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E-Book 2029-2038 E-Book

Diverse

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Beschreibung

Die Familie ist ein Hort der Liebe, Geborgenheit und Zärtlichkeit. Wir alle sehnen uns nach diesem Flucht- und Orientierungspunkt, der unsere persönliche Welt zusammenhält und schön macht. Das wichtigste Bindeglied der Familie ist Mami. In diesen herzenswarmen Romanen wird davon mit meisterhafter Einfühlung erzählt. Die Romanreihe Mami setzt einen unerschütterlichen Wert der Liebe, begeistert die Menschen und lässt sie in unruhigen Zeiten Mut und Hoffnung schöpfen. Kinderglück und Elternfreuden sind durch nichts auf der Welt zu ersetzen. Genau davon kündet Mami. E-Book 1: Sein kleiner Lieblingspatient E-Book 2: Mami und Papi - Trennung? Niemals! E-Book 3: Ein Winzling versöhnt die ganze Welt E-Book 4: Eine Mami muss her! E-Book 5: Kleine Belinda, du bleibst nicht allein E-Book 6: Im Pfarrhaus ist immer was los E-Book 7: Das Kind des Kapitäns E-Book 8: Kein Zuhause für Florian? E-Book 9: Eine andere ist seine Mutter E-Book 10: Die Jorgensen-Kinder

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Inhalt

Sein kleiner Lieblingspatient

Mami und Papi - Trennung? Niemals!

Ein Winzling versöhnt die ganze Welt

Eine Mami muss her!

Kleine Belinda, du bleibst nicht allein

Im Pfarrhaus ist immer was los

Das Kind des Kapitäns

Kein Zuhause für Florian?

Eine andere ist seine Mutter

Die Jorgensen-Kinder

Mami – Staffel 32 –

E-Book 2029-2038

Diverse -

Sein kleiner Lieblingspatient

Alexander ist kein Sorgenkind mehr

Roman von Sonngarten, Anna

Der Rettungswagen raste mit Blaulicht die nächtlichen Straßen entlang. Sobald er auf eine Kreuzung zusteuerte, ertönte das Martinshorn. Ein gellendes Geräusch, das die junge Mutter zusammenfahren ließ. Sie hielt die kleine kalte Hand ihres Sohnes und verfolgte mit versteinerter Mine das hektische Treiben des Notarztes. Plötzlich griff er zum Funkgerät und sah zu ihr herüber.

»Wir sind gleich da.« Sie wußte nicht, wen er damit beruhigen wollte, sich selbst oder sie. Dann sprach er in das Rauschen des Funkgerätes hinein.

»Ich bringe in wenigen Minuten ein Kind mit akuter Laryngitis. Die Zyanose ist trotz Maskenbeatmung und intravenöser Steroidgabe noch nicht rückläufig, aber ich schaffe es nicht, das Kind zu intubieren. Der Oberarzt muß kommen, sofort, sonst…«

Er hielt inne, denn in diesem Augenblick spürte er den brennenden Blick der jungen Frau auf sich. Sie sagte kein Wort, sondern starrte den jungen Arzt nur ausdruckslos an. Natürlich hatte sie nicht jedes Wort verstanden, aber doch soviel, daß es für ihr Kind auf Messers Schneide stand. Aber dazu bedurfte es kaum medizinischer Kenntnisse. Sie mußte nur auf ihr Kind schauen, um zu wissen, was los war. Alexander war am ganzen Körper blau, eiskalt und atmete röchelnd trotz des Sauerstoffs, den er über eine Maske zugeführt bekam. Endlich hielt der Rettungswagen unter Blaulicht vor der Klink. Die Sanitäter sprangen heraus, und mit wenigen routinierten Handgriffen hatten sie die Trage herausgezogen. Im Laufschritt eilten sie Richtung Kinderintensivstation. Inga von Dillenburgh stolperte ihnen hinterher. Doch dann wurde sie von einer schweren Glastür auf der »Eintritt verboten« stand, zu-rückgehalten. Inga war nicht leicht einzuschüchtern, und so wollte sie nach einigen Sekunden der Irritation das Verbotsschild ignorieren und zu ihrem Kind eilen. Eine Krankenschwester kam ihr zuvor.

»Entschuldigen Sie bitte, aber Sie können da im Augenblick nicht rein. Ich werde Sie zu einem Aufenthaltsraum begleiten, wo Sie warten können«, erklärte ihr die Schwester.

Inga wollte widersprechen, Sie wollte dagegen protestieren, in ein Wartezimmer verbannt zu werden, während ihr Kind ein Zimmer weiter um sein Leben rang. Doch ihre Stimme versagte, als sie zu sprechen begann, und ihrer Kehle entwich nur ein unbestimmter Klagelaut. Die Schwester nahm ihren Arm.

»Ich verstehe Sie, Frau…«

»Dillenburgh«, ergänzte Inga mit dünner Stimme.

»Frau Dillenburgh, ich verstehe Sie«, setzte die Krankenschwester von neuem an. »Aber da drinnen wird alles versucht, um das Leben ihres Kindes zu retten. Sie können da im Augenblick nicht helfen.« Die Schwester hatte ruhig und bestimmt gesprochen. Inga wußte, daß sie recht hatte, und ließ sich widerstandslos in den Aufenthaltsraum begleiten. Die Schwester bot ihr noch etwas zu trinken an und ließ sie dann allein. Natürlich hat jetzt niemand Zeit, mir zur Seite zu stehen, dachte Inga. Doch ihr fiel kein anderer Moment ihres Lebens ein, in dem sie sich so einsam und verlassen gefühlt hatte, wie gerade in diesem schrecklichen Augenblick. Noch nicht einmal, als Gunnar gestorben war. Sie lehnte den Kopf an die rückwärtige Wand und versuchte ihre Konzentration auf Alexander zu lenken, als könne allein die Kraft ihrer Liebe ihr Kind retten.

Später hätte sie nicht zu sagen gewußt, wie lange sie so gewartet hatte. Doch plötzlich ging die Tür auf, und ein Mann im weißen Arztkittel kam geradewegs auf sie zu. Inga schrak zusammen, und mit allen Sinnen versuchte sie in Sekundenschnelle zu erfassen, was auf dem Gesicht des Arztes zu lesen war. Sein Ausdruck war ernst aber als er ihr die Hand reichte, fuhr ein kleines Lächeln über sein Gesicht. Da wußte Inga, daß ihr Junge lebte, noch bevor Dr. Jürgen Erdmann zu sprechen begann.

»Sie dürfen aufatmen. Ihrem Jungen geht es den Umständen entsprechend gut. Allerdings wird er ein paar Tage bei uns bleiben müssen. Ach, entschuldigen Sie bitte. Ich habe mich noch nicht vorgestellt. Ich bin der leitende Oberarzt der Kinderklinik. Erdmann.«

»Von Dillenburgh«, erwiderte Inga. »Wann kann ich zu ihm?«

»Sofort, wenn Sie möchten. Allerdings ist er noch intubiert und schläft. Sie werden nicht mit ihm sprechen können.«

»Was heißt das, ›intubiert‹?«

»Ihr Junge leidet unter einer supraglottischen Laryngitis. Man nennt das auch Croup. Das heißt, es kommt zu einer ödematösen Schleimhautschwellung im Bereich der Stimmritze im Kehlkopf. Daher die akute lebensbedrohliche Atemnot. Wir konnten einen Schlauch, also einen sogenannten Tubus, durch die Stimmritze in die Trachea, das heißt in die Luftröhre, schieben. Über diesen Schlauch wird ihr Kind jetzt beatmet. Wenn die Schwellung im Bereich der Stimmritze wieder abgeklungen ist, können wir den Schlauch wieder entfernen. Das wird vielleicht schon morgen der Fall sein. Hatte ihr Sohn schon einmal einen Croup-Anfall?«

»Nein.«

»Ich frage, weil diese Komplikationen zu Rezidiven neigt. Das heißt die Symptome können jederzeit wieder auftreten. Aber meistens hört es im Alter von sieben Jahren wieder auf.«

»Das ist ja beruhigend. Alexander wird nächste Woche sieben«, sagte Inga lakonisch, und Dr. Jürgen Erdmann wurde bewußt, daß er die junge Frau mit seinen medizinischen Ausführungen vielleicht im Augenblick überforderte. Sicher wollte sie jetzt einfach nur zu ihrem Kind. Er lächelte schuldbewußt.

»Okay, kommen Sie bitte mit mir.«

Inga folgte dem Arzt durch die Glastür in eine andere Welt.

»Hier liegt Ihr Sohn, Frau Dillenburgh«, sagte Dr. Erdmann, als er plötzlich vor einem Glaskasten anhielt. Inga starrte durch die Glaswand.

»Kann ich zu ihm?«

»Ja, sicher.«

Inga ging mit zittrigen Beinen zum Bett ihres Sohnes. Die Schwester stellte ihr rasch einen Stuhl neben das Bett, auf dem Inga dann sogleich Platz nahm.

»Na, mein Kleiner, was machst du für Sachen«, sagte sie mit brü-chiger Stimme, denn der Anblick, der sich der jungen Mutter bot, war nicht gerade ermutigend. Blaß und mit geschlossenen Augen lag er da. Verkabelt mit Drähten und Schläuchen, von denen Inga nicht im mindesten ahnte, wozu sie dienten.

»Was hat er denn da im Mund?« fragte sie. Verstört deutete auf etwas, das Alexander aus dem Mund ragte und hinter seinem Kopf wie ein Brille verschnürt war.

»Das ist der Tubus. Ein Schlauch, der in der Luftröhre liegt und über den ihr Sohn jetzt beatmet wird«, erklärte ihr die Krankenschwester. Inga nickte und starrte wieder in das kleine Gesichtchen ihres Kindes. Es schien offenbar, daß Sa-

scha von all dem, was um ihn herum passierte, nichts mitbekam. Inga seufzte hörbar und tastete nach der kleinen Hand, die ihr so vertraut war.

