Düstere Lande: Schatten des Zorns - Kiara Lameika - E-Book

Düstere Lande: Schatten des Zorns E-Book

Kiara Lameika

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Beschreibung

Augsburg, 1499, Spätmittelalter: Dem jungen Mathes bleibt keine Zeit, die Aufklärung der Augsburger Mordserie zu feiern: Verstümmelte Tierkadaver liegen in den Straßen, die Inquisition verbreitet Angst und Schrecken und Mathes alter Feind erscheint in der Stadt: Der Hüne, Handlanger des verurteilten Mörders, sinnt auf Rache. Als Mathes' Freundin Ennlin von der Bedrohung erfährt, eilt sie ihm zur Hilfe. Bei der gemeinsamen Flucht vor Mathes' Verfolger und der Suche nach Antworten stoßen die beiden Jugendlichen auf ein Netz aus Erpressungen und gefährlichen Intrigen. Und mit einem Mal ist auch Ennlins Leben bedroht... Nach "Das Mahnmal" der zweite Band der Mittelalterreihe "Düstere Lande".

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Kapitelübersicht

1

Eine alte Schuld

2

Scheiterhaufen

3

In verbotenen Schlupfwinkeln

4

Teufelskräuter

5

Geräusche der Nacht

6

Gutenachtgeschichte

7

Der blutbefleckte Dolch

8

Mistelbeeren

9

Der Hohe Rat zu Augsburg

10

Kleine Spürhunde

11

Die Bestie

12

Jahrhunderte überdauernde Zeilen

13

Mitternacht

14

Hexenjagd

15

Unschuld

16

Rabenkinder

17

Augsburgs hohe Herren

18

Licht ins Dunkel

19

Verbotene Künste

20

Der Hexenhammer

21

Regungslos

22

Furienzorn

23

Der rubinrote Ring

24

Feuersbrunst

25

Worte des Todes

26

Der Schmerz Christi

Anmerkung der Autorin

(falls Sie den ersten Band der Reihe „Düstere Lande“ nicht gelesen haben):

Im folgenden Buch werden

viele Handlungsstränge aus „Das Mahnmal“aufgegriffen und weiterverfolgt.

Sie finden eine grobe Zusammenfassung des ersten Bandes

auf den letzten Seiten dieses Buches.

Viel Freude beim Lesen!

Kiara Lameika

Kapitel 1

Eine alte Schuld

Du riechst so gut –

ich lechze nach Blut.

Dein Herz schreit vor Angst, indes du um dein Leben bangst.

Ein Haken noch,

ich krieg dich doch!

Ein Sprung, ein Biss,

und Schluss, gewiss.

Das Sein, der Tod,

das Moos, ganz rot.

Ein Schrei, der die Nacht zerreißt – deine Seele, die über dem Walde kreist.

Ich zuckte zusammen, als ich gegenüber eine Bewegung wahrnahm.

Eine Gestalt löste sich gleich einem Schatten aus der schmalen Gasse und trat in den Schein des Mondes. Mir stockte der Atem: Auf der anderen Straßenseite stand der Hüne. Fahles Licht erhellte sein Antlitz; ein Gesicht, das mir wie eingebrannt schien, seit er mich damals umbringen wollte. Die Ereignisse in Biberach lagen bereits Monate zurück: Der tote Spürhund, der Brunnen, mein Überlebenskampf. Im Laufe der Zeit war ich versucht gewesen, die Erinnerungen verblassen zu lassen, hatte gehofft, dass ich dem Hünen nie wieder begegnen würde.

Sein Blick fixierte mich, während er über das Pflaster schlich. Sprungbereit, wie ein riesiges Tier, mit Wildheit und Blutrünstigkeit in seinen Augen, die keinen Zweifel daran zuließen, warum er hergekommen war: Der Hüne wollte Rache. Ich fühlte mich wie gelähmt und starrte ihn an. Ohne es zu bemerken, hatte sich meine Hand um den großen Zahn gelegt, der mir um den Hals hing. Diesen Talisman trug ich seit unserer letzten Begegnung als Trophäe.

Eigentlich hätte ich losrennen müssen, doch ich tat es nicht.

Der riesige Kerl war schon halb über die Straße, als er mit einem Mal stehenblieb.

Eine Hand an meiner Schulter ließ mich herumfahren. Den Schrei, den ich ausstoßen wollte, konnte ich nur mühevoll zurückhalten.

„Was stehst du hier rum, Bursche?“

Erschrocken blickte ich in ein mürrisches, von einem Helm mit Wangenschutz umrahmtes Gesicht. „Entschuldigung, Herr“, stammelte ich nach Atem ringend, als ob ich zuvor gerannt wäre und warf einen Blick zurück.

Die Straße war leer; der Hüne verschwunden.

Die behandschuhten Hände des Nachtwächters packten mich jäh bei den Schultern. „Schau mich gefälligst an, wenn ich mit dir rede, Bengel!“, fuhr der Mann mich an, während er mir eine Laterne vor das Gesicht hielt. „Was treibst du hier zu dieser Stunde? Erkläre dich!“ Seine Hand ergriff mich grob am Hals. „Entschuldigung, Herr“, war erneut alles, was ich herausbrachte.

„Entschuldigung Herr, Entschuldigung Herr“, äffte er mich nach. „Ist das alles, was du sagen kannst, du Hirschkalb?“

„Nein, Herr.“ Der Schreck, der mich versteinert hatte, ließ nach. „Herr Etzlaub1, der Kartograf, ist mein Meister. Er schickte mich eben erst nach Hause.“ „Kenne ich“, gab der Nachtwächter knapp zurück. „Und dein Name?“

„Mathes Pelker, Herr.“

„Ah, du bist das.“ Seine Stimme wurde um einiges ruhiger. „Der Hauptmann hat deine Geschichte erwähnt. Bist ja so etwas wie eine Berühmtheit hier. Gibt’s schon wieder Morde, die du aufklären musst, kleiner Spürhund?“ Sein abfälliger Tonfall war unüberhörbar, doch ich ging nicht darauf ein.

„Nein, Herr. Ich arbeite für Herrn Etzlaub und muss jetzt nach Hause zurück. Leider entließ er mich so spät, als bereits Nachtstunde2 war.“

„Da war eben noch eine Gestalt auf der Straße, oder?“ „Ja, Herr, ein Mann.“

„Kennst du ihn?“

Ich schüttelte den Kopf. An einen Kameraden gewandt, der mir erst in diesem Moment auffiel, befahl der Nachtwächter: „Sieh nach, ob sich in der Gasse wer versteckt.“

Der Mann lief, die Laterne vor sich herhaltend, über die Straße und spähte in die Dunkelheit.

„Ich glaube, er verfolgt mich“, flüsterte ich vorsichtig. „Weil du ihn aufs Schafott bringen willst? Ein Mörder, ja?“ Seine Stimme wurde von einem belustigten Unterton begleitet.

„Nein, Herr“, gab ich leise zurück, darauf bedacht, mir nichts anmerken zu lassen. Es hatte keinen Zweck, dem Mann zu erklären, dass sich der Hüne bestimmt wegen meiner Mordaufklärung rächen wollte.

„Schon gut. War nicht so gemeint, Bursche. Aber Schirmig3 ist schon ein dummes Huhn, wenn ein Junge ihn überbieten konnte. Wie alt bist du eigentlich?“ „Vierzehn, Herr.“

„Hmm. Gerbersohn, richtig?“

Ich nickte und wollte noch etwas hinzufügen, doch der Mann schob mich bereits vor sich her. Der andere Wächter gesellte sich kopfschüttelnd zu uns. „Niemand zu sehen.“

Der Weg zu unserer Gerberei verlief schweigsam. Verstohlen blickte ich mich immer wieder um, doch der Hüne war nirgends zu entdecken.

Die beiden Nachtwächter waren genau im richtigen Augenblick gekommen, auch wenn sie mich zu Tode erschreckt hatten.

1 Etzlaub, Erhard, *1460, historisch, Kartograf und Kompassbauer.

2 Nachtstunde: Das Läuten der Abendglocke (sommers 22 Uhr) beendete den Ausschank. In der darauffolgenden Stunde musste jeder auf direktem Weg nach Hause gehen. Die Nachtglocke (sommers 23 Uhr) läutete die Nachtstunde bzw. Nachtruhe ein.

3 Schirmig, Rüdiger: Der Stadtbüttel in „Das Mahnmal“, der mit der Mordaufklärung beauftragt worden war.

Kapitel 2

Scheiterhaufen

Mathes

Ennlin

„Tötet die Hexe!“

„Verbrennt sie!“

Ich war fassungslos. Mathes, der neben mir stand, schien es ebenso zu ergehen. Die geknebelte Frau, die dort oben auf dem Prangerpodest an den Pfahl gebunden und mitunter des Verbrechens der Hexerei bezichtigt wurde, war uns wohlbekannt. Eine einfache Färbergehilfin zwar, aber doch, wie in vorherigen Prozessen bewiesen, ein böses Weib; die lange Liste mit Anschuldigungen war verlesen worden.

