Ed Spade & Phil Garner: DIE WELLENSITTICHMORDE - Rüdiger Schäfer - E-Book

Ed Spade & Phil Garner: DIE WELLENSITTICHMORDE E-Book

Rüdiger Schäfer

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  • Herausgeber: p.machinery
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Ed Spade und Phil Garner sind zwei Privatermittler, die ihren Lebensunterhalt mehr schlecht als recht in der US-Metropole New Guessgrow City verdienen. Obwohl sie von ihren hübschen Sekretärinnen Brenda und Linda tatkräftig unterstützt werden, ist ihr Alltag nicht nur von chronischem Geld- und Klientenmangel geprägt, sondern vor allem von ihrer Begabung, sich immer wieder in ebenso groteske wie gefährliche Situationen zu bringen. Einst waren sie beste Freunde und Partner, doch ihr Verhältnis hat sich nach einem länger zurückliegenden Streit deutlich abgekühlt, und jeder geht seither seinen eigenen Weg. Zu Beginn des Jahres 1954 erhalten sie unabhängig voneinander einen höchst skurrilen Auftrag: Sie sollen das Ableben des Wellensittichs Paddy klären, der von seiner betagten Besitzerin Lady Eleonore Greensborough-Winthersleigh tot in seinem Käfig aufgefunden wurde. Während sich die alte Dame in ihrem Kummer an Ed Spade wendet, bekommt es Phil Garner mit der jungen Kathlin-Joanne McToothbone-Afterbrook zu tun, die gleichfalls großes Interesse offenbart, den Tod des Vogels aufzuklären. Auf ihrem Weg zur Wahrheit stoßen die beiden Detektive auf eine Reihe absonderlicher Zeitgenossen, die alle auf die eine oder andere Weise etwas mit den Wellensittich-Morden zu tun haben. Und so stolpern sie von einem haarsträubenden Abenteuer zum nächsten und müssen am Ende über ihre Schatten springen und alle Animositäten vergessen, um eines der größten Rätsel der Kriminalgeschichte zu lösen. Titelbild und Illustrationen von Gerd Domin.

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Seitenzahl: 781

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Ed Spade & Phil Garner:Die Wellensittichmorde

Ein Doppelhelix-Roman von

Rüdiger Schäfer &

Michael H. Buchholz

Illustriert von Gerd Domin

Ed Spade & Phil Garner:

DIE WELLENSITTICHMORDE

Ein Doppelhelix-Roman von Rüdiger Schäfer & Michael H. Buchholz

Zwischen den Stühlen 8

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.

© dieser Ausgabe: Juni 2023

Zwischen den Stühlen @ p.machinery

Kai Beisswenger & Michael Haitel

Titelbild & Illustrationen: Gerd Domin

Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda

Lektorat: Kai Beisswenger

Korrektorat: Michael Haitel

Herstellung: global:epropaganda

Zwischen den Stühlen

im Verlag der p.machinery Michael Haitel

Norderweg 31, 25887 Winnert

www.zds.li

ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 338 3

ISBN dieses E-Books: 978 3 95765 766 4

Prolog 1 – Ed Spade

Horch, was kommt von draußen rein

Der fette Kerl in rotem Mantel und mit Zipfelmütze knallte frontal auf die Motorhaube meines betagten Lincoln Incontinental. Für eine endlos lange Sekunde drückte sich eine von weißem Bartgestrüpp umschlossene Knollennase gegen die Windschutzscheibe. Im nächsten Augenblick hatte ich den Wagen zum Stehen gebracht, und die Nase rutschte samt Besitzer langsam, fast zögerlich, über das feuchte Glas nach unten.

Großartig, dachte ich deprimiert. Jetzt habe ich auch noch den Weihnachtsmann überfahren!

Der trübgraue Himmel und der seit Tagen auf New Guessgrow City niederprasselnde Regen passten zu meiner Stimmung wie die abgebrannte Filterlose in meinen Mundwinkel. Hinter mir lagen ein paar lausige Tassen Kaffee in Cupper’s Coffeeshop, vor mir der unvermeidliche weihnachtliche Pflichtbesuch bei meinen Eltern. In der trostlosen Welt da draußen schrieb man den 26. Dezember 1953, und das Land der unbegrenzten Möglichkeiten zeigte mir wieder einmal meine Grenzen auf.

»Sir!«, rief ich und sprang aus dem Wagen. »Sind Sie ver…?«

Der direkt auf meine Brust weisende Lauf einer Browning Esprit, Kaliber 22, ließ mich abrupt verstummen. Obgleich der winzige Revolver beinahe vollständig in der fleischigen Pranke meines Gegenübers verschwand, verfehlte die düster drohende Lauföffnung nicht ihre Wirkung.

»Ma… Ma… Maul halten und ei… ei… einsteigen«, stotterte mir der ziemlich derangierte Santa entgegen. Erst jetzt erkannte ich, dass ich meinen treuen Wagen nicht nur vorschriftswidrig mitten auf dem Ocean Boulevard, sondern auch in direkter Nähe der All American Bank gestoppt hatte. Die verglaste Drehtür des wuchtigen Bankgebäudes entließ in diesem Moment drei weitere Weihnachtsmänner in die feuchte Dezemberkälte. Einer davon trug, wie es sich für Angehörige seiner Zunft gehörte, einen gewaltigen Sack auf dem Rücken. Seine beiden Kollegen wirkten mit ihren Maschinenpistolen in den Fäusten weit weniger rollenkonform. Aus dem Innern der Bank hörte ich das Schrillen einer Alarmanlage.

Kein Zweifel: ein Überfall!

»Nu… nu… nun mach schon!«, drängte mich der Typ mit dem Revolver und bohrte mir die Waffe in die Seite. »Die Bu… Bu… Bullen müssen jeden Moment hier sein.«

Da hatte der schmerbäuchige Bursche wohl recht, drangen doch aus der Ferne schon die Sirenen mehrerer, sich nähernder Polizeiautos an mein Ohr. Ich klemmte mich wieder hinter das Steuer.

»Ho… ho… ho…!«, brüllte mein Weihnachtsmann seinen heranstürmenden Kumpanen entgegen, und für einen Moment glaubte ich schon, er hätte sich doch noch auf ein weihnachtliches Verhalten besonnen.

»Ho… ho… hoffentlich wird das heute noch was! Sch… sch… schneller!«

»Haben die Rentiere ihren freien Tag?«, versuchte ich die angespannte Situation mit einem Scherz aufzulockern, während sich die vier Santas samt Sack in meinen Lincoln quetschten. Schon die Tatsache, dass das Quartett mein Gefährt als Fluchtfahrzeug auch nur in Erwägung zog, bewies mir, dass ich es wohl kaum mit Profis zu tun hatte. Ich hätte ein halbes Dutzend der selbst gestrickten Fäustlinge, die mir meine Mutter jedes Jahr zu Weihnachten schenkte, darauf verwettet, dass dies der erste Banküberfall der Bande war.

»Gib Ga… Ga… Gas, verdammt!«, brüllte mein Freund und fuchtelte mit der Browning herum. Jetzt hockte er auf dem Beifahrersitz und hatte den Revolverlauf bis zur Hälfte seiner Länge in meinem rechten Ohr versenkt. Ich überlegte noch, wie ich ihm klarmachen konnte, dass mein Fuß das Gaspedal bereits seit knapp dreißig Sekunden aufs Bodenblech nagelte, als auch schon die ersten Polizeiautos aus dem Stanley Drive geschossen kamen.

Der Motor meines Lincoln knatterte, dann machte der Wagen einen Satz nach vorn und reihte sich kühn in die träge fließende Autolawine auf dem Ocean Boulevard ein. Lautes Hupen und quietschende Reifen bewiesen nur allzu deutlich, was die übrigen Verkehrsteilnehmer von diesem gewagten Manöver hielten; allerdings war das im Moment meine geringste Sorge.

Die Ampel an der Kreuzung zur 56th Street sprang auf Rot.

»Ni… ni… nicht anhalten!«, kam die Anweisung von Mister Browning. Ich hatte Ähnliches befürchtet. Vor mir flammten die ersten Bremslichter auf. Ich riss das Steuer jäh nach rechts. Der Besitzer des Hot-Dog-Stands konnte im letzten Augenblick zur Seite hechten. Sein mit gelben und weißen Streifen bemalter Verkaufskarren zeigte naturgemäß weit weniger Geistesgegenwart.

Hatten die Scheibenwischer schon mit dem trommelnden Regen ihre liebe Not gehabt, so waren sie nun erst recht überfordert. Würstchen, Sauerkraut, Senf, Ketchup und die bisherigen Tageseinnahmen des Hot-Dog-Verkäufers regneten herab wie Sterntaler an Heiligabend.

»Der Schwachkopf bringt uns noch alle um!«, kreischte einer der drei Gangster auf der Rückbank. Ähnlich reagierten wohl auch die Fußgänger, die sich zu Dutzenden in Hauseingänge und Zufahrten warfen, um dem Kühlergrill meines über den Gehsteig schlingernden Lincoln zu entgehen. Ich riss das Steuer nach links, schoss auf die Straße zurück – und stimmte spontan in die markerschütternden Schreie meiner Mitfahrer ein.

Ein Truck donnerte von der Seite heran. Ich hämmerte meinen Fuß aufs Bremspedal. Nicht, dass ich ernsthaft daran glaubte, das Unvermeidliche noch abwenden zu können, aber irgendetwas musste ich schließlich unternehmen.

»Ho… ho… ho…«, schluchzte Mister Browning neben mir herzzerreißend.

»Jetzt nicht!«, verbat ich mir jegliche Ablenkung.

Ich schaffte es … fast. Die mächtige Schnauze des Lastwagens streifte das Heck des Lincoln, wobei Letzterer quer über die Kreuzung auf die Gegenfahrbahn schleuderte. Durch die Regenschleier sah ich die protzigen Pfeiler der Silvergate Bridge, die zwischen der 56th und 57th Street über den Nasty River führte. Wie durch ein Wunder traf mein Wagen auf kein einziges Hindernis.