»Bevor Sie nach Hause fahren, würde ich noch gern Ihre Personalien aufnehmen«, hörte sie die Schwester plötzlich sagen.

»Mittlerweile habe ich zwar erfahren, daß ihr Sohn Alexander heißt und daß Sie ihn Sascha nennen, aber das reicht unserer Verwaltung nicht ganz.«

Inga lächelte flüchtig. »Natürlich. Es gibt doch bestimmt ein Formular, daß ich ausfüllen kann, nicht wahr?«

»Ja, so ist es. Ich kann Ihnen aber gern dabei helfen. Nach so einer Aufregung fällt einem manchmal nicht einmal mehr das eigene Geburtsdatum ein«, schlug die Krankenschwester vor. Inga lächelte wieder, denn sie war momentan dankbar für jedes freundliche Wort. Kurz darauf diktierte sie der Schwester alles Wissenswerte zu ihrer Person. Als sie nochmals in aller Deutlichkeit ihren Namen gesagt hatte, stutzte die Schwester.

»Von Dillenburgh?«

»Ja, genau.«

»Sind Sie mit dem von Dillenburgh verwandt?«

»Wen meinen Sie denn mit dem von Dillenburgh?« fragte Inga nach, obwohl sie eigentlich wußte, wen die Schwester meinte.

»Na, Sie wissen schon… der Industrielle, der vor wenigen Jahren gestorben ist. Dem gehörte doch fast die ganze Stadt… der ist bekannt wie ein bunter Hund…«, sagte die Schwester frei heraus, ohne sich viel Gedanken über ihre Wortwahl zu machen.

»Ich glaube, Sie sprechen von meinem verstorbenen Mann«, sagte Inga etwas kühler.

»Oh, darauf wäre ich jetzt nicht gekommen. Ich meine, er war doch schon alt…«, sagte die junge Krankenschwester und wurde sich plötzlich bewußt, daß sie jetzt einen Fauxpas begangen hatte. Eilig versuchte sie das soeben Gesagte wieder zurückzunehmen.

»Ich meine… so alt war er nun auch wieder nicht… und sehr rüstig für sein Alter… nun ja, wie soll ich sagen… Sie scheinen mir noch sehr jung zu sein…« Die arme Krankenschwester war inzwischen puterrot geworden und schaute unglücklich in das unbewegte Gesicht Inga von Dillenburghs.

»Schon gut. Ihre Beobachtung ist ja nicht falsch. Mein Mann war fünf-undzwanzig Jahre älter als ich«, sagte Inga tonlos. Sie war der Schwester nicht böse, aber es war heute auch nicht der Tag, an dem sie gern darüber sprach, wie es gewesen war, mit Ende zwanzig Witwe zu werden.

Gegen fünf Uhr morgens hielt ein Taxi vor der noblen Villa der von Dillenburghs. Inga hatte die Klinik mit dem Gefühl verlassen, daß Sascha in guten Händen war, und hoffte nun auf noch einige Stunden Schlaf. Es war nicht anzunehmen, daß die kleine Sophie, die sie bei Rosamma zurückgelassen hatte, zwischenzeitlich aufgewacht war. Inga überlegte, ob sie ihrer indischen Hausangestellten noch kurz eine Nachricht notieren sollte, fühlte sich aber dann plötzlich von einer bleiernden Müdigkeit übermannt, daß sie nur noch in ihr Bett fallen konnte.

*

Inga erwachte, als sie gegen neun Uhr eine Autotür zuschlagen hörte. Sie brauchte einige Zeit, um das Geräusch der Autotür, die Helligkeit in ihrem Schlafzimmer, ihre seltsame Kleidung, denn sie war weder im Nachthemd, noch war sie richtig angezogen, zusammenzubringen. Dann fiel es ihr wieder schlagartig ein, und sie fühlte sich gleich so matt, daß sie wieder in die Kissen zurücksank. Rosamma hatte offenbar veranlaßt, daß Sophie in den Kindergarten gefahren wurde. Sie war ihr dankbar, daß sie nicht versucht hatte, sie zu wecken. Oder vielleicht hatte sie es versucht, aber vergeblich. Das war auch möglich. Inga stand auf. Ihr Blick fiel in den großen Wandspiegel, und es entfuhr ihr eine kurzer Stoßseufzer.

»Oje, wie sehe ich denn aus!« Doch ohne sich länger mit ihrem erbärmlichen Aussehen zu beschäftigen, griff sie zu ihrem Handy und rief im Krankenhaus an. Sie hatte Glück und konnte sofort mit Dr. Erdmann sprechen, der ihr mitteilte, daß es Sascha gutgehe und sie daran dächten, den Tubus noch am Vormittag zu entfernen. Nach dieser erfreulichen Nachricht ging Inga in ihr Badezimmer. Sie hatte immer noch eine Pyjamajacke und eine Jogginghose an. Darüber hatte sie nur einen Trenchcoat geworfen, denn es hatte in der zurückliegenden Nacht wirklich sehr schnell gehen müssen. Und am frühen Morgen war sie dann in diesem Aufzug ins Bett gefallen. Jetzt hatte sie bläuliche Schatten unter den Augen, war blaß und irgendwie angeschlagen, wofür die pochenden Schmerzen in den Schläfen ein untrügliches Zeichen waren. Inga duschte und entschied sich für ein dunkelblaues Kostüm mit weißer Bluse. Sie war mit ihren zweiunddreißig Jahren eine noch junge Frau. allerdings war ihr Geschmack alles andere als trendy. Sie kleidete sich überaus konventionell, wenn nicht gar konservativ, was die schöne Frau älter aussehen ließ, als wie war. Ihre langen nordischblonden Haare bändigte sie mit wenigen geschickten Handgriffen zu einer Hochsteckfrisur und ging dann Richtung Küche, wo sie Rosamma vermutete.

»Guten Morgen, Rosamma. Danke, daß Sie mich nicht geweckt haben.«

»Oh, gnädige Frau. Sie sind schon auf. Was ist mit Sascha? Wie geht es ihm? Ich habe mir solche Sorgen gemacht… ich dachte…« Rosamma schluckte und wischte sich die Tränen weg, die ihr ohne Vorankündigung übers Gesicht gelaufen waren. Dann sagte sie im Flüsterton: »Ich dachte, ich sehe ihn nicht wie-

der.«

Jetzt liefen auch bei Inga die Tränen, und die beiden Frauen lagen sich in den Armen, um sich gegenseitig zu trösten. Erst nach einiger Zeit konnte Inga berichten, was sich im Krankenhaus ereignet hatte.

»Wir haben wirklich Glück gehabt, Rosamma. Aber er wird heute noch in der Kinderklinik bleiben. Was war mit Sophie? Hat sie nach mir und Sascha gefragt?«

»Ja, natürlich, gnädige Frau. Ich habe der Kleinen das Nötigste erklärt. Franz hat sie dann in den Kindergarten gefahren. Das war doch recht so, oder?«

»Ja, das war sehr recht sogar«, lobte Inga Rosamma lächelnd. Dann fuhr sie fort, mit ihrer Haus-angestellten den heutigen Tag durchzusprechen. Rosamma und Franz waren die einzigen beiden Angestellten, die für Inga seit dem Tod ihres Mannes noch arbeiteten. Inga nannte Rosamma im Spaß ihre Innenministerin und Franz, der für den Garten und alle möglichen Reparaturen am Haus zuständig war, ihren Außenminister. Darüber hinaus waren die beiden auch so etwas wie Familienersatz, insbesondere für Sascha und Sophie. Inga wollte die Küche gerade verlassen, wo sie in Stehen einen schwarzen Kaffee getrunken hatte, als Rosamma noch einfiel, daß jemand angerufen hatte.

»Oh, fast hätte ich es vergessen. Herr Dr. Schneider hat angerufen. Er wollte sich mit Ihnen in der Stadt zum Essen treffen.«

»Das ist heute ungünstig. Hat er gesagt, wo er sich heute am Vormittag aufhält?«

»Nein, hat er nicht. Aber entweder im Büro oder auf dem Golfplatz. So wie immer«, sagte Rosamma unschuldig. Inga lächelte.

»Okay, ich versuch es gleich übers Handy. Ich möchte jetzt erst einmal in die Klinik.«

Rosamma nickte verständnisvoll. »Sollte ich Herrn Dr. Schneider etwas ausrichten, falls er sich noch einmal hier meldet?«

»Nein, danke, Rosamma. Er hat meine Handynummer. Irgendwie kriegen wir uns schon«, entschied Inga. Sie fühlte plötzlich, daß ihr das jetzt nicht so wichtig war, ob sie Paul Schneider zum Essen traf oder nicht. Sie hatte jetzt andere Sorgen.

*

»Hallo, Sascha, mein Schatz. Mensch, das ist ja toll, daß man dir schon den Schlauch entfernt hat. Kannst du denn schon sprechen?« begrüßte Inga ihren Sohn freudig und setzte sich neben sein Bett.

»Ja, ein bißchen«, krächzte der Junge. »Mein Hals tut noch weh, aber der Doktor hat mit Eis versprochen.«

»Aha, wenn das nicht eine gute Nachricht ist… du glaubst gar nicht, wie groß meine Angst war, als du plötzlich gar keine Luft mehr bekommen hast…«

»Ich hatte auch Angst, Mama«, sagte der Junge und schaute seine Mama aus großen blauen Augen ernst an. Inga ergriff seine Hand. Jetzt konnte Sascha den Druck erwidern. Inga lächelte und konnte nur mit Mühe ihre Tränen zurückhalten.

»Wann kann ich denn wieder nach Hause?« fragte Sascha.

