß er entweder überhaupt nichts oder er spielt gut den Dummen“, murmelte ich, den Perlachplatz überblickend.

„Würde das Erstere meinen“, antwortete eine Stimme rechts hinter mir. Ein Mann mittleren Alters lehnte an einer Mauer. Er war sauber gekleidet und schien einigermaßen wohlhabend zu sein. Einen Mundwinkel hochziehend sprach er weiter: „Keine Sorge, bin nicht von den Ratsknechten. Und er war noch nie der Hellste, wenn ich das anmerken darf.“ Mit dem Daumen deutete er über die Schulter und verzog seinen Mund noch mehr.

Mir war der Kerl nicht geheuer. Vor allem die Art, wie er redete – etwas lang gezogen und besonders ruhig – erweckte nicht gerade mein Vertrauen. Trotzdem beschloss ich, in die Offensive zu gehen, denn wir befanden uns schließlich am helllichten Tag auf dem Perlachplatz.

„Ihr wisst doch gar nicht, mit wem ich über was gesprochen habe, Herr.“

Jetzt verzog er auch den anderen Mundwinkel, was wohl sein Lächeln darstellen sollte und ich konnte ein paar schlechte Zähne hervorblicken sehen, die gar nicht zu seinen feinen Kleidern passten.

„Du warst beim Büttel und wolltest ihn wegen des Toten am Lech sprechen. Brauchst mich übrigens nicht ‘Herr‘ zu nennen.“

Das war von ihm anscheinend ins Blaue geschossen, aber er hatte getroffen. Zeit für mich, zu gehen, befand ich insgeheim.

„Ich muss jetzt nach Hause“, erwiderte ich und wandte mich ab, erstarrte jedoch bereits nach wenigen Schritten.

„Warum so eilig, junger Pelker, gibt es so viel zu tun? Dachte, du wolltest bei einer Mordaufklärung helfen?“ Der Mann zog die Augenbrauen hoch und blickte mich unschuldig an. Wieso wusste er meinen Namen? Kannte ich den Kerl irgendwoher? Ich konnte mich nicht erinnern – so jemand würde mir doch im Gedächtnis bleiben. Ich beschloss, das Gespräch noch etwas in die Länge zu ziehen, um mehr von ihm zu erfahren.

„In Ordnung, Ihr habt mich erwischt, ich möchte helfen. Aber der Büttel wollte meine Unterstützung nicht.“

„Was hast du denn entdeckt, was anderen verborgen war?“ Er schien mich, genauso wie ich ihn, einfach weiter ausfragen zu wollen.

„Nein, ich habe mich geirrt. Ich habe nichts gesehen.“ Das war die Wahrheit, doch in seinem Gesicht spiegelte sich Triumph wider und ich glaubte zu bemerken, dass er mir das nicht abkaufte.

„Schön“, meinte er seufzend. „Glaube, ich kann dir helfen. Du willst einen Mord aufklären und ich werde dir eine Auskunft geben, aber dafür musst du auch was für mich tun.“ „Kommt drauf an“, gab ich zurück, „ob es sich lohnt. Ich brauche keine Auskünfte und bin ein rechtschaffener Kerl, der nicht alle Art von Arbeiten macht.“

Meine Worte ließen seinen Mund sich wieder zu diesem ekligen Lächeln verziehen. Er trat nahe an mich heran und raunte mir zu: „Du machst mir Spaß, junger Pelker. Bist ein Schwindler, das weiß ich, und ich glaub du brauchst Hilfe, egal von wem und woher. Ich geb dir zwei Heller9, wenn du dieses Stück Papier an jemanden übergibst. Biste dir dafür zu schade?“

Mit einem Griff in den Saum seines Mantels holte der Mann zwei Münzen und einen gefalteten Brief hervor, der mit einer kleinen Schnur umschlossen war. Beides hielt er mir hin.

Ein Botengang für zwei Heller war nicht zu verachten und die Bezahlung im Voraus ließ mich weich werden. „Wohin soll die Nachricht gehen?“

„Kennst du Markus Krämersohn, den Juden? Er soll den Brief erhalten.“ Er streckte mir die andere Hand offen hin.

Ich kannte den Krämer, der so alt war, dass er schon zitterte. Ihn aufzusuchen war zwar ein Umweg für mich, aber ich wurde ja dafür bezahlt. So schlug ich ein, jedoch nicht ohne mich über die Abmachung zu vergewissern: „Ich bekomme die zwei Heller, bringe den Brief zum alten Krämersohn und erhalte dafür Auskünfte über den Mord?“

Er grinste breiter und nickte: „Genau. Du übergibst den Brief, so geschlossen wie er jetzt ist – und gehst dann direkt nach Hause.“ Plötzlich erlosch sein Lächeln und er blickte mir geradewegs in die Augen: „Du öffnest die Nachricht nicht und bleibst auch nicht dabei, wenn Krämersohn sie liest. Sag ihm auch nicht, von wem der Brief ist. Mach etwas Falsches und ich werde es wissen, glaub mir.“

Ich nickte und schluckte. Sein Blick war unangenehm. Er legte das gefaltete Pergament und das Geld in meine Hand, ergriff die andere und fuhr fort: „Komm Sonntag auf die Lechbrücke, eine Stunde vor Mitternacht. Das sollte dir keine Probleme bereiten, oder? Werde dir die versprochenen Erklärungen dort geben.“

Erneut nickend löste ich den Handschlag, verstaute Münzen und Brief in meiner Hose und ging ein paar schnelle Schritte über den Platz.