Von irgendwoher drang das Jammern der Polizeisirenen durch das wirbelnde Durcheinander. Dann gab es einen heftigen Ruck. Das Fahrzeug durchbrach ein Geländer, schlug durch einen schmalen Schutzzaun aus Holz, rutschte noch einige Meter geradeaus, und kam endlich zum Stillstand – die Hinterräder auf nassem Beton, die Vorderräder frei in der Luft schwebend, gut zwanzig Meter über dem schäumenden Fluss. Unendlich langsam neigte sich der Wagen über den Brückenpfeiler nach vorn …

Prolog 1 – Phil Garner

Die Milch macht’s

Mein Telefon klingelte. Und hörte und hörte nicht auf. Jeder Vernünftige am anderen Ende hätte aufgelegt. Niemand rief einen Tag nach Weihnachten an und erwartete allen Ernstes, dass man ranging. Nicht mal ich erwartete, dass ich ranging. Heute wollte ich nur meine Ruhe haben – und meine Wunden lecken. Mit Whiskytropfen auf meiner Zunge. Der gerade glücklich überstandene letzte Fall hatte es in sich gehabt wie ein Truthahn die Füllung. Es klingelte weiter. Schon dieses Ignorieren meines gefälligen Nichtbeachtens hätte mich warnen sollen. Das und das mulmige Gefühl, etwas Wichtiges in der Hektik der vergangenen Tage vergessen zu haben.

Ich hob ab. Der Hörer lag kalt in meinen klammen Fingern – so kalt wie die Stimme, die aus ihm an mein Ohr drang und mich so unvermittelt traf wie der Donnerknall eines kalbenden Gletschers zur Polarnacht.

»Du bist spät dran!« Wie immer klang jedes Wort nach Vorwurf. Es war Mama. Grundgütiger. Ich besaß es immer noch, dieses Talent, hinterher zu wissen, was ich vorher hätte vermeiden sollen.

»Ja«, sagte ich im Zweisekundentakt. »Ja … nein, Mama. Dieses Jahr wirklich. Ich habe dran gedacht. Nein. Ja. Ganz bestimmt. Die Milch. Ja, doch, Mama. Bis gleich.«

Ich hämmerte den Hörer auf die Gabel. Wütend wie Philipp der Verärgerte.

Mamas Einladung zum Weihnachtskuchen. Die hatte ich völlig vergessen. Fluchend riss ich den Trenchcoat vom Haken und griff nach meinem Hut. Die altersschwache Bürotür schmetterte ich so heftig ins Schloss, dass die Scheiben noch schepperten, als ich bereits zornesbebend vor das Caseclear Building trat.

Und denk diesmal an die Milch – Bubi!

Wie ich diesen Satz hasste. Natürlich hatte ich nicht nur ihre Einladung, sondern auch die Milch vergessen.

Draußen auf der 42nd Street goss es derweil in Strömen. Vorbei war es mit dem Schnee der letzten Tage. Ein übel gelaunter Himmel bedeckte an diesem nasskalten Samstag die große Stadt, in der ich als privater Ermittler lebte und arbeitete – New Guessgrow City. Die einen nennen sie die Stadt, die niemals schläft. Ich nenne sie die Stadt, die mich niemals schlafen lässt.

Ich überquerte im geduckten Laufschritt die Straße und huschte gegenüber in Grimworld’s Drugstore hinein. Dort herrschte eine, nun, sagen wir, gedrückte Weihnachtsendstimmung.

Viele Regale wiesen Anzeichen schonungsloser Plünderei auf und boten hauptsächlich große Lücken feil. In diesem Jahr herrschte die landesweite Truthahnkrise. Alternative Einkaufsstrategien hatten alles nur halbwegs Essbare bis auf kärgliche Reste dezimiert. Ich eilte zum beinahe leergeräumten Kühlregal und griff mir die allerletzte Flasche Milch. Sie war nicht mehr ganz frisch, aber das war Mama auch nicht. Außerdem hatte ich keine Wahl. Rasch ging ich zur Kasse. Wer Mama kannte, ließ sie nicht warten.

Die Türglocke des Drugstores bimmelte hinter mir; ich sah kurz auf. Ein weiterer Mann, ein weiterer Sohn einer Mutter, ein weiteres Schicksal, dachte ich trübe. Ich hielt der Kassiererin die Milchflasche hin und das Geld bereit.

»Keine Bewegung!«, brüllte es in diesem Moment von hinten. »Das ist ein Überfall! Hände hoch – alle! Auch du da, der mit der Milchflasche!«

Ich warf einen raschen Blick über die Schulter. Da stand der gerade hereingekommene Mann. Eben war er fertig damit, sich eine schwarze Schneemütze über das Gesicht zu ziehen. Und er bewies seinen Willen, sein weiteres Schicksal persönlich in die Hand zu nehmen – in Form einer abgesägten Pumpgun, die er unter seiner Jacke hervorzog. Was immer ihm seine Mutter über den Umgang mit gefährlichem Spielzeug beigebracht hatte – es schien nichts gefruchtet zu haben. Dieses reichte spielend aus, um faustgroße Löcher in die Körper aller Anwesenden zu stanzen.

Auch bei dem da mit der Milchflasche.

»Her mit dem Geld!«, verlangte der Maskierte von der Kassiererin. Die vor Angst bebende Frau öffnete die Kasse. Sie zog die Schublade auf, zeigte hinein. Drinnen lagen eine Handvoll Münzen. Genug, um sich ein Päckchen billiger Zigaretten zu kaufen. Nicht genug, um noch ein Schächtelchen Streichhölzer obendrauf zu legen. Darum herum buhlten leere Fächer um die Aufmerksamkeit einer überforderten Ladenspinne.

»Wie jetzt?«, schrie der Schwarzmützenträger. »Das soll alles sein?«

Die Kassiererin nickte, den Tränen nahe. »Wir haben ja nicht mehr viel, was wir verkaufen können. Immerhin ist es nach Weihnachten, und die Lieferungen kommen erst …«

»Schnauze!«, fuhr er ihr über den Mund. Der Maskierte überlegte nervös. Er sah sich hektisch um. Er erblickte mich und entschied sich.

»Okay! Dann du da, der mit der Milchflasche! Raus mit deinem Geld!« Offenbar behinderte ihn die heruntergezogene Mütze beim Sehen. Sonst hätte er bemerken müssen, dass ich in der einen Hand zwar die Flasche, in der anderen aber bereits mein Geld hielt. Es war mein gesamtes Erspartes – und es entsprach ziemlich genau dem Gegenwert des von mir begehrten Produkts der heimischen Landwirtschaft.

»Hören Sie!«, beschwor ich ihn. »Nehmen Sie das Geld, aber lassen Sie mir die Milchflasche, bitte!«

»Schnauze!«, blaffte er zurück. »Willst du mich verarschen?«

»Gewiss nicht, Sir. Es ist nur wegen …« Mama, hatte ich sagen wollen.

Der Maskierte war im Vergleich mit mir fraglos einen Kopf größer geraten – und bedeutend häufiger im Fitnesscenter gewesen als ich. Unter dem schwarzen Pullover wölbten sich die Muskeln. Er baute sich vor mir auf wie jemand, der sein Gegenüber allein durch pure Massigkeit und unverhohlene Stärke verunsichern wollte. Es gelang ihm hervorragend.

»Typen wie dich kenne ich. Du willst mich reinlegen. Du willst mir die Flasche über den Schädel hauen, das willst du, jawohl!«

»Aber ganz gewiss nicht, Sir«, beharrte ich. »Hier, ich gebe Ihnen das Geld!« Ich machte einen Schritt auf ihn zu. Sofort ruckte die Pumpgun hoch. Sie zeigte mir die Öffnung vom Durchmesser eines New Guessgrower U-Bahn-Tunnels. Von den gezogenen Laufwänden tropfte die Nässe.

»Zurück! Lass die Flasche fallen, falls du Weihnachten bei deinen Lieben verbringen willst!«

Nun, an sich wollte ich dergleichen schon. Aber meine beiden letzten Lieben hatten mir fast zeitgleich den Laufpass gegeben. Außerdem musste ich ja mit dieser dämlichen Portion Milch zum familiären Weihnachtskuchen bei Mama auflaufen. Oder sie würde mich grillen. Das mit den Lieben musste leider warten …

»Entschuldigen Sie bitte, Sir …«, machte ich den letzten Versuch, ihm alles zu erklären. Er war ein Mann. Er hatte womöglich seine Mutter noch. Er würde mich bestimmt verstehen.

»Schnauze!«, schrie er. »Weg mit der Flasche! Lass sie fallen! SOFORT!«

Ich tat schweren Herzens wie geheißen. Es schepperte, es klirrte, es spritzte. Meine Chancen, den Tag zu überleben, sanken gemeinsam mit der fallenden Flasche auf null. Es war exakt der Zeitpunkt, um sich über vergossene Milch Gedanken zu machen.

Allerdings kam ich nicht dazu. Die zerspringende Milchflasche auf dem Kachelboden knallte in dem leergeräumten Drugstore so durchdringend wie ein Schuss aus meiner Springfield Automatic. Lauter war nur noch das infernalische Donnern, mit dem der Schwarzmützenträger vor Schreck seine Pumpgun abfeuerte.

Der Schuss hämmerte in die Ladentheke. Die Schrotsalve pulverisierte die Kasse, das dahinter liegende Regal und ein Stück der Wand. Gläser, Konserven und Bonbonschüsseln explodierten. Ihr Inhalt prasselte wie ein Hagelschauer hernieder.

Die Kassiererin schrie gellend vor Entsetzen.

»Schnauze!«, donnerte der Maskierte. Als das nichts nutzte, lud er die Waffe nach, griff mich beim Kragen, stieß mir den abgesägten Lauf in die Rippen und brüllte: »Okay! Das war’s! Dein Pech. Du musstest ja unbedingt den Helden spielen!«

Mit unmissverständlichen Gesten, die im Wesentlichen daraus bestanden, mir die Pumpgun immer wieder in die Nieren zu bohren, bugsierte er mich durch die Ladentür, fort aus dem Drugstore, hinaus auf die Straße. Mitten hinein in den strömenden Regen. Er kannte kein Erbarmen.