»Das weiß ich leider nicht. Aber wenn es dir schon so gut geht, wirst du sicher nicht lange hierbleiben müssen.«

»Kannst du nicht mal fragen? Ich wüßt’ es gern genauer.«

»Ja, natürlich. Ich werde gleich mit einem der Ärzte sprechen, wenn sie Zeit haben.«

»Das haben wir«, sagte plötzlich jemand hinter ihr. Inga drehte sich herum und sah Dr. Erdmann vor sich stehen.

»Schau her, Sascha. Das sah gestern nacht ziemlich schlecht für dich aus. Wir sind alle miteinander froh, daß es dir wieder gutgeht. Aber wir wollen auch nichts überstürzen. Also, bis morgen hältst du es wohl noch bei uns aus«, sagte Jürgen ruhig und bestimmt.

Sascha nickte. Der Doktor gefiel ihm. Da verstand er gleich, was der meinte.

»Sascha klagt über Halsschmerzen. Er sagte, er bekäme Eis zum Nachtisch. Darf ich ihm auch zwischendurch ein Eis geben?«

»Ja, sicher, Sascha kann auch zwischendurch mal ein Eis haben«, antwortete Jürgen und zwinkerte Sascha zu. Damit war die Visite erst einmal beendet. Und auch Inga mußte leider schon wieder gehen, da sie Sophie vom Kindergarten abholen wollte. Am Nachmittag würde sie gemeinsam mit Sophie und einer Extra-Portion Eis wiederkommen, versprach sie Sascha, der daraufhin zufrieden lächelnd in die Kissen zurücksank.

*

Im Auto schaltete Inga ihr Handy wieder ein, und noch bevor sie ihren Wagen startete, ertönte das Klingelzeichen. Sie meldete sich und war nicht erstaunt, Paul Schneider in der Leitung zu haben.

»Hallo, Inga. Ich versuche dich schon seit gestern zu erreichen. Ist irgend etwas passiert?« fragte er mit ruhiger Stimme. »Ja«, sagte Inga mit einem tiefen Seufzer. Sascha hatte gestern nacht einen sogenannten Croup-Anfall. Wir sind mit Blaulicht ins Krankenhaus gefahren. Es war schrecklich… ich dachte…«, Inga konnte nicht weitersprechen. Ihre Kehle war wie zugeschnürt, sobald sie an Sascha dachte, wie er mit angstgeweiteten Augen um Luft rang und sich an ihr festkrallte. Nie würde sie ihre eigene Hilflosigkeit vergessen können und ihre grauenhafte Angst, daß ihr Kind sterben könnte. Mit großer Willensanstrengung versuchte sie dieses Bild zu verscheuchen.

»Croup-Anfall? Davon habe ich noch nie gehört. Was ist das, um Himmels willen?« hörte sie Paul fragen.

»Ich habe es auch nicht ganz verstanden. Jedenfalls schwillt der Kehlkopf plötzlich an, und man bekommt keine Luft mehr. Sascha war ganz blau. Alles ging so rasend schnell… es war der blanke Horror.«

»Hm, das glaube ich… Also eigentlich rufe ich an, weil ich dich sehen will. Ich dachte, wir könnten uns gleich zum Essen in der Stadt treffen.«

»Sei mir nicht böse, Paul. Aber das läßt sich momentan schlecht einrichten. Ich bin jetzt unterwegs zum Kindergarten.«

»Und heute abend?«

»Tja, weißt du, Paul… mir ist nicht so recht danach. Ich bin halt sehr angespannt, und ich weiß noch nicht, wie der Tag heute so läuft. Nachher möchte ich gern wieder ins Krankenhaus… Sophie möchte ich auch nicht schon wieder allein lassen. Ein anderes Mal, ja?«

»Na schön, obwohl dir ein bißchen Ablenkung vielleicht ganz gut täte. Du kannst mich ja anrufen, wenn du es dir doch anders überlegst. Du weißt ja. Ich bin immer für dich da.«

»Ja, mein Lieber, das weiß ich. Cioa!« Inga legte ihr Handy auf den Beifahrersitz und fuhr los. Obwohl sie sich Mühe gab, jetzt nicht an Paul Schneider zu denken, bemerkte sie, wie ein unangenehmes Gefühl in ihr hochkroch. Hatte Paul wirklich vergessen zu fragen, wie es Sascha jetzt geht? Hatte er wirklich nur versucht, sich mit ihr zu verabreden? Oder hatte sie nicht richtig hingehört? Sie war sehr in Gedanken gewesen. Nein, es gab kein Zweifel. Er hatte nicht nach Sascha gefragt.

»Er hat nicht gefragt!« sagte sie laut zu sich selbst. Inga schüttelte fassungslos den Kopf. Dr. Paul Schneider war der Rechtsanwalt von Gunnar gewesen. Nach seinem Tod hatte er ihr nicht nur als Rechtsberater zur Seite gestanden, sondern war ihr in all den Jahren ein zuverlässiger Freund gwesen. Es war für Inga sehr angenehm, einen gutausehenden Mann zur Seite zu haben, der ihre Interessen teilte und sie stets begleitete, wenn sie als Witwe Inga von Dillenburgh zu gesellschaftlichen Ereignissen eingeladen wurde. Natürlich wußte Inga, daß sich Paul schon länger wünschte, ihre Beziehung zu vertiefen. Bislang hatte sie seine Vorstöße in diese Richtung stets mit dem Hinweis abgewiesen, noch nicht bereit für eine neue Beziehung zu sein. Paul hatte das stets akzeptiert. Sie parkte und lief die wenigen Schritte zum Eingangstor. Die Kinder spielten trotz der Kälte draußen auf dem weiträumigen Gelände. Inga konnte Sophie beobachten, die ihrerseits ihre Mama noch nicht entdeckt hatte. Ein anderes Kind machte Sophie aufmerksam, daß ihre Mutter gekommwen war. Frau Meißner, die Erzieherin aus Sophies Gruppe, öffnete Inga das Tor.

»Guten Tag, Frau von Dillenburgh. Ich habe gehört, daß etwas mit Sascha los ist. Wie geht es ihm?« Sascha, der das erste Jahr zur Schule ging, war früher auch in Frau Meißners Gruppe gewesen.

»Danke, der Nachfrage. Es geht ihm wieder ganz gut. Er hatte in der Nacht einen Croup-Anfall«, informierte Inga die Erzieherin.

»Du meine Güte. Das ist ja furchtbar«, sagte Frau Meißner. In dem Moment kam Sophie angeflitzt.

»Hallo, Mama! Wo warst du? Was ist mit Sascha?«

Inga nahm Sophie erst einmal auf den Arm. »Es ist alles wieder gut, mein Schatz. Wir können Sascha heute nachmittag besuchen.«

»Ist er nicht zu Hause?«

»Nein, er mußte im Krankenhaus bleiben.«

»Ach so. Dann ist er aber bestimmt sehr krank, oder?« fragte die Kleine ernst.

»Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, Sophie. Im Krankenhaus passen alle auf Sascha auf. Da kann ihm nichts passieren. Wir fahren jetzt erst einmal nach Hause, und dann besuchen wir Sascha, okay?«

Sophie nickte. Sie verabschiedeten sich und fuhren los. Inga stellte plötzlich fest, daß sie hungrig war, was kein Wunder war, denn sie hatte noch nichts gegessen. Rosamma hatte sicher wie immer etwas Gutes gekocht, und Inga beeilte sich, nach Hause zu kommen.

*

Paul Schneider hatte seiner Sekretärin Frau Jahn mitgeteilt, daß er heute später aus der Mittagspause zurück sein werde, da er noch etwas Privates zu erledigen habe.

»Sie haben um vierzehn Uhr dreißig einen wichtigen Termin mit der Firma Rudolph und Söhne«, gab Frau Jahn zu bedenken.

Paul Schneider blickte auf seine Uhr.

»Hm, das müßte eigentlich zu schaffen sein«, sagte er mehr zu sich selbst. Frau Jahn schaute zweifelnd.

»Ich beeile mich«, versprach der gutaussehende Rechtsanwalt und verschwand durch die Tür. Frau Jahn sah ihm lächelnd hinterher. Hätte sie gewußt, wohin ihr Chef unterwegs war, hätte sie kaum gelächelt. Denn Paul Schneider hatte einen Termin mit dem teuersten Juwelier der Stadt. Seit gut drei Jahren warb er nun schon um Inga. Er hatte es ihr häufig genug zu verstehen gegeben, aber Inga hatte ihn bisher immer hingehalten. Paul glaubte, daß es Zeit sei, Nägel mit Köpfen zu machen. Er wollte alles auf eine Karte setzen und ihr einen handfesten Antrag machen. Einen Antrag mit Stil natürlich. Paul Schneider gehörte zu den Menschen die Stil gern mit teuer verwechselten. Es mußte schon ein Zehnkaräter sein. Frau Jahn wäre das Lächeln mit Sicherheit vergangen, wenn sie von den Ambitionen ihres Chefs erfahren hätte. Nicht daß Paul Schneider seiner durchaus hübschen Sekretärin bisher irgendwelche Hoffnungen in Aussicht gestellt hätte. Aber Ursula Jahn gehörte zu den Frauen, die allein eine stete Freundlichkeit von Seiten ihres Chefs als versteckte Zuneigung auffassen. Und es kam schließlich nicht selten vor, daß der Chef seine langjährige und vertraute Sekre-tärin ehelichte. Paul Schneider dachte hingegen nicht im Traum daran, seiner Sekretärin Avancen zu machen. Nicht, wenn er berechtigte Aussichten auf eine Industriellenwitwe mit Adelstitel hatte.