‘Eigenartiger Kerl, wo der wohl wohnt?‘, dachte ich und wandte mich um, doch der Mann war bereits verschwunden. Erschrocken ließ ich meinen Blick über den Perlachplatz schweifen – erfolglos.

Mich befiel das ungute Gefühl, dass ich gerade in etwas hineingeraten war.

Mein Vater zeigte sich begeistert, als ich die zwei Heller zu Hause ablieferte. ‘Und ich dachte, du wolltest wieder wegen deiner Hirngespinste in die Stadt‘, hatte er gerufen und mir einen kräftigen Schlag auf den Rücken gegeben. Etwas Stolz überkam mich dabei schon, obwohl der Botengang rein zufällig gewesen war.

Den verschlossenen Brief hatte ich nahe der Kirche Sankt Margret beim alten Krämer abgegeben. Dessen zittrige Hände, die das gefaltete Pergament kaum fassen konnten, waren von irgendwelchen Tinkturen bekleckert gewesen. Mich wunderte, wie er noch richtige Mischungen von seinen Arzneien abfüllte. Aber vielleicht klappte das auch gar nicht mehr und es war Zufall, wenn etwas funktionierte. Ob er die verknotete Schnur jemals aufbekommen würde?

Demnach hatte ich mich an meinen Teil der Abmachung gehalten. Nur die Sache auf der Brücke gefiel mir überhaupt nicht. Wie hieß eigentlich dieser zwielichtige Kerl? Vorgestellt hatte der Mann sich nicht, doch wer weiß, ob er mir den richtigen Namen genannt hätte.

Was, wenn Sonntagnacht aus dem Dunkel mehrere Gestalten auftauchten und mich kurzerhand ins Wasser stießen? Oder mich gefangen nahmen? Grübelnd legte ich mich auf die Pritsche.

*

In jener Nacht träumte ich,

dass ich in einem Verlies gefesselt war.

Der vor Wut schäumende Büttel

zeigte mir immer wieder

einen der Eisendorne und bedrängte mich,

dass ich den Namen des Schmieds

herausrücken solle,

sonst würde er mich foltern.

Im Hintergrund stand der

gut gekleidete Unbekannte

und verzog den Mund

zu einem widerlichen Grinsen.

1 Zunft: Eine Art Gilde, Innung oder Bündnis von Handwerkern. In Augsburg herrschte der Zunftzwang und so musste jeder, der ein Handwerk gewerblich betrieb, eine Mitgliedschaft in einer Zunft nachweisen. Durch hohe Aufnahmegebühren wurden kleine Händler ausgeschlossen.

2 Patrizier: Wohlhabende, meist adelige Personen, die der Oberschicht angehörten.

3 Ulrich Fugger, *1441, historisch, hatte neben Anna (*1484) und Ursula (*1485) noch weitere Kinder, die allesamt jünger waren.

4 Büttel: Der Büttel war meist ein angesehener Bürger der Stadt oder Soldat der Miliz mit Polizeigewalt. Die erste Reichspolizei gab es in Augsburg erst 1539.

5 Herrenstuben: Treffpunkt der hohen Herren um 1500, historisch. In der Geschichte sind die Herrenstuben zu einem Gasthaus erweitert.

6 Entfleischen und Spalten: Beim Entfleischen werden Gewebe, Fett und Fleisch von der Haut entfernt. Das anschließende Spalten wird bei dickeren Häuten durchgeführt, um ein gleichmäßigeres Leder zu erhalten.

7 Frauenstift: Religiöse Gemeinschaft von Frauen (Kanonissen). Im St. Stefan in Augsburg lebten um 1500 hauptsächlich adelige Frauen, die Privatbesitz, Familie und Bedienstete haben durften und denen eine Pröpstin / Äbtissin vorstand.

8 Zoll: 1 Zoll entsprach früher eine Daumenbreite von 2–3 cm.

Kapitel 2

Am düsteren Fluss

Die folgenden Tage war ich in der Gerberei derart beschäftigt, dass ich kaum Zeit fand, mir Gedanken zu machen. Samstags mussten wir beim Schweinetreiben zur Mezg10 mithelfen. Es war ein ungewöhnlicher Zeitpunkt für eine Schlachtung, denn die Tiere hatten den Winter über durchgefüttert werden müssen. Doch wenn die Augsburger Herren es so wünschten, geschah es auch so.