»Hast du ein Auto, Mann?«

»Ja«, brachte ich hervor, derweil er mir nun den Lauf tief in den Rücken schraubte. »Der da, der mit den Beulen.« Uns gegenüber parkte mein guter, alter Studebaker auf dem Gelände von Joe Dilani’s Garage. Leider fehlte mir das Geld, um die Reparaturrechnung zu bezahlen. Das und der Schlüssel zum Wagen. Den hielt Joe in Verwahrung.

»Scheiße!«, fluchte mein Begleiter, als er mein und nun auch sein Dilemma erkannte.

In diesem Augenblick stoppte ein weißer Lieferwagen vor dem Drugstore und damit direkt neben uns. Es war einer dieser Rund-um-die-Uhr-Lieferdienste, und dieser hier brachte – Milch. Frische, reine, weiße Milch. Kistenweise. Die Augen meines Entführers begannen, unter der herabgezogenen Mütze zu funkeln.

Der Fahrer sprang aus dem Wagen, ohne den Motor abzustellen. Er wuchtete sich eine Kiste mit der Aufschrift Buttermilch auf die Schulter. Den Kopf mit der Schirmmütze tief gesenkt, eilte er durch den Regen ins Innere des Drugstores. Die Flaschen klapperten laut, als sie mit ihm ins Trockene entschwanden.

Der Maskierte lachte triumphierend. Dann zog er die Pumpgun aus meinen Eingeweiden und sprang auf den Fahrersitz. Im nächsten Augenblick war er mit dem Lieferwagen schneller auf und davon, als ich »Haltet den Dieb!« röcheln konnte. Wild hupend zwang er den Milchwagen in den fließenden Verkehr.

Alles, was Sie sonst noch über mich wissen müssen, lässt sich in drei Worten ausdrücken: Milch. Mama. Au Backe.

Ja, ich weiß, das sind vier Worte. Aber wenn Sie ein Mann sind, dessen Mutter noch lebt, werden Sie mich verstehen. Ich tat, was ich tun musste.

Ich rannte über die Straße und zog im Laufen die Springfield aus dem Holster.

Prolog 2 – Ed Spade

Das Gleichgewicht der Kräfte

»Ich hab’s dir gesagt, Luke«, kam es weinerlich von der Rückbank. »Wie oft habe ich es dir gesagt? Lass uns Grimworld’s Drugstore an der Ecke überfallen. Aber nein, es muss ja gleich die All American sein. Jetzt werden wir alle sterben! Wir werden alle …«

»Ha… ha… halt’ s Maul, Bob!«, unterbrach Mister Browning seinen Kumpel mit harscher Stimme. Zu intensiverem Meinungsaustausch blieb keine Zeit, denn in diesem Moment erreichte mein Lincoln Incontinental einen Neigungswinkel, der die bislang herrschende Anspannung in offene Panik umschlagen ließ. Mit einem hässlichen Knirschen rutschte mein treues Gefährt ein gutes Stück weiter nach vorn. Die gesprungene Windschutzscheibe bot einen perfekten Ausblick auf die durch den tagelangen Regen angeschwollenen Wassermassen des Nasty Rivers.

»Oh Gott, oh Gott, oh Gott«, flehte der Weihnachtsmann, der rechts neben Bob saß, um himmlischen Beistand. Bob hatte den dritten Mann im Fond des Wagens an den Pelzaufschlägen seines Mantels gepackt und brüllte ihm immer wieder »Hab ich’s ihm nicht gesagt? Wie oft habe ich es ihm gesagt?« ins angstverzerrte Gesicht, ohne jedoch eine Antwort zu erhalten.

Ich legte den Rückwärtsgang ein und tippte das Gaspedal an. Der Motor tat sein Bestes, schließlich kämpfte auch er um die nackte Existenz, doch es war nicht genug. Zwanzig Meter tiefer schäumte das Wasser in froher Erwartung.

»Ra… ra… ra…«, keuchte da unvermittelt mein Beifahrer und stieß mit seinen breiten Schultern die Autotür auf. Noch bevor er den begonnenen Satz vollenden konnte, geschweige denn ich eine Gelegenheit zum Eingreifen erhielt, ließ er sich seitlich aus dem Sitz fallen – und war verschwunden. Sein lang gezogenes »Raus hier … aaah«, klang durch das Rauschen des Regens an mein Ohr.

Die übrigen Weihnachtsmänner ließen sich nicht lange bitten. Mit der Anmut einer Amok laufenden Elefantenherde stürzten sie sich über den Beifahrersitz, rammten mir ihre schweren, schwarzen Nikolausstiefel gegen das Kinn und verließen den Lincoln in gänzlich unweihnachtlicher Eile, inklusive des offenbar mit der Beute des Überfalls gefüllten Sacks. Dabei ignorierten sie völlig die Tatsache, dass es auf beiden Seiten des jetzt jäh hin und her schaukelnden Wagens steil in die Tiefe ging.

Das Auto rutschte noch einmal einen knappen halben Meter weiter in Richtung des Flusses und ich musste mich mit beiden Händen am Armaturenbrett abstützen, um nicht gegen die Scheibe zu prallen und den taumelnden Lincoln endgültig in die Tiefe zu reißen. Dieser schien nach wie vor unschlüssig, wem er bei seinen Verhandlungen mit der Schwerkraft den Vorzug geben sollte, und neigte sich einmal in Richtung des rettenden Ufers, dann wieder in Richtung des immer ungeduldiger brausenden Nasty Rivers.

»Nur nicht die Nerven verlieren«, erklang neben mir eine zittrige Stimme und ich schreckte zusammen. Erst dann wurde mir klar, dass ich es war, der da gesprochen hatte. Erneut senkte sich die Front des Wagens. Ich musste etwas tun. Aber was?

Wie in Trance griff ich nach meinem Hut, der sich anfühlte, als hätte er sich an meinem Schädel festgesaugt. Vorsichtig holte ich Schwung und warf die Kopfbedeckung auf die Rückbank. Dann packte ich die 38er Smite & Blessin’, die im Gürtel meiner Hose steckte, und ließ sie dem Hut folgen. Spielten mir nur meine überreizten Sinne einen Streich, oder kam die Neigung des Wagens tatsächlich zum Stillstand?

So schnell es die heikle Lage zuließ, durchsuchte ich die Taschen meines Jacketts. Ein Kamm, ein paar Münzen, zwei Pfandscheine, ein abgebrochener Bleistift – all das landete auf dem Rücksitz. Ich weiß nicht, ob es schließlich die rostige Büroklammer war, die den Ausschlag gab, aber nachdem ich auch sie in den hinteren Teil meines Autos befördert hatte, wendete sich das Blatt, und wir waren beide sichtlich erleichtert: mein Lincoln durch das plötzlich fehlende Gewicht der Gangstertruppe, und ich, weil sich die Situation aufgrund des sich langsam wieder in die Horizontale bewegenden Fahrzeugs merklich entspannte.

Von irgendwoher hörte ich jemanden rufen, doch darum konnte ich mich jetzt nicht kümmern. Schon eine unbedachte Bewegung meines kleinen Fingers mochte die Waagschalen des Schicksals, sprich Front und Heck meines Lincoln, erneut nach der falschen Seite ausschlagen lassen. Immerhin würde mich ein Bad im Nasty River vor den Weihnachtsplätzchen meiner Mutter bewahren. Vor der Robustheit dieses mir seit Kindertagen bekannten Backwerks kapitulierten selbst die diamantenen Bohrköpfe der American Mineral & Oil Company – wobei ich davon überzeugt war, dass besagte Bohrköpfe besser schmeckten.

Unendlich vorsichtig gab ich erneut Gas. Weiter vorn, dort wo eine Generation von Mechanikern einen heroischen Kampf gegen Rost, Verschleiß und den Zahn der Zeit geführt hatten, knallte und spuckte es bedrohlich.

Ich hätte nicht nach unten schauen sollen, doch ich tat es trotzdem. Die wie ein Korken auf der gischtenden Oberfläche des Nasty Rivers tanzende Nikolausmütze trug nicht dazu bei, meine Stimmung zu heben. Von Bob, Luke und dem Rest der seltsamen Schar fehlte jede Spur. Mit einem Mal erschienen mir Mandelmakronen, Spritzgebäck und selbst gestrickte Fäustlinge gar nicht mehr so schlimm.

»Komm schon, Eddie«, machte ich mir selbst Mut. »Du bist ein ausgebildeter Privatermittler mit jahrelanger Berufserfahrung. Du bist auf die Bewältigung jedweder Gefahren- und Krisensituation vorbereitet. Du hast zwei Jahre Streifendienst in den übelsten Vierteln von New Guessgrow City und mindestens zehntausend fettige Burger von Gary’s Gourmet Grill überlebt. Angst ist ein Wort, das du im Wörterbuch nachschlagen müsstest, wenn du eins hättest. Du wirst dich jetzt zusammenreißen und den Karren aus dem Dreck ziehen.«

Offenbar war selbst der Karren von so viel Selbstvertrauen und Willenskraft beeindruckt, denn das Gurgeln und Knattern des Motors verwandelte sich vorübergehend in ein sattes Brummen. Das kaum noch erwähnenswerte Profil der Reifen fand auf einmal Halt und mein treuer Lincoln Incontinental ruckte zentimeterweise in Sicherheit.

Gerettet!

Als ich ausstieg, musste ich mich am Wagendach festhalten, so heftig zitterten meine Knie. Eine Gruppe von Uniformierten war damit beschäftigt, die Schaulustigen in Schach zu halten, die sich trotz des schlechten Wetters in erstaunlicher Zahl eingefunden hatten. Ich seufzte. Der Motor des Lincoln tat es mir nach und erstarb dann mit einem finalen Röcheln.

Aus Richtung des Stadtzentrums hörte ich weitere Polizeifahrzeuge nahen. Irgendwo jenseits der 56th Street hatte es wohl einen zweiten Unfall gegeben. Soweit ich es von meiner Position aus erkennen konnte, war dort ein Milchwagen mit einem Truck zusammengestoßen, umgekippt und blockierte jetzt querliegend die komplette Fahrbahn. Ein Hydrant war ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen worden und schickte eine perlende Wasserfontäne in den Himmel. Das Chaos war perfekt.

