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Ganz normale Leute sind sie - ein Freundeskreis gutsituierter Paare zwischen Mitte vierzig und Mitte fünfzig. Für die scharfzüngige Magdalena Landmann, zweifach geschiedene und alleinstehende Journalistin, das ideale Beobachtungsfeld in Sachen Ehe, Liebe und Liebschaft. Nach einem missglückten Versuch ihre freche Ehemoral in einem konventionellen Beratungsportal an Mann und Frau zu bringen, geht sie mit ihrer eigenen Website online: MeineLiebhaberei.de.
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Seitenzahl: 340
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Ulrike Kroneck
Ehe, Affären und andere Vergnügen
Roman
Ausgewählt von
Claudia Senghaas
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung / E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Ina Schoenrock – Fotolia.com
ISBN 978-3-8392-4426-5
Es war einer dieser Sommertage, an dem sie sicher war, nirgendwo anders sein zu wollen als hier unter ihrem Kirschbaum. Magdalena liebte diesen Ort im Schatten der Blätter, genoss den leichten Wind und freute sich darüber, nicht in der Hitze Südeuropas zu leiden. Sie legte die Beine auf den Gartentisch und schaute ins Tal. Vergessen war, dass sich fast der gesamte Juli mit gerade einmal 15 Grad im Tal festgeregnet hatte und ihre Gedanken jeden Morgen darum kreisten, einfach alles hinzuschmeißen und irgendwohin zu fliegen. Sie hatte es nicht getan, weniger aus Durchhaltevermögen denn aus Geldmangel.
Es hatte sich ausgezahlt. Denn nun endlich war der Sommer auch zu ihr gekommen. Es war ein später Sommer. Bis Anfang August hatte sie warten müssen. Aber sie hatte es richtig gemacht. Sie hatte der Kälte getrotzt und war nun belohnt worden. So jedenfalls sah es Magdalena. Sie gab allen Dingen, die in ihrem Leben geschahen, eine Bedeutung. Nichts, glaubte sie, passierte einfach so, alles hatte letztlich einen Sinn.
»So ein Quatsch!«, befand sie und legte das linke Bein über das rechte. Sie redete immer mit sich selbst, wenn sie allein war. Wer allein lebt, tut das. Deshalb übte sie manchmal, diese Selbstgespräche unter Kontrolle zu halten, damit sie sich nicht verselbstständigten und sie irgendwann für schrullig gehalten werden könnte.
Sie wollte heute mit ihren Freunden feiern. Ein großer Tisch vor ihr im Garten war gedeckt für ihre »Fressrunde«, wie sie die Gruppe von sechs Freunden nannte, die nun seit fast zwanzig Jahren gemeinsam kochten und aßen. So unterschiedlich sie alle waren, ihre Beziehung hatte die Jahre überstanden, und sie mochten sich immer noch. Sie waren sich wohl doch ähnlicher, als sie immer behauptete. Denn auf die Jahrzehnte betrachtet, blieben letztlich nicht so viele Menschen übrig. Ihr waren in dieser Zeit immerhin zwei Ehemänner abhandengekommen. Die alten Beziehungen sind vielleicht deshalb stabiler, weil wir viel mutloser werden, neue einzugehen, sinnierte Magdalena und beobachtete den Weg, der auf den Hügel zu ihrem Haus hinaufführte. Die schmale Asphaltstraße lag in der Spätsommersonne, und die Wiese auf der anderen Seite des kleinen Tals wartete immer noch auf den zweiten Schnitt. Die anderen waren noch in ihren Beziehungen. Sie hatte es vermutlich falsch gemacht.
Magdalena stand auf, stellte sich an den großen runden Tisch und war mit sich zufrieden. Das jedenfalls konnte sie. Kochen, Gäste empfangen und bewirten. Sie liebte es, alles vorher fertigzustellen und sich mit ihren Gästen an den Tisch zu setzen. Früher hatte sie immer geringschätzig abgewehrt, wenn sie Lob bekam für ihre Kochkünste und ihre Liebenswürdigkeit. Sie fand das unwichtig und belanglos und schämte sich fast dafür. Sie hätte lieber Erfolg im Beruf gehabt und statt Lob ein Gehalt, von dem sie gut leben konnte. Mittlerweile hatte sie sich daran gewöhnt, dass ihre Freunde diese Qualität an ihr besonders hervorhoben, und hatte es akzeptiert.
Ein sattes Motorengeräusch wurde stärker, und Magdalena sah dem dicken Wagen entgegen, der den schmalen Weg hinauffuhr. Sie hatte den Überblick von ihrem kleinen Hexenhügel. Der Wagen parkte auf dem Platz vor dem kleinen Bastmatten-Carport, den sie in Anlehnung an südspanische Unterstände in diesem Frühjahr selbst gebaut hatte, um den Sommer auch nach Norddeutschland zu zwingen.
Sie wartete, bis Kurt-Heinrich und Eliane aus dem Wagen stiegen. Er trug einen sandfarbenen Sommeranzug und ein hellblaues Hemd mit Krawatte. Eliane warf die Autotür hinter sich zu und kam schnurstracks mit einem eingefrorenen Lächeln auf Magdalena zu.
»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Magdalena!« Sie umarmte sie so heftig, dass Magdalena zusammenzuckte und in leiser Theatralik stöhnte.
»Ist was mit dir?«, fragte Magdalena und schaute Eliane in die wasserblauen Augen, die noch genauso jungmädchenhaft glänzten wie vor mehr als 20 Jahren, als sie sich auf einer Veranstaltung des kleinstädtischen Heimatvereins kennengelernt hatten. Eliane, gerade 23 und als Volontärin für das Nomburgshauser Tageblatt anwesend und Magdalena als Frau des damaligen Chefredakteurs der Zeitung hatten sich sofort gefunden inmitten der Spießer, wie sie beide damals geringschätzig alle nannten, die sich für die Bewahrung der dörflichen Kultur engagierten. Heute gehörte sie selbst zu dem Dorf und war zahlendes Mitglied im Heimatverein. Damals aber war Magdalena auf den ersten Blick vernarrt in die blonde Eliane, die mit ihren zitternden Locken so filigran aussah, dass sich die dunkle Magdalena nicht erdverbunden und kräftig im Leben stehend, wie sie es heute gern benannte, sondern stämmig und derb vorkam.
»Nein«, zischte Eliane ihr ins Ohr, »mit mir ist überhaupt nichts.« Sie zog ihre feinen Augenbrauen hoch und rollte mit ihren himmelsschönen Augen. »Mit Kurt-Heinrich stimmt was nicht!« Sie blickte ihrem Mann mit zusammengekniffenen Augen und undefinierbarem Gesichtsausdruck entgegen.