*

Als Inga mit Sophie gegen fünfzehn Uhr die Kinderintensivstation betrat, erlebte sie gleich zwei unangenehme Überraschung. Zum einen wurde sie umgehend aufgefordert, sofort das Kind, womit Sophie gemeint war, wegzubringen. Und das in einem ziemlichen unwirschen Ton. Als sie im Hinausgehen nach Sascha fragte, erhielt sie von der gleichen Person die knappe Antwort:

»Sascha von Dillenburgh? Der ist vor zwei Stunden auf eine der peripheren Stationen verlegt worden.«

»Wie bitte? Das kann doch nicht sein? Ich war erst heute morgen bei ihm. Da hat aber niemand von Verlegung gesprochen.«

»Das kann schon sein. Jetzt ist es aber so«, erhielt sie zur Antwort.

»Und auf welche Station ist mein Kind verlegt worden?«

»Das weiß ich nicht. Da müßte ich einmal nachsehen. Ich bin eben erst zum Dienst gekommen.«

Inga holte tief Luft. »Dann tun Sie das bitte, und sorgen Sie auch gleich dafür, daß Dr. Erdmann für mich zu sprechen ist.«

Der Krankenpfleger, der Inga so unwirsch der Station verwiesen hatte, schaute sie abschätzig mit einer Mischung aus Mitleid und Belustigung an.

»Mal sehen, was ich für sie tun kann«, sagte er in einem lapidaren Tonfall. Die Tür zur Intensivstation fiel zu, und Inga stand fassungslos davor.

»Was ist denn, Mama? Warum können wir denn nicht zu Sascha. Ist etwas mit ihm?« fragte Sophie.

»Ich weiß es auch nicht, Sophie. Ich versteh nicht, wieso ich nicht informiert werde, wenn Sascha verlegt wird. Das geht doch nicht.« Inga hatte mehr zu sich selbst gesprochen. Sophie griff nach ihrer Hand. In diesem Augenblick kam Dr. Erdmann von einer Besprechung zurück. Nicht ahnend, was vorgefallen war, begrüßte er Inga.

»Guten Tag, Frau von Dillenburgh«, sagte er und wollte schon an ihr vorbei Richtung Intensivstation. Ehe Dr. Erdmann wußte wie ihm geschah, polterte Inga los.

»Gut, daß Sie mir gerade jetzt über den Weg laufen. Was ist hier eigentlich los? Erst verscheucht man uns von der Station, dann teilt man uns ganz nebenbei mit, daß Sascha verlegt worden sei und man kann uns noch nicht einmal mitteilen wohin. Es ist eine Unverschämtheit, wie man hier behandelt wird. Hätte ich nicht ein Anrecht darauf, im Vorhinein zu erfahren, wann und wohin mein Kind verlegt wird? Wäre es nicht möglich gewesen, mich kurz telefonisch zu unterrichten?« Inga hatte sich in Rage geredet und war mittlerweile rot vor Zorn. Sophie versteckte sich sicherheitshalber hinter ihrer Mutter.

Dr. Erdmann sah Inga nur an und hatte den völlig unpassenden Gedanken, daß sie eigentlich eine sehr schöne Frau war. Diese Erkenntnis traf ihn ganz unvermittelt, und er rätselte darüber, wieso ihm das gerade jetzt auffiel. Als der Pfleger plötzlich wieder im Türrahmen stand und nur »B3« sagte, hatte Jürgen noch immer kein Wort gesagt.

»B3?« fauchte Inga. »Was soll das heißen? Wo ist diese Station?« Der Pfleger warf Dr. Erdmann einen bedeutungsvollen Blick zu, den Inga unglücklicherweise richtig zu deuten glaubte.

»Sie brauchen sich hier gar keine Blicke zuzuwerfen. Ich werde mich über Sie beim Chef beschweren. Dann werden wir ja sehen, wer auf welcher Seite steht. Und jetzt wird einer von Ihnen mich zu dieser Station B3 begleiten. Ich denke gar nicht daran, hier durchs Haus zu irren, bis ich zufälligerweise auf jemanden treffe, der nicht inkompetent oder unhöflich ist.«

Jetzt warf Jürgen dem Pfleger einen Blick zu, den dieser als Aufforderung verstand, sich zu verziehen. Darum ließ sich der Pfleger nicht lange bitten. Als die Glastür zur Kinderintensivstation zum wiederholten Mal ins Schloß gefallen war, richtete Jürgen das Wort an Sophie.

»Na, wer bist du denn?«

»Sophie«, piepste die Kleine.

»Dann bist du bestimmt Saschas Schwester, stimmt es?«

»Ja, das stimmt. Wo ist mein Bruder denn? Wir wollten ihn doch besuchen kommen.«

»Da gehen wir jetzt zusammen hin«, schlug Jürgen vor und ging voraus. Inga machte er ein Zeichen, ihm zu folgen.

»Warum darf ich denn nicht auf die Station mit der Glastür?« fragte Sophie.

»Weil Besucherkinder Krankheiten haben könnten, die sehr gefährlich für ein krankes Kind werden können. So zum Beispiel Windpocken.«

»Ich hatte schon Windpocken«, bestätigte Sophie.

»Aha, das ist gut. Dann kannst du diese Krankheit schon nicht mehr bekommen.«

»Und warum ist Sascha nicht mehr auf dieser Station?«

»Wir hatten heute mittag einen schweren Unfall. Zwei Kinder sind mit dem Hubschrauber eingeflogen worden. Da brauchten wir unbedingt Platz und haben die Kinder, denen es besserging, auf eine andere Kinderstation verlegt. Alles mußte sehr schnell gehen, da war dann keine Zeit, die Angehörigen zu informieren.« Bei den letzten Worten hatte Jürgen Inga angeschaut. Sie hatte seinen Blick ohne Lächeln erwidert, obwohl sie aus den Erklärungen mittlerweile gefolgert hatte, daß Dr. Erdmann nicht anders hatte handeln können. Aber so schnell war sie nicht versöhnlich zu stimmen. Sie lächelte erst wieder, als sie in Saschas strahlendes Gesicht sah angesichts der riesigen Portion Eis, die sie mitgebracht hatte und glücklicherweise noch nicht geschmolzen war. Davon würde er seiner kleinen Schwester etwas abgeben, beschloß er großzügig, und die Kinder ließen es sich schmekken.

*

Jürgen war spät am Abend nach Hause gekommen. Er hörte den Anrufbeantworter ab, und fand zu seinem Erstaunen eine Nachricht von seinem Zwillingsbruder Markus vor.

»Hey, Jojo, alter Kumpel. Ich bin es, Marko. Ich bin heute abend im Flamingo. Hast du nicht Lust dahin zu kommen? Bis vielleicht nachher.«

Jürgen mußte lächeln. Markus war einer der wenigen, der ihn immer noch Jojo nannte und sich selbst Marko. Das hatte natürlich eine Geschichte. Die Zwillingsbrüder Jürgen und Markus wurden eine Zeit lang von ihren gleichaltrigen Freunden wegen ihrer Namen gehänselt. Man nannte sie die Jürgen-Markus Zwillinge, nach dem damals bekannten aber als ziemlich uncool verschrieenen Schlagersänger. Namensvetter des Hitparadenkönigs Jürgen Markus wollten die Zwillinge natürlich nicht sein, und so tauften sie sich um. Während Markus sich bis heute immer noch als Marko vorstellte, hatte Jürgen den Namen Jojo irgendwann wider abgelegt. Er wußte gar nicht mehr, wann das war, aber Jojo war kein Name für einen Erwachsenen, fand er.

Jürgen überlegte kurz, ob er auf den Vorschlag seines Bruders eingehen sollte und verließ schon kurz darauf seine Wohung. Er war nicht überrascht, Markus in Begleitung zu sehen und beobachtete, wie Markus der jungen Schönheit an der Bar etwas ins Ohr raunte, bevor er auf seinen Bruder zusteuerte. Das Mädchen warf den Kopf in den Nacken und lachte laut. Jürgen klopfte seinem Bruder auf die Schulter.

»Hey, das ist ja geil, daß du noch gekommen bist, Jojo. Ich hatte ehrlich gesagt gar nicht mit dir gerechnet.« Zu seiner Begleitung gewandt sagte er:

»Das ist mein Bruder Jojo. Das totale Arbeitstier. Daß ich den mal vor die Tür bekomme, wundert mich selbst«, sagte Markus und lachte.

Die junge Frau auf dem Barhocker reichte Jürgen verschüchtert die Hand. Jürgen schätzte sie auf gerade mal siebzehn.

»Hallo. Marko hat mir gesagt, daß ihr Zwillinge seid. Aber ihr seht euch gar nicht so sehr ähnlich«, bemerkte sie.

Jürgen nickte. »Wir sind eineiige Zwillinge, aber die Ähnlichkeit hat inzwischen nachgelassen, seit unsere Mutter uns nicht mehr in die gleichen Matrosenanzüge steckt, nicht wahr, Marko? Außerdem sind wir uns charakterlich unähnlich«, fügte er noch hinzu.

»Das kann man wohl sagen. Er ist der Streber, ich der Versager«, sagte Markus leichthin, als sei Versager ein anerkannter Beruf. Dann schlug er Jürgen auf die Schulter und fragte ihn, was er trinken wolle. Jürgen bestellte und fragte gleich darauf, wie die junge Dame denn heiße, deren Bekanntschaft er soeben gemacht habe.

»Oh, ich bin die Michaela, also eigentlich nennen mich alle Michele. Das klingt irgendwie vornehmer«, sagte sie und kicherte.

»Ich werde Michele ganz groß rausbringen, Jojo. Wir waren heute im Studio. Michele hat eine gute Stimme. Aber das ist ja heutzutage Nebensache. Das wichtigste ist ja, ob du dich bewegen kannst, und wie du aussiehst. Und ich sage dir, wir waren alle ganz hingerissen von ihr«, erklärte Markus.

Michele kicherte albern und sog an ihrem Strohhalm. Jürgen nickte nur. Er verzichtete auf jegliche Frage, weil er seinen Bruder nicht in Verlegenheit bringen wollte. Aber war Markus nicht noch vor kurzem im Immobiliengeschäft tätig gewesen? Er wußte es jetzt selbst nicht mehr genau, denn Markus wechselte häufig sein Betätigungsfeld. Jetzt war er also Manager oder Produzent oder beides. Man fragte besser nicht. Doch als Michele kurz darauf von ihrem Hocker rutschte und mal eben zur Toilette verschwand, fragte Jürgen dann doch nach.