Ich zuckte die Schultern und wankte den Polizisten entgegen. Dabei überlegte ich, was ich wohl mehr zu fürchten hatte: die zweifellos endlosen Verhöre auf der Wache oder die daraus resultierende Verspätung bei Mama.

Mein Gott, wie ich Weihnachten hasste!

Prolog 2 – Phil Garner

Bis hierhinund nicht weiter!

Der Milchwagen verschwand in einer Wolke aus aufgewirbelter Nässe. Das Gefährt schlingerte flaschenklappernd den Ocean Boulevard in Richtung der 43rd Street hinauf.

Ich rannte über den letzten Fahrstreifen. Erreichte den Gehsteig. Sprang über eine Absperrkette auf das Grundstück von Joe Dilani’s Garage. Duckte mich vor Joes zu erwartendem Zorn. Und fragte mich, ob Mamas Milch das alles wert war.

Vor der Werkstatt trotzte mein guter alter Studebaker Champignon dem miesen Wetter. Während des Falls um das Truthahnmassaker war das hintere Seitenfenster zu Bruch gegangen. Inzwischen hatte Joe es dankenswerterweise repariert. Eines Tages würde ich ihn auch dafür bezahlen. Doch dieser Tag war nicht heute. Es war nicht einmal mein Tag. Und wie es aussah, auch nicht der von Joe Dilani.

»Leider muss ich mir meinen Wagen von dir borgen, Joe«, murmelte ich in den Wasserfall hinein, der von meiner Hutkrempe schwappte.

Mit dem Kolben der Springfield zerschlug ich die vordere Seitenscheibe. Das Glas zerbarst. Ich entriegelte die Tür und riss sie auf, beugte mich unter das Lenkrad, fingerte an den Kabeln. Es knisterte. Der Anlasser meines Studebakers jammerte wie Masoch der Gequälte. Dann explodierte etwas im Auspuff. Der Motor startete. Ich schob mich auf die Sitzbank, ignorierte die dort herumliegenden Glassplitter und legte den ersten Gang ein.

Der ölverschmierte Mann, der aus der Werkstatt gelaufen kam, war Joe.

»Bis hierhin und nicht weiter!«, brüllte er. Er hatte ein Brecheisen in der Hand und zitterte vor Wut.

»Sorry! Ein Notfall!«, rief ich und schenkte ihm mein bestes Ich-kann-nichts-dafür-aber-ich-werde-dir-später-alles-erklären-Lächeln durch das entglaste Fenster. Dann gab ich Gas, riss das Lenkrad herum und schleuderte an Joes ungläubigem Gesicht vorbei. Die Absperrkette kapitulierte klirrend; der Studebaker schoss auf den Ocean Boulevard hinaus. Joe tobte im Rückspiegel, ehe eine schwarze Auspuffwolke ihn verschluckte.

Seit dem Beginn meines Spurts von der Tür des Drugstores zu meinem Wagen war nicht mehr als eine halbe Minute vergangen. Der Milchwagen war inzwischen weit voraus und überquerte die 43rd.

Besser, ich beeilte mich. Oder Mamas Milch war für immer verloren.

Ich trat auf das Gaspedal. Mein altes Kampfgefährt fiel in den Galopp. Wir ließen die 42nd Street hinter uns. Bis zur 44th wechselten wir öfter die Spur als Tom Coole beim Vierundzwanzigstundenrennen von Les Mains. Ich schaltete in den dritten Gang, was der Motor mit einem Knallen quittierte. Reifen quietschten rund um mich herum, und – da! Der weiße Lieferwagen war jetzt nur noch durch drei Fahrzeuge von mir getrennt.

»Ich kriege dich, du Milch-Napper!«, schrie ich.

Natürlich sprang die Ampel an der Kreuzung zur 45th Street auf Rot, kaum dass der flaschenbeladene Lieferwagen sie passiert hatte.

Natürlich konnte ich darauf keine Rücksicht nehmen.

Und natürlich jaulte eine Polizeisirene los, kaum hatte ich die Ampel hinter mir gelassen. Lautstark gab sie das Lied von einem freien Anruf und dem Recht zu schweigen zum Besten. Es war nicht meine Lieblingsmelodie, aber dann und wann hörte ich sie ganz gern.

Der Milchwagenentführer merkte plötzlich, dass etwas nicht stimmte. Ich sah ihn in den Rückspiegel starren. Er kurbelte wütend das Seitenfenster herunter. Ich erspähte eine Lücke, zwängte mich hindurch und holte auf. Nur noch zwei Wagen zwischen mir und Mamas Milch!

Der Drugstoreräuber schob langsam etwas aus dem Seitenfenster, das abgesägt genug war, um einer mir bekannten Pumpgun auffallend ähnlich zu sehen. Beide Fahrer der zwischen uns befindlichen Fahrzeuge erschraken. Beide Wagen scherten schlagartig aus. Ich hörte lautes Hupen, berstendes Blech, brechendes Holz und platzende Pneus. Damit befand sich zwischen mir und der Milch nur noch der auf mich gerichtete Lauf der Schrotflinte. Ein Anblick, der mich daran erinnerte, wie sehr ich am Leben hing. Ich warf mich instinktiv flach auf die Sitzbank.

Es krachte ohrenbetäubend. Meine Frontscheibe zerbarst. Der jäh hereinwehende Fahrtwind bescherte mir jede Menge Regenwasser sowie einen Hagel aus Glassplittern.

Vorsichtig lugte ich über das Lenkrad. Vor mir schlingerte der Lieferwagen. Der Entführer lud einhändig nach. Gemeinsam schossen wir über die nächste Querstraße hinweg. Das Sirenengeheul hinter mir wurde lauter, ein Zeichen, dass die Cops näherkamen.

Der schwankende Lauf der Pumpgun nahm erneut Maß. Diesmal zielte der Mann, der sich zwischen mich und Mamas Milch zu stellen wagte, auf meine Reifen. Ich riss meinen Wagen auf die Nebenspur. Der Schuss ging ins Leere. Erneut hängte ich mich hinter den Laster. Stoßstange an Stoßstange schossen wir über die 55th hinweg. Ich packte die Springfield, legte an und zielte durch den strömenden Regen.

Mein Gegner stutzte; im nächsten Moment zog er die Pumpgun zu sich hinein. Etwas wirbelte aus dem Fenster. Es war weiß und zerschellte wie Milchflaschenglas, das man gegen die Motorhaube eines mit zu hoher Geschwindigkeit durch die Stadt rasenden Studebakers warf. Ich verlor endgültig die Orientierung. Blind lenkte ich irgendwohin und hoffte, es möge die Richtung sein, in die auch der Ladendieb fuhr.

Fluchend wischte ich mir die Milch aus den Augen. Der Lieferwagen scherte aus; er bewegte sich jetzt im Slalom auf der Gegenfahrbahn. Es sah aus, als wolle der Milch-Napper an der 56th abbiegen, um über die Silvergate Bridge und den Nasty River zu verschwinden.

Ich hob erneut die Springfield.

Mein Gegner blickte nach vorn. Und bremste aus voller Kraft. Ich warf ebenfalls einen Blick voraus – und verstand meinen Widersacher besser als mich selbst.

Quer über der Kreuzung stand ein an der Frontseite zerbeulter Truck. Neben ihm ein Fahrer, der sich die Haare raufte.

Ich rammte den Fuß aufs Bremspedal, zog die Handbremse, riss am Lenkrad und schaffte es irgendwie, den verwirrten Mann zu verfehlen. Der Studebaker rutschte quietschend an dem Truck vorbei. Er schleuderte auf den Gehsteig. Endlich, mit immer noch immenser Wucht, kam er an einem Hydranten zum Stehen.

Die Springfield fiel mir aus der Hand.

Die Stoßstange fiel ab.

Der Hydrant fiel um.

Eine Riesenfontäne zeigte den Umstehenden an, wo das alles passiert war.

Der Milchdieb hatte Glück, weil er eher gebremst hatte als ich. Irgendwie musste er es geschafft haben, aus der Fahrertür zu springen; der Lieferwagen selbst hatte sich in die Flanke des Trucks verbissen. Überall lagen zerborstene Holzkisten und zerplatzte Milchflaschen. Der Drugstoreräuber mit seiner Skimaske lag benommen auf der Fahrbahn.

Ich sprang aus dem Studebaker, um zu retten, was noch zu retten war.

Ich watete auf den Lieferwagen zu, durch einen sich ständig vergrößernden See aus Milch und Hydrantenwasser, während Polizeiautos rund um die Unfallstelle stoppten.

Passanten schrien: »Gleich fällt er, so tun Sie doch was!«

Sie deuteten seltsamerweise hinüber zur Silvergate Bridge. Ich achtete nicht darauf. Wahrscheinlich wieder so ein Selbstmörder, der von der Brücke springen wollte. In der Weihnachtszeit hatten die Saison. Ich konnte sie gut verstehen.

Auf Scherben tretend, suchte ich lange, lange vergebens, bis – ah!

Ich nahm die letzte heil gebliebene Milchflasche an mich und steckte sie vorsichtig in meine Trenchcoattasche. Dann klaubte ich den Mützenträger von der Straße auf und händigte ihn samt seiner Pumpgun den Cops aus.

Mein Puls beruhigte sich allmählich. Mamas Milch war gerettet; nur das zählte. Sie würde stolz auf mich sein, dachte ich zufrieden. Auch wenn ich mich verspäten würde. Immerhin hatte ich in diesem Jahr einen guten Grund.

Leider würde sie mir aber sowieso kein Wort glauben. Sie nicht – und auch nicht die Polizisten.

1 – Ed Spade

Der Besuch der alten Dame

Es war wieder einer jener lausig kalten Januartage, an denen man bereit ist, seine Seele für eine Tasse mit pechschwarzem, dampfendem Kaffee zu verkaufen. Ich saß in meinem völlig überheizten Büro in der 42nd Street, Ecke Ocean Boulevard, und wartete auf bessere Zeiten. Die Filterlose zwischen meinen Lippen sandte geheimnisvolle Rauchzeichen gegen die von Wasserflecken und angetrockneten Insektenkadavern gezeichnete Decke, und nur der trotz des geschlossenen Fensters unüberhörbare Verkehrslärm bewies, dass es da draußen eine Stadt gab, die mich mindestens ebenso hasste wie ich sie.