Magdalena folgte ihrem Blick und Kurt-Heinrichs Bewegungen, der auf dem Weg zu ihnen stehen geblieben war und irgendetwas von seinem Sommerjackett entfernen zu wollen schien, und damit besonders auf dieses ungewöhnliche Kleidungsstück aufmerksam machte. Normalerweise trug Kurt-Heinrich in der Freizeit Jeans, die im Schritt etwas hingen, und darüber eines seiner farblosen Jacketts, mal beige oder fahlgrün.
Magdalena ging ihm entgegen. »Schick siehst du aus!«
Kurt-Heinrich beugte seine 192 cm zu ihr herunter und küsste sie mit gespitzten Lippen rechts und links auf die Wange. »Ciao, Bella«, lächelte er sie an und präsentierte eine völlig intakte Zahnreihe.
»Italienischkurs?«, fragte Magdalena.
»Wieso?« Kurt-Heinrich schien einen Moment irritiert, zeigte dann aber, dass er verstanden habe. »Ach so, nein. Ich war neulich auf der Möbelmesse in Köln und habe mit italienischen Kunden gesprochen.« Er strahlte sie an, und Magdalena wunderte sich wie fast jedes Mal, wenn sie Eliane und Kurt-Heinrich sah, dass diese zarte und ätherisch schöne Frau sich an einen so unerotischen, aber netten Kerl hatte vergeuden können. Wozu hatte der liebe Gott Eliane nur so attraktiv gemacht?
»Aha«, meinte Magdalena nachsichtig, und mit einem Blick auf den Sommeranzug, in dem ihr Kurt-Heinrich irgendwie verkleidet vorkam, schritt sie vor ihm her zu Eliane, die die mitgebrachten Blumen vor die Küchentür des kleinen Bauernhauses auf den Tisch gelegt hatte.
Eliane folgte Magdalena in die Küche, die direkt vom Garten aus zu betreten war. Kurt-Heinrich ließen sie draußen, er kraulte den roten Kater, der sofort angelaufen kam und ihm um die Beine strich.
»Er ist total komisch, er geht hoch bei jeder Kleinigkeit und ist irgendwie ungehalten.« Eliane drückte Magdalena achtlos ein mit dem Aufkleber einer Buchhandlung versehenes eingepacktes Buch in die Hand. »Wir haben uns, kurz bevor wir abfuhren, unglaublich gestritten, und ich habe rumgeschrien, Kurt hatte unbedingt noch einmal mit seinem Vertriebsmitarbeiter sprechen müssen.« Eliane nahm Magdalena das Buch wieder aus der Hand und begann es aus dem Papier zu reißen. »Über eine Viertelstunde.« Sie reichte Magdalena das ausgepackte Buch: »Hat mir gut gefallen.«
»Männer mit Verfallsdatum.« Magdalena drehte das Buch, um den Rückentext zu lesen. »Ich habe meine doch bereits lange vor der Ablaufzeit entsorgt«, stellte sie fest und blickte auf Kurt-Heinrich, der sich vor der Küchentür in einen Stuhl gesetzt hatte und mit hinter dem Kopf verschränkten Armen die Nase zum Himmel reckte und den Lässigen gab. »Das mit der Entsorgung ist natürlich nur bedingt richtig.« Das traf, wenn überhaupt, nur auf ihre Beziehung mit Ehemann Nr. 2 zu. Den hatte Magdalena verlassen. Aber nicht, weil er das Verfallsdatum überschritten hatte. Sie war es, die offenbar die von ihm gesetzte Altersgrenze hinter sich gelassen hatte. Seine damalige Geliebte und jetzige Frau war 15 Jahre jünger als sie. 35 Jahre heute. Nein. Sie war ja auch ein Jahr älter geworden, also war sie jetzt 36 Jahre. Zum Glück wurden die anderen auch älter. Sie hatte Hans II. verlassen müssen, weil er sich eine Jüngere genommen hatte. »Er war es doch im Grunde, der mich ›entsorgt‹ hat«, räumte Magdalena ein.
Eliane winkte ab. »Unsinn, du weißt doch, wie er anschließend bei mir rumgewimmert hat und dich wiederhaben wollte.« Sie nahm Magdalena das Buch wieder aus der Hand. »Vielleicht habe ich einfach mal wieder nur an mich gedacht.« Sie schaute auf Kurt-Heinrich, wie er salopp die Füße auf einen Stuhl legte. »Oder vielleicht an Kurt-Heinrich.«
Magdalena nahm Eliane das Buch aus der Hand und versicherte ihr, sie lese auch Bücher, die über ihre augenblickliche Gefühlslage hinauswiesen, wenn sie denn lustig seien. Wie es denn weitergegangen sei mit der Auseinandersetzung. Sie setzte den Topf mit der Estragonsuppe auf den Herd und stellte die Platte an. »Ein Telefonat mit einem Vertriebsmitarbeiter ist doch kein Grund für einen so anhaltenden Zorn.«
»Kein Grund?« Eliane riss ihre Augen auf. »Es geht doch darum, dass er eigentlich in der letzten Zeit immer so herablassend mit mir umgeht. Ich stehe da rum und warte auf ihn. Habe mich abgehetzt, um Kurtilein bei Kurt-Heinrichs Mutter abzugeben, damit wir rechtzeitig loskommen, und dann telefoniert er noch mit der Firma.« Eliane kniff die Lippen zusammen, was ihr einen etwas altjüngferlichen Ausdruck gab. »Und als ich zur Tür kam und gesagt habe, er soll jetzt endlich kommen, hat er mich mit einer herrischen Handbewegung des Zimmers verwiesen.« Eliane machte vor, wie er sie mit der Rückhand aus dem Arbeitszimmer gewedelt hatte. »Das ist doch die Höhe. Und anschließend kommt er raus und wird laut.«
»Laut? Kurt-Heinrich?«
»Ja, laut.« Elianes Zorn war auf einmal erschöpft. Sie setzte sich auf den Küchenstuhl und sah Magdalena zu, wie sie in der Suppe rührte. »Ich gehe ihm auf die Nerven. Meine Gegenwart ist ihm zu viel.«
»Eliane, was redest du da. Kurt-Heinrich kann froh sein, dass er dich hat.«
»Hans konnte auch froh sein, dass er dich hatte«, erwiderte Eliane und zog die Lippen wieder kraus.
*
Rudolf öffnete die Gartentür, und Klara schritt voran, mit schräg gelegtem Kopf und angedeutetem Lächeln. Sie ging gemessenen Schrittes auf Magdalena zu, die ihr mit ausgebreiteten Armen entgegenkam.
