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Amarna, die Hauptstadt des geheimnisumwitterten Pharaos Echnaton, gilt heute als ein Weltkulturerbe der besonderen Art: als Wiege der ersten monotheistischen Religion der Menschheit. Doch was ist wahr an dieser Geschichte und was ist Legende? Steht Echnaton zu Recht an der Spitze der großen Religionsstifter Moses, Christus und Mohammed? Franz Maciejewski präsentiert in seiner großen Studie anhand einer Fülle von Fakten und Indizien eine andere Lesart der Geschichte.AUTORENPORTRÄTFranz Maciejewski, Dr. phil., geboren 1946, Soziologe mit Ausbildung in Psychoanalyse, ist Autor zahlreicher wissenschaftlicher Publikationen in den Bereichen Kultur- und Gedächtnisgeschichte der Moderne, Ethnopsychoanalyse und Freud-Biographie sowie Holocaust- und Antisemitismusforschung. Freier Autor.-
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Seitenzahl: 526
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Saga
Vorsatz hinten: Karte Vorderasien
Abb. 1: Karte von Ägypten
Tell el-Amarna oder kurz Amarna – dieser karge, auf halbem Wege zwischen Kairo und Theben am Ostufer des Nil gelegene Streifen Land – gilt heute als eine der berühmtesten Stätten des Altertums. Der Name ist ein Artefakt. Einigen arabischen Dörfern der Gegend abgewonnen, bezeichnet er für uns eine der spektakulärsten Epochen des Alten Ägypten gegen Mitte des 14. Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung. Amarna, das ist die aus dem Boden gestampfte Neue Hauptstadt des geheimnisumwitterten Pharaos Amenophis IV.-Echnaton, die (wenngleich nur für kurze Zeit) zum schillernden Zentrum der damaligen Welt aufstieg, um ebenso jäh wieder unterzugehen. Amarna, so heißt der Geburtsort des nicht minder legendären Kindkönigs Tutanchamun sowie der Standort jener Bildhauerwerkstatt, in der die »bunte Büste« der Nofretete modelliert wurde. Die klangvollen Namen aus dem Sonnengeschlecht von Amarna evozieren auf unwiderstehliche Weise den Dreiklang von Geistigkeit, Reichtum und Schönheit: die prophetische Stimme eines frühen Gottkünders, das blendende Gold eines unermesslichen Grabschatzes, die strahlende Gestalt eines zeitlosen Eros – also genau jenen Stoff, aus dem sich Mythen bilden. Aber es ist ohne Zweifel Echnaton, der die Aura des Ortes bestimmt, nicht Nofret, die (noch weithin unverstandene) Schöne an seiner Seite, nicht die sich gut verkaufende Pop-Ikone Tut, dessen wieder und wieder zur Schau gestellte Schätze verlorenen Perlen ähneln, denen die Kette kulturellen Sinns abhanden gekommen ist. Die dem sogenannten »Ketzerkönig« zugeschriebene Tat, die erste monotheistische Religion der Weltgeschichte gestiftet zu haben, ist der Grund, warum die Amarna-Zeit heute zu den Sternstunden der Menschheit gezählt wird. Zumindest in der westlich dominierten Welt, die den Monotheismus als eine kulturelle Errungenschaft ersten Ranges begreift, ist Amarna zu einem besonders erinnerungswürdigen Weltkulturerbe avanciert. Die Stadt steht für den Großen Anfang. Echnaton führt die Reihe der Religionsstifter an, in der Moses, Jesus und Mohammed ihm nachfolgen.
Diese Einschätzung galt nicht von Anbeginn. Ganz im Gegenteil. Die ersten Ägyptologen unter den Entdeckern sahen in Echnaton keinen heiligen Mann, der eine neue Weltformel gefunden hatte, sondern eher einen merkwürdigen Freak, der – durch die Launen der Thronfolge an die Macht gelangt – einem obskuren Sonnenkult huldigte und das Land politisch an den Rand der Katastrophe führte. Die lapidare Beschreibung von Champollion, der auf seiner ersten und einzigen Ägyptenreise (1828) auch die Ruinen von Amarna sah, lässt Art und Ausmaß der Geringschätzung deutlich erkennen. »Le Roi très gras, gros, ventru. Formes féminines (...) grande morbidezza«. Ein missgestaltiger König war aus dem Dunkel der Geschichte ins Relief getreten, so rätselhaft wie abstoßend, dessen Erscheinung Champollion peinlich berührte und seine Kollegen und Nachfolger wahlweise an einen Eunuchen oder Transvestiten denken ließ. Ein Fremdkörper in der Ahnengalerie der großen Thutmosiden. Dieser erste Eindruck verdankte sich der Wirkung der Bildwerke, etwa den Abbildungen auf den zahlreichen Grenzstelen Echnatons, welche den heiligen Bezirk der neuen Residenz Achetaton (»Horizont des Aton«) markierten. Mehr als hundert Jahre zuvor (1714) war der französische Jesuitenpater Claude Sicard bei Tuna-el-Gebel als erster Europäer auf eine der äußersten, rive gauche gelegenen Stelen des antiken Amarna gestoßen.