Bei der mühsamen Arbeit traf ich auf Manfred Baumgartlinger, den Sohn eines Lechhausener Metzgers. Schon seit wir laufen konnten, waren er und ich immer wieder aneinandergeraten. Mein Vater pflegte eine wichtige Geschäftsbeziehung zu Ludger Baumgartlinger, dem alten Herrn von Manfred; er nahm ihm gelegentlich Häute ab, um sie zu verarbeiten. Daher schimpften unsere Väter, wann immer sie uns raufen sahen. Als Riese war es dem Metzgersohn ein Leichtes, mich zu verdreschen – dazu musste er mich jedoch erst einmal erwischen, denn ich war flink und durch Prügeleien mit meinem größeren Bruder abgehärtet. So konnte ich sogar gegen den körperlich überlegenen und älteren Metzgersohn einige Tritte landen. Wenn ich Manfred veräppeln wollte, nannte ich ihn ’s Gautabeimerl, was er wohl mit dumm und nutzlos gleichstellte. Ich fand den Kerl einfach einfältig und da er so groß wie ein Baum war, passte der Name am besten. Er hingegen versuchte mich mit ‘Stinker‘ zu beleidigen, was ich nicht sonderlich einfallsreich von ihm fand. Aufgrund unseres Gerbereigewerbes und des damit verbundenen starken Geruchs mussten wir am Stadtrand wohnen. Ich roch öfters nach Chemikalien und gebeizter Haut, obwohl meine Mutter sehr auf die Sauberkeit ihrer Jungen achtete. Was konnte ich schon dafür, dass man den Gestank schlecht aus der Kleidung bekam? Jeder muss sein Brot irgendwie verdienen und mein Vater beherrschte dieses gefährliche Handwerk wie im Schlaf. Er hatte sich noch nie ernsthaft verletzt und sogar Milzbrand, eine unter Gerbern verbreitete Krankheit, war in unserer Familie noch nicht aufgetreten. Derzeit lief unser Geschäft obendrein so gut, dass Vater mit dem Gedanken spielte, einen Gesellen einzustellen. Vor einem Metzgersohn musste ich mich jedenfalls nicht verstecken.

Am Sonntagmorgen – wir verrichteten noch einige kleinere Arbeiten im Haus, ansonsten war der Tag frei – wanderten meine Gedanken zur kommenden Nacht. Meiner Familie wollte ich mich nicht anvertrauen, sonst hätte ich meine heile Welt um Ursula offenbaren müssen. Außerdem käme ich nicht darum darzulegen, dass ich versuchte, bei der Aufklärung des Mordes mitzuhelfen und dies alles nur, um ein Mädchen zu beeindrucken, welches im Stand meilenweit zu hoch für mich war. Meine Eltern hätten mir sicherlich alles verboten. Also schwieg ich und ging mit der Familie brav in die Kirche.

Ich war froh darüber, dass wir nicht so oft die Messen besuchten, denn mir wurde dabei schnell langweilig.

In der Kirche kam mir eine Idee und ich betete im Stillen zum Herrgott, dass er, wo ich ihm überdies so wenig Arbeit bereitete und darauf achtete, dass er nicht seine Zeit verschwendete, er mir an diesem Abend beiseite stehen könnte, damit alles gut ausginge.

Karl, mein zwei Jähre älterer Bruder, brachte mich nachmittags auf andere Gedanken, als er mit einem Kumpel aus der Nachbarschaft zu einem Ringkampf ging, der weiter draußen auf einer Pferdekoppel ausgetragen wurde. Ennlin, das kleine Mädchen der Kräuterfrau, bemerkte uns auf dem Weg. Ich befürchtete das Schlimmste, aber sie traute sich nicht näher heran und begnügte sich damit, uns zu folgen. Wahrscheinlich, weil Karl und sein Freund fast doppelt so groß und breit waren wie Ennlin selbst. Wir ignorierten die Kleine daher und erreichten die Koppel.

Es waren wenige Zuschauer anwesend, da es sich nur um arme Bauern handelte, die einander im Ringen maßen. Dennoch fieberte ich bei jedem Kampf mit. Einige bewaffnete Männer standen ebenfalls herum und Karl, der schon eher einem Mann als einem Jungen glich, stellte sich mutig zu ihnen: „Seid Ihr auf dem Weg in den Krieg mit Frankreich, werte Herren?“

„Nicht Frankreich, Junge, es geht gegen die Kuhschwytzer11! Das lumpige Bauernpack plündert und brandschatzt, wo es kann. Dem muss Einhalt geboten werden!“

Karl plauderte noch ein wenig mit den Kämpfern, bis der nächste Ringkampf begann. Anschließend versuchte mein Bruder, mir ein paar Kniffe beizubringen – auch er konnte nicht wirklich Ringen, hatte jedoch schon mehrere Kämpfe gesehen und sich einige Dinge abgeschaut. So endete es darin, dass wir uns auf dem Boden herumwanden und es darauf anlegten, den anderen festzuhalten, was Karl letztendlich auch gelang. Aber bestimmt nur, weil ich so viel lachen musste.

*

Als abends in der Ferne die Abendglocke12 läutete, zog ich mich vom Essen zurück. Während meine Familie noch zu Tisch saß, gab ich vor, mir die Beine vertreten zu müssen.

Eilig machte ich mich auf den Weg zur Lechbrücke.

In dieser dunklen Märznacht verdeckten dichte Wolken den Mond, doch es blieb trocken. In den Hütten und Häusern brannte noch Licht und gelegentlich wurde eine Tür endgültig verriegelt, während ich vorüberging. Trotz der Gewissheit, dass viele Menschen um mich herum ihren Abend genossen, fühlte ich mich auf der finsteren Straße einsam.