»Sag mal Markus. Warst du nicht bis vor kurzem…« Er konnte nicht aussprechen, da fiel ihm sein Bruder schon eifrig ins Wort.

»Ja, ja. Aber das brachte irgendwie nichts ein… Ich bin jetzt bei Leuten eingestiegen, die sich mit Talentsuche und Castings beschäftigen. Weißt du, das ist eine Sache, die momentan wirklich Kohle bringt. Die Mädels sind heute ja ganz wild darauf, berühmt zu werden.«

»Was ist deine Aufgabe dabei?«

»Na, ich durchstöbere die Inkneipen, Discos usw. und suche nach hübschen Mädels. Ist doch ein idealer Job für mich.« Markus grinste von einem Ohr zum anderen.

»Die junge Frau hier ist doch bestimmt noch keine achtzehn. Wissen ihre Eltern denn, daß sie ein großer Star werden soll und dafür in Bars herumhängen muß?«

»O, Mann Jojo! Laß doch nicht immer gleich den Moralapostel raushängen. Okay, die Kleine wird nächsten Monat sechzehn. Aber meinst du, daß zu Hause jemand auf sie wartet? Du kennst das Leben nicht, Jojo. Du gehst jeden Tag in deine Klinik. Du weißt nicht Bescheid, wie es hier draußen läuft.« Jürgen wußte nicht, was er darauf sagen sollte. Natürlich wußte auch er, daß es viele Kinder und Jugendliche gab die kein richtiges Zuhause hatten. Nur konnte er nicht akzeptieren, daß man diese Kinder auch noch ausnutzte. Daß man ihnen Flausen in den Kopf setzte und bewußt in Kauf nahm, daß sie Enttäuschungen erlebten. Jürgen schüttelte stumm den Kopf. Es hatte keinen Zweck hier und jetzt eine Dikussion mit Markus zu beginnen. Außerdem kam Michele gerade zurück, erklomm lächelnd ihren Barhocker und himmelte Marko weiter an. Eine halbe Stunde später gab Jürgen vor, müde zu sein und verabschiedete sich. Draußen atmete er die frostige Winterluft ein und beschloß noch eine Runde um die Häuserblocks zu gehen. Das würde ihm helfen abzuschalten. In der Ehrenstraße hatte ein neuer Italiener aufgemacht. Einer von der noblen Sorte, in dem man vergeblich nach Pizza auf der Speisekarte Ausschau hielt. Von außen sah der Laden vielversprechend aus. Eine hell erleuchtete Glasfront gab den Blick frei und auf ein edelrustikales Ambiente. Die Fensterplätze waren alle belegt und täuschten damit den Eindruck eines gut besuchten Lokals vor. Jürgen warf einen Blick auf eine schwarze Schiefertafel, die als Speisekarte diente und mit erstklassigen Speisen lockte. Er bekam umgehend Appetit, doch allein zu essen war irgendwie deprimierend. Er ging weiter, und während er an der Fensterfront vorbeischlenderte, warf er automatisch einen kurzen Blick auf die tafelnden Gäste. Völlig unvorbereitet traf ihn plötzlich der Blick Inga von Dillenburghs, die an einem der Fensterplätze saß. Er blieb stehen, grüßte kurz und ging dann schnell weiter. Sie hatte nur kurz gelächelt, als ob sie ihn schon eine längere Zeit beobachtete hätte. Er kam sich ertappt vor. Während er weiterging, versuchte er sich daran zu erinnern, was er in der Kürze des Augenblicks wahrgenommen hatte. Sie war nicht allein gewesen. Ein Mann vielleicht Ende vierzig hatte ihr gegenüber gesessen. Eine brennende Kerze hatte auf dem Tisch gestanden. Candlelightdinner fiel ihm als Schlagwort ein. Dann schmunzelte er über sich selbst. Sollte dir egal sein, mit wem sie ausgeht und zu welchem Anlaß. Was hast du schon mit ihr zu tun? Gar nichts. Er ging weiter und merkte, daß er im stillen doch wieder an sie dachte, denn plötzlich stand er vor seiner Haustür und hatte gar nicht gemerkt, wie er dorthin gekommen war.

*

Paul Schneider hatte nicht locker gelassen. Jetzt wo er den teuren Ring hatte, wollte er ihn auch überreichen. Er war von Natur aus ungeduldig und erledigte die Dinge gern sofort. Im Beruf war diese Charaktereigenschaft sehr nützlich. Im Privatleben nicht unbedingt. Inga hatte sich zu der Verabredung gedrängelt gefühlt und nur zugestimmt, weil sie den langjährigen Freund nicht verstimmen wollte. Eigentlich war ihr am heutigen Abend gar nicht danach auszugehen. Ihre Stimmung besserte sich jedoch wieder, als sie das neue italienische Restaurant betrat. Das angenehm warme Ambiente, die vielen Kerzen und der Tisch am Fenster stimmten sie um. Es war doch eine ganz gute Idee gewesen. Außerdem war dies vielleicht der passende Rahmen, um sich mit Paul auszusprechen. Es lag ihr immer noch im Magen, daß er sich gar nicht nach Sascha erkundigt hatte, und er war auch nicht auf die Idee gekommen, ihn zu besuchen. Sie beobachtete Paul, nachdem er ihr den Stuhl zurechtge-rückt und ihr gegenüber Platz genommen hatte. Er wirkte nervös. Hatte er Ärger mit einem Klienten gehabt? Sie begannen ein allgemeines Gespräch über das neue Restaurant.

»Das wurde ja auch mal Zeit, daß wieder etwas in der Infrastruktur unserer Stadt passiert«, sagte Paul und blickte sich zufrieden um, als ob das neue Restaurant sein Verdienst war.

Während Inga überlegte, was das Restaurant mit der Infrastuktur zu tun hatte, sah sie plötzlich draußen auf dem Gehweg Dr. Erdmann. Sie war überrascht. In seiner legeren Freizeitkleidung, wirkte er weniger seriös als im Arztkittel. Oder wirkte er einfach nur jünger? Das dunkelblonde Haar war praktisch kurz geschnitten und ließ eine hohe Stirn erkennen. Seine breiten Schultern waren ihr schon bei ihrer ersten Begegnung aufgefallen. Inga suchte nach dem passenden Adjektiv. Dann fiel es ihr ein. Ja, er sah sehr männlich aus. Er hätte auch Bergsteiger oder Abenteurer sein können, fand Inga. Jetzt studierte er die Speisekarte. Ob er gleich herein kam? Vielleicht war er verabredet. Inga bemerkte eine leichte angenehme Aufregung. Dann trafen sich plötzlich ihre Blicke.

»Es könnte noch viel mehr in unserer Stadt passieren, aber die Leute in der Verwaltung haben das Arbeiten nicht gerade erfunden… Was ist denn da draußen?«

»Ach niemand, eigentlich«, sagte Inga schnell.

»Aber du hast gerade gegrüßt.«

»Wieso? Ich habe doch gar nichts gesagt«, verteidigte sich Inga.

»Gesagt hast du nichts, aber du hast gelächelt.«

»Habe ich das?«

»Inga! Hast du gerade jemanden gesehen, den du kennst, oder nicht?« Paul verstand Ingas Reak-tion nicht.

»Ja, doch… du hast recht. Ich glaubte, ich habe gerade Dr. Erdmann gesehen«, gab Inga schließlich zu und wechselte darüber die Gesichtsfarbe.

»Wer ist das?«

»Das ist der behandelnde Arzt von Sascha.«

»Ach so«, sagte Paul und wollte schon mit seinen Überlegungen zur Infrastruktur fortfahren, aber er merkte, daß Inga auf die Tischdecke starrte, wo es seiner Ansicht nach, überhaupt nichts zu sehen gab.

»Ist etwas mit dir, Inga?«

»Ja, Paul. Es ist etwas. Ich frage mich gerade, warum du weder nach Sascha fragst, noch überhaupt auf die Idee kommst, ihn im Krankenhaus zu besuchen.« Inga schaute Paul gerade in die Augen. Jetzt war es heraus, und sie wunderte sich, warum es ihr plötzlich so leicht fiel, die Dinge beim Namen zu nennen. Paul war zunächst mal sprachlos.

»Ich… ich muß sagen, nein… also daran habe ich überhaupt nicht gedacht…«, gab er schließlich zu.

»Tja, das dachte ich mir«, sagte Inga nur.

»Weißt du, ich dachte, es sei alles wieder in Ordnung bei dem Jungen. Sagtest du nicht, daß er übermorgen schon wieder die Klinik verlassen darf? Dann war es doch nicht so dramatisch, oder?« Paul versuchte die Situation zu retten, obwohl er bereits ahnte, daß er einen entscheidenen Fehler gemacht hatte.

»Paul, er hat mit dem Tod gerungen… ich habe geglaubt, daß ich ihn nicht lebend wiedersehe… ich habe in meinem ganzen Leben noch nie solche Angst gehabt…« Inga traten wieder Tränen in die Augen. Dann schluchzte sie auf, biß sich auf die Lippen und verbarg dann ihr Gesicht in den Händen. Paul saß wie ein begossener Pudel vor ihr. Auf solch eine emotionale Reaktion war er nicht vorbereitet. Das mit dem Ring kannst du vergessen, dachte er nur. Hättest besser dem Kleinen was gebracht.

»Ich habe mir Gedanken über uns gemacht, Paul«, sagte Inga, als sie sich wieder beruhigt hatte. »Du bist mir immer ein guter Freund gewesen, aber du bist immer nur an mir interessiert.«

»An wem denn sonst?« entfuhr es Paul verständnislos.