„Ruhe!“ Die Leute beruhigten sich nur langsam, während ein glatzköpfiger Mann angriffslustig in die Menge starrte. Anschließend wandte er sich dem Augsburger Bischof zu, der abseits auf einem Stuhl Platz genommen hatte.

Den Finger auf den Fremden gerichtet fragte Mathes: „Weißt du, wer das ist, Ennlin?“

Ich zuckte die Schultern, doch eine Frau neben uns erwiderte leise an meiner statt: „Das ist Sewolt Mertz, der Inquisitor. Ein harter Mann. Kein Weib, das in irgendeiner Weise mit dem Teufel im Bunde ist, kann vor ihm sicher sein.“

„Stimmt“, fügte eine andere hinzu. „Wenn er in eine Stadt kommt, brennen die Scheiterhaufen, heißt es. Pass auf dich auf, Kleine.“ Damit wandte sie sich wieder dem Pranger zu.

Mertz – diesen Namen hatte ich schon einmal im Zusammenhang mit Hexen gehört.

Rufe ertönten, die Stille forderten. Da ein Großteil der Menge nicht reagierte, pochte der Inquisitor mit seiner Hellebarde4 mehrere Male auf das Holzpodest, um sich der Aufmerksamkeit aller zu versichern. „Der Teufel“, erklang seine laute Stimme über dem Perlachplatz, „weilt stets unter uns. Auch heute, an diesem von Gott geschenkten herrlichen Tage versucht er, eure Gedanken zu vergiften. Der Höllenfürst will euch verführen, vom rechten Wege bringen und in seine Fänge leiten. Wisset, dass eure Seele dort brennen wird, wenn ihr seinen Verlockungen nachgebt! Es gibt kein Leben in der Hölle!“

Sich dessen bewusst, dass ihm jeder der Anwesenden lauschte, senkte er die Stimme für einen Augenblick: „Und doch finden sich immer wieder Menschen, die auf Satan hereinfallen; die Gott entsagen und ihre Seele verkaufen. Schändliche Ketzer.“

Der Inquisitor seufzte und blickte auf die Frau, die nahezu bewegungsunfähig an den Pfahl gefesselt war. Angsterfüllt schüttelte die geknebelte Angeklagte den Kopf.

„Dieses Weib mit dem Namen Margreta“, fuhr Mertz laut fort, „machte sich Verbrechen verschiedenster Art schuldig, ihr habt sie eben vernommen. Sie verschrieb ihr Blut dem Teufel und vollzog seine Tänze! Obendrein ließ diese Frau sich umtaufen und versprach Satan selbst ihren Leib, um im Gegenzug Hexerei und Zauberei zu erlernen. Ihre teuflischen Salben brachten dreizehn Kühe dazu, keine Milch mehr zu geben. Sogar ihr Fleisch war verdorben! Sie verhexte auf unterschiedliche Weise insgesamt sieben

Personen, wovon zwei Frauen selbst zu Hexen wurden. Männer verzauberte das Weib liebestoll. Wie Rüden liefen sie der läufigen Hündin hinterher!“

Ein Gemurmel ging durch die Menge, als viele sich bekreuzigten und ihren Glauben an Gott beteuerten. „Das ist noch nicht alles!“, rief der Inquisitor. „Dieses Weib schändete den heiligen Leib Christi, indem sie ihn aus ihrem Mund nahm und dem Teufel darbrachte. Als wäre das nicht genug, vertilgte sie das teuflische Nachtmahl Satans selbst! Sie ist ein Übel, eine ständige Versuchung, unersättlich und laufend in intimem Treiben mit Dämonen!“

Bevor die Menschen erneut unruhig wurden, fuhr er in ruhigerem Tonfall fort: „Dies alles hat sie gestanden. Ja, edle Bürger, das hat sie. Außerdem besagte5 sie andere Frauen, die bald ebenfalls angeklagt werden; Weiber, die mit ihr geheime Hexenversammlungen vollzogen. Der Hexenhammer hat hierfür die Strafe verkündet: Die Flammen sollen ihre Seele reinigen! Hic locus est, ubi mors gaudet succurrere vitae6!“

„Was ist der Hexenhammer?“, fragte ich Mathes leise, während die Menge aufjohlte, obwohl kaum einer der Anwesenden – uns beide eingeschlossen – Latein verstand.

„Davon habe ich gehört. Es soll ein Buch vom Papst sein“, entgegnete er. „Darin ist eine Bulle – so nennt man die Anweisungen des Papstes – enthalten, in der steht, dass man Hexen jagen muss. So hat es mir jemand erzählt, aber ich habe das Buch noch nie gelesen.“

„Ein Buch? Der Papst bestimmt, wer verbrannt wird?“, fragte ich. Mein Freund jedoch antwortete nicht und starrte wie gebannt auf den glatzköpfigen Inquisitor. Dieser war vor die nackte Frau getreten, nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände und drehte den Kopf zur Seite. Dort, wo sie hinsehen sollte, schichteten einige Männer bereits einen großen Holzund Reisighaufen um einen Pfahl herum auf.

Mich überkam Übelkeit. Schon einmal musste in Augsburg eine Hexe durchs Feuer sterben – allerdings außerhalb der Stadtmauern – doch die Frau war mir unbekannt gewesen. Ich hatte mir gedacht, dass ihre Schuld bewiesen war, wenn ein Inquisitor sie verurteilte. Die Färbergehilfin hingegen lebte ein ruhiges und in meinen Augen braves Dasein – wie war es möglich, dass sie die ganze Zeit über mit dem Teufel paktiert hatte?

„Verbrennt sie endlich, die Hexe!“, schrie ein Mann neben uns. „Weg mit der Teufelin!“

„Schnell, bevor sie noch jemanden verhexen kann!“, hörte ich eine Frauenstimme.

Weitere Schmähungen und Beleidigungen wurden in Richtung der angeklagten Färbergehilfin gerufen.

In der aufkommenden Unruhe bemerkte ich, wie Mathes sich umsah. Sorge lag in seinem Blick und er trat ein paar Schritte zurück, um bessere Sicht zu haben. Bestimmt suchte er den Platz nach dem Hünen ab, von dem er mir erzählt hatte. Äußerlich schien der Junge locker damit umzugehen, doch mir gegenüber konnte er seine Anspannung nicht verbergen. Diese war nicht verwunderlich – der Kerl hatte ihn töten wollen und gedachte wohl, es jetzt zu beenden.

Ich ertappte mich ebenfalls dabei, die Menschen um mich herum zu beobachten: Hier ein Patrizier in edler Weste, davor ein Tischler, daneben ein Kaufmann in einem verzierten Gewand und dahinter ein Gaukler. Wann immer eine Kundgebung auf dem Perlachplatz anstand, waren die Bürger Augsburgs dabei. Hunderte mussten um den Pranger versammelt sein. „Ja, sie wird den reinigenden Flammen übergeben!“, rief der Inquisitor in die Menge. „Ihr braucht keine Angst zu haben, brave Bürger von Augsburg. Doch obwohl die Hexe einen juristischen Prozess durchlaufen hat, sollt ihr euch heute selbst – jetzt und hier – von ihrer teuflischen Zauberkraft überzeugen können!“

Ein paar Umstehende kreischten verängstigt auf und manche wichen zurück, doch Mertz hob beschwichtigend die Hände und rief: „Ruhig, Gläubige, ruhig! Euch kann nichts geschehen! Ich werde an dieser Frau ein Exempel statuieren und euch beweisen, dass sie eine Liebschaft mit dem Teufel eingegangen ist. Mit dieser Nadel hier!“ Einen Gegenstand in die Höhe haltend fuhr er fort: „Sie ist spitz und scharf, seht selbst!“

Sewolt Mertz krempelte seinen Ärmel hoch und hielt seinen blanken, muskelbepackten Oberarm nach vorne. Unvermittelt nahm er die Nadel und stach in die Haut. Sofort trat Blut aus und der Inquisitor drehte sich im Kreis, sodass es alle sehen konnten. „Seht, das ist die wahre Reinheit, so wie ihr sie kennt. Der Lebenssaft tropft heraus, wenn die Nadel die Haut durchbohrt. Nun seht, was passiert, wenn ich die Hexe steche. Da Satan ihr Verbündeter ist, kann sie nicht bluten. Der Teufel wird es nicht zulassen!“ Als Mertz zur Färberin trat, bemerkte ich, wie er mit dem rechten Bein hinkte. Er riss den Kopf der

Angeklagten zur Seite und überstreckte ihren Hals. Einen Augenblick später stach er zu – doch die Stelle blieb unversehrt. Ich blinzelte, spähte genauer hin, machte ein paar Schritte nach vorne. Ohne Zweifel, es trat kein Blut aus.