Der Drang, mich umzusehen, wurde immer stärker. ‘Warum glaubt man im Dunklen oft, dass jemand hinter einem ist?‘, fragte ich mich selbst. ‘Tagsüber ist das doch auch kein Problem.‘

Trotzdem drehte ich mich abrupt um.

Die Straße war verlassen.

Natürlich, wer sollte mir auch folgen? Wieso spürte ich dennoch dieses unangenehme Gefühl, beobachtet zu werden? Indem ich an Ursula dachte, versuchte ich mich zu beruhigen. Was würde sie wohl sagen, wenn ich den Mord aufklärte? Selbst ihr Vater wäre danach besser auf mich zu sprechen, dessen war ich mir sicher. Wer der Stadt einen großen Dienst erwies, war sicherlich in Ulrich Fuggers Augen höher angesehen.

Beschwingter setzte ich meinen Weg fort.

An der Lechbrücke wurde mir leichter ums Herz – ein Nachtwächter patrouillierte mit einer Laterne auf und ab. Ich sandte ein kurzes ‘Danke‘ in Richtung Himmel – jetzt lauerte mir bestimmt keine Bande mehr auf. Doch ich war vor ein anderes Problem gestellt worden: Wie kam ich an dem Wächter vorbei, ohne dass dieser mich gleich wieder nach Hause schickte? Und wie wollte sich der Unbekannte mit mir auf der Brücke treffen, wenn alle naselang der Mann mit der Laterne vorbeimarschierte?

Ich beschloss, erst einmal abzuwarten. Noch blieb genügend Zeit.

Der Mond leuchtete durch einige Wolkenfetzen. Als der Wächter auf der anderen Flussseite war, kletterte ich links der Brücke ans Ufer hinab und schlich vorsichtig flussaufwärts. Der grobe Kies knirschte unter meinen Schuhen, doch das Geräusch schien mir zu leise, um von dem Wachmann bemerkt zu werden.

Nicht weit entfernt entdeckte ich einen höher gelegenen Erdvorsprung – der ideale Warteplatz. Von hier aus waren Brücke und Fluss gut zu überschauen. Auf der anderen Uferseite konnte ich die Stadtmauer ausmachen. Dahinter drängten sich die ersten Häuser den Hang in Richtung der Augsburger Stadtmitte hinauf.

Wolken schoben sich vor den Mond und tauchten die Stadt in dunkle Schatten. Düsternis breitete sich aus, in welcher der Lech schnell und still vorüberfloss. Mich fröstelte – und das nicht aufgrund der nächtlichen Kühle.

Ich war gespannt, ob ich wirklich Hinweise über den Ermordeten oder sogar den Täter bekommen würde. Oder hatte sich der Kerl nur aufgeblasen und alles nur versprochen, damit ich seinen Botengang erledigte? Ein Gefühl sagte mir, dass er das nicht nötig gehabt hätte, also musste etwas dran sein – irgendwas wusste der unheimliche Mann.

Als der Nachtwächter einmal mehr auf meiner Höhe war, bekam ich Angst, dass er mich doch erspähen könnte – der Laternenschein war hell genug, um bis zu mir zu leuchten. Daher verließ ich meinen Ausguck und kauerte mich darunter. So konnte ich zwar nicht mehr die gesamte Brücke einsehen, war selbst jedoch besser geschützt.

Der nächste Glockenschlag zur Nachtruhe konnte nicht mehr fern sein und mir war noch keine Lösung eingefallen, wie ich die Wache passieren könnte. Schwimmen wäre die letzte Möglichkeit, was aber meine Eltern anhand der nassen Kleider bemerken würden.

Während ich nachdenklich auf die Brücke starrte, nahm ich eine Bewegung auf der anderen Seite wahr. Der Nachtwächter hatte bereits kehrtgemacht und lief in meine Richtung. Dahinter folgte eine Gestalt. Trotz der Dunkelheit zweifelte ich nicht daran, dass dies der Kerl vom Perlachplatz war. Er hielt den Abstand zur Wache gleichmäßig groß und bewegte sich in derselben Geschwindigkeit hinter ihr her. Ich fand das kühn, denn der Wachmann bräuchte sich nur umzudrehen und würde ihm direkt ins Angesicht blicken. Er tat es jedoch nicht – warum auch – worauf sein Verfolger zu setzen schien. Was aber würde er tun, wenn die Wache am Ende der Brücke kehrtmachte, um wieder in Richtung des Osttores zu marschieren?

Gespannt verfolgte ich die hell erleuchtete Gestalt mit dem Schatten im Schlepptau. Mir schien, als vergrößerte sich der Abstand zwischen den beiden Männern. Gleich würde der Wächter wenden – nur noch ein paar Schritte – und schon bewegte sich die Laterne wieder in die entgegengesetzte Richtung. Ich blinzelte. Wo war der dunkle Verfolger abgeblieben? Der Schatten war die ganze Zeit hinter der Wache hergelaufen, jedoch mit einem Mal verschwunden. Ich rieb mir die Augen und spähte genauer hin – der Nachtwächter lief gemächlichen Schrittes weiter auf die Stadt zu.