»An meinen Kindern.«

»An den Kindern?« fragte Paul verwundert.

»Ja, genau. Es ist natürlich schön, mit dir ausgehen zu können. Ich bin dir dankbar, daß du mich überallhin begleitest… aber du bist kein Familienmensch. Du siehst nur die Frau in mir. Ich bin aber mehr als das. Ich bin auch Mutter.«

»Das weiß ich doch«, sagte Paul jetzt genervt. Er hatte sich den Abend anders vorgestellt. Jetzt kam sie ihm mit solchen Gefühlsduseleien.

»Inga, du bist sehr aufgewühlt. Es tut mir leid, daß ich nicht begriffen habe, wie schlimm das mit Sascha war. Jetzt siehst du auf einmal alles negativ. Ich verspreche dir, ich werde mich bessern. Bestimmt.« Er nahm Ingas Hand und streichelte sie.

*

Heute war der Tag, an dem Sa-scha entlassen wurde. Er freute sich wie ein Schneekönig, obwohl die Tage im Krankenhaus auch ihre positiven Seiten gehabt hatten. Gestern erst war völlig überraschend Paul bei ihm aufgetaucht. In der Hand hatte er ein neues Spiel für seine Playstation. Das war noch nie vorgekommen, daß er von Paul etwas geschenkt bekommen hatte. Sascha bekam allmählich Respekt vor seiner Erkrankung. Das mußte ja wirklich schlimm gewesen sein, wenn sogar Paul an ihn dachte. Ansonsten war es eher langweilig gewesen, außer wenn Dr. Erdmann gekommen war. Der gefiel ihm. Vielleicht würde er später auch einmal Arzt werden, daß ihn das sehr freuen würde. Sascha war ganz wohlig warm geworden im Bauch. Dr. Erdmann hatte ihm sogar erlaubt, mit seinem Stethoskop zu horchen. War eigentlich schade, daß er ihn in Zukunft nicht mehr zu sehen bekam. Es sei denn, er würde noch einmal krank werden. Aber das wollte er nun auch wieder nicht.

»Hallo, mein Schatz!« begrüßte ihn seine Mutter, die soeben zur Tür hereingekommen war.

»Hallo, Mama«, strahlte Sascha. »Wo ist Sophie?«

»Im Kindergarten.Hast du Sehnsucht nach ihr? Das wäre ja mal etwas ganz Neues, wo ihr euch ansonsten doch ständig in die Haare kriegt«, sagte Inga lachend.

»Ja, schon«, gab Sascha zu. »Aber jetzt finde ich es doch gut, sie wiederzusehen. Bist du mit deinem Wagen hier?«

»Nein, Franz hat mich gefahren. Aber er steht im Halteverbot. Deshalb ist er nicht mit hoch gekommen. Er wartet unten auf uns«, erklärte sie, während sie Saschas Sachen einpackte.

»Ach so. Und Rosamma?«

»Die kocht dir zu Hause dein Lieblingsessen.«

Sascha grinste. Da wußte er doch sofort, was das war. Spaghetti mit Tomatensoße. Es klopfte an der Tür, und gleich darauf betrat Jürgen das Krankenzimmer.

»Hallo, Sascha. Schon im Aufbruch begriffen? Guten Tag, Frau von Dillenburgh«, begrüßte er die beiden. Inga erwiderte die Begrüßung und widmete sich dann wieder Saschas Koffer.

»Hallo, Herr Doktor«, begrüßte ihn Sascha.

»Tja, Sascha. Dann heißt es jetzt Abschied nehmen. Im Krankenhaus sagt man immer: Hoffentlich sehen wir uns so schnell nicht wieder.«

»Ja, daran habe ich auch schon gedacht. Ich möchte auch nicht wiederkommen. Aber ich finde, Sie könnten uns mal zu Hausse besuchen.« Sascha war stolz auf seine Idee, die ihm gerade durch den Kopf gesaust war. Jürgen schaute überrascht. So direkt war noch keiner seiner kleinen Patienten gewesen. Jürgen lächelte verlegen. Dann hörte er plötzlich Ingas klare Stimme.

»Das ist eine gute Idee von Sascha. Ich würde mich auch freuen, Sie als Gast begrüßen zu dürfen.«

»Ach, wirklich?« sagte Jürgen bloß und schämte sich gleich darauf wegen seiner unbeholfenen Art. So reagierte man eigentlich nicht auf eine Einladung.

»Wirklich«, sagte Inga nur und lächelte. Dann reichte sie ihm ihre Karte.

»Ich möchte mich noch einmal ganz herzlich für alles bedanken, was Sie und ihr Team für Sascha getan haben.« Sie reicht ihm ihre schmale gepflegte Hand, die er zögernd nahm.

»Nicht der Rede wert«, wehrte er ab.

Sascha begann auf und ab zu hüpfen. »Kommen Sie auch wirklich? Wann kommen Sie? Morgen schon?«Inga legte ihre Hand auf Saschas Schulter.

»Nicht so eilig, Sascha. Der Doktor kommt bestimmt.« Dann blickte sie Jürgen mit fragenden Augen an. Er nickte bestätigend

»Ich schicke Ihnen eine Einladung für die kommende Woche. Wäre Ihnen das recht?« hörte er sie fragen.

»Ja, natürlich. Das geht klar«, beeilte er sich zu sagen. Dann ging Jürgens Funk, und er mußte sich nun wirklich verabschieden. Mit gemischten Gefühlen verließ er das Krankenzimmer.

*

»Wieviel Uhr ist es?« wollte Sascha zum zehnten Mal innerhalb einer Stunde wissen.

»Seit eben sind etwa fünf Minuten vergangen, Sascha«, sagte Inga.

»Und? Wie lange dauert es dann noch?« Sascha ließ nicht locker.

»Sascha, Schatz. Etwa noch eine halbe Stunde. Wenn Dr. Erdmann pünktlich ist.«

»Er ist bestimmt pünktlich«, glaubte Sascha zu wissen. Inga saß mit der kleinen Sophie auf der Couch im Salon und las ihr vor. Doch sie konnte immer nur wenige Sätze lesen, bevor Sascha wieder wissen wollte, wie lange es denn noch dauern würde, bis der Doktor endlich käme. Sophie wurde schon ungeduldig.

»Ich möchte weiterhören. Mama, lies bitte weiter«, protestierte sie. Aber davon ließ sich ihr Bruder nicht beeindrucken. Er konnte einfach nicht stillsitzen und auch nichts mit sich anfangen. Inga konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken. Aber abgesehen davon, bemerkte auch sie eine leichte Unruhe. Hatte Sascha sie mit seiner Aufregung angesteckt? Nur Sophie schien von allem vollkommen ungerührt. Sie wollte nur, daß Mama endlich weiterlas. So verging die halbe Stunde mit Vorlesen für Sophie und Auskünften zur Uhrzeit für Sascha, bis es endlich an der Tür läutete. Sascha raste sofort los.

»Hallo, Herr Doktor!« rief er ihm engegen und strahlte übers ganze Gesicht.

»Hallo, Sascha! Na, wie geht’s ?«

»Super! Komm rein. Ich will dir etwas zeigen.« Er griff nach Jürgens Hand. Doch dieser zögerte, bis auch Inga in der Tür auftauchte und ihn lächelnd hereinbat.

»Guten Tag, Dr. Erdmann. Ich freue mich, daß es mit unserer Verabredung geklappt hat.« Jürgen erwiderte das Lächeln und stand dann in einer hohen Diele, die größer als seine ganze Wohnung war. Er zog seine Jacke aus und blickte sich nach einer Garderobe um, bis er jemanden hinter sich bemerkte, der ihm wie selbstverständlich die Jacke abnahm. Es war Rosamma, die auch für einen Kuchen gesorgt hatte, der bereits auf der Kaffeetafel im Salon stand. Aber Jürgen hatte nicht viel Zeit, sich über irgend etwas zu wundern, denn Sascha zog ihn bereits die Treppe hinauf, um ihm sein Zimmer zu zeigen. Sophie hüpfte an der Hand ihrer Mutter auf und ab, unschlüssig ob sie dem Doktor folgen sollte, oder lieber in der Nähe ihrer Mutter bleiben sollte.

»Kommst du auch mit, Sophie?« fragte Jürgen, worauf sich Sophie hinter ihrer Mutter versteckte.

»Na komm. Dann gehen wir alle erst einmal nach oben. Kaffee können wir auch später trinken«, schlug Inga vor und folgte Jürgen und Sascha die breite Marmortreppe hinauf. Sascha war vollkommen aufgedreht. Er wollte Jürgen am liebsten alles gleichzeitig zeigen. Da gab es eine Autorennbahn und ein Piratenschiff zu bewundern, aber auch eine Ritterburg und ein Laserschwert, wie es Darth Vader hatte. Natürlich wollte die kleine Sophie bald auch ihr Kinderzimmer präsentieren, wo Jürgen den Kaufmannsladen und die Puppenecke zu bestaunen hatte. Nachdem so eine gute halbe Stunde vergangen war, schlug Inga vor, erst einmal Rosammas köstlichen Kuchen zu probieren. Sie hatte bisher dabei gestanden und nur wenige Worte gesagt. Die Kinder hatten Jürgen ganz in Beschlag genommen. Inga musterte ihren Gast. Jeans und Holzfällerhemd. So lief ja noch nicht einmal Franz herum. Und was waren das eigentlich für merkwürdige Gesundheitstreter, die der Arzt offensichtlich für Schuhe hielt. Aber ansonsten gefiel ihr der Mann, den ihr Sohn so ins Herz geschlossen hatte, eigentlich immer besser. Vielleicht war es gerade die Art seines Auftretens und seine Kleidung, die ihr plötzlich wieder das Gefühl gaben, jung zu sein. Eins war zumindest sicher: Es gab niemanden in ihrem Bekanntenkreis, mit dem man Jürgen Erdmann vergleichen konnte. Doch wußte Inga zu diesem Zeitpunkt nicht, ob sie diese Tatsache mit Vorsicht zur Kenntnis nehmen sollte oder mit der gleichen Begeisterung wie Sascha und Sophie.