Der Inquisitor sah zuerst den Bischof an und blickte anschließend triumphierend in die Runde. Langsam, fast schon genüsslich, wanderten seine Augen an den Anwesenden entlang, die ebenso wie ich fassungslos auf den unverletzten Hals der Hexe starrten.

„Auf den Scheiterhaufen mit ihr!“, schrie er mit einem Mal und die Menge johlte auf. „Soll sie im Feuer zu Pulver verbrennen!“

Mit angsterfüllten Augen blickte die Verurteilte auf die jubelnden Menschen. Aufgrund des Knebels brachte sie nur erstickte Laute heraus, während Mertz ihre Fesseln löste und die Hexe scheinbar mühelos hochhievte. Zwei Bewaffnete nahmen sie ihm ab. Wenig später war sie neben dem Podest bereits wieder festgezurrt, mit dem Unterschied, dass zu ihren Füßen der Holzstoß aufgeschichtet worden war. Der Augsburger Bischof, Friedrich II. von Zollern, der bisher still und teilnahmslos zugesehen hatte, machte eine knappe Handbewegung und ein Geistlicher trat zu der Frau. Er redete auf die Todgeweihte ein, beschwor sie, dem Teufel zu entsagen, sodass das Fegefeuer ihre Seele reinige und sie vor Gott treten könne. Damit Margreta ihre Reue kundtun konnte, nahm man ihr den Knebel ab.

Sofort brüllte sie sich die Verzweiflung über ihr Schicksal aus dem Leib: „Ich habe nichts getan! Ich wollte nie jemandem wehtun!“, gellte ihre Stimme über den Platz.

„Sage dem Teufel ab“, mahnte der Priester drohend. „Entschwöre ihm!“

Die Färbergehilfin weinte und stammelte etwas mir Unverständliches vor sich hin. Der Inquisitor machte Anstalten, sie wieder zum Schweigen zu bringen. Bevor der dicke Stofffetzen ihren Mund verschließen konnte, waren ihre letzten Worte klar zu hören: „Herr, vergib mir! Ich bin unschuldig! Niemals könnte ich –“

Der Knebel erstickte ihre Stimme. Sie wand sich am Pfahl, während sich der Geistliche entfernte und dem Inquisitor eine brennende Fackel gereicht wurde. „Herr, nimm dich ihrer an“, flüsterte Mathes, als Sewolt Mertz die trockenen Zweige entzündete. „Bei lebendigem Leibe…“, fügte der Junge tonlos hinzu. Rasch züngelten die Flammen empor.

„Möge das Feuer ihre Seele läutern!“, rief der Inquisitor mit erhobenen Händen Margreta zu, deren Füße bereits die todbringende Hitze spüren mussten. Still ergötzte sich die Menge am Leid der Frau. Keine bösen Rufe oder hasserfüllte Worte erschallten mehr, nur knisternde Äste und die angsterfüllten, erstickten Schreie des geknebelten Weibes waren zu hören. Ihre Augen schienen in panischer Todesangst hervorzutreten, während sie vergebens versuchte, sich zu befreien.

Einige Leute wandten sich ab. In meinem Bauch rumorte es. Als ich mich umdrehen wollte, traf mich Mathes’ Blick. Sein Gesicht war blass. Aus Angst, mich hier auf dem Platz übergeben zu müssen und damit Aufmerksamkeit zu erregen, bahnte ich mir schnell einen Weg durch die Menge.

Es war, trotz der Entfernung, klar zu erkennen gewesen: Die Nadel des Inquisitors hatte kein Blut aus Margretas Hals hervorgelockt. Sie musste, so unglaublich das für mich klang, tatsächlich mit dem Teufel paktiert haben.

Mathes war mir durch die Menge gefolgt. Er blickte sich noch einmal zum Scheiterhaufen um, wandte sich jedoch sogleich mit verzogener Miene wieder ab.

Unvermittelt erklangen Todesschreie. Der Knebel musste sich im Feuer gelöst haben. Die Häuserwände warfen das schrille Gebrüll zurück und scheuchten es durch die Gassen.

Ich hielt mir im Rennen die Ohren zu.

*

Erst nach einigen Straßen wurde mir wieder wohler. Hier, in der Nähe der alten Stadtmauer war es angenehm kühl und ich lehnte mich mit dem Rücken ans grobe Gestein.

Die Schreie waren verstummt.

„Hatte Angst mich zu übergeben“, sagte ich zu Mathes, der sich neben mir niederließ. Im selben Augenblick musste ich einen Würgereiz unterdrücken.

„Mir ist auch schlecht“, gab er zu. „Schließlich hab ich Margreta schon lange gekannt.“

Schweigend hing ich meinen Gedanken nach und war froh, dass mein Freund ebenfalls nichts sagte. Wir saßen nur da, zu betroffen, um zu reden. Es war einfach zu unfassbar, sich der Vorstellung hinzugeben, bei lebendigem Leibe verbrannt zu werden.

Diese verfluchte Inquisition. Aber wie sonst wollte man dem Treiben des Teufels Einhalt gebieten, wenn man nichts dagegen tat?

„Ich verstehe nicht“, unterbrach Mathes letztlich doch die Stille, „warum eine Hexe, die mit dem Teufel im Bund ist, nicht Blut hervorzaubern kann.“

Ich wollte schon aufstehen, weil mir nicht nach einem Gespräch war. Nichts mochte ich hören, die Ruhe war viel angenehmer. Seine Worte machten mich jedoch, wie schon oft in der Vergangenheit, neugierig.

„Ich meine“, fügte der Junge hinzu, da er mein Schweigen als Unverständnis deutete, „wenn die Hexe weiß, dass sie durch die Nadel kein Blut verlieren wird, dann müsste sie doch ihre Zauberkräfte dazu einsetzen, dass trotzdem etwas herausläuft, oder? Damit ihre Schuld schwindet. Kann das eine Hexe nicht tun, wenn sie die Macht des Teufels in sich trägt?“ Er sah mich prüfend an. „Anscheinend nicht“, erwiderte ich schulterzuckend. „Wenn sie es könnte, hätte Margreta dem Inquisitor sicherlich die Suppe versalzen. Vielleicht braucht sie aber auch irgendeinen Zaubergegenstand dazu.“ „Womöglich hat Satan sie fallen lassen“, meinte Mathes. „Oder er will ihre Seele.“

Ein erneuter Würgereiz überkam mich und ein lautes, unheilverkündendes Grummeln drang aus meinem Bauch. Bevor Mathes weitersprechen konnte, erhob ich mich hastig. „Tschuldige, ich muss weg!“

Unter seinem überraschten Blick rannte ich an der Mauer entlang in Richtung des Stadtgrabens davon.

Die Hexenverbrennung schien Ennlin nahe zu gehen. Mir auch, musste ich zugeben, doch dem kleinen Blondschopf erging es wohl schlechter. Ich überlegte, dem Mädchen nachzulaufen, denn ich hatte meine Freundin, insbesondere seit unseren gemeinsamen Erlebnissen um die Augsburger Morde, mehr und mehr lieb gewonnen – als wäre sie meine Schwester. Während ich den Entschluss fasste, kündigte ein Glockenschlag die Mittagsstunde an. Erschrocken fuhr ich auf – Herr Etzlaub erwartete mich.

Er wollte sich bald auf eine neue Reise begeben, bei der ich ihn erneut begleiten sollte. Mittlerweile wurde ich für meine Arbeit bezahlt, was mich mit Stolz erfüllte. Freudig sehnte ich die bevorstehende Abfahrt herbei. Entgegen der Reise an den Bodensee, bei der ich von einem ins nächste Abenteuer gestolpert und später sogar in den Schwabenkrieg verstrickt worden war, sollte der Weg dieses Mal ruhig verlaufen. Das erste Ziel war die Heimatstadt meines Herrn: Nurenberg7.

„Wie lange werden wir unterwegs sein, Meister?“, fragte ich den Kartografen, während ich wenig später seine im Raum verteilten Notizen zusammensuchte. „Bis zum Winter, also etwa vier Monate, sofern nicht wieder ein Krieg dazwischenkommt“, erwiderte Herr

Etzlaub, gefolgt von einem unverständlichen Brummen.

Ich merkte, wie unwohl er sich mittlerweile in Augsburg fühlte, seit er vor wenigen Wochen der Patrizierfamilie Fugger mit einer fliegenden Schrift8 gedroht hatte. Der Druck lastete stark auf ihm und mein Herr schien froh, sich auf Reisen begeben zu können.

Den gesamten Nachmittag über half ich ihm beim Ordnen von unterschiedlichsten Pergamenten und Papieren. Ich hatte herausgefunden, dass er sich nach Fertigstellung der Romweg-Karte9 dem Kompassbau widmen wollte. Was er dafür an Büchern wälzte, war beeindruckend. Seine Notizen füllten ganze Schriftrollen.