Das Läuten der Nachtglocke zerriss die Stille.

Plötzlich vernahm ich im Augenwinkel eine Bewegung – der Schatten war wieder da! Der Kerl stand auf der Brücke und schien dem Wächter hinterher zu blicken, um anschließend nach rechts aus meinem Sichtfeld zu verschwinden. Mir schauderte. Wie hatte er das gemacht?

Ein Knacken ließ mich herumfahren. Ich konnte einen Schrei nur mühsam unterdrücken, denn über mir erschien unvermittelt das Gesicht des Mannes vom Perlachplatz. „Guten Abend, Mathes.“

Ich brachte keinen Ton heraus. Der Kerl sprang leichtfüßig zu mir herunter, ergriff meine Hand und zog mich das Ufer entlang, tiefer ins Dunkel der Nacht hinein.

Der Lech begleitete uns, gluckste hier und da, während wir flussaufwärts liefen. Bald konnte ich die dunklen Umrisse der Hütten erkennen, in denen die Ärmsten hausten. Das letzte Mal, dass ich zu den morschen Holzhütten am Fluss gegangen war, lag lange zurück. Dürre Finger hatten sich unter den Brettern hervorgetastet und den halben Laib Brot sowie wenige Karotten eilig von mir weggezogen, als könnte ich es mir anders überlegen. Manchmal erhaschte ich Augen, die mich aus der Dunkelheit heraus aufmerksam beobachteten. Man wusste demnach, wer da kam und etwas seines Wohlstands teilte. Mein Vater hatte nichts dagegen, dass wir unsere Reste abgaben, weil er davon überzeugt war, dass einige Diebe und Ganoven aus eben jener Armensiedlung heraus ihr ungesetzliches Handwerk betrieben. Aufgrund der milden Gaben würden sie unsere Gerberei verschonen. ‘Man bestiehlt nicht denjenigen, der einem etwas schenkt‘, pflegte er zu sagen.

„Hier kann uns der Nachtwächter auf jeden Fall nicht mehr sehen“, flüsterte mein unheimlicher Begleiter, wobei mir sofort wieder seine lang gezogene Redeweise auffiel. Als würde er jedes Wort in Gedanken halb wiederholen, bevor er das nächste sagte. „Mein erster Tipp an dich: Unterschätze nie die Leuchtkraft von Laternen oder Fackeln im Dunkeln. Hab dein Gesicht bereits von der Brücke aus im Lichtschein entdeckt, auch unter dem Erdvorsprung. Der Wächter trägt die Laterne über der Schulter, damit seine Augen nicht geblendet werden. So kann er weit in die Nacht sehen und ein helles Gesicht spiegelt das Licht wider. Hast Glück gehabt, dass er nicht aufmerksamer das Ufer absuchte.“

Ich nickte und fasste etwas Mut: „Woher kennt Ihr mich?“ „Ich kenne dich nicht“, antwortete er und ergänzte mit einem schiefen Grinsen: „Hab mir das alles nur zusammengereimt. Du riechst nach einem Gerber. Und als du neulich weggehen wolltest, hast du dich instinktiv nach Hause gewandt und ich wusste sofort, zu welcher Gerberei du gehörst – so viele gibt’s ja nicht. Deinen Vornamen kannte ich dadurch nicht. Dass du Mathes heißt, habe ich erst im Nachhinein herausgefunden.“ Ich war zugegebenermaßen erstaunt, wie er das gemacht hatte. War der Mann ein Spürhund? Jemand, der für andere gegen Bezahlung ermittelnde Arbeiten leistete?

„Wie heißt Ihr eigentlich?“

„Nenn mich Jost“, entgegnete er. Als ich die Brauen hochzog, fügte er hinzu: „Denk ruhig darüber nach, ob das mein richtiger Name ist.“

Missmutig blickte ich zu Boden – warum wusste er immer, was in mir vorging?

„Mach dir keinen Kopf, Mathes, ich bin solche Situationen gewohnt. Dein Blick sprach Bände.“

Ich beschloss, ihn auch mit ‘du‘ anzureden. Normalerweise mussten wir Kinder die Erwachsenen mit ihrem Titel oder in höflicher Form ansprechen, doch Jost schien es einerlei zu sein.

„Wie hast du auf der Brücke geschafft, dass der Wächter dich nicht bemerkte?“ Widerstrebend ergänzte ich: „Das war bewundernswert.“

„Fiel mir nicht schwer – zur Not hätte ich ja auch schwimmen können. Oder einfach am Nachmittag bereits rübergehen und hier warten.“ Er grinste wieder und ich stellte bei seinen Worten fest, wie er sich um eine klare Antwort drückte. „Genug geplaudert“, riss mich Jost aus meinen Gedanken. „Du wolltest Auskünfte und ich glaub, du willst mir ebenfalls etwas mitteilen, richtig? Kannst dir vielleicht denken, dass ich dir deine Geschichte, dass du dich beim Büttel geirrt hattest, nicht abgekauft hab.“

Ich versuchte, ihn so offen wie ich konnte anzusehen: „Nein, das war tatsächlich nicht gelogen. Ich habe mir eine Auskunft vom Büttel erhofft und dachte, wenn ich ihn mit einem Köder locke, bekomme ich etwas raus. Klappte leider nicht.“