Das Jahr 1954, das ich mit einer Flasche billigem Fusel unter dem Billardtisch einer Kneipe im Hafenviertel von New Guessgrow City willkommen geheißen hatte, war noch jung, und doch erschien es mir bereits alt genug, um es aus tiefster Seele zu verachten. Der Fußtritt eines unbarmherzigen Kneipenwirts, der meiner Stirn unfreiwilligen Kontakt mit der massiven Nussbaumholzverkleidung des erwähnten Billardtisches verschafft und mir eine in allen Farben des Regenbogens schillernde Beule auf der Stirn eingebracht hatte, war nicht unbedingt das, was ich einen gelungenen Start in ein neues Jahr nannte.

Müde warf ich einen Blick auf die beiden Aktenstapel, die sich unter dem beschlagenen Fenster gegenseitig Halt gaben. Ich seufzte. Zwar hatte ich den bizarren Fall des Truthahnmassakers bereits einige Tage zuvor erfolgreich abgeschlossen, doch bislang verspürte ich nicht die geringste Lust, mich um die Ablage der entsprechenden Unterlagen zu kümmern. Das lag vermutlich auch daran, dass mir diese ganze verrückte Geschichte nicht einen einzigen Dollar eingebracht hatte, und wenn ich derzeit eines besonders dringend benötigte, dann waren das Zahlungsmittel jedweder Art.

Ein leises Klopfen an der morschen Eingangstür mit dem beinahe blinden Glaseinsatz schreckte mich aus den trüben Gedanken an überfällige Miete und eine seit Wochen unbezahlte Stromrechnung. Brenda, meine unverwüstliche Sekretärin, erhob sich hinter ihrem schmalen, durch ein Gebirge alter Zeitungen gestützten Schreibtisch, und durch den kühnen Schlitz ihres engen Rocks erhaschte ich einen Blick auf ihre langen, schlanken Beine, die auf dem Boden begannen und irgendwo im siebten Himmel endeten.

»Einen Moment bitte«, hörte ich die rauchige Stimme jener Frau, deren Existenz mich jeden Tag aufs Neue davon überzeugte, dass der liebe Gott ein Mann sein musste. »Ich werde nachsehen, ob Mister Spade Zeit für Sie hat.«

Ihre kurvenreiche Gestalt im modisch grauen Kostüm und einer tief dekolletierten Seidenbluse schwebte über die Schwelle meines Büros und half mir, die Überraschung darüber zu verdauen, dass es tatsächlich jemand geschafft hatte, sich die ebenso ausgetretenen wie spiegelglatten Stufen bis zum siebten Stock des Bürohauses hinauf zu kämpfen, in dem die Detektei Spade Private Investigations residierte.

»Weißt du«, hatte mich mein alter und viel zu früh verstorbener Freund Danny Mulligan einmal während einer seiner unregelmäßigen Besuche gefragt, »warum nie ein Selbstmörder vom Dach dieses Wolkenkratzers springt? Weil er sich schon im Treppenhaus sämtliche Knochen bricht.«

»Du, Ed«, flüsterte Brenda, als hätte sie Angst, den so unvermutet aufgetauchten potenziellen Kunden durch ein zu laut gesprochenes Wort wieder zu verscheuchen. »Da draußen steht …«

»Schon gut«, flüsterte ich aufgeregt zurück. »Schick ihn rein. Schnell, bevor er es sich anders überlegt!«

»Das geht nicht, Ed.« Die junge Frau trat an meinen Schreibtisch heran und senkte verschwörerisch den Kopf. Ein paar ihrer langen, blonden Haare kitzelten meine Stirn, die sich augenblicklich in Falten legte.

»Warum nicht?«, wollte ich verdutzt wissen. Brenda zuckte zusammen, da ich unwillkürlich die Stimme erhoben hatte.

»Weil er eine sie ist«, eröffnete sie mir. Das Schockierende an dieser Aussage war, dass sie mich damit keineswegs veralbern wollte, sondern ihre Bemerkung völlig ernst meinte.

»Schon gut, Baby.« Ich nickte mit allem Verständnis, das ich in meiner Situation aufzubringen imstande war. »Schick einfach alle rein, die draußen sind, okay?«

Gebannt starrte ich ihrer davon schwebenden Traumfigur nach, doch bereits nach wenigen Sekunden kehrten die trüben Gedanken zurück. Nach den letzten, wie bereits erwähnt vor allem auf finanziellem Gebiet eher deprimierenden Fällen, hätte ich selbst Al Cardone als Klienten akzeptiert.

Die ältere Dame, die in diesem Augenblick mein Büro betrat, hatte allerdings nicht die geringste Ähnlichkeit mit dem legendären Unterweltboss – nicht einmal mit dessen Mutter. Ihr unter dem dünnen, schwarzen Schleier nur undeutlich erkennbares Gesicht wirkte verhärmt und von großem Kummer gezeichnet. Die rechte Hand krallte sich Halt suchend um den bronzenen Knauf eines Gehstocks, während die Linke nervös an einem goldenen Anhänger herumspielte, der an einer dünnen Kette um ihren faltigen Hals hing.

Die Frau trug ein langes, schwarzes Kleid, dessen Saum mit schmalen, weißen Rüschen abgesetzt war. Der ebenfalls schwarze Mantel wirkte an ein paar Stellen abgewetzt, verlieh ihrer Erscheinung aber dennoch eine schwer in Worte zu fassende Eleganz. Über den knochigen Schultern hing eine ziemlich echt und ziemlich teuer aussehende Zobelstola.

Reflexhaft zuckten meine Finger nach oben, um den korrekten Sitz der Krawatte zu überprüfen. Da der einzige Binder, den ich im Moment besaß, derzeit jedoch nicht um den Kragen meines Hemdes, sondern auf dem Regal eines Pfandleihers in der Pawnbroke Street lag, wirkte die Geste eher komisch. Um das dezente Unbehagen der Situation zu überspielen, beschloss ich, so schnell wie möglich die Initiative an mich zu reißen.

»Was kann ich für Sie tun, Mistress …?«, fragte ich sanft und legte den Kopf schief. Die alte Dame trat zwei Schritte nach vorn und lüftete ihren Schleier. Mit der Furchtlosigkeit eines Privatermittlers, der schon viele Dinge gesehen, und noch mehr Dinge erlebt hatte, starrte ich in rot geweinte Augen und auf zitternde, ungeschminkte Lippen.

»Sie müssen mir helfen, Mister Holmes«, flüsterte mein Gegenüber mit tränenerstickter Stimme. »Man hat meinen Wellensittich ermordet!«

1 – Phil Garner

Der Besuch der jungen Dame

Es war bitterkalt geworden in der Stadt an der Bucht. So kalt, dass ich sogar Silvester und die erste Januarwoche gern noch im Verhörzimmer des NGPD verbracht hätte, wie auch schon die Tage davor.

Die Cops hatten einfach nicht genug bekommen können von meiner Milchentführungsgeschichte. Bei Donuts und heißem Kaffee sollte ich sie ihnen immer wieder und wieder erzählen. Erst als Mama drei Tage später mitsamt ihres Kuchens auf der Wache erschien, um ihre Aussage zu machen, ließen sie mich aus Mitleid laufen.

Das neue Jahr begann so unerquicklich, wie das alte geendet hatte. Gleich frühmorgens hockte ich erschüttert in meinem eiskalten Büro in der 42nd Street Ecke Ocean Boulevard und konnte es nicht glauben.

»Linda will bitte … was?«

Da sich außer mir niemand sonst im Raum aufhielt, starrte ich meinen Gummibaum fragend an. Allerdings vergeblich. Er hielt eisiges Schweigen für angebracht, obwohl ich sicher war, er wusste mehr. Damit ich den ganzen Sachverhalt auch in aller Tragweite begriff, hatte Linda alles fein säuberlich abgetippt und das Ganze zu meiner Freude auf meinem Schreibtisch platziert, damit ich es auch sicher fand. Folglich starrte ich wie vom Donner gerührt auf den Briefbogen vor mir.

Das Papier war billig. Es besaß Wasserzeichen der Marke Stock, roch leicht muffig und gilbte einem ungewissen Schicksal entgegen. Der Briefkopf trug zu allem Überfluss meinen eigenen Namen, zeigte meinen Schriftzug und nannte meine Adresse. Das verhieß nichts Gutes.

Der Text des Briefes war an mich adressiert und begann mit den förmlichen Worten Hochverehrter Mister Garner …

Was dann kam, war weniger fein.

Lindas Kündigungsbrief rammte mir seinen unverdaulichen Inhalt so schwer in den Magen wie eine hinterrücks abgefeuerte linke Gerade. Nur härter. Eben weiblicher.

In Anbetracht der besonderen Umstände … sechs ausstehende Gehälter …

Erstaunlich, wie schnell die Zeit vergeht, dachte ich verdrossen. Das war’s dann also. Drei Jahre einer ebenso anregenden wie misserfolgreichen Zusammenarbeit lagen offenbar hinter mir und meiner Sekretärin. Es schmerzte, sie jetzt in dem klammen, zugigen Vorraum ihre Siebensachen zusammenpacken zu sehen. Dabei schluchzte sie und wollte, dass ich es hörte. Ich hörte es und wollte nicht, dass sie schluchzte. Natürlich nahm sie darauf keine Rücksicht.

In unserem … von wegen, in meinem winzigen Souterrainbüro war die Temperatur inzwischen so tief gefallen, dass der Briefbogen vor mir auf dem abgegriffenen Holz des fleckigen Schreibtischs fest angefroren war. Die Filterzigarette zwischen meinen Lippen war längst erloschen – sie glich darin auffallend der Heizung, die sie uns gestern pünktlich zum Ersten abgestellt hatten. Und das, obwohl ich mit den Raten erst vier Monate im Rückstand war.