Meine Gedanken schweiften immer wieder zum Scheiterhaufen zurück. Ich hatte noch einmal hingesehen. Besser, ich hätte es nicht getan. Auch aus der Entfernung war die aufgeplatzte Haut, die sich zischend in die Flammen ergab, gut zu erkennen gewesen.

„Denk dran, Mathes“, unterbrach der Kartograf mein trübes Nachsinnen, „morgen Vormittag sind wir gemeinsam im Ratssaal. Du darfst als mein Schreiber anwesend sein, jedoch niemals das Wort ergreifen.“

„Ja, Meister“, entgegnete ich artig. Ich war aufgeregt, denn als normaler Bürger war es äußerst selten, bei einer Ratssitzung zugegen sein zu können.

Als ich später die Herrenstuben verließ, in denen Herr Etzlaub stets zu wohnen pflegte, stand die Julisonne noch hoch am Himmel. Die Hitze schien über den Pflastersteinen zu flimmern. Tief durchatmend genoss ich die frische Luft; der Mief im Raum des Kartografen war fast unerträglich geworden. Gottlob hatte mein Herr mich heute früher entlassen – vielleicht aufgrund meines Berichts über den Hünen. In Erinnerung an die vergangene Nacht spähte ich die Straße entlang, doch der Kerl war nirgends zu sehen.

Traute er sich nur im Dunkeln hervor? Hatte er Angst, dass ich die Söldner, die immer noch die Stadt bewachten, auf ihn hetzen könnte?

„Hast du fleißig bei Herrn Etzlaub gearbeitet?“, empfing mich mein Vater, als ich die Gerberei betrat. Er spaltete mit dem Gesellen gerade eine dicke Schweinehaut, deren Aussehen gleichmäßiges Leder versprach.

„Ja, Vater. Übrigens, ein Inquisitor namens Mertz ist in der Stadt. Stell dir vor, heute haben sie Margreta, die Färbergehilfin, auf den Scheiterhaufen geworfen.“ „Fuhrhaus?“, tönte es unter meiner Pritsche hervor, wo Mutter gerade auskehrte. „Um Gottes willen, wieso das denn?“, fügte sie, sich aufrichtend, hinzu. „Sie war mit dem Teufel im Bunde“, erwiderte ich. „Mertz stach sie vor allen Leuten mit einer Nadel. Es floss kein Blut aus ihrer Haut, ich habe es selbst gesehen! Unheimlich, so was.“

Mutter ließ kraftlos die Hände sinken und seufzte. „O Herr, wie konnte das geschehen? Sie war immer freundlich, stets hilfsbereit. Mit dem Teufel?“

„Das zeigt, wie stark Satan ist“, schimpfte Vater. „Er treibt seine Spiele so arg, dass die betroffenen Menschen sich komplett verstellen können. Verflucht sei er!“

Im Laufe des Abends musste ich meine Kleidung reinigen, die Schuhe blitzblank putzen und allerlei Benimmregeln über mich ergehen lassen. Meine Eltern wollten nicht, dass sich der jüngere ihrer beiden Söhne im Rat blamierte. Außerdem schärften sie mir zum wiederholten Mal ein, bei Dunkelheit nicht allein auf die Straße zu gehen, solange der Hüne sein Unwesen trieb.

4 Hellebarde: Eine Mischung aus Hieb- und Stichwaffe, mit breiter, axtgleichen Klinge auf der einen, Rabenschnabel auf der anderen Seite sowie einer spießähnlichen Spitze. Der Schaft war meist zwischen 1,5 und 2 Metern lang.

5 Besagung: Andere Menschen denunzieren und damit der Häresie bezichtigen, sie als Häretiker (Ketzer, Ungläubige, Andersgläubige) abstempeln. Dem eigentlichen Sinn der Inquisition, Häresie zu bekämpfen, wurde mitunter die Hexenverfolgung hinzugefügt. Das war letztlich von den örtlichen Gegebenheiten und den beteiligten Personen abhängig.

6 Hic locus est, ubi mors gaudet succurrere vitae: Hier ist der Ort, wo der Tod sich freut, dem Leben zu Hilfe zu kommen.

7 Nurenberg: Nürnberg

8 Fliegende Schrift, Fliegende Blätter: Ehemaliger Begriff für Flugblatt. Erklärung aus „Das Mahnmal“: Herr Etzlaub hatte, um Mathes vor den langen Armen Ulrich Fuggers zu bewahren, eine fliegende Schrift angedroht, worin Ulrichs Verwicklung um die Augsburger Morde dargestellt worden wäre. Dazu war es jedoch bisher nicht gekommen.

9 Romweg: Eine Pilgerkarte von Erhard Etzlaub, die Wege von den deutschen Meeren bis nach Rom enthält. Striche und Punkte zwischen den Städten geben die Entfernung an. Anlässlich des Jahres 1500, des Heiligen Jahres, sollte diese Karte so stark verbreitet sein, dass viele Pilger auf den großen Römerstraßen zu Fuß nach Rom laufen konnten.

Kapitel 3

In verbotenen Schlupfwinkeln

Die Luft über dem Wasser stand, dennoch war sie eine willkommene Abwechslung. Frisch konnte man die Ausdünstungen des Stadtgrabens wahrlich nicht nennen, obwohl es untersagt war, hier Unrat zu entsorgen.

Ich war hergerannt, um allein zu sein. Kotzend vor Mathes zu stehen – das hätte dem Ganzen die Krone aufgesetzt.

Noch immer konnte ich die Todesschreie der Färbergehilfin hören, obwohl der Scheiterhaufen längst erloschen war. Ich bekam die schrecklichen Klänge einfach nicht aus dem Kopf.

Wie war es möglich, dass eine Frau ihre Seele dem Teufel verschrieb? Welcher Zwang stand dahinter, dass sie Gott absagte und den Höllenfürsten bevorzugte? Ich selbst glaubte, wie meine Mutter, an die Mächte der Natur, aber dafür musste ich nicht Gott entsagen.

Warum war aus dem Hals von Margreta Fuhrhaus kein Blut ausgetreten? Hatte der Inquisitor gar nicht fest genug zugestochen? Nein, das war nicht möglich – die in vorderster Reihe stehenden Bürger hätten es bemerkt. Mathes’ Worte waberten durch meinen Geist. Bestimmt half der Teufel seinen Dienern nicht – lieber ließ er sie verbrennen. Oder war die Färbergehilfin doch unschuldig gewesen? Würde jemand der Hexerei bezichtigt werden, der gar nichts verbrochen hatte?

Von Mutter wusste ich, dass viele Menschen Dinge, die sie nicht verstünden, verurteilten. Daher durften wir auch nicht mit unserem Wissen über Kräuter hausieren gehen, damit niemand auf falsche Gedanken kam. Stattdessen lebten wir zurückgezogen und achteten stets darauf, keinen Staub aufzuwirbeln.

Gedankenversunken war ich, anstatt nach Hause zu gehen, wieder über die Lechbrücke in Richtung der Stadtmitte gelaufen. Leider saß der Gerbersohn nicht mehr an der alten Stadtmauer, was ich auch nicht erwartet hatte – er musste ja auch noch Arbeiten für seinen Herrn erledigen. Meine Mutter wäre sicherlich ebenso froh über eine helfende Hand gewesen, doch mir war eine Idee gekommen.

Der Hüne musste erst kürzlich in Augsburg eingetroffen sein. Es war offensichtlich, dass er Mathes jagte. Wo der Junge wohnte ahnte er glücklicherweise nicht. Das Versteck des riesigen Kerls war uns ebenfalls unbekannt. Ich wusste nicht einmal, wie er aussah. Natürlich hatte Mathes mir den Hünen beschrieben, doch mir war es lieber, unseren Feind genau zu kennen. Gegen einen Fremden konnte ich mich schlecht wappnen, also musste ich mehr herausfinden. Es war an der Zeit, wenigstens eines der beiden Male, bei denen Mathes mir das Leben gerettet hatte, wettzumachen. Außerdem gefiel mir der Gedanke, meinen Freund mit neuen Erkenntnissen zu überraschen und ihm ein Lächeln oder einen anerkennenden Blick zu entlocken.

Mein Weg führte mich zum Kerker beim alten Burgtor.

Wenn der Hüne wirklich so riesig war, würde er jemandem auffallen, der viel in der Stadt herumkam und jede Veränderung bemerkte. Ich musste es nur aus ihm herauskitzeln.

Die Kerkerwachen kannten mich bereits und gewährten mir wortlos Eintritt – das war der Vorteil, den ich als Tochter einer Kräuterfrau genoss. Viele, die sich keinen Medicus, Wundarzt oder Bader leisten konnten, kamen zu meiner Mutter, um ihren Leiden Linderung zu verschaffen. Einer von ihnen war der Scharfrichter10, dessen Bauchleiden ihn immer wieder zu uns trieb.

