Ehrenmord - Schweden-Krimi - Björn Hellberg - E-Book

Ehrenmord - Schweden-Krimi E-Book

Björn Hellberg

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Beschreibung

Die Sommerfrische auf Bornholm wird von einem Mord überschattet: Wie jedes Jahr verbringt Sten Wall, ein älterer schwedischer Kriminalkommissar, seinen geruhsamen Urlaub auf der dänischen Ostseeinsel. Doch diesen Sommer ist die Entspannung schnell vorbei, als er von dem Mord an einem Staatsanwalt erfährt, den er von früheren Fällen her kennt. Und schon bald wird klar, dass Sten Wall selbst das nächste Opfer sein könnte. Während seine Kollegen in Schweden ermitteln, befindet er sich in größter Gefahr...Höchste Spannung und viel Lokalkolorit verspricht die beliebte 23-teilige Krimi-Serie um den sympathischen schwedischen Kriminalkommissar Sten Wall. Die meisten Fälle spielen in der fiktiven Stadt namens Stad in der südschwedischen Provinz Schonen. Bei SAGA Egmont sind die Bände \"Ehrenmord\", \"Mauerblümchen\", \"Todesfolge\", \"Grabesblüte\" und \"Quotenmord\" erhältlich.

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Björn Hellberg

Ehrenmord – Schweden-Krimi

Saga

Ehrenmord – Schweden-Krimi

Übersetzt Christel Hildebrandt

Coverbild / Illustration: Shutterstock Copyright © 2002, 2020 Björn Hellberg und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726445077

1. Ebook-Auflage, 2020

Format: EPUB 2.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk

– a part of Egmont www.egmont.com

Damals

Der Dieb

Er hatte gar keinen Revolver stehlen wollen, zumindest anfangs nicht.

Aber als sich so unverhofft die Gelegenheit bot, zögerte er nicht. Vielleicht würde er die Waffe ja irgendwann einmal brauchen können; wer konnte das wissen?

Der Junge hatte das Vereinshaus der Pistolenschützen erst betreten, als die internen Meisterschaften schon eine Viertelstunde lang in vollem Gang waren. Er hörte die Schüsse von der Mauer widerhallen, als er sich an das provisorische Bauwerk mit den beiden Umkleideräumen heranschlich. Das Gebäude sah aus wie ein umgekippter Würfelzuckerkarton. Es war wirklich kein Staat damit zu machen.

Er wusste, dass es normalerweise nicht verschlossen war. In diesen Kreisen vertraute man einander. Bei seinen Diebeszügen in der städtischen Sporthalle war er sehr erfolgreich gewesen, aber irgendwann hatten sich beim Hausmeister so viele Beschwerden angehäuft, dass die Aufsicht verstärkt wurde. Und die Sportler gingen inzwischen auf Nummer Sicher und nahmen ihre Wertsachen mit in die Sporthalle oder Sauna, da gab es nicht mehr viel zu holen. Vielleicht war seine Ausbeute hier ja besser.

Als er ins Haus trat, hörte er einen dumpfen Knall, der nicht von einer Waffe herrührte. Das Geräusch war natürlichen Ursprungs, und dem Jungen war sofort klar, dass jemand im Gebäude war. Er schlich vorsichtig weiter und sah das Besetztzeichen an der Toilettentür.

Sein erster Impuls war, Hals über Kopf zu fliehen. Er war bisher noch nie geschnappt worden, und dies sollte nicht das erste Mal sein.

Aber vielleicht schaffte er es ja doch noch, die Taschen der Hosen und Jacken zu durchsuchen, die an den Haken in dem kleinen Raum hingen. Er arbeitete fieberhaft, wurde aber nicht belohnt: Er fischte nur ein paar zerknüllte Taschentücher, ein Jo-Jo, zwei Bleistifte, eine leere Bonbondose und anderen Müll hervor. Davon nahm er nichts mit. Erst als er die Bänke in der Mitte des Umkleideraumes umrundete, entdeckte er den glänzenden Revolver, der zusammen mit einer Schachtel Munition auf der Bank gleich neben der Toilette lag.

Ohne zu zögern, nutzte der Junge diese Nachlässigkeit aus, schnappte sich den Fund und beeilte sich, aus dem Gebäude zu kommen.

Niemand sah ihn. Wie immer agierte er mit größter Vorsicht. Er hielt in alle Richtungen Ausschau, bevor er das Vereinshaus verließ. So aufgedreht, als hätte er gerade im Lotto gewonnen, erreichte er die Sicherheit der zentralen Straßen. Er wurde einer der vielen Anonymen, die sich im Zentrum drängten. Niemand beachtete ihn.