Jost nickte und zog dabei die Mundwinkel nach unten. Sein Blick schweifte über den Lech. „In Ordnung. Dass du mit einer Lüge an den Büttel rankommen wolltest, finde ich mutig von dir. Schade, dass nichts Neues herausgekommen ist. Gehen wir die Hinweise durch, die wir haben und vervollständigen somit das Wissen des Anderen. Ich bin ebenso an der Aufklärung des Mordes interessiert.“

Mir lag ein ‘Warum‘ auf den Lippen, schluckte es jedoch herunter, um nicht Gefahr zu laufen, auch meinen Grund offenbaren zu müssen. Ich berichtete ihm in kurzen Worten, was ich wusste.

„Siehste“, meinte Jost, „du bist mir schon voraus – ich habe die Leiche nicht gesehen.“

„Ich habe mich gefragt“, gab ich zurück, „wie jemand an dieser Stelle so eine Arbeit verrichten konnte. Die Strömung ist zu stark, um allein ein Boot hinzufahren, also muss es das Werk von mehreren Personen sein, richtig?“

„Gute Frage, Mathes. Gleichzeitig sei auch über Folgendes nachgedacht: Warum musste es dort ablaufen?“

„Weil man diese Stelle von der Brücke aus am besten sehen kann? Er wollte die Leiche ja zur Schau stellen.“

„Richtig“, entgegnete Jost. „Doch was ist mit der Kiesbank in der Mitte – wäre jene kleine Insel nicht ebenfalls gut sichtbar, aber viel einfacher zu erreichen?“ Nickend stimmte ich zu, während er fortfuhr: „Man wollte, dass es nicht nur eine gut sichtbare Stelle ist, sondern außerdem die Frage aufwerfen, wie es dort geschehen konnte. Man will den Büttel verunsichern und auf falsche Fährten locken, das meine ich.“ „Also hat man die Leiche bereits vorher zerstückelt?“, fragte ich aufgeregt und froh, endlich alles mit jemandem aufarbeiten zu können.

„Mit Sicherheit. Ich glaube, dass sogar die Löcher für die Eisenstäbe schon vorhanden waren, damit es vor Ort ganz schnell ging: Boot festmachen, Leichenteile heraustragen, an die richtige Stelle legen, Nägel durch die Löcher im Körper stecken und mit leichten Schlägen durch den Kies bohren, damit es nicht zu viel Lärm macht. Siehste, das alles kann recht flink erledigt werden.“

„Also wollte er bestimmt auch erreichen, dass es nicht einfach weggeräumt werden kann und viele Leute auf der Brücke den Toten sehen. Warum dieser Aufwand mit der Zerstückelung?“

„Alles für den Anblick. Der oder die Mörder mussten sichergehen, dass es gesehen wird. Man wollte, dass die Leute schockiert sind und es sich schnell herumspricht. Warum dies alles allerdings der Plan war, steht noch in den Sternen. Ach ja, hab gehört, dass auch die Geschlechtsteile abgeschnitten wurden?“

Ich musste schwer schlucken und erwiderte ausweichend: „Das konnte ich nicht so gut sehen.“

„So erzählt man es sich aber. Alles weg.“ Jost machte eine schnelle Handbewegung an seiner Hose, grinste auf widerliche Weise und sah mich abwartend an.

„Warum wurde …, na ja …, wieso hat man die …“, stammelte ich, denn ich fand das ziemlich widerlich und bekam dabei ein ungutes Gefühl in den eigenen Lenden. „Warum man ihn so entstellte?“, fiel Jost mir ins Wort. „Es ist ein wichtiges Detail, doch ich bin unsicher, ob es nicht auch nur eine Ablenkung darstellt. Man tut dies entweder, weil man zeigen will, dass der Mann keine Fortpflanzung mehr vollziehen kann und man die Sippe ausrottet. Eventuell wollte sich jemand für etwas rächen, Ehebruch oder Ähnliches. Hingegen kann es eben auch sein, dass es willkürlich geschah, um vom eigentlichen Grund abzulenken.“

„Und das Schild? Ich konnte nicht sehen, was darauf stand, aber jemand flüsterte den Namen ‘Irmala‘.“

„Hmm … Irmala … das sagt mir nichts, doch jetzt kann ich dieser Sache nachgehen. Womöglich sollte der Mord an jemanden erinnern. Der Tote hieß jedenfalls nicht so.“ Während er einen freudlosen, lachenden Laut von sich gab, kam mir ein weiterer Gedanke: „Könnte man die Stelle schwimmend erreichen?“

Jost nickte: „Ja, ich denke schon, nur wie willst du die Leichenteile mitschleppen? Außerdem hattest du mir eben erzählt, dass sie mit großen Nägeln befestigt worden waren.“ Er hatte recht – bereits die Stange, die ich beim Büttel in der Hand hielt, war mehrere Pfund schwer gewesen. Mit sechs Stück davon und einer Leiche war an ein Schwimmen nicht zu denken.

„Hat man nach einem Boot gesucht?“, fragte ich, mich an den nächsten Strohhalm klammernd.