Mit dem grobschlächtigen Mann, dessen Weg niemand kreuzen mochte, kam ich bestens zurecht. Jedenfalls hatte ich mit nahezu allem, was ich wollte, bei ihm Erfolg gehabt – vom Verhörprotokoll11 vor einigen Monaten einmal abgesehen.

Er kam überall in der Stadt herum, durchforstete die hintersten Ecken nach Tierleichen und wusste genauer über die Vorkommnisse in Augsburg Bescheid als manch anderer. Ich wunderte mich, dass die höheren Herren sich sein Wissen nicht zunutze machten, doch wahrscheinlich nahm ihn niemand ernst.

Außer mir.

Der Henker war mit der Beseitigung von Unrat beschäftigt, als eine Kerkerwache ihn von meinem Eintreffen unterrichtete. Mürrisch kam er an das

Gitter, welches die Zellen und Löcher, in denen die Gefangenen hausten, von der Außenwelt trennte. „Ennlin, was willst du? Hast du mir neuen Sud mitgebracht?“

„Nein, braucht Ihr welchen? Ich komme wegen etwas anderem.“

„Nee, geht schon. Also, was? Hab nicht viel Zeit“, murmelte der Scharfrichter und legte seine kräftigen Finger um die Gitterstäbe. So sah er selbst aus wie ein Gefangener, fand ich.

„Ich suche einen Kerl. Riesig. Muss ziemlich stark sein.“

„Davon gibt’s einige.“

„Er ist noch nicht lange in der Stadt, kommt wohl nicht von hier“, ergänzte ich. „Womöglich erst zwei bis drei Tage.“

Der Henker blickte nachdenklich zu Boden und kratzte sich an seiner spitz gewachsenen Nase, bevor er entgegnete: „Da fällt mir nur einer ein. So einen großen Kerl habe ich noch nie gesehen. Treibt sich außerhalb des Gegginger Tors herum, da wo auch die Rössenspelunke12 ist. Was willst du von ihm?“

„Ihm sagen, wie hässlich er ist und dass seine Größe die Sache nur schlimmer macht.“

Entgeistert sah mich der Scharfrichter einen Augenblick lang an, bevor er in schallendes Gelächter ausbrach.

Zugegebenermaßen fühlte ich mich nicht so wohl im Kerker, wie es vielleicht den Anschein hatte. Auch wenn ich den Henker grundlegend schätzte, war er mir dennoch unheimlich. Wie konnte ein Mann, der sich mit mir normal unterhielt, wenig später einen Menschen auf brutalste Weise foltern?

Die Hand zum Abschiedsgruß erhoben wandte ich mich ab. Es war Zeit, wieder frische Luft zu atmen. „Warte“, gluckste der Henker. Der Mann schien Mühe zu haben, sein Lachen unter Kontrolle zu halten. Er winkte mich zum Gitter zurück und bedeutete mir, nahe heranzutreten.

Ich konnte den beißenden Geruch ausmachen, den seine Kleider verströmten. Sein Atem stank widerlich, als er sprach: „Deine Mutter und du, ihr seid in Ordnung. Ihr helft mir mit dem verfluchten Bauch, wo es manchmal brennt, als ob der Teufel selbst dort drinnen hausen würde. Deswegen warne ich dich: Sei vorsichtig. Die Rössenspelunke ist ein übler Ort und der Riese, den ich dort gesehen habe, scheint da gut hineinzupassen.“

„Ist gut, ich dank Euch“, gab ich leise zurück und war im Begriff, mich erneut abzuwenden.

Plötzlich packte seine Hand meinen Arm. Erschrocken starrte ich ihn an und wollte mich schon losreißen, doch sein Blick war freundschaftlich. So widerwärtig der Kerl auch war – er schien mir nichts Böses zu wollen.

„Noch was“, flüsterte er, während seine Hand langsam meinen Arm entlang rutschte und schließlich die Finger ergriff. „In der Gegend um die Rössen fand ich ein paar tote Tiere. Klar, es liegen immer mal wieder welche herum, die ich wegschaffen muss. In letzter Zeit hat es sich jedoch gehäuft. Etwas stimmt nicht. Wenn du willst, gehen wir zusammen dorthin, dann kann ich dich beschützen.“

Ich schüttelte den Kopf – mein Vorhaben wollte ich lieber allein in die Tat umsetzen.

Noch immer hielt der Scharfrichter meine Hand umklammert und zog sachte daran. Widerwillig trat ich nahe an die Gitterstäbe. Der Mann beugte sich so weit zu mir herunter, dass mich eine seiner speckig glänzenden Haarsträhnen an der Wange berührte. Während mir innerlich vor Ekel schauderte, hauchte er: „Ich mag dich. Deswegen erzähle ich dir das. Manche Tiere hatten große Wunden, insbesondere am Hals. Als wären sie zu Tode gebissen worden. Katzen. Kleinere Hunde. Ein paar Ratten.“

„Ein großer, bösartiger Hund vielleicht?“, versuchte ich eine Erklärung und versagte bei dem Versuch, etwas Abstand zwischen uns zu bringen.

Der Henker schüttelte den Kopf. „Die Bissspuren sind anders. Einer Katze, die ich aus den Rössen gefischt habe, fehlten drei Beine. Und … da ist noch etwas.“ Er beugte sich noch tiefer – ganz nah an mein Ohr – während ich die Luft anhielt und das Gefühl seiner Haare auf meiner Haut zu ignorieren versuchte. „Einige Tiere waren unversehrt. Als wären sie vergiftet worden. Einigen fehlte Fell und etwas Haut.“

Endlich ließ mich der Folterknecht los. Ich wich sicherheitshalber einen Schritt zurück: „Möglicherweise eine Krankheit? Oder ein größeres, jagendes Tier?“

„Das glaube ich nicht“, erwiderte der Scharfrichter, sich aufrichtend. „Ein Hund beispielsweise würde sich im Hals verbeißen, dort aber selten etwas fressen. Wenn er die Wahl hat, geht er an den Bauch des Opfers – an die weicheren Teile. Er reißt nicht drei Beine ab und verschlingt sie. Oder zieht so viel Fell ab.“ Er bewegte, wie zur eigenen Bestätigung, den Kopf hin und her. „Jedenfalls kein Hund, den ich kenne. Krankheiten gab’s in letzter Zeit auch nicht. Mein Gefühl sagt mir, dass dort etwas umgeht“, fügte er hinzu und wandte sich ab.

Mich leise bedankend drehte ich mich ebenfalls um und verließ eilig den Kerker, gierig nach einem frischen Hauch. Dort unten war es stickig und es roch derartig übel, als ob Unrat und Henker die Luft zu einem giftigen Nebel verdichteten.

An den oberen Treppenstufen angekommen, vernahm ich das Lachen des Scharfrichters. „Du bist hässlich!“, konnte ich ihn laut rufen hören. „Und so groß! Das macht –“ Er vollendete den Satz nicht und brüllendes Gelächter drang nach oben.

Eine der Torwachen blickte mich fragend an. Ich zuckte die Schultern und sah zu, dass ich weg kam. Mir selbst war nicht nach Witzen zumute, denn die Absteige, die der Henker erwähnte, war kein Ort für mich. Doch wenn ich Mathes helfen wollte, blieb mir keine Wahl.

Was es wohl mit diesen toten Tieren auf sich hatte? Wahrscheinlich sah der Henker, der für mein Empfinden eh immer wirrer im Kopf wurde, auch nur Gespenster, wo gar keine waren.

*

Die Dämmerung war nicht mehr fern, als ich das Geggingertor erreichte. Mir blieb wenig Zeit, um zur Nachtglocke wieder zu Hause zu sein. Hoffentlich trieb sich der Hüne hier irgendwo herum, damit ich diese üble und mir nahezu unbekannte Gegend schnellstens verlassen konnte.

„Die Rössenspelunke?“, fragte ich einen kleinen Jungen, der zwischen den Pflastersteinen nach irgendwas suchte. Er sah mich erschrocken an und deutete eine Gasse entlang, bevor er davonrannte.

Bald darauf folgte ich drei Männern, die sich trotz der Sommerwärme in lange Mäntel hüllten. Sie steuerten nach einigen Abzweigungen auf einen niedrigen Eingang zu. Meine Nase hatte sich als richtig erwiesen – das musste mein Ziel sein.

Kurzerhand griff ich in die Gosse, nahm etwas Dreck und schmierte ihn mir ins Gesicht. Sogar meine Haare rieb ich mit dem nach Kot und Erde riechenden Schmutz ein. Auch, wenn es eklig war: Als kleines Mädchen musste ich heruntergekommen aussehen, damit niemand auf falsche Gedanken kam. Außerdem war so ein Untertauchen in der Menge einfacher. Hier, in dieser Gegend, war das Nichtauffallen überlebenswichtig.