Auf der Polizeiakademie in Maddonfield hatten sie uns im Falle einer etwaigen Selbstständigkeit seinerzeit vor unserem zu erwartenden größten Feind gewarnt: der allgegenwärtigen Finanzkrise. Nun kam sie aus ihrem Versteck gekrochen, und ich war ihr hoffnungslos unterlegen. Mit anderen Worten: Das noch junge Jahr 1954 fing schon am zweiten Tag an, mir mächtig auf den Keks zu gehen. Es machte mir unmissverständlich klar, was es von mir hielt. Nämlich nichts. Was in etwa dem Inhalt meiner altersschwachen Keksdose und meines noch älteren Tresors entsprach. Kein Wunder, hatte der letzte Auftrag mir doch bis auf Blessuren rein gar nichts eingebracht.

Ich hauchte den Briefbogen von der Tischplatte frei, nahm ihn auf und las stirnrunzelnd weiter.

… weder Perspektiven noch Pekuniäres … drei Jahre ohne Urlaub … zutiefst enttäuscht …

Ich fühlte mich gleich keinen Deut besser.

Der Wind pfiff eisig durch den Sprung in der schmutzigen Fensterscheibe. Der stete Luftzug brachte die schweren, staubgrauen Vorhänge dazu, sich ihrer in etlichen Jahren aufgenommenen Last in dichten Schwaden zu entledigen. Aber ich war ihm dankbar dafür: Nicht dem Wind, dass er blies, sondern dem Fenster, dass es nahezu blind war. Es hätte doch nur einen tristen, mit Mülltonnen bestandenen Hinterhof gezeigt, um den sich ebenso triste Gebäudefassaden mit ebenso blinden Fensterreihen aneinanderdrängten.

… sehe mich notgedrungen gezwungen … kündige hiermit fristlos …

Also gut, dachte ich und ließ den Brief sinken. Ein Wunder musste her. Und sei es in Form solider Handschellen. Oder Linda würde in wenigen Minuten für immer aus meinem Büro entfleuchen wie eine Motte, der sie das Licht abgedreht hatten. Wie auf ein geheimes Stichwort riss meine künftige Ex-Sekretärin die klappernde Zwischentür auf, die in mein Büro führte.

Als ich sie jetzt in ihrem engen, grauen Flanellkostüm sah, mit dem sie ihre Figur auf so betörende Weise unterstrich, vor allem an den Hüften und dort, wo die weiße Bluse begann, versetzte es mir einen tiefen Stich. Linda war eine Augenweide: schlank, mit einer wilden, blonden Mähne, die ein Gesicht umrahmte, von dem manche Männer nachts nicht aufhören wollten zu träumen. Dieses Gesicht, sonst mit tiefblauen Augen treuherzig lächelnd, zeigte nun alle Spuren nicht länger zurückgehaltener Tränen.

Sie deutete in stummer Anklage auf mich. Trotzig warf sie die blonde Haarpracht zurück und ließ eine weitere, nicht minder attraktive Frau an ihrem ausgestreckten Arm vorbei eintreten. Die Fremde mit ihrem exquisiten Duft – Madame Astray – passte in dieses Büro wie die Mutter John Drillingers auf das Centerfold des Pouthouse-Magazins. Die sicherlich teuren und perfekt sitzenden Nahtstrümpfe unter dem roten Kaschmirmantel sowie der Goldschmuck an ihren Handgelenken, taten ein Übriges. Hier kam auf hohen Pumps echtes Geld in meine geheiligten Räumlichkeiten gestöckelt. Dergleichen war noch nie geschehen. Jedenfalls nicht, seitdem ich hier die Miete schuldete.

Auch Linda starrte die junge Frau an, als sähe sie eine biblische Erscheinung. Sie schien von der Gegenwart einer potenziellen Auftraggeberin noch mehr überrascht zu sein als ich. Verübeln konnte ich ihr das nicht.

Als sie die Tür geschlossen hatte, richtete ich meine Aufmerksamkeit auf die Frau vor mir.

»Sie wünschen … Lady?«, fragte ich.

Hinter der Scheibe sah ich Linda kopfschüttelnd nach ihrem Mantel und ihrer Handtasche greifen. Sie machte wirklich ernst. Es war nicht zu fassen.

»Sie sollen der Beste sein«, flüsterte die junge Frau vor mir kaum verständlich. Ihr roter Kaschmirkopfschal verlieh ihr, zusammen mit der winterlich unpassenden Sonnenbrille, ein fast maskenhaftes Aussehen. Sie nahm beides ab und enthüllte vom Weinen verquollene Augen. Ich begann mich zu fragen, ob mein Souterrainbüro in Wahrheit womöglich das berüchtigte Tal der Tränen war.

»Schon möglich«, erwiderte ich heiser.

»Nur deshalb komme ich zu Ihnen, Mister Rockford!«

2 – Ed Spade

Ein ungewöhnlicher Auftrag

»Mein Name ist Spade«, sagte ich leicht verschnupft. »Ed Spade.« Die alte Dame wirkte für einen kurzen Moment irritiert.

»Entschuldigen Sie«, lächelte sie dann freudlos. »Ich bin Eleonore Greensborough-Winthersleigh. Mein Urgroßvater mütterlicherseits war der dritte Earl of Winthersleigh, Sir Derace Afterbrook. Er erbte seinen Titel vom Zweig der Afterbrooks, während meine Großmutter in die reiche und durchaus angesehene Minenbesitzerfamilie der Greensboroughs einheiratete. Sicher eine Wahl weit unter ihrem Stand, aber …«

»Sie sagten, Ihr Wellensittich sei ermordet worden?«, unterbrach ich hastig, bevor die alte Dame in Versuchung geriet, auch noch Namen und Familiengeschichte ihrer fünf übrigen Gatten vor mir auszubreiten. Ihre Stimme brach mit einem trockenen Schluchzen, das mich unwillkürlich an den seit Jahren im Sterben liegenden Motor meines 42er Lincoln Incontinental erinnerte. Nach den Ereignissen am zweiten Weihnachtstag hatte ich den Wagen in die Werkstatt bringen müssen; seitdem ging ich zu Fuß, denn die fünfundachtzig Dollar, die Arnie Goldblum für die Wiederherstellung der Fahrtüchtigkeit des Wagens verlangte, überstiegen mein aktuell verfügbares Barvermögen um exakt fünfundachtzig Dollar.

Eleonore Greensborough-Winthersleigh musterte mich derweil mit einem Blick, unter dem ich mich wie ein Verdurstender in der Wüste zu fühlen begann, sicherlich begünstigt durch ihre hakenartige Nase, die dem Schnabel eines nordamerikanischen Sandgeiers erstaunlich ähnlich sah. Mit einem Anflug von Panik bemerkte ich, wie sich die Augen der alten Dame mit Tränen füllten und das Zittern ihrer Lippen zunahm. Ich fluchte innerlich. Auf mein Talent, keines der zahlreichen, meinen Lebensweg säumenden Fettnäpfchen auszulassen, hatte ich schon immer vertrauen können, und was immer ich auch als Nächstes sagte: Vermutlich würden es genau diese Worte sein, die den bevorstehenden emotionalen Ausbruch zur allumfassenden Katastrophe machten.

Brenda, die soeben gemeinsam mit meinen letzten Whiskyvorräten – und dem letzten sauberen Glas – in mein Büro stöckelte, warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu. Er verfehlte seine Wirkung jedoch völlig, da der tiefe Ausschnitt ihrer Bluse sämtliche Konzentration beanspruchte, die ich noch aufbringen konnte. Erst das sanfte Glucksen des Johnny Daniels Black Label Jahrgang 1935, den ich mir für besondere Anlässe aufgespart hatte, brachte mich in die Realität zurück. Mit dem Stilempfinden eines rostigen Ofenrohrs, und ohne auch nur mit der Wimper zu zucken, stürzte Eleonore Greensborough-und-so-weiter die goldgelbe Flüssigkeit hinunter. Kurz darauf traten uns beiden die Tränen in die Augen – wenn auch aus unterschiedlichen Gründen.

»Als ich heute Morgen aufwachte, war Paddy tot«, brachte die alte Dame schließlich heraus. »Er lag reglos und auf das Grausamste verstümmelt mit blutigen Federn in seinem Käfig.«

Die Erinnerung und der Schmerz übermannten sie erneut, und in Ermangelung weiterer Alkoholika nahm Brenda sie in ihre Arme. Ich hätte ohne zu zögern eine ganze Kiste Johnny Daniels Black Label Jahrgang 1935 hergegeben, hätte mein Kopf anstelle dem von Eleonore Wie-auch-immer am ausladenden Busen der jungen Frau ruhen dürfen.

»Und Paddy ist … war … ein Wellensittich?« Es erschien mir angebracht, dieses nicht unwesentliche Detail noch einmal nachdrücklich klarzustellen. Die alte Dame nickte nur und drückte ihre Geiernase an Brendas üppige Oberweite.

»Hatte der Tote … irgendwelche Feinde?«, erkundigte ich mich abwesend und noch bevor mir die Lächerlichkeit einer solchen Frage bewusst wurde. Mein Gegenüber ließ ihre winzige, schwarze Handtasche aufschnappen und zog ein großes Spitzentaschentuch mit eingesticktem Familienwappen hervor. Sie schnäuzte sich geräuschvoll.

»Nein«, sagte sie dann, wieder einigermaßen gefasst. »Alle haben ihn geliebt. Er hat immer so schön gesungen.«

Mögliches Mordmotiv, notierte ich gedanklich und nicht ohne Stolz auf meine deduktiven Talente: Lärmbelästigung!

»Und wir reden hier immer noch …«, ich suchte nach einer Formulierung, die mich nicht wie einen kompletten Idioten klingen ließ, fand jedoch keine, »… von einem Wellensittich. Einem Vertreter der Gattung Melopsittacus undulatus? Habe ich Sie da richtig verstanden?« Meine Recherchen während der Arbeit am Fall des Truthahnmassakers hatten mir zwar keine Dollars, aber dafür immerhin profunde Kenntnisse auf dem Gebiet der Vogelkunde eingebracht.

»Ja«, nahm mir die alte Dame die letzte Hoffnung. »Wie oft wollen Sie mich das denn noch fragen?«

Damit stand es fest: Meine mögliche neue – und damit auch einzige – Klientin war zwar offensichtlich nicht mehr im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte, doch alte Damen mit langen, englischen Namen besaßen neben ihren diversen Schrullen gemeinhin auch gut gefüllte Bankkonten. Es würde also niemandem schaden, wenn ich mir das dahingeschiedene Tier einmal ansah, ein paar kluge Bemerkungen fallen ließ, und am Ende eine gesalzene Rechnung präsentierte.