„Anscheinend schon, gefunden wurde jedoch nichts.“

„Und wenn der Mörder es woanders wieder an Land zog?“, warf ich ein. „Vielleicht auch viel weiter raus als nur ans Ufer?“

„Mir wäre die Gefahr zu groß, dass es entdeckt würde. Doch was brächte es uns, wenn wir eines fänden? Dann wüssten wir, welches Boot er benutzt hat, sonst nichts weiter. Er wird keinen Hinweis darin hinterlassen haben. Nein, ich vermute, er versenkte es an einer tieferen Stelle im Lech.“

Ich verdaute diese Dinge erst einmal und blickte auf die entfernte Brücke, auf der immer noch der Nachtwächter patrouillierte. Wenn es so war, wie Jost es dargestellt hatte, könnte es ein einzelner Mann mit einem leichten Boot geschafft haben. Was war mit dem Schild? Es musste des Rätsels Schlüssel sein.

Während ich nachdachte, fiel mir auf, dass bisher nur ich die Hinweise geliefert hatte. Jost schlussfolgerte nur weiter und versuchte, das Gebilde zusammenzusetzen.

„Welche Auskunft hast du denn eigentlich?“, fragte ich daher direkt.

„Ich weiß, wer der Tote ist“, gab er ebenso schnell zurück. Ich glaubte fast, mich verhört zu haben. Warum hatte er das nicht gleich gesagt? Wieso standen wir hier des Nachts am Lech herum?

„Du weißt, wer es ist? Wissen es die Ratsknechte auch? Ist es dann nicht viel einfacher, die Umstände herauszufinden? Vielleicht liegt ja etwas in seinem Haus, das Hinweise liefert?“

Jost zog wieder die Mundwinkel nach oben, was wohl erneut ein ekliges Lächeln darstellen sollte. Leise und noch langsamer, als er es sowieso schon tat, entgegnete er: „Das ist nicht so einfach. Der Büttel hatte ausfindig gemacht, wer der Tote ist. Er hieß Simon Bärschneider, war ein Trunkenbold und Taugenichts, lebte in irgendeinem Schuppen weit draußen hinter Stadtbergen, fast schon im großen Wald. Dort gibt es nicht viel zu sehen. Die Knechte waren bereits da und haben nichts außer Unrat und Tand gefunden.“

Ich blickte bekümmert auf den Boden. Auch diese Spur versiegte. Was konnte ich denn jetzt nur tun? Musste ich meinen verrückten Plan aufgeben?

Als hätte er erneut meine Gedanken gelesen, sagte Jost: „Tja, es sieht so aus, als würden wir hier nicht weiterkommen, was mir sehr leidtut. Werde versuchen, herauszufinden, was dieser Name bedeutet. Es läuft wohl darauf hinaus, dass es ein Mord an einem Taugenichts war, den man zur Schau stellen wollte, als Warnung für andere Nichtsnutze.“

Seine Worte hörte ich zwar, aber ich glaubte ihm nicht. Dazu war sein Aufwand, mich hier zu treffen, zu hoch gewesen. Ich versuchte, niedergeschlagen dreinzuschauen, um ihm nicht nochmals meine Gedanken zu offenbaren.

Jost fuhr fort: „Vielleicht sehen wir uns irgendwann einmal wieder. Bleib bitte noch eine kurze Weile hier, damit wir zusammen nicht auffallen. Alles Gute, Mathes, und halte dich vom Licht fern, wenn es dir nicht dienlich ist.“

Damit ging der Mann den Fluss entlang. Ich murmelte ihm ein ‘Mach’s gut‘ hinterher, woraufhin er sich umwandte und rief: „Ach ja, die Übergabe des Briefes hast du – tadellos – durchgeführt!“ Jost musste dabei lachen, was ein wenig wie das Krächzen eines Raben klang. Er drehte sich um, erklomm die Böschung und verschwand.

‘Der Kerl ist irgendwie eigenartig‘, dachte ich mir. ‘Nein, abstoßend trifft es besser. Unheimlich.‘ Er trug nicht die feinen Kleider wie neulich auf dem Perlachplatz, sondern ein eng anliegendes, dunkles Lederwams und dünne Handschuhe. Einen billigen Eindruck machten diese Dinge nicht auf mich, er schien es zu einigem Wohlstand gebracht zu haben. Dennoch glaubte ich, dass seine Arbeit nicht ehrlicher Natur war. Sein gesamtes Gehabe machte ihn äußerst verdächtig.

Traurig schweifte mein Blick über den Fluss. Eigentlich hatte ich mir von dem Treffen mehr versprochen. Klar, jetzt kannte ich den Namen des Toten, war aber dennoch keinen Schritt weiter. Jost wusste anscheinend auch nicht mehr oder log mich die ganze Zeit über an. War er ein Komplize bei dem Mord gewesen und wollte sicherstellen, dass ich nichts wusste? Ich verwarf diesen Gedanken gleich wieder, das schien mir zu absurd. Eines war klar: Er tat die Sache nicht so leicht ab, wie er mir weismachen wollte. Bestimmt verfolgte er eine weitere Spur, doch da ich ihm nicht mehr helfen konnte, ließ er mich fallen.