Hoffentlich würden mich diese drei Kerle nicht packen.

„Hab Mut, Ennlin“, flüsterte ich zu mir selbst und schlüpfte im nächsten Moment hinter den Männern durch die Tür.

Meine Angst stellte sich als unbegründet heraus, denn sie scherten sich überhaupt nicht um mich. Erleichtert atmete ich auf, hielt den Eingang jedoch sicherheitshalber offen.

Ein Gang führte nach unten. Die drei stiegen die Treppenstufen hinab, an deren Ende eine Laterne leuchtete. Dort wartete ein bärtiger Mann, dessen Aufgabe wohl darin bestand, alle ungebetenen Gäste rauszuwerfen. In dem Augenblick, als er den Männern ins Gesicht leuchtete und ich mich fragte, wie ich an ihm vorbeikommen sollte, öffnete sich die Tür hinter mir. Ein Junge, etwas kleiner als ich, schlüpfte hinein, warf einen kurzen Blick auf mich und tapste dann die Treppe hinab. Ungeachtet des

Rausschmeißers lief er weiter und entschwand meines Blickfelds.

‚Eigentlich klar‘, dachte ich mir, ‚zwielichtige Kerle in einer üblen Gegend brauchen allerhand verbotenes Zeug wie beispielsweise Bilsenkraut, um ihr Bier zu verstärken. Wer wäre da ein besserer Bote als ein Kind? Welcher Wächter durchsuchte schon uns schmutzige Bälger?‘

Ich riss mich zusammen, lief mit entschlossenem Blick die Stufen hinunter und tat, als ob ich das schon seit ewigen Zeiten so machte.

Die List klappte! Der Mann unternahm keine Anstalten, mich aufzuhalten. Was mich wohl dort drinnen erwartete?

‚Kein Zögern, Ennlin!‘, dachte ich, den Blick des Bärtigen in meinem Rücken spürend. Ich versuchte, aufkommende Ängste zu ignorieren, und ergriff die Klinke.

Kaum, dass ich die Tür einen Spalt geöffnet hatte, drangen gedämpfte Stimmen und muffiger Geruch heraus. Ein niedriger Raum lag vor mir.

„Tür zu!“, rief der Rausschmeißer und ich beeilte mich, seiner Aufforderung Folge zu leisten.

Überall saßen oder lagen Männer auf dem Boden. Ein paar wenige lümmelten auf Stühlen herum. Viele vertrieben sich die Zeit mit Würfeln oder Karten. Während ich mich umblickte, öffnete sich eine Holztür an der Rückwand. Ein Mann – augenscheinlich der Wirt – kam herein, zwei Gefäße in der Hand. An einem Tisch, an dem vier Männer kartenspielend zusammensaßen, stellte er sie ab und erhielt im Gegenzug einige Münzen.

Da ich nirgendwo einen riesenhaften Kerl entdecken konnte, beschloss ich abzuwarten und lehnte mich an die Wand nahe des Tisches mit den Kartenspielern.

„Du Hirschkalb, wenn du den Mann hast, haust ihn auf die blasse Vier. Blass ist Trumpf! Dann gehört das Ding uns!“, rief einer und schmiss seine verbleibenden Karten in die Mitte des Tisches. „Woher soll ich wissen, du Hammel, ob er nebendran net den anderen Mann hat? Dann wär’s nämlich andersrum!“, verteidigte der Angesprochene sein Tun und legte seine Karten ebenfalls ab.

Ich verstand kein Wort.

„Weil ich vorhin den blassen Dreier gespielt hab, Mann. Hätte er den König, wäre der doch mit Sicherheit gefallen. Kapiert?“

„Hmpf“, machte der andere bedrückt und nestelte in seinem Wams herum.

Die übrigen Männer bekamen von den beiden, die anscheinend zusammengespielt hatten, jeweils eine Münze zugeschoben. Anschließend standen zwei Spieler auf und wechselten die Plätze.

„Jeder zahlt Lehrgeld, so ist das halt, wenn man das erste Mal Karnöffel spielt“, meinte einer.

Ich kannte dieses Spiel nicht, doch es erweckte den Eindruck, unterhaltsam zu sein. Schade, dass solch Zeitvertreib allgemein verboten war.

Gelegentlich einen Blick zur Eingangstür werfend sah ich in der nächsten Stunde interessiert den Männern zu. Der Kerl, der anfangs verloren hatte, musste auch weiterhin sein Geld an die Umsitzenden abdrücken und jeder, der nach einem Wechsel genötigt war, mit ihm zu spielen, machte eine abfällige Bemerkung. Er schien das Spiel wirklich nicht gut zu können.

Ein Junge, etwas älter als ich, kam durch den Eingang. Auch er musste ein Lieferant für irgendetwas sein, denn er schritt schnurstracks zu zwei Männern, die neben ihren Krügen lagen und sich unterhielten. Ich beobachtete, wie der Knabe einem der beiden etwas zusteckte und dafür einige Münzen den Besitzer wechselten.

Ohne Zögern drehte er sich wieder um und wollte gerade zur Tür gehen, als diese aufgestoßen wurde und ein Mann eintrat. Er musste sich bücken, um nicht an der Decke anzustoßen und füllte die Öffnung komplett aus. Selbst in dieser Haltung zeichneten sich Muskelberge unter der Weste ab und seine Arme, die aus einem einfachen Leinenhemd herausragten, waren dicker als meine Hüfte.

War das der Hüne?

Seine Augen suchten den Raum ab und blieben an dem Jungen, der eben die Lieferung abgegeben hatte, hängen.

Dieser wusste wohl, was hier geschah und rannte flink zur Hintertür, von wo aus der Wirt seine Gäste bediente. Der riesige Kerl konnte ihm gebückt nur langsam folgen, zudem behinderten ihn die überall herumliegenden und sitzenden Menschen. Als er versehentlich auf das Bein eines Mannes trat, sprang dieser fluchend auf und beschimpfte den großen Kerl aufs Übelste, doch der Hüne schien ihn überhaupt nicht wahrzunehmen. Mit grimmigem Gesichtsausdruck durchquerte er die Spelunke und verschwand hinter der Holztür.

Gedämpfte Stimmen durchdrangen die Stille, die sein Eintreffen verursacht hatte.

Es dauerte nicht lange und der Riese tauchte wieder auf. Erneut suchten seine Augen, als sei er auf der Jagd, den Raum ab.

Zu meinem Entsetzen blieben sie an mir haften. Erschrocken folgte ich seinem Blick, sah hinter mich – doch da war nichts – außer der Wand.

Panisch wandte ich mich zur Eingangstür, aber der Weg dorthin wurde durch drei kräftige Männer versperrt. Drohend ballten sie die Fäuste und starrten zu mir herüber. Hinter mir vernahm ich schwere Schritte und begriff – gerade noch rechtzeitig – dass die Kerle dem Hünen ans Leder wollten. Keinen Augenblick zu früh spurtete ich los, übersprang einige Sitzende und gelangte im Rücken der Männer zum Ausgang.

„Es ist das zweite Mal, dass du hier auftauchst, Kumpel“, ertönte es hinter mir in bedrohlichem Tonfall. „Jedes Mal machst du so einen Aufstand. Wir mögen das hier nicht.“

Im selben Moment, als ich die Tür öffnete, ertönte ein dumpfer Schlag und einer der Kerle flog rücklings an die Wand neben mir. Sein Kopf krachte hart an die Steine und er sackte benommen in sich zusammen. Ich verschwendete keinen zweiten Blick auf ihn und rannte los.

Am Fuße der Treppe lag der Rausschmeißer. Blut lief ihm über das Gesicht. Hatte der Hüne ihn umgebracht, um reinzukommen? Als ich über ihn drübersprang, bemerkte ich eine Bewegung seiner Hand – der Kerl schien doch noch zu leben. Erneutes Getöse aus dem Inneren der Spelunke ließ mich angsterfüllt die Stufen hinaufhetzen.

10 Scharfrichter, Henker: Verrichter von Folterung und Todesstrafen gegen Vergütung. Den Lohn erhielt er von den Familien des Bestraften oder Hingerichteten. Er war auch für die Bestattung von Selbstmördern, die Prostitutionsaufsicht, die Sauberkeit von Zellen, die Herstellung des Galgens, die Entsorgung von Tierkadavern und die Vertreibung von Aussätzigen verantwortlich.

11 Verhörprotokoll, siehe „Das Mahnmal“: Der Henker hatte Ennlin das Verhörbuch verweigert, dieses später aber unter Herrn Etzlaubs Druck doch noch zur Verfügung gestellt.