»Gut siehst du aus, Klara«, sagte Magdalena und küsste sie auf beide Wangen.
»Du aber auch«, erwiderte Klara und lächelte weiter.
Man hätte Klara überall hinstellen können, sie sah immer perfekt aus. Eine gepflegte Dame, hätte Magdalenas Mutter gesagt. Sie war selbst berufstätig und erfolgreich als Leiterin der Fremdsprachenabteilung der Kreis-Volkshochschule Nomburgshausen. Als Rudolf sich selbstständig gemacht hatte, hatte sie sogar anfangs das Büro mit organisiert und alles gemanagt. Trotzdem machte sie immer den Eindruck auf Magdalena, als sei sie nichts weiter als die elegante Gattin von Rudolf.
»Ein toller Stoff«, nickte Magdalena anerkennend und strich Klara mit der Hand über die schmeichelhaft fallenden Falten der weißen Seidenbluse, die geradezu unverschämt beiläufig in eine schmal geschnittene Hose aus Baumwolle gesteckt war.
»Ach, das ist ein ganz altes Stück«, wehrte Klara ab und winkte Rudolf an ihre Seite, damit er Magdalena die Weinflasche in die Hand drücken konnte.
Rudolf umarmte Magdalena mit der Flasche in der Hand und drückte sie an sich. »Na, alles im grünen Bereich?«, fragte er und hielt sie einen Moment an seinen Bauch gedrückt. Rudolf war nicht dick, er hatte die gesunde Massigkeit eines selbstbewussten Mannes, der Erfolg für selbstverständlich hielt.
Magdalena genoss diese Umarmung und wie um sich aus dem unerwarteten Gefühl zu befreien, klopfte sie ihm freundschaftlich auf den Brustkorb und lehnte sich zurück: »Alles im oberen Bereich«, nahm Magdalena seine Floskel auf, und vorbei war es mit ihrer erotischen Anwandlung. Rudolf hatte eine versteckte animalische Ader, aber seine locker vorgebrachten Belanglosigkeiten ernüchterten sie jedes Mal aufs Neue.
»Hier, für den immerwährenden 49sten. Klara hat ihn ausgesucht.« Er drückte ihr eine Flasche in die Hand. Rudolf trank Bier und hatte nicht vor, jemals irgendwas anderes zu trinken, nur weil die Leute in seinem Alter anfingen, Ciao zu sagen und Apérol als Aperitif und zum Essen Rotwein zu trinken. Dabei war er sicher von ihnen allen derjenige, der sich einen guten Rotweinkeller würde zulegen können.
»51, Rudolf«, korrigierte Magdalena ärgerlich. Den freundlich vorgebrachten Scherz verstand sie eher so, als dass eine Frau auf keinen Fall über 50 werden sollte. »Meinst du, dass 50 Jahre kein Alter mehr ist für eine Frau?« Magdalenas Ton war etwas spitz geraten.
»Das beste, Magdalena, schau auf Klara.« Und mit dem Stolz eines Mannes, der weiß, was wertvoll und gut ist, legte er Klara den Arm um die Schulter und presste mit seiner Hand ihren Oberarm, dass sie sich an ihn lehnen musste.
Klara lächelte und sagte nur: »Rudolf«, als sei sie schüchtern. Vielleicht ist sie sogar schüchtern bei solchen Berührungen, dachte Magdalena.
Klara befreite sich aus der Umarmung und lächelte Rudolf an. Es war ihr unangenehm, aber sie liebte es, wenn er mit dieser Selbstverständlichkeit an ihrer Seite stand: »Die Flasche solltest du zur Seite stellen und einmal zu einer ganz besonderen Gelegenheit mit jemandem trinken«, sagte sie.
Magdalena rollte dankbar mit den Augen und trug die Flasche an Eliane und Kurt-Heinrich vorbei in die Küche. Ein Blick auf das Etikett der Flasche, die mit einer albernen Folie verpackt war – Aloxe-Corton – gebot ihr, den Wein ganz hinten auf ihrem Küchenschrank zu platzieren, damit auf keinen Fall ein Malheur passierte. Währenddessen begrüßten sich die beiden Paare im Garten. Magdalena versank einen Moment in diesen Anblick und fühlte sich glücklich, Freunde zu haben, mit denen sie seit vielen Jahren etwas gemeinsam hatte. Sie aßen zusammen und freuten sich, dass sie diese Gemeinschaft hatten.
Kurt-Heinrich und Klara gingen nebeneinander an ihren Rabatten vorbei. Die beiden waren mit Magdalena in die Schule gegangen, alle drei hatten sie im selben Jahr das Abitur gemacht. Kurt-Heinrich war erst in der zehnten Klasse dazugestoßen, weil er sie wiederholt hatte. Eliane und Rudolf standen an dem Gartentisch vor der Küche und unterhielten sich, als Magdalena mit dem Prosecco in der Hand aus der Küche kam. Kurt-Heinrich übernahm das Öffnen der Flasche, während Magdalena zum Gartentor ging, vor dem ein alter Kastenwagen hielt.
*
Dieter kam mit dem ihm eigenen gelangweilt wiegenden Schritt in seinen Las Vegas-Stiefeln zum Gartentor geschlendert: »Hallo, altes Haus, Magdalena, auch auf dem Weg zur 60?«
»Immer charmant, mein Lieber! So macht man sich Freunde!« Magdalena umarmte ihn und schaute über die Schulter auf Mechthild, die halb entschuldigend, halb zustimmend mit einem Blumenstrauß in der Hand grinsend hinter Dieter stand.
»Fürs Leben. Man ist ihm danach verfallen«, lachte Mechthild. Und als ob sie sich erinnerte, dass nicht alle so begeistert von Dieter waren wie sie, schob sie nach: »Jedenfalls ich.« Sie gab Magdalena, die Dieter losgelassen hatte, den Blumenstrauß. »Mein Schicksal.«
»Kommt rein, wir wollen auf meinen Geburtstag anstoßen.«
»Gibt’s noch was anderes zu feiern?«, fragte Mechthild auf dem Weg zu den anderen, die ihnen mit den Proseccogläsern in der Hand entgegensahen. Rudolf winkte mit einem Bierglas. Sie sah Magdalena von der Seite an. Die beiden kannten sich noch nicht ganz so lange wie die anderen, aber Mechthild hatte einen scharfen Blick und kannte Magdalena aus ziemlich vielen Gesprächen.