»Tee oder Kaffee?« fragte sie ih-ren Gast kurz darauf.

»Kaffee«, kam prompt die Antwort, die Inga erfreute. Da hatte man wenigstens schon mal eine Gemeinsamkeit, wenn auch eine vergleichsweise unbedeutende. Jürgen sah sich in dem großräumigen Wohnzimmer um, oder sagte man Salon dazu? Die Wände waren dicht an dicht mit Bildern bedeckt wie in einer Galerie. In großen Vitrinen waren wertvolle Vasen, Porzellan und andere Kunstgegenstände präsentiert.

»Ich habe gehört, daß Ihr Mann Kunstsammler war. Interessieren Sie sich auch für Kunst?«

Inga lächelte. »Ich glaube schon. Sonst würden wohl nicht so viele Bilder hier hängen.«

»Glauben Sie es nur, oder wissen sie es?« fragte Jürgen nach.

Inga sah ihn erstaunt an. Was für eine merkwürdige Frage.

»Wie soll ich die Frage verstehen?«

»Ach, vergessen Sie es. Das war dumm von mir. Sie werden schon wissen, wofür ihr Herz schlägt.«

»Wofür mein Herz schlägt?« Inga war irritiert. Das war nicht die Art von Small-Talk, die sie gewohnt war.

»Mein Herz schlägt natürlich für meine Kinder«, sagte sie.

Jürgen lächelte: »Entschuldigen Sie. Ich wollte Sie nicht aus der Reserve locken. Ich rede nur so daher, weil ich nicht weiß, was ich sagen soll. Außerdem habe ich das Gefühl, in einem Museum zu sitzen.«

»In einem Museum?«

»Ja, so ist mein Eindruck. Die vielen Bilder und Kunstgegenstände. Die teuren Möbel, die nicht gerade dazu einladen, benutzt zu werden. Tja, und mittendrin: Sie. Wie alt sind Sie eigentlich? Sie sind doch höchstens dreißig Jahre alt.«

»Zweiunddreißig«, gab Inga zurück. »Und Sie?«

»Sechsunddreißig«, antwortete Jürgen. Dann starrten sich beide erst an und sagten erst einmal nichts. Die Kinder, die bisher ruhig am Tisch gesessen hatten, merkten die nervöse Stimmung. Sophie kletterte auf den Schoß ihrer Mutter und kuschelte sich an sie. Sascha stand auf und beschloß, erst einmal für Musik zu sorgen. Er legte eine CD mit Popmusik ein und drehte den Lautstärkenregler auf eine mittlere Stufe ein. Trotzdem schraken Jürgen und Inga beide zusammen, als die ersten Töne erklangen. »Oh, nein Sascha, nicht schon wieder diese CD, und mach wenigstens ein bißchen leiser.«

»Das dachte ich mir, daß das nicht Ihr Geschmack ist. Sie stehen sicher auf klassische Musik, habe ich recht?« fragte Jürgen und lachte.

»Jetzt machen Sie aber mal einen Punkt, Dr. Erdmann«, antwortete Inga jetzt wirklich ärgerlich. »Ich mag alles außer Heavy Metal. Am liebsten aber Jazz und Blues und nicht nur Beethoven. Ich bin zweiunddreißig und nicht zweiundsechzig.« Inga war jetzt richtig wütend. Jürgen schaute sie fasziniert an. Wie schon damals im Krankenhaus, als sie sich über die nicht angekündigte Verlegung von Sascha aufgregt hatte, fiel ihm jetzt wieder auf, wie schön sie war. Ihr nordischblondes Haar umrahmte ein zartes Gesicht mit tiefblauen funkelnden Augen. Der Ärger hatte ihren Wangen eine zarte Röte verliehen und ihrem Gesicht jene Lebendigkeit, die hinter einer Fassade von Beherrschtheit manchmal zu verschwinden drohte.

»Wirklich? Sie mögen Jazz und Blues. Da haben wir aber wirklich etwas gemeinsam. Wie wär’ es, wenn wir an den Jazz-Tagen etwas gemeinsam unternehmen?« fragte Jürgen in plötzlicher Begeisterung.

»Wenn Sie unbedingt wollen«, sagte Inga immer noch verstimmt.

»Klar, will ich«, sagte Jürgen und grinste jungenhaft.

»Und wir? Dürfen wir mit?« fragte Sascha.

»Es gibt bestimmt auch am Nachmittag Veranstaltungen. Da können wir gemeinsam hingehen«, schlug Jürgen vor. Jetzt stand Inga auf und suchte eine andere CD aus. Als die ersten Töne von Chet Baker erklangen, sagte sie zu Jürgen gewandt:

»Das ist momentan meine Lieblings-CD.« Dabei sah sie ihn auf unbestimmte Weise mit funkelnden Augen herausfordernd an. Ihre Blicke trafen sich, und Jürgen wußte in diesem Augemblick, daß er sich unsterblich verliebt hatte. Sie kam zurück zum Tisch und ließ sich ganz gegen ihre sonstige Gewohnheit auf ihren Stuhl fallen. Jürgen kam es wie die Reaktion eines trotzigen Kindes vor. Als wolle sie jetzt mit aller Macht beweisen, daß sie nicht der Typ von verstaubter Witwe war, für die sie der Kinderarzt offenbar hielt. Er lächelte verstohlen, aber sie bemerkte es trotzdem und ging zum Angriff über.

»Na, Herr Oberarzt, dann erzählen Sie doch mal, was Sie sonst noch so machen. Neulich, als wir uns zufällig gesehen haben, waren Sie ja allein unterwegs. War das ein Zufall?«

Jürgen räusperte sich. »Nein«, mußte er zugeben. »Das war kein Zufall.«

»Das heißt also, daß Sie allein leben… oder wohnen Sie noch im Hotel Mama?«

»Nein, meine Eltern sind beide tot. Ich habe außer einem Bruder keine Familie mehr… und sonst gibt es auch niemanden«, sagte Jürgen nüchtern.

»Oh, das tut mir leid… also das mit Ihren Eltern«, sagte Inga erschrocken.

»Keine Sorge. Es ist lange her«, antwortete Jürgen scheinbar gleichmütig. Inga verstummte trotzdem und fragte sich seit langem wieder einmal, ob es noch weh tat, daß Gunnar nicht mehr lebte. Sein Tod schien ihr auf einmal wie ein lang zurückliegendes Ereignis, wie etwas aus einem anderen Leben.

»Wie lang liegt es zurück, seit die Kinder ihren Vater verloren haben?« fragte Jürgen einfühlsam, als hätte er ihre Gedanken verfolgt. Inga wunderte sich, daß er es von der Warte der Kinder her ausdrückte und nicht danach fragte, wie lange sie schon Witwe sei.

»Es sind fast genau drei Jahre, daß wir nun schon allein sind…«, sagte sie und zögerte einen Augenblick. Sollte sie Paul erwähnen? Sie unterließ es.

Jürgen nickte. Er hatte noch eine Menge an Fragen, denn plötzlich interessierte ihn alles, was mit ihr zu tun hatte. Natürlich fragte er sich auch, was das für eine Ehe gewesen war, mit einem so viele Jahre älteren Mann. Aber er zügelte seine Neugierde. In einer kurzen Gesprächpause schaute Sascha auf, als wolle er überprüfen, ob alles in Ordnung sei. Jürgen nahm die Gelegenheit wahr, Sascha wieder ins Gespräch mit einzubeziehen.

»Warst du schon einmal fischen, Sascha?«

»Nee… meinst du angeln?«

»Ja, das meine ich.«

Sascha schüttelte den Kopf, schien aber interessiert. Auch Sophie kam neugierig näher.

»Ich habe nicht weit von hier an einem Waldsee eine Hütte gepachtet. Dort verbringe ich manchmal mein Wochenende, wenn ich mich richtig erholen muß. Ich habe ein kleines Boot, mit dem ich dann auf dem See herumschippere und hin und wieder die Angel auswerfe. Dann kann man abends ein kleines Feuer machen und die Fische braten. Wenn ihr Lust habt, fahren wir mal gemeinsam dorthin.«

»Au ja!« rief Sascha begeistert, und Sophie hüpfte vor Freude wieder einmal auf der Stelle, auch wenn sie keine rechte Vorstellung hatte, um was es ging.

»Wie weit ist es denn von hier?« fragte Inga nach.

»Eine knappe Stunde Fahrt. Aber man kann auch in der Hütte übernachten, wenn man nicht am selben Tag zurückfahren möchte. Sie ist ganz einfach eingerichtet, aber nicht unkomfortabel.«

»Wirklich?« Ingas Stimme klang skeptisch.

»Ja, wirklich. Sie müssen noch nicht einmal auf eine Dusche verzichten. Allerdings ist die draußen.« Jürgen grinste verschmitzt.

»Oje, wir haben erst Anfang März. Vor einigen Tagen hat es noch geschneit.«

Jürgen lachte. »Keine Angst. Die Dusche ist zwar wirklich draußen, aber in der Hütte gibt es einen Kamin, und man kann ja auch mal einen Tag aufs Duschen verzich-

ten.« Inga nickte nicht wirklich überzeugt. Daß Dr. Erdmann ein Naturbursche war, glaubte sie sofort, aber sie selbst legte doch großen Wert auf Komfort. Andererseits, hatte sie es jemals versucht, auf den üblichen Komfort zu verzichten? Plötzlich erschien ihr der Gedanke sehr reizvoll. Sie lächel-te.

»Wenn die Kinder gern wollen, würde ich mich nicht querstellen«, sagte sie.

»Super! Wann denn?« Sascha sprang gleich auf, als wolle er sofort los.