Als ich mich schließlich auf den Heimweg begab, überkam mich erneut das Gefühl, beobachtet zu werden. Ich tat es ab und schalt mich meiner Ängstlichkeit. Nur weil es finster war und aus den Häusern kein Licht mehr nach draußen drang, fühlte ich mich unsicher.

‘Das ist nur die Dunkelheit‘, redete ich mir im Stillen gut zu, während ich durch eine düstere Gasse schlich, um möglichen Nachtwächtern auszuweichen.

Ein jähes Scheppern ließ mich zusammenzucken und vor Schreck einen Schritt beiseite springen.

Etwas kreischte auf und huschte vorüber.

Kurz darauf rannte ein kleiner Schatten an der Hauswand entlang und verschwand um die Ecke.

Ich atmete pfeifend aus – warum musste diese Katze genau jetzt, wenn ich vorbeiging, den Kochtopf oder was auch immer da gestanden hatte, umwerfen?

Erneut beschleunigte ich meine Schritte und war dabei wütend über mich selbst. ‘Ein zäher und tapferer Junge, die Zunge selten im Zaum, doch kaum wird es dunkel, pisst er sich in die Hosen‘, dachte ich und war dennoch heilfroh, zu Hause anzukommen. Dort übersprang ich den kleinen Bach, den wir für unsere Gerberei verwendeten, kletterte über die Mauer beim Abort und huschte von hinten ins Haus.

Mein Bruder lag im Halbschlaf und bemerkte mich, als ich den Platz auf unserer Pritsche einnahm.

„Wo hast du dich denn rumgetrieben? Hab die Tür hinten aufgelassen“, murmelte er schläfrig.

„Bauchweh vom vielen Essen, musste nur etwas herumlaufen.“

Grummelnd schien er sich damit zufriedenzugeben. Ich hingegen lauschte seinem gleichmäßigen Atem und dachte darüber nach, was ich hinsichtlich des Mordes übersehen hatte. Mir schien klar, dass es nicht einfach eine Schandtat an einem unbeliebten Kerl war.

*

Am kommenden Tag zog Schwester Sarah durch die Straßen, woraufhin meine Mutter sie hereinbat, um mit ihren Söhnen ein Gebet zu sprechen. Wir mochten Sarah gerne, denn immer, wenn wir als Kinder am Frauenstift Sankt Stefan vorbeigekommen waren, hatte sie uns warme Milch mit Honig zubereitet und mit uns über das Leben, Christus und Gott geplaudert. Außerdem las sie uns gelegentlich Kindergeschichten vor, die allesamt mit ‘Und sie lebten lange und glücklich in Frieden bis ans Ende ihrer Tage‘ endeten. Sarah versuchte stets, alles in einem kindergerechten Ton zu umschreiben, um es nicht so langweilig wie die endlosen kirchlichen Litaneien auszuführen. Sie war keine richtige Nonne oder Ordensschwester, sondern eigentlich die Bedienstete einer Kanonissin. Doch aufgrund ihrer langjährigen, strengen Frömmigkeit galten wohl Sonderrechte. Sarah war so gläubig, dass sie mitunter tagelang fastete und Buße tat. Warum und wofür auch immer, denn sie verhielt sich in unseren Augen ausschließlich korrekt und wir fragten uns, weswegen sie sich denn so lange quälen musste. Da sie jedoch immer so freundlich zu uns Kindern war, hakten wir nicht nach. Stets trug sie einen dunklen Schleier vor dem Gesicht und man sah nur ihre Lippen, wenn sie sprach. Ich hatte meine Mutter einmal danach gefragt und erfahren, dass Sarahs Antlitz eine hässliche Narbe verunstaltete und sie sich deswegen verschleierte.

Ich hoffte, dass ich bald weitere Erkundigungen über den Mord einholen konnte, doch es sollte über eine Woche vergehen, bis ich die Gerberei wieder verlassen durfte. Aufgrund der frischen Schweinehäute aus der vergangenen Schlachtung waren wir so beschäftigt gewesen, dass ich nicht einmal am Dienstag den Markt hatte besuchen können. Ich fand das ausnahmsweise gar nicht schlimm; bezüglich des Mordes war noch nichts aufgeklärt und ich wäre vor Ursula sowieso schlecht dagestanden. Falls sie mich denn überhaupt gesprochen oder ihr griesgrämiger Vater dies zugelassen hätte.

Der heutige Dienstag jedoch sollte mich in schockierender Weise an meine Erlebnisse aus der vorherigen Woche erinnern. Vater wollte aus geschäftlichen Gründen auf den Markt und so konnte ich mitkommen, ohne dass ich mich wie sonst so sehr beeilen musste. Karl begleitete uns ebenfalls, während meine Mutter für die Hausarbeit zurückblieb.

Die Sonne schien und unser alter Herr war bester Laune. Er zeigte Karl und mir alle nur denkbaren Möglichkeiten auf, wo unsere Werkteile auf dem Markt weiterverarbeitet worden waren. Sei es beim Schuhmacher, Sattler, Hutmacher, Riemer, Kürschner13 oder bei anderen spezialisierten Gerbern – unser Leder wurde vielfältig verwendet.