»Ja.« Magdalena hakte sich bei Mechthild ein und zog sie an sich heran. »Wie kommst du darauf?«
»Na, du hast doch letzte Woche schon solche Andeutungen gemacht«, meinte Mechthild, »ich vergesse nichts. Also hast du angenommen?«
»Ja, ich mache das. Aber sei ruhig. Ich erzähl das später selbst. Sozusagen als Nachtisch.«
Dieter stand bereits neben Rudolf, seinem alten Freund. Die beiden hatten sich in einem ökumenischen Jugendlager auf Baltrum kennengelernt. Dieter hatte schon als Jugendlicher Musik gemacht und betreute die Gruppe, in der Rudolf war. Die drei Jahre Altersunterschied machten kurze Zeit später schon nichts mehr aus. Sie waren befreundet und hatten sich seit dieser Zeit nicht mehr aus den Augen verloren. Und heute, da Altrocker Dieter nur noch ein Jahr bis zu seinem 60. Geburtstag hatte, war sein Freund Rudolf mit seinen 56 der Ältere geworden. Es schien, als fühlte er Verantwortung für ihn, und so kümmerte er sich um Dieter. Rudolf hatte etwas übrig für Dieters Lebensweise. Anfangs engagierte er ihn für seine Betriebsfeste und Geburtstagsfeiern, später vermittelte er ihm auch andere Aufträge.
»Wie läuft’s, Dieter?«, fragte Rudolf und setzte sein Bier an.
»Geht so«, stimmte Dieter in den Talk ein. Magdalena wusste von Mechthild, dass es eigentlich gut lief bei Dieter. Trotzdem hatte er in all den Jahren nie gewagt, hauptberuflich Musik zu machen, sondern immer noch weiter seinen kleinen Importhandel mit spanischen Weinen betrieben. »Nächste Woche fahre ich für vier Wochen nach Navarra.«
»Kannst du denn in der Ernteperiode so lang wegfahren, Mechthild?«, fragte nun Klara verwundert.
Mechthild zuckte wie unangenehm berührt mit den Schultern und setzte an, aber Rudolf in seiner lauten Art kam ihr zuvor: »Mensch, Didi, wenn ich Wein trinken würde, würd’ ich dich mal begleiten.«
Mechthild lachte sich ihre Verlegenheit weg und erklärte, während sie nach einer Zigarettenschachtel kramte, sie hätten sich entschieden, dass Dieter schon jetzt fahre und ein bisschen länger bliebe als geplant. Sie würde während dieser Zeit vielleicht ein Wochenende zu ihrer Mutter an die Nordsee fahren. Der gemeinsame Urlaub im Spätherbst sei gestrichen. Dieter sei so für seine Einkäufe ungebunden und doch insgesamt freier.
»Was soll das denn?«, fragte Magdalena rundheraus.
»Ja, ich weiß nicht. Es ist besser so, und ich sollte eigentlich unbedingt schauen, wie es meiner alten Freundin Rosi geht.« Sie sah sich suchend um, und mit der Frage nach einem Aschenbecher ging sie in Richtung Küche am Gartentisch vorbei, auf den Magdalena für ihre rauchende Freundin einen Aschenbecher gestellt hatte.
Magdalena folgte ihr: »Habt ihr Probleme?«
»Nein, Magdalena, haben wir nicht. Alles gut – würde meine Nachbarin sagen. Aber – er hat mich nicht richtig gefragt, ob ich mit will.« Sie steckte sich eine Zigarette an und nahm einen Zug, der wie ein Seufzer klang.
»Andere Paare planen doch auch gemeinsam. Was willst du denn eigentlich?«
»Ich will, dass er mich fragt und sagt, dass ich mit ihm fahren soll. Nicht, dass er nur sagt, wenn ich wolle, könne ich mitkommen.«
Magdalena verstand das, das war das alte Thema. Dieter und Mechthild hätten, wären sie verheiratet, in diesem Jahr Silberhochzeit. Und die gestandene Gärtnerin Mechthild mit ihrem eigenen Unternehmen und Hofladen und mit ihren jetzt 49 Jahren war immer noch verliebt in ihren in die Jahre gekommenen Dieter. Aber Magdalena war der Meinung, dass die beiden diese Art von Beziehung überstrapazierten. Die alte Prinzessin und der vergreiste Prinz, der nicht willig war, sie zu küssen, weil er seine Freiheit in den Las Vegas-Stiefeln verteidigen wollte.
»Ihr seid ein kompliziertes Paar«, fand Magdalena zum wiederholten Mal und umarmte Mechthild. »Los raus, ich will nicht, dass du in meiner Küche rauchst.«
*
Sie hingen in der Abenddämmerung in ihren Gartenstühlen und schauten auf den Mond, dessen Form sich am hellen Himmel abzeichnete. Die Sonne war hinter dem kleinen Wäldchen, das die Sicht auf das Dorf versperrte, untergegangen, und sie waren ein wenig müde vom Essen. Der Abend gehörte zu den wenigen im Jahr, an denen man so lange draußen sitzen konnte, und sie genossen das. Sie hatten über dies und das gesprochen. So nannte es Magdalena. Sie hatten kein bestimmtes, gemeinsames Interesse, sie hatten auch keine weiteren Vorlieben, die sie teilten und das Leben aller berührten. Sie waren sich einfach vertraut durch die gemeinsame Zeit. Deshalb waren sie sich, ohne je ein Wort darüber verloren zu haben, einig, dass sie nicht über komplizierte Dinge sprechen wollten. Komplizierte Themen – auch da schienen sie sich einig – waren Politik, Geld, persönliche Schwierigkeiten und alle öffentlich bearbeiteten Streitthemen. Sie wollten nicht Position beziehen und sich gegenseitig bekehren. Daher blieben sie bei unverbindlichem Geplänkel, frotzelten über sich selbst und ließen mögliche Konfliktpunkte aus. Sie hatten einen gemeinsamen Ton gefunden, der vertraut war, ohne dass sie über vertrauliche Dinge sprachen.
Vielleicht liegt es gerade daran, dass wir so gut miteinander auskommen?, sinnierte Magdalena, bevor sie sich aufraffte, um einen Kaffee zu kochen.
»Will jemand einen spanischen Trester zum Espresso?«, fragte sie, als sie mit dem Tablett mit den kleinen Espressotassen zurückkam. Die Flasche hatte sie bereits mitgebracht, denn auch das gehörte zu ihren Gepflogenheiten: Zum Abschluss des Essens gab es einen Grappa. »Ich habe einen sogenannten Damentrester von Dieter zum Geburtstag bekommen.« Dieter hatte ihr schon vor einigen Tagen alle kulinarischen Dinge, die er zum Geburtstagsessen beisteuern konnte, vorbeigebracht und ihr den Trester geschenkt.
»Zum Wohl.« Rudolf saß Magdalena gegenüber und gab freundlich den Ton an. Ihr gefiel seine Art, er wusste, was er wollte, und er gefiel sich selbst.