Jürgen lachte.

»Nächstes Wochenende? Da habe ich frei.« Inga ging im Geiste ihre Termine durch. Eigentlich wollte sie mit Paul zu einer Ausstellungseröffnung, aber das erschien ihr im Augenblick nicht mehr so wichtig. Sie würde Paul absagen.

»Abgemacht«, sagte sie mit einer Selbstverständlichkeit, die sie selbst in Erstaunen versetzte. Auch Jürgen schien für einen Augenblick verwundert. So leicht hatte er sich das nicht vorgestellt.

»Super, ich hole euch um neun Uhr am Samstagmorgen ab. Proviant besorge ich. Für die richtige Kleidung sorgen Sie, Inga. Also keine Kleidchen für Sophie und keine Pumps für die gnädige Frau.«

»Ha, ha. Ganz so blond wie ich aussehe, bin ich dann doch nicht, Herr Doktor«, gab Inga schlagfertig zurück.

*

In heiterer Stimmung und mit einer Verabredung für das nächste Wochenende verließ Jürgen die Villa von Dillenburgh am frühen Abend. Er wollte noch in der Klinik vorbeifahren, und auf dem Weg dorthin ging ihm manches durch den Kopf. Er wurde das Gefühl nicht los, daß Inga noch eine andere Seite hatte. Eine Seite, die nicht in diese Villa paßte. Als wäre sie vor vielen Jahren dorthin verpflanzt worden, ohne jemals wirklich wurzeln zu schlagen. Konnten ihre unterschiedlichen Welten zusammenfinden, oder würde das nur ein schöner Traum bleiben? Als er schließlich in der Klinik ankam, wurde er sogleich unsanft auf den Boden der Realität zurückgeworfen. Die Polizei war auf der Inten-

sivstation, um den Fall eines dreizehnjährigen litauischen Mädchens aufzunehmen. Das Mädchen war Passanten aufgefallen, die einen Rettungswagen herbeitelefoniert hatten. Jürgen ließ sich kurz über den Fall informieren und begrüßte dann die Herren von der Kripo.

»Guten Tag, Erdmann mein Name. Ich bin der Leiter der Kinderintensivstation. Kann ich Ihnen vielleicht helfen?«

»Guten Tag, Herr Doktor. Lehmann mein Name, und das ist der Kollege Müller«, stellte sich der Beamte vor. »Wir warten auf den Übersetzer. Wir brauchen dringend Informationen über eine bestimmte Diskothek, von der wir annehmen, daß die Kleine da verkehrte.«

»Hat das nicht noch etwas Zeit? Mein Kollege sagte mir, daß die Patientin in keinem guten Zustand ist.«

Lehmann fuhr auf. »Allerdings ist sie in keinem guten Zustand. Deshalb sind wir ja hier. Aber wir können nur etwas unternehmen, wenn wir rechtzeitig Informationen bekommen und vor allem, wenn wir diese Informationen bekommen, bevor die Presse sie hat.«

»Außerdem ist es eine bekannte Erfahrung, daß die Opfer schweigen, wenn es Ihnen erst wieder bessergeht. Die Kleine ist illegal hier. Ihr droht natürlich die Abschiebung. Wenn wir Pech haben, wird sie ausgerechnet die schützen, denen sie ihr Unglück zu verdanken hat. Haben Sie das Mädchen schon gesehen? Sie ist höchstens dreizehn«, sagte Kollege Müller trocken. Jürgen wollte noch etwas erwidern, aber er hatte auf einmal den Eindruck, daß es besser sei, sich nicht einzumischen. Die Kriminalbeamten taten ihre Arbeit und er seine. Aber eine Frage lag ihm dennoch auf den Lippen.

»Um welche Diskothek handelt es sich denn?«

»Die werden Sie kaum kennen, Herr Doktor. Es ist das Flamingo.«

Jürgen lief ein Schauer über den Rücken, doch er sagte nichts. Im Gegenteil, er schüttelte den Kopf.

»Noch nie davon gehört«, behauptete er und schämte sich gleich darauf für diese Lüge. Glückli-

cherweise kam endlich der Übersetzer, so daß die Herrem von der Kripo abgelenkt waren und dem Arzt keine Beachtung schenkten. Während sich die Polizeibeamten mit dem Übersetzer unterhielten, ging Jürgen zu dem verletzten Mäd-chen.

»Hallo, Schwester Rita. Wie geht es der Kleinen?« Schwester Rita schaute den Arzt mit bedeutendem Blick an. Das Mädchen lag mit geschlossenen Augen da, schlief aber nicht. Sie war klein und schmächtig. Jürgen hatte sie nicht auf dreizehn geschätzt.

Jürgen trat näher an das Bett heran und sprach das Mädchen an. »Hallo. Ich bin Dr. Erdmann. Ich möchte dich einmal untersuchen«, sprach er langsam. Das Mädchen schlug die Augen auf und sah den Arzt ab. Als Jürgen ihr jedoch die Bettdecke fortnehmen wollte, klammerte sie sich daran fest und fing an zu wimmern.

»Lassen Sie mich mal, Herr Oberarzt«, sagte Schwester Rita. Dann sprach sie zu Jürgens Verwunderung das Wort Krankenhaus auf russisch. Die Kleine schien zu verstehen und ließ die Bettdecke los. Ihr magerer Körper war mit Hämatomen übersät und in einem völlig verwahrlosten Zustand. Sie hatte seit Wochen keine Dusche mehr gesehen. Ihr langes blondes Haar war verfilzt, und um den Mund hatte sie verschorfte Geschwüre. Jürgen merkte, wie sich sein Magen zusammenzog. Mit trockenem Mund fragte er Rita, nur um überhaupt etwas zu sagen: »Woher können Sie russisch?«

»Ich kann nur ein paar Worte, und die habe ich von meiner Oma. Sie stammt aus der Ukraine«, erklärte sie.

Plötzlich klopfte es an der Glas-tür. Die Polizeibeamten und der Übersetzer standen in der Tür.

»Dürfen wir mit unserer Arbeit forfahren?« fragte einer der Herren. Im Aufenthaltsraum, wohin sich Schwester Rita und Jürgen daraufhin zurückzogen, diskutierten einige Kollegen den Fall. Eine Krankenschwester erzählte gerade von einem Spielfilm, den sie neulich im Fernsehen gesehen hatte.

»Besonders die Mädchen aus den ehemaligen Ostblockstaaten fallen immer wieder auf unseriöse Angebote herein. Sie werden als Au-pair-Mädchen angeheuert und landen dann in einem Bordell. Dort werden sie dann wie Gefangene gehalten…« Jürgen hörte nicht mehr hin. Wozu sich über einen Spielfilm unterhalten, wenn die Realität einem schon längst die Opfer vor die Tür gelegt hatte? Wozu sich einen Spielfilm anschauen, wenn der eigene Bruder in Kreisen verkehrte, die mit Mädchenhändlern zu tun hatten? Er mußte mit seinem Bruder endlich einmal eine ernsthafte Auseinandersetzung führen, und das so schnell wie möglich.

*

Inga war in der Stadt unterwegs, um für ihren Ausflug einige Dinge einzukaufen, die sie für unentbehrlich hielt. Sie hatte wohl die Vorstellung, es handle sich bei dem Ausflug um eine gefährliche Expedition in die Wildnis, und man müsse auf alle Eventualitäten vorbereitet sein. Kurz nachdem sie das Fachgeschäft für Outdoor-Kleidung betreten hatte, bimmelte ihr Handy.

»Hallo, Inga. Ich weiß, daß du nicht gern auf deinem Handy angerufen wirst, aber ich sah keine andere Möglichkeit, dich zu sprechen. Du scheinst in letzter Zeit viel unterwegs zu sein.«

Inga war überrascht, Paul in der Leitung zu haben, weil sie in den letzten Tagen selten an ihn gedacht hatte.

»Ja, das stimmt. Ich habe augenblicklich viel zu erledigen. Wir wollen am Wochenende einen Ausflug machen. Jürgen hat uns in sein Blockhaus eingeladen. Es liegt an einem kleinen See. Wir werden fischen gehen, Lagerfeuer machen und Boot fahren. Die Kinder sind ganz aufgeregt und freuen sich sehr«, plapperte Inga drauflos.

»Blockhaus, Lagerfeuer, angeln?« faßte Paul ihr Vorhaben zusammen.

»Ich wollte dich eigentlich fragen, ob wir uns am Wochenende zusammen die Klimt-Ausstellung in Wien anschauen. Wir sprachen neulich mal darüber, und ich glaube dich so verstanden zu haben, daß du sehr gern wieder einmal nach Wien fliegen würdest.« In Pauls Tonfall schwang Enttäuschung mit.

Inga hörte es, und ihr schlechtes Gewissen regte sich. Es stimmte. Sie hatten darüber gesprochen. Ein Wochenende in Wien nur sie beide. Sie merkte, daß sie selbst am Telefon rot wurde und versuchte sich herauszureden.

»Also Paul, momentan würde ich Sascha nicht gern allein lassen übers Wochenende. Die Vorstellung, er könnte noch einmal einen Croup-Anfall bekommen, würde mir keine Ruhe lassen.«

»Inga, wer ist dieser Jürgen? Mach mir bitte nichts vor. Hast du dich vielleicht verliebt?«

Inga lachte schrill. »Nein, wie kommst du denn darauf? Die Kinder finden ihn halt toll… und ich mag ihn auch, das stimmt. Aber ansonsten ist nichts zwischen uns… ganz bestimmt«, behauptete Inga. Es war nicht gelogen. Zu diesem Zeitpunkt glaubte Inga, was sie sagte.

»Es ist nichts zwischen euch, aha. Das kommt mir irgendwie bekannt vor, Inga. Würdest du auch unsere Beziehung so beschreiben?« Paul konnte seinen Ärger jetzt nicht mehr unterdrücken.