Abb. 2: Die Grenzstele von Tuna-el-Gebel
Er meinte ein hoch in die Wand eingelassenes Felsenheiligtum vor sich zu haben, dessen dargestellte Szene er als Opferritual von Sonnenpriestern deutete. Ironischerweise hatte auch Champollion einen eher flüchtigen Blick auf dieses Bildnis (das inzwischen mehrfach kopiert worden war) geworfen, während er doch in Wahrheit auf der Suche nach Sprachdenkmälern war, um seine bahnbrechende Entzifferung der Hieroglyphen überprüfen und abschließen zu können. Erst auf der Grundlage dieser Arbeiten öffnete sich nach und nach das Fenster der Textinterpretation, und tatsächlich war es die Veröffentlichung der jetzt zugänglichen Inschriften der Amarna-Zeit, die eine Wende in der Beurteilung dieses so ungewöhnlichen Pharaos einleitete.
Der Umschlag vollzog sich mit der Übersetzung aufgefundener Hymnen. Der grundlegende Text war der sogenannte Große Sonnenhymnus, der sich in einem der Beamtengräber von Amarna erhalten hatte und die westlichen Intellektuellen sofort nach seiner Publizierung in Erstaunen, ja Verzückung versetzte. Den Anfang machte der junge amerikanische Ägyptologe James Henry Breasted (1895). Er deutete diesen Text als Ausdruck eines monotheistischen Gottesverständnisses reinster Prägung und damit als (Wieder-)Entdeckung eines überraschenden Vorläufers des biblischen Monotheismus. Dem König, den er für den »gottberauschten Schöpfer« des Hymnus an Aton, die alleinverehrte Sonnenscheibe, hielt, attestierte er eine unzeitgemäße, aber folgenreiche Modernität: »Unter den Hebräern, sieben- oder achthundert Jahre später, sind uns solche Männer nicht weiter auffällig; diesen Mann aber, der in einer so fernen Zeit und unter so widrigen Bedingungen der erste Idealist und die erste Persönlichkeit in der Weltgeschichte wurde, muss die moderne Welt erst noch seinem Werte entsprechend würdigen.« Im Aton-Glauben Echnatons mit seiner Absage an Mythos und Vielgötterei nahm, so Breasted, die Idee einer rationalen Weltreligion zum ersten Mal Gestalt an.
Breasteds Interpretation vom »revolutionären Monotheismus Echnatons« schlug ungeheuer nachhaltig in die geistige Landschaft der Jahrhundertwende ein. Ein Vorgang, wie er in der Wissenschaftsgeschichte nicht eben selten ist. Eine große Idee erobert plötzlich alle Aufmerksamkeit und steht so hoch im Kurs, dass alle wachen und aktiven Köpfe (zunehmend auch aus den Nachbardisziplinen) sich mit ihr beschäftigen und das neue Paradigma durch Zusatzhypothesen bekräftigen. Der begriffliche Mittelpunkt (hier: »Erster Monotheismus«) wächst sich so schnell zu einer attraktiven Sprachregelung aus, die durch häufiges Zitieren zirkuliert und fortlaufend bestätigt wird, während kritische Töne es schwer haben, noch Gehör zu finden. Breasted hat seine frühe Deutung in seinem vielgelesenen Buch (1906) noch mit eigener Hand ergänzt und verfeinert. Jetzt galt ihm der Große Hymnus nicht nur als ein solitärer »Sonnengesang des Echnaton«, sondern als größtes Überbleibsel »eines auf Papyrus niedergeschriebenen offiziellen Katechismus seiner Lehren« (den die Gegner des Königs natürlich zerstört hatten). Damit rückte der neue Monotheismus unversehens in die Nähe einer Buchreligion. Die Bühne war bereitet für die Aufführung des Fortsetzungsstücks »Gott kam aus Ägypten«, der Prospekt ausgerollt für die Darbietung der wildesten Spekulationen über die offenen und geheimen Verbindungen zwischen dem ägyptischen Ur-Monotheismus und seinen jüdischen und christlichen Nachfolgern.
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