»Zum Wohl«, antwortete Magdalena.
»Ja, zum Wohl«, wiederholten die anderen und nippten an ihrem Trester.
Magdalena lehnte sich zurück: »Ich werde ab September für die Online-Eheberatung der Nordelbischen Landeskirche arbeiten.«
Sie freute sich über die Überraschung, die das auslöste. Eine Sekunde lang, die sie genoss, waren alle still, und dann versuchte sie sich zu orientieren: »Alle Achtung«, kam von Rudolf, Kurt-Heinrich nahm seine Brille ab und markierte den Verblüfften, indem er die Unterlippe vorschob, Eliane neben ihr fragte: »Echt?«, Mechthild lachte und schlug Klara dabei auf die Schulter, die schüttelte den Kopf und fragte vorgebeugt, wie sie denn daran komme?, und Dieter sprach aus, was Magdalena sich auch gefragt hatte.
»Was qualifiziert dich denn dazu? Willst du wieder was dafür tun, die Scheidungsrate zu erhöhen?« Er lachte.
Magdalena legte den Kopf in den Nacken und schaute in den dunkelblauen Himmel, dessen Kuppel sich über ihnen und dem Garten spannte, und in den milchig verhangenen, nahezu vollen Mond, der auf seiner Bahn gerade über dem Kirschbaum angekommen war. »Ich weiß nicht.« Die allgemeine Heiterkeit irritierte sie doch mehr, als sie gedacht hatte. Und so fiel sie in den Ton mit ein. »Immerhin weiß ich, worum es geht, Dieter!«
»Das stimmt!«, stimmte Eliane entschieden ein. »Dieter kann ja im Grunde gar nicht mitreden.«
»Wilde Ehe war nicht die schlechteste Entscheidung, oder?« Er tätschelte Mechthild den Unterarm. »Nicht wahr, Mechilein. Sonst wären wir vielleicht auch schon geschieden, und du würdest heute Eheberatung machen.« Mechthild lachte und küsste Dieter auf die Wange. Er freute sich über seinen Beitrag und wartete auf den Moment, in dem er sein nächstes Bonmot loswerden konnte.
Rudolf trank sein Bier, sagte nichts und schaute sanft auf seine Frau Klara. »Ich finde es gut, dass du das machst, Magdalena. Wie wird es denn honoriert?«
»Nicht übermäßig, aber regelmäßig.« Magdalena freute sich über Rudolfs Sachlichkeit. Abgesehen davon, dass es ihr natürlich bei allem, was sie machte, immer auch ums Geld ging, hatte sie sich die Entscheidung nicht leicht gemacht, diese Sache anzunehmen, an die sie durch Zufall geraten war. Und das regelmäßige Einkommen war ihr wichtig. »Ich komme dann jedenfalls selbst gut über die Runden.«
Seit ihrer zweiten Scheidung von Hans II. vor vier Jahren arbeitete sie als freie Mitarbeiterin für das Nomburgshauser Tageblatt, ein Kopfblatt der überregionalen Ausgabe, für das sie ebenfalls ab und zu Artikel schrieb. Franz I., mit dem sie auch nach der Scheidung nie Streit gehabt hatte, hatte ihr das Angebot gemacht, zu den üblichen Konditionen als Freie zu arbeiten. Die lächerlichen 10 Cent pro Zeile und 12 Euro für ein Foto machten das Leben aber nicht wesentlich leichter, und sie musste für ihre Beiträge und Geschichten ganz schön um die Häuser ziehen.
»Dann kann Hans ja sein Kleinkind standesgemäß aufziehen«, schlussfolgerte nun Eliane bissig. Hans II. steckte jetzt mit seiner jungen Frau in einer neuen Kleinfamilie mit einem dreijährigen Sohn, auf den der ergraute Mittfünfziger unglaublich stolz war.
»Wie kommst du denn darauf, dass ich Unterhalt von Hans bekomme?« Magdalena zuckte mit den Schultern und schüttelte den Kopf. Dass ihre Freundin so weltfremd war und annehmen konnte, sie hätte für diese zweite Ehe Anspruch auf Unterhalt, selbst wenn sie ihm den Haushalt zur vollen Zufriedenheit geführt hätte, erstaunte sie.
»Ich dachte, möglicherweise als Schmerzensgeld«, lenkte Eliane ein und rollte mit den Augen. Sie war noch während ihres Volontariats bei der Zeitung schwanger geworden, hatte Kurt-Heinrich geheiratet und war im Grunde nach dem Studium nie berufstätig gewesen. »Wie soll ich das denn auch machen mit drei Kindern?«, hatte sie immer gejammert, und nun, da die drei groß waren und auch der dritte, Florian, bald Abitur machen würde, konnte sie auch nicht, wie sie es vorher geplant hatte, »wieder irgendwas machen«, weil ihr Kurtilein nachgekommen war und sie die ganze Kinderleier, wie sie es nannte, jetzt wieder vor sich hatte.
»Darfst du denn als geschiedene Frau überhaupt bei der Kirche arbeiten?«, fragte nun Klara, »bei uns an der VHS interessiert das ja niemanden, aber bei der Kirche?«
Nun erhob sich ein allgemeiner Tumult, dass es sich ja nicht um die katholische Kirche, sondern die evangelische handle, da dürften Frauen nicht nur richtig professionell mitmischen, wie Dieter das nannte, sondern auch – wenn’s denn beliebt auch mehrfach – geschieden sein.
»Ob du mit deinen Liebschaften und Trennungen das richtige Vorbild bist, wäre dann nur noch eine profane Frage der beruflichen, nicht aber der moralischen Qualifikation.« Dieter schien wieder mit sich zufrieden zu sein, lehnte sich zurück und blickte Magdalena freundlich über sein Weinglas an.