12 Rössenspelunke, fiktiv: In Anlehnung an die ‚Rössen‘ (Wasserarme der Wertach).

Kapitel 4

Teufelskräuter

Kühle Nachtluft empfing mich.

Die dunkle Straße lag verlassen vor mir. Normalerweise waren zu dieser Stunde bereits Nachtwächter unterwegs. Scheinbar galt das nicht für die engen, schmutzigen Gassen nahe der Spelunke. Es schien, als würden in diesem Stadtteil andere Regeln vorherrschen.

Ich rannte die Mauer entlang und hetzte blindlings in die nächste Seitenstraße. Bloß weg, ehe der Riese mit den Männern fertig war und mir folgen konnte. Meinen Weg begleitete ein kleiner Wasserlauf, an dem ich ein gutes Stück entlang rannte, bis ich auf eine größere Straße traf. Ein Nachtwächter mit einer Laterne marschierte hier auf und ab.

Dabei fiel mir ein, dass ich gar nicht wusste, ob bereits Nachtstunde war. Wie lange hatte ich in der Spelunke gesteckt?

Wie dem auch sei – es war besser, einer Wache in die Hände zu fallen, als von diesem Hünen erwischt zu werden. Was der wohl von mir wollte? Nichts gutes, so viel war sicher. Wieso jagte er mir nach, wenn er mich doch gar nicht kannte?

Ich ging auf den Nachtwächter zu, der mir den Rücken zukehrte, als ich neben mir ein „Psst“ vernahm.

Erschrocken blickte ich in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war.

Der Junge, der vorhin aus der Spelunke geflohen war, hockte in einer Nebengasse – gut versteckt hinter einem Handkarren. Er winkte mich zu sich. „Komm schon, sonst sieht die Wache dich!“, zischte er.

Ich zögerte nicht – er schien mir wie ein Verbündeter – und kauerte mich flugs neben ihn.

„Hat er dich auch verfolgt?“, fragte er leise.

„Ja, doch es gab eine Schlägerei und ich konnte fliehen. Was will er von mir – von uns?“

„Keine Ahnung. Es kommt mir so vor, als ob er sich jedes Kind, das ihm unter die Augen gerät, schnappen will. Gestern auch schon. Hab ihn nie vorher gesehen.“

„Wie bist du da hinten rausgekommen?“, erkundigte ich mich.

„Da gibt’s ne Falltür. Der Kerl passte nicht durch.“ „Wie heißt du?“

„Heintz. Selber?“

„Ich bin Ennlin. Was hast du den Männern da unten gebracht?“

„Nur etwas, das sie in ihr Bier mischen. Ist verboten, aber es gefällt den Herren.“

„Was ist es denn?“, hakte ich nach.

„Bilsenkraut. Keine Ahnung, was das soll.“

„Oh“, machte ich. Natürlich war mir die Pflanze durch Mama bekannt. Ihr Verzehr war nicht ungefährlich.

„Du kennst es?“, fragte Heintz überrascht.

„Klar. Meine Mutter ist eine Kräuterfrau.“ „Grandioso!“, rief er leise aus.

„Wie bitte?“

Der Junge grinste und erhob sich. „Die Luft ist rein“, sagte er, die Gasse entlang spähend. „Kommst du mit?“

Ich nickte und stand auf, während Heintz um die Ecke lugte.

„Bleib nah bei mir. Pass auf, dass dich niemand erwischt, Mitternacht ist längst vorüber“, flüsterte er nach hinten.

Damit lief er leichtfüßig über die Straße und verschwand im Dunkel zwischen den Häuserreihen. Ich beeilte mich, ihm nachzurennen – gerade noch rechtzeitig, bevor der Lichtschein des Nachtwächters auf die Steine hinter mir fiel.

Wir durchquerten einige Gassen, umrundeten einen Platz, auf dem ebenfalls ein Wächter stand und erreichten ein niedriges, kleines Holzhaus.

„Was hast du eigentlich in der Rössen gemacht?“, fragte Heintz und ließ sich an der Seite des Hauses nieder. Er bemühte sich nicht, leise zu sprechen. Anscheinend war der Junge sicher, dass hier niemand zuhörte.

„Ich wollte wissen, wo sich der Riese aufhält, damit er Mathes nicht überrascht“, gab ich zurück und setzte mich neben ihn.

„Mathes?“, fragte er.

„Ein Gerbersohn, auch aus Lechhausen.“

„Mathes Pelker, der Spürhund?“, vergewisserte sich der Junge.

Ich nickte, von der Bekanntheit meines Freundes erstaunt.

„Grandioso!“, rief Heintz freudestrahlend aus. „Der hat’s drauf!“

„Du kennst ihn?“

„Wer nicht? Wann klärte ein einfacher Bengel das letzte Mal einen Mord auf? Jeder weiß, wer Mathes ist. Gesprochen hab ich aber noch nie mit ihm. Was hat denn der Spürhund mit dem Riesen zu schaffen?“

Heintz strahlte Gelassenheit aus, fast schon Überheblichkeit, war aber auch ebenso freundlich. Der Junge erweckte den Eindruck, auf meiner Seite zu sein; demnach konnte es nicht schaden, ihm ein paar Dinge preiszugeben.

„Wir nennen ihn den ‚Hünen‘“, gab ich zurück. „Er wollte Mathes in Biberach umbringen, doch mein Freund konnte fliehen. Wir glauben, dass er die Sache jetzt zu Ende bringen will.“

Der Junge zog überrascht die Augenbrauen hoch und schien nachzudenken, bevor er nickte. „Jetzt wird mir so einiges klar. Wir hatten uns schon gefragt, warum dieser Mann uns Kinder jagt.“ Mehr zu sich selbst als an mich gewandt fügte er hinzu: „Er glaubt wohl, dass, wenn er mich ausfragt, ich ihm verrate, wo Mathes wohnt. Ha!“

„Scheint mir auch so“, entgegnete ich. Mir war jedoch nicht entgangen, dass er in der Mehrzahl gesprochen hatte, daher ergänzte ich fragend: „Wer sind ‚wir‘?“ Plötzlich ertönte eine nahe Stimme, die hinter uns aus der Holzwand kam: „Kommt doch rein, Heintz. Sieht so aus, als wäre sie auf unserer Seite.“ Ich drehte mich um und bemerkte einen Schlitz zwischen zwei der dicken Holzbalken. Jemand hatte uns die gesamte Zeit über belauscht.

Heintz erhob sich lächelnd und deutete mit dem Daumen zur Seite: „Kommste mit? Keine Angst, die beißen nicht.“

Ich war auf der Hut, doch da der Junge vor demselben Feind floh, folgte ich ihm. Jeder Hinweis über den Hünen war wichtig.

Die Tür des Holzhauses wurde von einer hutzeligen Frau geöffnet, die uns wortlos eintreten ließ. Sie bedachte mich mit einem nachdenklichen Blick, während ich Heintz in eine kleine Stube folgte, die nahezu leer war – von den anwesenden Kindern einmal abgesehen. Gut ein halbes Dutzend saßen auf Jutesäcken oder Korbmatten am Boden herum. Zwei weitere hockten im Gebälk des niedrigen Daches.

„Er ist schon wieder da gewesen“, begrüßte Heintz die anderen. „In der Rössen. Hat mich verfolgt, aber ich bin über die Falltür raus.“

„Der Riese?“, fragte ein Junge.

„Klar.“

Die Kinder warfen sich vielsagende Blicke zu.

„Isch er dir g’folgt, Heintz?“, wollte einer der Burschen wissen, die auf dem Balken saßen und deren Füße zu uns hinunter baumelten.

„Natürlich nicht. Hab euch jemanden mitgebracht. Sie sagt, der Kerl war auch hinter ihr her.“

Ich spürte neugierige Blicke und konnte das eine oder andere vorsichtige ‚Hallo‘ in meine Richtung vernehmen.

Die meisten schienen mir auf den ersten Blick jünger als ich zu sein. Zwei Mädchen waren ebenfalls darunter.

Langsam fiel meine Anspannung von mir ab. Von diesen Kindern schien keine Gefahr auszugehen. In was für eine Gemeinschaft war ich hier geraten? „Bisher sind wir auch immer entkommen.“ Ein kleines Mädchen konnte sich nicht mehr zurückhalten. „Wie hast du es geschafft?“

Ich versuchte, mir meine Aufregung nicht anmerken zu lassen und erwiderte: „In der Spelunke waren drei Männer, die den Hünen – so nenne ich ihn – aufhalten wollten. Das nutzte ich, um durch den Eingang zu fliehen.“

„Konntest du sehen, ob die Kerle mit ihm fertig wurden?“, fragte einer, der in einer Decke eingewickelt sitzend an der Holzwand lehnte. Er musste derjenige gewesen sein, dessen Worte ich draußen gehört hatte.