Dabei möchte ich hier auf keinen Fall einen falschen Eindruck erwecken. Ich bin ganz sicher keiner dieser windigen Gelegenheitsdetektive, die für ein paar lausige Scheine ihre Berufsehre und sämtliche Prinzipien vergessen. Wenn es hier etwas aufzuklären gab, würde ich es selbstverständlich tun. Allerdings war es – milde formuliert – doch eher fragwürdig, wenn eine Dame im gesetzteren Alter behauptete, ihr Wellensittich sei ermordet worden. Vermutlich war der Piepmatz ganz einfach vor Altersschwäche von der Stange gekippt, etwas das, wie ich befürchtete, jeden Moment auch meiner Besucherin passieren konnte, denn die bebenden Schultern und die feuchten Augen kündeten von einem neuerlichen Weinkrampf.

»Ich werde mir den Verstorbenen … also, äh, die Leiche einmal ansehen«, sprach ich den für die Öffentlichkeit bestimmten Teil meiner Überlegungen laut aus. »Ich nehme an, Sie sind mit dem Wagen hier, Mistress Green… –?«

Der Umstand, dass ich den ellenlangen Namen meines Gastes nicht mehr in allen Details zusammenbekam, ließ mir keine andere Wahl als das Vortäuschen eines Hustenanfalls. Wenn man nicht genau hinhörte, klang das eine ohnehin wie das andere.

»Ja«, antwortete die alte Dame. »Er parkt unten vor der Tür. Aber warum wollen Sie das wissen?«

»Nun, ich dachte …«, begann ich verwirrt, brach ab und versuchte es erneut. »Ich dachte, wir könnten jetzt gleich … sofort gewissermaßen. Natürlich nur, wenn Sie nichts dagegen haben.«

Sie starrte mich an, als hätte ich etwas furchtbar Dummes gesagt.

»Zu Ihnen nach Hause fahren«, fügte ich verzweifelt hinzu.

»Was wollen Sie denn dort?«, erkundigte sich die alte Dame. Ich blieb ruhig. Offenbar litt meine Auftraggeberin nicht nur an Realitätsverlust, sondern auch an Gedächtnisschwäche.

»Na, den Toten … den Sittich untersuchen«, half ich Eleonore Etcetera auf die Sprünge. »Wissen Sie nicht mehr …?«

»Sie reden wirr, junger Mann«, fuhr sie mir über den Mund. »Glauben Sie etwa, ich leide an Realitätsverlust oder Gedächtnisschwäche?«

Ich verzichtete auf eine Erwiderung und hoffte, dass sie meine roten Ohren für eine Folge der bullernden Heizung hielt.

»Wenn Sie Paddy untersuchen wollen«, fuhr die alte Dame resolut fort, »können Sie das gleich hier und jetzt erledigen!«

Mit diesen Worten griff sie zum zweiten Mal in ihre Handtasche.

2 – Phil Garner

Ein merkwürdiger Auftrag

»Mein Name ist Garner«, korrigierte ich verdrossen. »Phil Garner.«

»Oh, entschuldigen Sie!«, entfuhr es der Frau im roten Kaschmirmantel. »Ich nahm an, Sie wären der Detektiv …«

»Der Privatermittler«, stellte ich richtig. »Der bin ich allerdings.«

»Ach so.« Tränen der Verzweiflung traten erneut in die Rehaugen der jungen Frau. »Dann entschuldigen Sie bitte. Ich brauche den Besten, und Sie sehen nicht unbedingt so aus, als …«

Ihr Blick glitt an meinem zerschlissenen Trenchcoat herab, den ich bis obenhin zugeknöpft hatte. Dann wanderte er einmal durch mein Büro – ihr Blick, nicht der Trenchcoat –, streifte den zitternden Gummibaum und blieb dann an meinem immerhin frisch rasierten Gesicht hängen.

Ich setzte geistesgegenwärtig meine Vertrauen erweckendste Miene auf: das berühmte Keine-Angst-ich-heiße-Phil-Garner-und-hab-schon-alles-gesehen-Lächeln.

»Ich höre …?«

Einer weiteren Eingebung folgend setzte ich die erkaltete Zigarette wieder in Brand. Ich blies eine Rauchwolke zur Decke und legte die Stirn in Falten. Das wirkte seriös, lässig und souverän. Zumindest hoffte ich das.

Mein Gegenüber ignorierte indes jeden meiner Winke in Richtung des wackligen Besucherstuhls. Sie griff stattdessen mit ihrer lederbehandschuhten Rechten in die Kroko-Umhängetasche zu ihrer Linken und schob mir zögernd einen Briefumschlag über den Schreibtisch.

Es war eine Geste, die meinen Zorn schneller verrauchen ließ als ich meine Zigarette. Sollte sie mich nennen, wie sie wollte, solange sie mir gab, was ich begehrte. Ich nahm das weiche, dicke Ding mit spitzen Fingern auf und spürte sofort, dass es Bargeld enthielt – richtige, wahrhaftige Dollars in Form von säuberlich bedruckten, kleinen grünen Scheinen.

Nun war ich der Dritte, dem an diesem Morgen die Tränen in die Augen stiegen. Verlegen tat ich, als fächelte ich Rauch beiseite. Der Umschlag knisterte verheißungsvoll. Er war nicht ganz so warm wie ein Kamin, aber er wärmte mir das Herz. Es fühlte sich wirklich an wie …

»Das sind einhundert Dollar«, hauchte die Fremde. Sie wich meinen Blicken aus, während ihre Lippen gleichzeitig zu zittern begannen. »Ich habe offenbar keine andere Wahl. Sie … Sie erhalten täglich weitere zehn Dollar. Mehr ist mir nicht möglich … vorausgesetzt …«

»Vorausgesetzt was?«, fragte ich, nur halb bei der Sache, denn mein Gehirn errechnete derweil überschlägig, wie lange ich diesen Fall unbedingt hinauszögern musste, um auch nur die Hälfte meiner über New Guessgrow verteilten Schuldscheine zurückkaufen zu können.

»Vorausgesetzt …«, hauchte sie zwischen ihren kirschroten, bebenden Lippen hervor, »… Sie garantieren, dass ein gewisser Ed Spade seinen Auftrag nicht abschließen kann! Das würde alles zerstören. Es wäre furchtbar. Das Ende. Das endgültige Aus.«

Sie hob den Blick und sah mich flehentlich an. »Das ist meine Bedingung. Keinen wie auch immer gearteten Erfolg für Mister Spade. Unter gar keinen Umständen. Ich hoffe, ich drücke mich deutlich aus.«

Sie begann zu schluchzen.

»Wie bitte?«, entfuhr es mir.

»Ich sagte, vorausgesetzt, Sie garantieren …«

»Nein, nicht das. Sie sagten, Ed Spade habe einen Auftrag erhalten?«

Wenn das der Wahrheit entsprach, konnte dieser Tag nicht mehr viel schlechter werden. Ich kannte Ed seit langem, wir waren sogar einmal befreundet gewesen, bis diese leidige Sache passiert war. Ich kannte ihn jedenfalls gut genug, um zu wissen, dass es ihm finanziell nicht viel besser ging als mir. Er hatte sein Büro gegenüber auf der anderen Straßenseite der 42nd Street. Geblieben war uns neben unschönen Erinnerungen eine gemeinsame Gegnerin. Ihr Name war Krise. Finanz Krise.

Entsprechend skeptisch starrte ich meine Besucherin an.

Die Lady in Rot schluchzte noch lauter auf als zuvor. So laut, dass sie damit sogar Linda auf den Plan lockte. Sie streckte besorgt ihren Kopf zur Tür herein. Schon im Mantel, warf sie kurz darauf eine Schachtel Kleenextücher auf den Tisch. Wortlos. Kein Gruß, kein Kuss, kein Bluterguss. Die Tür ging zu, und ihr voraus ging Linda. Aber noch war sie nicht fort, es brannte Licht an ihrem Schreibtisch, und ich hörte sie in Schubladen kramen.

»Jetzt«, sagte meine neue Klientin. »In diesem Augenblick erteilt sie ihm den Auftrag, Paddys Tod aufzuklären.«

Ich schluckte. Es schmeckte nach Reue und kaltem Tabak.

»Dieser Paddy ist also tot«, stellte ich klar und machte mir mit klammen Fingern eine erste Notiz.

Neue Sekretärin einstellen.

Meine Besucherin versuchte derweil, eines der Kleenextücher aus der Schachtel zu ziehen. Ihre Strategie verlief sich in ebenso sinnlosem Bemühen wie die Wimperntusche in ihrem Gesicht, da die Dinger zu einem massiven Block zusammengefroren waren.

»Sie wird ihm garantiert eine herzzerreißende Geschichte erzählen«, brachte sie tränenerstickt heraus.

»Wen meinen Sie mit sie, Miss …?«, fragte ich.

»Ich bin Kathlin-Joanne McToothbone-Afterbrook«, antwortete sie. »Ich entstamme der ehrwürdigen Familie der Afterbrook-Edisons und bin die einzige lebende Nachfahrin von Roderick Afterbrook. Ferner bin ich die einzige Urenkelin von Kingsley Afterbrook-Edison. Wie auch immer … Eigentlich wäre ich heute die Erbin von Winthersleigh Castle, wenn es da nicht dieses unselige Testament gegeben hätte. Und nun ist Eleonore bei diesem Mister Spade und zeigt ihm … Ich meine, sie wird ihm dieses dämliche Vieh zeigen … Paddy!«

Es folgte ein nicht enden wollendes Schniefen.

»Woran ist Paddy gestorben?«, fragte ich mit geübter Klientenberuhigungsstimme.

Sie muss diesen Paddy ziemlich gehasst haben, dachte ich, wenn sie ihn sogar nach dessen Tod noch als Vieh bezeichnete.