»Ich weiß mittlerweile in meinem vorgerückten Alter aber genau, wann ich was falsch gemacht habe. Vielleicht wäre ich mit Franz I. heute noch zusammen, statt für ein Zeilenhonorar für seine Zeitung zu arbeiten.« Sie hatte heute ein gutes Verhältnis zu Franz Maurer, ihrem ersten Mann, den sie mit 39 Jahren nach 16 Jahren mit ihren Zwillingen hatte verlassen müssen. Sie hatte sich Hals über Kopf verliebt und beichtete ihm ein halbes Jahr später das Verhältnis. Bald danach war es mit der Verliebtheit vorbei, aber auch mit Franz. Der konnte ihr nicht verzeihen und lebte seitdem allein. »Wollt ihr denn nun wissen, wie ich an diesen Job gekommen bin?«
Kurt-Heinrich, der seinen Stuhl ein wenig vom Tisch, der mit Kerzen beleuchtet war, zurückgezogen hatte, um sein Bein angewinkelt auf dem anderen ruhen zu lassen, hatte sich an dem Gespräch nicht beteiligt. Plötzlich stand er auf und zog sich in den Schatten der Bäume zurück. Magdalena sah, wie Eliane einen ärgerlichen Blick in die Dunkelheit warf, und begann ihre Geschichte zu erzählen. Sie fürchtete ein wenig um die Stimmung, die sich zwischen Kurt-Heinrich und Eliane über den Abend ihrer Ansicht nach ganz gut gehalten hatte. Sie saßen nicht nebeneinander, und die anderen hatten mit Sicherheit von dem Zwist der beiden nichts mitbekommen. Außerdem wollten sie alle solche Dinge nicht sehen. Ihre Treffen waren dazu ausersehen, dass es ihnen gut ging, und niemand hatte je die Stimmung gestört. Magdalena wunderte sich daher über Kurt-Heinrich. Er interessierte sich offenbar nicht für die erstaunliche Wendung in ihrem Leben, und Magdalena fühlte sich ein wenig gekränkt.
»Es ging über Beziehungen«, erklärte sie den anderen. »Endlich habe ich auch einmal von einer Beziehung profitiert«, flachste sie. »Eine Freundin aus Hamburg, die als Psychologin in der Eheberatung der Diakonie arbeitet, hat mich gefragt, ob ich das machen will, weil ich doch schreiben könne. Ich kenne sie seit 15 Jahren, seit ich an der Fernuni Hagen Psychologie studiert habe. Also: Was meine Qualifikation angeht, liebe Leute: Außer dem kurz vorm Examen abgebrochenen Fern-Studium habe ich noch die anderthalb Jahre Meditation und Heilung bei der Kirche gemacht!« Magdalena griff unter ihre imaginären Hosenträger, spannte sie vor ihrem Busen und drehte ihren schönen Oberkörper in der Geste des Stolzes von links nach rechts.
»Na, dann ist ja alles in Ordnung«, meinte Dieter und goss sich noch einmal Wein nach. »Mechilein, du fährst doch, oder?« Die überflüssige Frage beantwortete Mechthild: »Como siempre, Dietero!«
In diesem Moment kam Kurt-Heinrich zurück. Eine Hand steckte in der Hosentasche.
»Na, im Freien beflügelt doch«, rief Rudolf Kurt-Heinrich entgegen, als er wieder aus dem Schatten zu ihnen trat.
»Ja«, grinste Kurt-Heinrich dankbar und setzte sich wieder zu ihnen an den Tisch.
Eliane hatte sich vorgenommen, wortlos zurückzufahren. Kurt-Heinrich hätte gut fahren können, er hatte kaum etwas getrunken. Aber es war ihre gemeinsame Gewohnheit, dass sie fuhr, wenn sie irgendwo eingeladen waren. Das tat sie seit fast 20 Jahren. Sie war ja, wie sie immer sagte, ununterbrochen schwanger gewesen und hatte ohnehin keinen Alkohol trinken können. Da war es einerlei. Verbissen blickte Eliane auf die leere Landstraße, Kurt-Heinrich saß neben ihr und lehnte sich mit geschlossenen Augen zurück, als sei er müde. Der Weg war nicht weit bis Nomburgshausen, dem Städtchen, zu dem die verschiedenen Dörfer gehörten, in denen sie und ihre Freunde wohnten.
Als Kurt-Heinrichs Handy sich mit einem kleinen Flupp aus der Hosentasche bemerkbar machte und er sich lediglich zur Seite wandte, um in das Dunkle des vorbeiziehenden Waldes zu schauen, konnte sie sich nicht mehr zurückhalten.
»Gibt es eigentlich nichts Wichtigeres in deinem Leben?«, zischte sie und warf sich im gleichen Moment vor, eine haltlose Hexe zu sein, haltlos, weil sie es nicht geschafft hatte, den Mund zu halten, wie sie es vorgehabt hatte, und Hexe, weil sie es nicht fertigbrachte, in einem sozialverträglichen Ton zu sprechen.
»Wieso, was meinst du?« Kurt-Heinrich stockte.
Eliane wollte nicht antworten, hielt es aber nicht länger aus als bis zur nächsten Kurve.
»Wieso, was ich meine? Deine Firma.«
Er atmete hörbar aus und lehnte sich im Sitz zurück.
»Was grinst du denn so blöd?«, fauchte sie ihn an, denn im Scheinwerferlicht eines einsamen entgegenkommenden Wagens sah sie sein zufriedenes und entspanntes Gesicht, was sie erst recht aufbrachte. »Willst du denn nicht endlich nachschauen?«
»Wieso, was meinst du?« Er machte ein verständnisloses Gesicht, das sie jedoch ohnehin nicht sehen konnte, weil es dunkel war, und sie versuchte vorzugeben, sich auf die Straße zu konzentrieren.
»Wieso, was meine ich«, äffte Eliane ihn nach. »Dein Scheiß-Handy natürlich.«
»Meine Güte. Mir ist es doch gar nicht wichtig. Enno hatte nur versprochen, sich kurz zu melden, wenn er in München das Gespräch und Abendessen mit Schniederhus und Hansen hinter sich hat.« Sein Ton war gereizt.
»Meine ich doch. Immer die Firma, irgendwelche Schniedelwutz und Fransen, Beschläge und deine Scheißtermine.«
»Meine Scheißtermine erhalten uns am Leben«, antwortete Kurt-Heinrich eine Spur zu sanftmütig.
»Aha.« Eliane biss die Lippen zusammen. Sie drehte den Rückspiegel nach unten und betrachtete ihren Mund.
»Ich sehe aus wie eine alte Jungfer«, lenkte sie unvermittelt ein und schaute schnell zur Seite zu Kurt-Heinrich.
Er erwiderte ihren Blick bewegungslos und korrigierte wortlos den Rückspiegel.
»Du bist auch der Meinung!« Sie spitzte ihren Mund wieder und gab Gas.
»Unsinn«, erwiderte Kurt-Heinrich leidenschaftslos und griff in die Hosentasche an sein Handy. Es fühlte sich warm an.