Er hatte das Diebesgut in einer Tüte verstaut und nahm Kurs auf seine Wohnung. Sein Vater würde wie üblich im Geschäft sein, also konnte er sich nach Hause trauen, ohne Gefahr zu laufen, gestört zu werden, wenn er seine Beute inspizierte.

Er wusste nicht besonders viel über Waffen und das Schießen, hegte aber ein breites Interesse für Sport. Hatte nicht ein Schwede namens Ragnar Skanåker vor kurzem bei den Olympischen Spielen in München vollkommen überraschend die Goldmedaille im Pistolenschießen gewonnen?

Wohlbehalten daheim, schloss der Junge sich in sein Zimmer ein und holte den Revolver hervor, wog ihn mit einem Gefühl der Macht in der Hand.

Er hatte so viele Möglichkeiten. Er konnte ihn beispielsweise verkaufen oder als Tauschobjekt benutzen. Oder – und dabei wurde ihm für einen Moment schwarz vor Augen – er konnte ihn auch selbst benutzen, für die Jagd oder in irgendeinem anderen Zusammenhang. Ja, warum nicht?

Aber noch nicht. Es war besser, erst mal Gras über die Sache wachsen zu lassen, den Revolver an einem so unzugänglichen Ort zu verstecken, dass niemand anderes ihn fand.

Er war stolz auf das, was er geleistet hatte. Niemand würde ihm auf die Schliche kommen. Es war ja nicht das erste Mal, dass er es geschafft hatte, ohne entdeckt zu werden; er war geschickt, so einfach war das, das hatte er schließlich schon früher bewiesen, als noch mehr auf dem Spiel gestanden hatte.

Jetzt

Der Planer

Er brannte darauf, die beiden Männer zu töten.

Er wollte es auf jeden Fall tun.

Der Gedanke an die Planung, die Durchführung und das zu erwartende Hochgefühl gaben ihm einen Kick. Schon jetzt. Und gewiss würde es noch besser werden.

Der bevorstehende Genuss versetzte ihn in eine gewaltige Erregung, ohne aber seine eiserne Beherrschung zu erschüttern.

Der Mann erhob sich aus dem abgewetzten Ledersessel. Rastlos lief er auf dem verschrammten Parkettboden hin und her, während er über Vorgehensweise und Zeitpunkte nachdachte.

Wen sollte er sich zuerst vornehmen?

Er überlegte, zauderte, wog Vor- und Nachteile gegeneinander ab. Erst einmal zündete er sich eine Zigarette an, schob sie in den linken Mundwinkel und rauchte sie, während er seinen Weg durchs Zimmer fortsetzte: vier Schritte entlang der Stirnwand, fünf Schritte die Längswand entlang.

Natürlich war es seine Pflicht, sie zu ermorden, alle beide. Es handelte sich hierbei schließlich um die Einhaltung eines gegebenen Wortes, um seine Ehre.

Er war keiner dieser gemeinen Wortbrecher. Auf ihn konnte man sich verlassen.

Dennoch sah er den sich selbst auferlegten Auftrag nicht als Zwang an.

Im Gegenteil.

Es war ein Vergnügen, genau so, wie es eine Pflichterfüllung war.

In dem Moment, als er die Zigarette im Aschenbecher ausdrückte, fasste er einen Entschluss.

Er wusste jetzt, wem die Ehre zuteil werden sollte, als Erster zu sterben.

Sein Puls hämmerte vor unterdrückter Spannung, und er meinte, den Schweiß unter den Achseln hervortreten zu spüren.

Er war bereit.

Worauf wartete er noch?

Number one, here I come!

Jan Carlsson

Der Kriminaloberinspektor Jan Carlsson genoss das Frühstück zusammen mit seiner Ehefrau Gun auf der kleinen Terrasse in dem blickgeschützten Garten hinter ihrem Haus. Die Sonne schüttete Junihitze über sie aus. Gun war vollständig angezogen, während er in seinem abgetragenen, blau gefransten Morgenmantel dasaß. An den Füßen trug er offene Sandalen.

»Na, heute Abend wirst du sicher etwas später als sonst kommen«, sagte sie eher feststellend als vorwurfsvoll.

Er hob seinen Blick von den Sportseiten der Zeitung. Seine Augen waren blaubeerfarben und klar wie Quellwasser. Ihnen war sie zuerst verfallen, als sie sich kennen lernten. Und immer noch konnten sie sie so anschauen, dass es in ihrer Magenkuhle kribbelte. Seine Haut war dagegen nicht so anziehend. Er hatte eine Reihe von Pickeln auf der Stirn, und Kinn, und die Wangen waren vernarbt.