»Er ist ermordet worden«, schluchzte Kathlin McToastbrot-Aberwitz. »Er lag reglos in seinem Käfig, auf das Grausamste verstümmelt.« Mit vernehmlichem Knacken gelang es ihr endlich, eine dünne Schicht des Kleenexblocks abzubrechen.

Vermutlich Lustmord unter Sado-Maso-Anhängern, notierte ich.

»Äh … hatte Paddy besondere … wie soll ich sagen … besondere Vorlieben?«, fragte ich im Bemühen, nicht gleich am Anfang des Falls in irgendwelche Fettnäpfchen zu treten.

»Er konnte wundervoll singen«, schwärmte die kaum dem Teenageralter entwachsene Beinaheerbin und hauchte hingebungsvoll auf das allmählich auftauende Kleenextuch.

Mögliches Mordmotiv: Konkurrenzneid unter Musikern, schrieb ich.

»Woher wissen Sie von dem Mord, Miss …?«

»McToothbone-Afterbrook«, half sie mir aus. »Aus der Seitenlinie der Afterbrook-Edisons. Ich sah ihn in seinem Käfig liegen, noch bevor … noch bevor Eleonore ihn fand!«

»Einen Moment«, unterbrach ich sie, derweil sie die Gelegenheit nutzte, endlich in das aufgetaute Kleenex zu schnäuzen. »Wer, sagten Sie, ist diese … Eleonore?«

»Na, die derzeitige Herrin auf Winthersleigh Castle«, wunderte sich die junge Miss McIrgendwas-mit-Aftereight. »Und sie präsentiert diesem Ed Spade vermutlich in diesem Moment die Leiche …«

3 – Ed Spade

Tote Vögel singen nicht

Der Ermordete war sorgfältig in einen Bogen Butterbrotpapier gewickelt, den Eleonore Dieses-und-jenes jetzt behutsam auf meinen Schreibtisch legte. Ich war schon halb aufgesprungen, um Hut und Mantel zu holen, fiel nun jedoch entgeistert in den knirschenden Sessel aus echtem Lederimitat zurück. Selbst mir, der ich in meiner Karriere als Privatermittler schon so manchen ungewöhnlichen Mordfall bearbeitet hatte, war es bislang nicht untergekommen, dass ein Auftraggeber die Leiche mit in mein Büro brachte. Die alte Dame wandte sich von mir ab und wieder Brendas tröstendem Busen zu, während ich das unappetitliche Päckchen zu mir heranzog, um dessen Inhalt eingehender zu studieren.

Ich weiß natürlich, was Sie jetzt denken – und Sie haben recht! Ja, ich kam mir reichlich dämlich vor. Lediglich der Gedanke an das in Aussicht stehende Honorar, sowie das aufmunternde Nicken meiner Sekretärin hielten mich davon ab, dieses absurde Schauspiel auf der Stelle zu beenden und Mistress Eleonore Dingsbums eine sofortige Einweisung in die Nutty-Creek-Nervenklinik zu empfehlen – nebenbei bemerkt eine Institution von ausgezeichnetem Ruf.

Stattdessen wickelte ich den dahingeschiedenen Vogel vorsichtig aus seiner Verpackung. Der Wellensittich schien mich vorwurfsvoll aus seinen kleinen, stumpfen Knopfaugen anzustarren. Er kam mir irgendwie mickrig und abgezehrt vor. Das rote Gefieder am Rumpf und den leicht abgespreizten Flügeln war mit angetrocknetem Blut besudelt. Das Köpfchen mit dem halb geöffneten, leuchtend gelben Schnabel stand in groteskem Winkel vom übrigen Körper ab. Wer immer für den Tod dieses Tiers verantwortlich war, hatte ihm offenbar im schlichten Wortsinn den Hals umgedreht. Die gute Lady Eleonore hatte bei ihrer Beschreibung der verstümmelten Leiche offensichtlich ein klein wenig übertrieben.

Ich kramte in meinem Gedächtnis nach allem, was ich über unsere gefiederten Freunde im Allgemeinen und Wellensittiche im Besonderen wusste. Nach den körperlich wie geistig aufreibenden Ermittlungen, die ich im Fall des Truthahnmassakers hatte anstellen müssen, durfte ich mich durchaus als eine Art Geflügelexperten bezeichnen, auch wenn es hier nicht um Nutz-, sondern um Ziervögel ging. Mit einiger Sicherheit war das auch der Grund, warum die alte Lady ausgerechnet mich aufgesucht hatte. Die Truthahnstory war so ziemlich von allen Zeitungen und Nachrichtenstationen der Stadt ausgeschlachtet worden, auch wenn die Meinungen über die Rollen, die mein ehemaliger Freund Phil Garner und ich dabei gespielt hatten, weit auseinandergingen.

Für ein paar Sekunden drohten meine Gedanken abzuschweifen und in eine Zeit zurückzukehren, in der die Welt noch in Ordnung gewesen war, zumindest jene Welt, die ich damals hatte überblicken können. Es war eine Welt gewesen, in der Worte wie Freundschaft und Loyalität noch keinen bitteren Nachgeschmack gehabt hatten. Eine Welt, in der man Gut und Böse klar voneinander hatte trennen können. Eine Welt, in der einem heimtückische Verräter, die Phil Garner hießen und sich einbildeten, Privatermittler zu sein, keine rostigen Messer in den Rücken rammten, nur um hinterher zu behaupten, das alles wäre ein großes Missverständnis gewesen.

Schluss damit, Ed, ermahnte ich mich. Dieses Kapitel deines Lebens ist ein für alle Mal abgeschlossen.

»Wer außer Ihnen hatte noch Zugang zu Paddys Käfig?«, fragte ich mit aller mir verbliebenen professionellen Abgeklärtheit. Eleonore Keine-Ahnung-wie-weiter löste sich aus Brendas Griff. Die vom Seelenschmerz gegrabenen Stirnfalten verwandelten sich in klaftertiefe Denkerfurchen.

»Niemand«, stellte sie nach einer kurzen Pause bestimmt fest. Ich nickte fachmännisch, so wie ich es vor einer halben Ewigkeit während meiner Ausbildung an der Polizeiakademie in Maddonfield gelernt hatte.

»Außer dem Dienstpersonal natürlich«, fuhr die alte Dame in diesem Moment fort. »Und Cassandra, und Doktor Cliveclipp, und …«

»Schon gut, schon gut«, winkte ich hocherfreut ab. Die Liste der Verdächtigen schien lang zu sein und die Gelegenheit günstig, auf den finanziellen Aspekt meiner bevorstehenden Untersuchungen hinzuweisen. »Da wird eine Menge Arbeit auf mich zukommen. Ich weiß nicht, ob Sie sich über die dadurch entstehenden Kosten …«

Die alte Dame brachte mich mit dem erhobenen Zeigefinger ihrer linken Hand zum Schweigen, während die Rechte einmal mehr in den unergründlichen Tiefen der schwarzen Handtasche verschwand, die mich inzwischen weit eher an den Zylinder eines Zauberers denn an das modische Accessoire einer Frau von Welt erinnerte. Die Frage, wie so viele Dinge in ein so winziges Täschchen passten, erschien mir plötzlich ein weit interessanteres Geheimnis zu sein als die Entlarvung eines ruchlosen Vogelmörders.

Schweigend reichte mir mein Gegenüber ein Stück Papier, welches ich, obwohl ich es nur selten zu sehen bekam, sofort als Barscheck identifizierte. New Guessgrow City Federal Reserve Bank stand da in großen, hellblauen Lettern. In der rechten, unteren Ecke war der in Gold gedruckte Name Eleonore Greensborough-Winthersleigh zu lesen, und als ich die bereits eingetragene Summe erblickte, beschloss ich spontan, diesen Namen nie mehr zu vergessen.

Mühsam um meine Beherrschung ringend, faltete ich das Dokument zusammen und steckte es weg, noch immer darauf gefasst, dass es sich jeden Moment vor meinen Augen in Luft auflöste, und ich schweißgebadet in meinem Bett erwachte. Doch nichts dergleichen geschah. Eine Sekunde lang gab ich mich der wunderschönen Illusion hin, dass die gierigen Augen Brendas nicht auf den Scheck in meiner Brusttasche, sondern auf meinen von Hamburgern und Bier gestählten Körper gerichtet waren; dann besann ich mich wieder auf meinen Auftrag. Es galt immerhin, einen feigen Mord aufzuklären.

»Mistress Greenssleigh-Wintherborough«, sagte ich mit fester Stimme und stand von meinem Sessel auf. »Seien Sie gewiss, dass die in ihrer Niedertracht und Boshaftigkeit kaum zu übertreffende Bluttat in Ihrem Hause nicht ungesühnt bleiben wird!«

Warum sich Brenda mit der flachen Hand vor die Stirn schlug, blieb mir schleierhaft.

3 – Phil Garner

Für keinen Preis der Welt

Ich sah auf meine Notizen, die ich, wie ich dabei bemerkte, auf der Rückseite von Lindas Kündigungsbrief gemacht hatte.

»Nur, um sicherzugehen«, sagte ich. »Diese Eleonore will, dass Ed Spade den Mord an Paddy aufklärt, den Sie Ihrerseits grausam verstümmelt in einem Käfig vorgefunden haben, bevor Eleonore ihn entdeckte. Sie dagegen wollen, dass Mister Spade den Mord nicht aufklärt, weshalb Sie mich engagieren. Außerdem untersucht Spade in diesen Augenblick die Leiche. Habe ich alles korrekt verstanden?«

»Ja«, nickte meine Auftraggeberin. Sie suchte nach einer unauffälligen Möglichkeit, das irgendwo in einem Aggregatzustand zwischen fest und flüssig befindliche Kleenextuch loszuwerden. Schließlich legte sie es dezent auf meinen Schreibtisch.

»Na schön«, sagte ich nachdenklich. »Allerdings verlange ich von Ihnen schonungslose Offenheit. Sie müssen meine Fragen rückhaltlos ehrlich beantworten. Außerdem erfolgt meine Bezahlung pünktlich und regelmäßig einmal die Woche. Ebenfalls rückhaltlos. Und Sie überlassen mir die Entscheidung darüber, wie ich im Einzelfall vorgehe. Okay? Meine erste Frage: In welchem Verhältnis standen Sie zu Paddy?«