*
Einige Tage später stand Eliane in der warmen Morgensonne vor der Schule, Kurtilein neben sich. Es war der laute Lärm von Kindern, der aus der Entfernung an Sommer und Badeanstalt erinnern konnte. Eliane aber stand mitten in der Menge der Mütter und Väter und Großeltern von 38 Kindern, die heute in der zuständigen Grundschule ihres Stadtgebietes eingeschult wurden. An der einen Hand hielt sie Kurtilein, in der anderen eine Schultüte. Kurtilein hatte sich geweigert, die Tüte zu nehmen, und hatte sich in sein Kinderzimmer zurückziehen wollen. In Eile, weil Florian, ihr dritter Sohn, seine Sportsachen nicht fand, die sie in einem Anfall am frühen Morgen in die Waschmaschine gesteckt hatte, nachdem sie sie im Flur hinter der Bank als Ursache des fauligen Gestanks ausgemacht hatte. »Wir haben heute Sprinten«, tobte ihr athletischer Sohn, und er wolle nicht in dieser albernen engen Turnhose, die sie ihm als Alternative anbot, losgehen. So hatte er sich die noch feuchte Hose gegriffen und ihr zugerufen, es sei ihre Schuld, wenn er keine 15 Punkte in Sport bekomme.
»Du hast ja einen Knall«, rief seine Mutter ihm hinterher, aber er hörte es nicht mehr. Kurtilein, da er nun eine Weile nicht im Mittelpunkt gestanden hatte, nutzte die angespannte Situation, um sich zu verweigern, und hatte es abgelehnt, die doofe Schultüte zu tragen.
Der Hof war voll von Kindern, ängstlichen und neugierigen, lauten und leisen, fröhlichen und grimmigen. Alle, so unterschiedlich sie sich fühlen, haben wahrscheinlich recht, sinnierte Eliane. Es kann eine schöne Zeit werden in der Schule. Sie fühlte sich an ihre eigene Schulzeit erinnert, und ein Gefühl von Wehmut überkam sie. Sie hatte ein so großartiges Abitur gemacht.
»Und nun? Wofür«, fragte sie sich und schaute auf ihren kleinen Kurt.
»Dafür!«, antwortet Kurt seiner Mutter und zog sie vorwärts.
Eliane lächelte ihren Sohn an: »Ja, dafür! Komm, da hinten sind Oskar und Marile.« Sie gingen auf die kleine Gruppe zu, Oskar und Marile hielten ihre mit Glitter versehenen Schultüten im Arm. Kurt forderte nun seine eigene Tüte wieder ein und lief zu den Kindern, die er aus dem Kindergarten kannte. Marile entlockte ihrer pinkfarbenen zur Begrüßung einen bizarren Sound.
Es war das vierte Mal, dass Eliane solch einen Einschulungstag hinter sich brachte. Aber an diesem Tag war sie ohne Kurt-Heinrich hier. Der war bereits um fünf aufgestanden und zu einem Auswärtstermin ins Hessische gefahren. Er würde erst in drei Tagen wiederkommen. Das hatte er ihr erst gestern Abend mitgeteilt.
»Du wusstest doch, dass Kurts Einschulung ist. Wie kannst du nur etwas anderes auf diesen Termin legen!« Eliane war außer sich gewesen. Den modernen Aufmarsch, mit Großeltern in der Schule einzufallen und anschließend mit der gesamten Blutsverwandtschaft ein großes Essen zu veranstalten, hatten weder Eliane noch Kurt-Heinrich mitmachen wollen. Die Mutter von Kurt-Heinrich war nicht mehr »gut zu Fuß«, wie sie oft klagte, und als die drei älteren Kinder eingeschult wurden, hatte es noch nicht diese ausufernden Veranstaltungen um diesen, wie sie fand, ganz normalen Vorgang gegeben. Warum sollte sie Kurtilein bevorzugen, er wurde ohnehin verzogen. Aber dass Kurt-Heinrich einen Geschäftstermin auf diesen Donnerstag gelegt hatte, von dem er erst am Samstag zurückkommen würde, empörte sie so, dass es die große Vase gekostet hatte. Sie hatte ihr Bettzeug genommen, war über die Scherben gestiegen und ins Gästezimmer gezogen. »Kurt ist schließlich auch dein Sohn!« Damit hatte sie die Tür geknallt und eine Stunde geheult, bis sie endlich einschlief.
So kam sie sich fremd vor in der Umgebung aufgeregter Familien, die alles, was sie sahen, fotografierten. Nachdem die Kinder der zweiten Klasse mit ihrer Lehrerin als Vorturnerin einen bizarren Tanz aufgeführt hatten, ging es in die Klassenräume der Kinder und in die zweite Runde der Fotografiererei. Wieder auf dem Schulhof ging Eliane mit ihrem Sohn zu einem Tapeziertisch, an dem die Eltern der Zweitklässler ein Frühstücksbüffet errichtet hatten. Hinter ihnen wurde auf Tafeln des Fördervereins für neue Mitglieder geworben.
Eliane trank einen Kaffee, und über die Köpfe der Kinder fing sie den Blick eines Vaters auf. Attraktiv – schoss es ihr durch Kopf, und sie musterte ihn weiter. Der Mann bewegte sich langsam auf sie zu, und mit dem leichten Anflug eines Lächelns um die Mundwinkel wirkte er doch tatsächlich erotisch auf sie. Ungewöhnlich für einen Vater, dachte Eliane weiter und verfolgte den Mann, der wahrscheinlich doch kein Vater war, denn im Gegensatz zu ihr hatte er kein Kind bei sich. An ihrer Hand zog jetzt Kurtilein. Er wollte zu der Gruppe, die sich um Marile gebildet hatte, weil sie auf ihrer Sound-Schultüte zur Begeisterung von Oma und Opa Geräusche produzierte. Sie leistete einen Moment Widerstand und versuchte, den Blick des erotischen Nicht-Vaters in leichter Vorlage festzuhalten. Da traf es sie mit voller Wucht: Der Mann hatte gar nicht sie im Blick gehabt, sondern die blonde, 35-jährige Grundschullehrerin, die ihrem Kurt nun Lesen und Schreiben beibringen würde. Sie hatte direkt hinter ihr gestanden. Beschämt über ihren Irrtum senkte sie die Augen und folgte Kurtilein zu Mariles Großfamilie.
»Ja, es ist rührend, wenn ein Kind den Weg ins Leben antritt«, sagte die Mutter von Marile sanft und reichte Eliane ein Tempotaschentuch.
Eliane tupfte sich eine Träne ab und stimmte Mariles Mutter zu: »Du sagst es. Vor allem, wenn es das jüngste ist. Das ist besonders schön für das Mutterherz.« Sie schnäuzte sich laut und versuchte ihren Mund zu entspannen, damit sie nicht wie eine alte Jungfer aussah. Unvermittelt grinste sie Mariles Mutter unpathetisch an.
Es überkam sie Erleichterung, als sie Magdalena über ihre Schulter im Hintergrund des Schulhofs sichtete. »Kurtilein, ich bin gleich wieder da«, sagte sie zu ihrem Jüngsten, ließ die Gruppe stehen und stürzte auf Magdalena zu.