„Ein Mann ist neben mir an die Wand gekracht. Was mit den anderen beiden geschehen ist, weiß ich nicht. Der Türsteher hat in gleicher Weise was abbekommen.“

„Na wird er au die zwoa andren Kerle vermöbelt ham“, fasste der Junge auf dem Balken zusammen. Er hatte einen starken Dialekt und stammte wohl nicht aus Augsburg. „Wer bisch du eigentlich?“

„Ennlin. Komme aus Lechhausen.“

„Ah, deswega kenn i di net. Du kennsch Mathes, gell?“

Als ich zur Antwort ansetzen wollte, rief ein untersetzter Junge dazwischen: „Echt? Ist er dein Freund?“

„Klar“, gab ich eine Spur überheblich zurück, was seine Wirkung nicht verfehlte. Der Bursche machte große Augen.

Ich war stolz darauf, Mathes zu kennen. Mein Freund schien eine kleine Berühmtheit bei diesen Kindern zu sein.

„Wer seid ihr? Beziehungsweise – was macht ihr hier?“

„Wir sind nichts“, erwiderte einer der Jungen mit strengem Blick. „Gar nichts. So soll es auch bleiben. Dann fliegen wir nicht auf.“

„Ja, nur nicht auffallen“, fügte Heintz hinzu. „Wir sind einfach nur Gleichgesinnte. Wollen ein paar Heller13 verdienen.“

„Und eure Eltern?“, hakte ich nach – es war mittlerweile weit nach Mitternacht. Selbst ich, die einige Freiheiten genoss, musste mich zu Hause auf ein Donnerwetter gefasst machen. Was taten die vielen Kinder hier?

„Meine wisset, dass i hier bin. Hauptsach’, i bring was hoim.“ Der Junge grinste vom Balken herunter. „Meine Mutter ist tot und meinen Vater kümmert es nicht, was ich mache“, erklärte das kleine Mädchen, welches mich bereits vorher angesprochen hatte. Sie gesellte sich zu mir und fügte leise hinzu: „Darf ihm nur nicht auf den Sack gehen, so sagt er immer.“ „Ich krieg Schläge, aber die setzt’s eh, egal, ob ich weg bin oder nicht.“ Heintz stieß ein freudloses Lachen aus. „Die Botengänge und Lieferungen in die Rössen sowie andere Absteigen bringen gutes Geld. Das macht vieles erträglicher.“

Eine Gemeinschaft von Kindern. Kleine, zerlumpte Gestalten, die sich durchs Leben schlugen, ähnlich wie ich.

Im Gegensatz zu manchen von ihnen ging es mir prächtig.

„Ihr bringt den Männern Bilsenkraut?“, erkundigte ich mich.

„Meistens“, entgegnete Heintz schulterzuckend. „Oder was anderes. Die Leute sprechen uns an, wenn wir auf der Straße herumlungern. Sie wissen, dass Kinder nicht durchsucht werden, weil man ihnen kaum was anhängen kann. Daher lassen sie uns die Sachen liefern.“

„Und die Frau?“, flüsterte ich und deutete mit dem Daumen über die Schulter. Das Weiblein hatte sich neben der Tür auf einem Stuhl niedergelassen.

„Ach, die ist stumm. Ob sie hört, weiß keiner. Wir dürfen immer hierherkommen. An Tagen, wo das

Geschäft gut läuft, bekommt sie etwas ab und ist zufrieden damit.“ Er wandte sich an die Kinder. „Was Neues von Gabriel?“

Die anderen schüttelten den Kopf.

„Wer ist das?“, fragte ich nach.

Heintz blickte betrübt auf den Boden. „Einer von uns. Er liegt halb tot im Spital. Was genau passiert ist, wissen wir nicht. Tippe drauf, dass es was mit dem Kerl, den du Hüne nennst, zu tun hat.“

Bedrückte Stimmung lag in der Luft. Heintz belastete sich jedoch nicht lange damit und ergriff gut gelaunt erneut das Wort: „Ennlins Mutter ist Kräuterfrau“, erklärte er feixend in die Runde. „Grandioso, oder?“ „Was bedeutet dieses Wort?“, fragte ich das Mädchen neben mir im Flüsterton.

„Keine Ahnung“, gab sie leise zurück. „Er sagt das immer, wenn etwas gut ist.“

„Kreutzer?“, hakte der Junge mit der Decke an mich gewandt nach. „Ich meine deine Mutter.“

„Ich heiße mit Nachnamen Bruckner“, erwiderte ich, woraufhin er nickte.

„Hab ich irgendwo schon mal gehört.“

„Das sagt der auch immer“, hauchte mir die Kleine zu und lächelte mich an. Ich mochte sie auf Anhieb. „Wie alt bist du?“, fragte ich leise – sie musste viel jünger als die anderen Kinder sein, doch ihre Antwort überraschte mich dennoch: „Siebendreiviertel!“ Stolz reckte sie die Hände in die Luft, um sich größer zu machen.

Ich sah sie erschrocken an. „Musst du nicht heim?“ „Immi, was flüsterst denn du schon wieder?“, fragte Heintz, bevor das Mädchen antworten konnte. An mich gewandt fügte er hinzu: „Wir nennen sie Immi, weil sie immer und immerzu ‚immer‘ sagt. Es gibt kaum einen Satz von ihr ohne ‚immer‘.“ Er trat auf das Mädchen zu. „Wie ist dein Name?“

Die Kleine sah zu Boden, verzog schmollend den Mund und entgegnete leise: „Aber ihr nennt mich doch immer Immi.“

„Siehste?“ Der Junge schlug sich mit der flachen Hand auf den Oberschenkel und gluckste.

„Lass sie“, ertönte es von dem Balken herab. „Du weißt doch, was sie durchgemacht hat. Zeig Ennlin lieber mal des Grünzeug.“

Im selben Moment flog ein Bund Kräuter herunter, welches Heintz geschickt auffing und an mich weitergab. „Stimmt. Kannst du die unterscheiden?“ Diese Aufgabe war ein Leichtes für mich; alle drei Pflanzen waren mir bekannt.

„Das mit den gelben Blüten ist Jageteufel14“, erklärte ich bereitwillig. „Wo solches Kraut gehalten wird, da kommt der Teufel nicht hin, sagt meine Mutter gern. Die mit den dunklen Glocken ist die Teufelskirsche15. Und diese hier, mit der Blütenform eines Helmes, nennt sich Teufelswurz16.“

„Alles Teufelspflanzen? Warum heißen die so?“, fragte ein Mädchen.

„Mit dem Jageteufel kann man, ganz wie der Name schon sagt, den Höllenfürst vertreiben. Die Teufelskirsche heißt so, weil du stirbst, wenn du sie isst. Genauso ist es mit dem Teufelswurz. Diese beiden sind Gewächse Satans, weil sie tödlich für die Lebenden sind, ganz einfach.“

Ich wollte den Bund an Heintz zurückreichen, doch dieser wich, die Hände abweisend von sich gestreckt, zurück. „Lass mal, ich glaub, ich will damit nichts zu tun haben“, meinte er.

Einige Kinder lachten auf.

„Wo habt ihr sie her?“, fragte ich. „Gerade Teufelswurz ist selten. Es heißt, er wächst in den hohen Bergen.“

„Ein neuer Händler verkauft diese Pflanzen und einige sind ihm …“ der Junge mit der Decke zögerte „… verloren gegangen.“

„Kann man mit Teufelswurz und Teufelskirsche auch Tiere töten?“, fragte mich Heintz, bevor ich nachhaken konnte, was genau mit ‚verloren gegangen‘ gemeint war – wobei ich die Antwort bereits ahnte.

„Glaube schon“, erwiderte ich und legte die Kräuter auf den Boden.

„Du willst auf die toten Tiere hinaus, die seit Kurzem immer herumliegen?“, fragte Immi.

Der Junge nickte und fuhr an mich gewandt fort: „Wir haben seit drei Tagen einige tote Katzen und sogar Hunde gefunden –“

„Und einige hatten keine Beine oder Fell mehr, anderen fehlte gar nichts“, vervollständigte ich seinen Satz.

Er starrte mich überrascht an und ich erzählte den Kindern vom Verdacht des Henkers.

„Der Scharfrichter ist widerlich“, meinte der Junge an der Wand nach meinem Bericht. „Ich will nichts mit dem zu tun haben.“

Einige Kinder stimmten wortlos zu; nur Heintz sah mich neugierig an. „Wieso hat er dir das verraten?“

„Hängt mit seinem Bauchleiden zusammen“, gab ich zurück. „Und mit Kräutern, auch dem Jageteufel.“ Der Junge nickte und blickte versonnen auf das Kräuterbündel. „Ist schon von Vorteil, wenn man sich auskennt.“

„Der Henker meint“, fragte einer der Jungen vom Balken herab, „dass dieser Riese mit den toten Tieren zusammenhängt?“