»Dass ich für ein paar Wochen zum stellvertretenden Chef werde, bedeutet ja nicht zwingend, dass ich mehr arbeiten muss als sonst«, sagte er.

»Das meinte ich eigentlich auch nicht. Sten tritt doch heute seinen Urlaub an, oder?«

Er nickte.

»Und fährt morgen nach Bornholm?«

Jetzt begriff er, worauf sie hinauswollte. Trotzdem tat er vollkommen unwissend.

»Natürlich«, sagte er. »Genau wie immer. Sten ist nicht der Typ, der seine Gewohnheiten unnötigerweise verändert. Aber was ...«

»Spiel kein Theater«, sagte sie und legte genau so viel Härte in die Stimme, wie erforderlich war, um das Ruder in der Hand zu behalten. »Du weißt genauso gut wie ich, wie es jedes Mal abläuft, bevor er losfährt. Da schleift er dich mit in den Pub. Und dann kommst du angesäuselt nach Hause, wachst am nächsten Morgen als ein Wrack auf und bereust alles. Du kannst keinen Schnaps mehr ab. Das ist nun einmal so. Denk doch nur daran, was Pfingsten passiert ist! Da hast du einen ganzen Tag lang vollkommen erledigt herumgelegen, und schließlich hatten Vivi und Stellan davon die Nase voll, haben sich die Kinder geschnappt und sind nach Hause gefahren. Und ich stand mit der Schande da.«

Wütend legte er die Zeitung auf den Tisch. Er liebte seine Frau, aber hin und wieder führte sie ein allzu strenges Regiment. Mein Gott, er war doch kein wildes Fohlen mehr, sondern ein pflichtgetreuer, verantwortungsbewusster Kriminalbeamter mittleren Alters mit tadellosem Ruf. Er war nicht gerade begeistert davon, dass sie jedes Mal auf ihm herumhackte, wenn er sich ein Glas genehmigte.

Gun war eine liebevolle, treue und wunderbare Frau. Er hätte keine bessere finden können. Und er wusste, dass ihr Nörgeln seinen Ursprung in ihrer Sorge um ihn hatte. Sie wollte immer nur sein Bestes und litt mit ihm, wenn er sich jammernd aus sporadisch auftretenden Formtiefs hervorarbeitete.

Aber manchmal ging sie einfach zu weit mit ihrer Bevormundung (und dabei wusste er nicht einmal, dass seine Kollegen ihn wegen seiner großen Nachgiebigkeit heimlich als Pantoffelhelden bezeichneten).

»Zum einen«, sagte er schroff, »ist ...«

»Noch Kaffee?«

»Ja, danke. Zum einen ist es nicht so, dass er mich vor seinem Urlaub jedes Mal in den Pub mitschleppt.Vielleicht ist es ein paar Mal vorgekommen, aber es ist ja wohl auch mein gutes Recht, oder?«

»Mach weiter.«

»Und zum Zweiten ist Sten vorsichtig mit dem Alkohol, wenn er später Auto fahren muss. Das solltest du auch wissen.«

»Er ja. Aber du nicht«, sagte sie und lächelte ihn sanft an. Die Angst vor einer Niederlage ließ ihn die Stimme heben. »Zum Dritten trinken wir fast immer nur Bier.«

»Du bist süß«, stellte sie fest.

Die Streitlust verließ ihn.

Er schaute sie dumm an.

»Und zum Vierten?«, fragte sie.

»Vergiss es«, sagte er, beugte sich über den Tisch und küsste sie mitten auf den Mund.

Ihr Atem war immer frisch und appetitlich, und der Kuss zog sich in die Länge.

Schließlich machte sie sich los und schnappte nach Luft.

»Jetzt musst du aber aufhören, sonst komme ich zu spät zur Arbeit.«

Er schaute viel sagend zu dem geöffneten Schlafzimmerfenster hinauf, in dem eine Gardine flatterte.

»Vielleicht heute Abend?«, schlug er vor.

»Kann schon sein«, neckte sie ihn und bekam plötzlich ein Funkeln in den Augen. »Natürlich nur, wenn du nicht Stens Gesellschaft im Pub vorziehst. Heute musst du abdecken. Tschüs!«

Sie trippelte über den mit Kopfsteinpflaster belegten Hinterhof und verschwand um die Ecke. Er rief ihr noch einen Abschiedsgruß hinterher, setzte sich wieder und las noch einige Minuten lang die Zeitung. Dann stand er auf und fegte vereinzelte Brötchenkrümel vom Tisch.

Zwei mutige Spatzen stürzten sich auf das Angebot, und Jan ging ins Haus, um zu duschen.