Magdalena hatte ihre große Digitalkamera umgeschnallt, denn sie war unterwegs für das Nomburgshauser Tageblatt, um über diesen Tag zu berichten. Drei Schulen in einem anderen Stadtteil und einem eingemeindeten Dorf hatte sie bereits hinter sich und war hier an der letzten Station.
»Magdalena, du bist meine Rettung!«, begrüßte sie Eliane. »Ich koche seit heute Morgen! Nein, eigentlich ist mein Kessel eben explodiert.«
»Was ist denn los?«
Eliane zuckte mit den Schultern und schüttelte den Kopf: »Verdammt, ich weiß es nicht.« Sie schniefte übertrieben. »Aber ich bin eben auf den Boden der Tatsachen geholt worden.«
Magdalena machte ein verständnisloses Gesicht.
»Meinst du, dass ich einen Liebhaber finden könnte?«, fragte Eliane sie und legte ihr die Hand auf den Unterarm.
»Natürlich«, meinte Magdalena lapidar. »Suchst du denn einen?« Sie hob ihre Kamera und machte ein Gesamtbild des Schulhofes und bewegte sich in Richtung der Fördervereinstafeln.
Eliane folgte ihr. »Ich habe nicht drüber nachgedacht bis heute. Aber – natürlich, natürlich will ich einen.«
»Ja, das wird aber Probleme mit sich bringen.« Magdalena zoomte die Fördervereinstafel heran.
»Sprichst du schon als Eheberaterin?«, fragte Eliane. »Das Hauptproblem ist wohl eher, einen zu finden.«
»Ach, das glaub ich nicht. So wie du aussiehst, werden sie bei dir Schlange stehen.«
Eliane schüttelte ihre blonden Locken. »Du glaubst nicht, wie erotisch so ein Siebenjähriger an der Hand eine Frau macht.«
Magdalena ließ die Kamera wieder sinken. »Aha!«
»Ein Siebenjähriger ist wie ein Keuschheitsgürtel für Mutti. Null Ausstrahlung.« Eliane atmete empört ein und erzählte von ihrer Schmach. »Dieser Mann hat mich gar nicht wahrgenommen. Luft!« Sie kramte nach Worten: »Erotisches Niemandsland ist so eine Mutter.« Und wie um das zu bekräftigen, zeigte sie auf die Frauen um die Mitte 30, die in ihrer unmittelbaren Umgebung standen. »Ach, die werden es auch noch erleben. Es ist nur eine Frage der Zeit.«
»Du bist ja wirklich gut drauf. Wo ist eigentlich Kurt-Heinrich? Im Klassenzimmer mit Kurtilein?«
»Im Hessischen mit … ich weiß nicht, mit Enno, seinem Vertriebsmitarbeiter wahrscheinlich.« Eliane schaute sich suchend nach Kurti um. »Kurt-Heinrich interessiert sich nur für seine Firma.«
»Er ist ja häufig weg in letzter Zeit.«
»Sag ich doch. Immer die Firma, was anderes kennt er nicht.«
Magdalena sah Eliane prüfend an: »Vielleicht hat er ja eine Geliebte?« Obwohl Magdalena dieser Gedanke völlig abwegig vorkam, rutschte er ihr heraus: »Weil wir ja grad beim Thema waren.«
Eliane lachte spitz und schnaubte. »Schön wär’s. Jeder Mann kann eine Geliebte haben. Aber doch nicht Kurt-Heinrich!« Ihr Gesicht machte deutlich, dass sie diese Vorstellung für absolut abwegig hielt. Sie sah Magdalena so überzeugt an, dass diese in das Lachen einstimmen musste, obwohl sie befürchtete, Eliane damit kränken zu können. Welche Frau hört schon gern, dass ihr Mann für unerotisch gehalten wird.
Plötzlich bekam sie doch Beklemmungen. Als Magdalena am Montag nach der Einschulung vor der Fassade des Gebäudes in Hamburg Altona stand, hielt sie sich für wahnsinnig. Wie sollte sie dieses Quasi-Einstellungsgespräch überstehen? Für sie war es kein Pro-forma-Gespräch, wie Mira, die Psychologin, gemeint hatte. Sie wollte, da sie sich nun entschieden hatte, diese Beratung zu machen, zumindest einen guten und kompetenten Eindruck hinterlassen. Da sie aber gerade daran immer noch zweifelte, fühlte sie sich wie ein Scharlatan.
»Du bist perfekt für diese Beratung, Magdalena«, hatte Mira vor einigen Wochen, als sie sich in Hamburg getroffen hatten, im Café Estoril auf der Osterstraße auf sie eingeredet. »Ich kenne dich doch schon so lange. Du bist lebenserfahren, hast psychologische Vorbildung«, sie wehrte mit einer energischen Handbewegung Magdalenas versuchten Einwurf vom Tisch und hätte dabei beinahe ihre Kaffeetasse mit erwischt. »Egal, ob Abschluss oder nicht. Du hast Erfahrung mit der Ehe!« Mira lachte und schlug sich auf die Oberschenkel. »Und du bist sensibel und kannst mit Menschen umgehen, die sich in ein religiöses Wertegefüge eingebunden fühlen.«
Bei dem Wort allein wurde Magdalena schon mulmig. Das war es ja gerade. Mira konnte mit diesen Begriffen und dem Gedankengut so en passant umgehen, für Magdalena war das eine fremde Welt, und sie vermutete, dass diese Welt sie genauso kritisch betrachten würde, wie sie diese. Halb geschmeichelt, halb abwehrend schüttelte sie den Kopf. Sie war zwar Mitglied der Kirche, aber aktiv hatte sie sich nie daran beteiligt und bezeichnete ihre Mitgliedschaft oft als Zufall, meist aber als Nostalgie.
Die aktive Mira hatte sie in einer Ausbildung »Meditation und Heilung« kennengelernt, einer offenen Gruppe, in der nicht nur hartgesottene Protestanten mitmachten. Magdalena hatte etwas für ihr inneres Gleichgewicht tun wollen, nachdem Hans II. sie gegen ein neueres Modell ausgetauscht hatte – wie sie die Kränkung, verlassen worden zu sein, sich selbst gegenüber meist flapsig verkleinerte. Mira, die Psychologin mit den überspannten Bewegungen, hatte ihren Stress bekämpfen wollen und gehofft, durch mehr innere Gelassenheit auch zu einer ausgeglichenen Körpersprache zu kommen. Beide waren nicht besonders erfolgreich, ihre ursprüngliche Absicht zu erfüllen, aber sie hatten sich gefunden. Allein dafür hatten sich die eineinhalb Jahre gelohnt, fanden beide und hatten sich seitdem nicht mehr aus den Augen verloren.