Kurze Zeit später stand er auf der Treppe und schloss die Haustür ab. Er hatte unglaubliches Glück gehabt, als er vor gut fünfundzwanzig Jahren auf dieses geräumige, charmante Haus in Gamleby gestoßen war, in dem mit Abstand attraktivsten Teil von Stad. Das Viertel bestand aus ein paar Häuserzeilen mit winkligen Gassen, pittoresken Häusern (darunter viele Fachwerkhäuser) und gepflegten Gärten. Im gleichen Jahr, in dem das alte, aber von Grund auf renovierte Traumhaus einzugsbereit dastand, heiratete Jan auch seine Jugendliebe, womit er also wirklich einen doppelten Volltreffer verzeichnen konnte.

Ihre Ehe war kinderlos geblieben. Immer wieder hatten sie die Möglichkeit einer Adoption diskutiert, aber vor nicht allzu langer Zeit hatten sie beschlossen, lieber weiterhin nur zu zweit zu bleiben.

Er war nicht besonders gläubig; dennoch kam es vor, dass er an gewissen Abenden ein stummes Gebet gen Himmel schickte, eine ihm gewogene Macht möge ihn zuerst fortschicken. Mit erschreckender Gewissheit musste er einsehen, dass er es nicht schaffen würde, Gun zu überleben. Vielleicht wäre er in der Lage, sich notdürftig praktisch zu versorgen, aber emotional konnte er sich ein Leben ohne Gun an seiner Seite einfach nicht vorstellen. Deshalb verließ er sich auf die gerechte Hand des Schicksals, wenn es denn Zeit für den Aufbruch sein würde. Gun war eine stärkere Natur, realistisch, gewandt und bodenständig: Sie würde auch ohne ihn in Würde alt werden können.

Das stellte er ohne Gemütsbewegung fest, während er gleichzeitig die hellblaue Himmelslandschaft betrachtete. Das Wetter war herrlich, mild, mit einer sanften Brise.

Da er reichlich Zeit hatte, beschloss er, seinen Morgenspaziergang auszudehnen und eine Runde um die Kirche zu machen. Wenn er den üblichen Weg nehmen würde, käme er eine Viertelstunde vor Dienstbeginn in der Polizeistation an, und so versessen war er auf seinen zeitweiligen Job als Chef nun auch nicht. Er wollte auf keinen Fall wie ein Streber wirken. Sonst würden die Kollegen gleich wie die Geier über ihn herfallen.

Stad war stolz auf seine mittelalterliche Kirche. Das sakrale Gebäude in romanischem Stil war nicht nur mächtig – nur wenige Provinzkirchen waren größer –, sondern auch rein architektonisch äußerst ansprechend. Das Schiff stammte vom Ende des 13. Jahrhunderts, und über diesem Haus des Herrn ruhte eine Art majestätischer Eleganz. Hinzu kam die ausgesuchte Lage auf einer Anhöhe direkt oberhalb des Flusses, der sich um das Zentrum der Gemeinde schlängelte.

Vor sich hin pfeifend und in ausgezeichneter Laune umrundete Jan Carlsson den Friedhof und kam am Gemeindehaus vorbei. Die japanischen Kirschbäume, die noch vor wenigen Wochen in voller Blüte gestanden hatten, waren bereits wieder in ihre geduldige Wartestellung auf die kurze, aber beeindruckende Glanzperiode im nächsten Jahr übergegangen. Jetzt hingen die verwelkten rosa und weißen Blüten wie finstere Reminiszenzen einer Größe da, die vergangen war und erst in ferner Zukunft wiederkehren sollte.

Er dachte an die nahe Zukunft, an den kommenden Abend. Wie sollte er sich entscheiden?

Für den Kneipenbesuch mit Sten Wall? Oder für ein Schäferstündchen mit Gun?

Es hieß entweder – oder. Im Alter von fünfzig Jahren konnte er nicht mehr beide Angebote mit ausdauerndem Enthusiasmus annehmen; jedenfalls nicht, wenn er sich an die Reihenfolge hielt. Natürlich konnte er sie umdrehen, sodass Gun zuerst drankam und dann das Bier – das würde er zweifellos schaffen. Aber er hatte das sichere Gefühl, dass seine Frau nicht begeistert wäre, wenn er sich direkt nach liebevollen Intimitäten im Schlafzimmer in die Kneipe aufmachte.

Dann würde es also ein ruhiger Abend daheim werden, mit allem, was dazugehörte, auch wenn er dadurch vielleicht Sten Wall verärgern würde (der Gedanke, dass sein Kollege vielleicht gar keine entsprechenden Pläne für den Abend schmiedete, kam ihm nicht).

Das Wetter war außerdem ideal für die Romantik. Daran gab es gar keinen Zweifel.

Am Eingang zur Polizeistation kontrollierte er seine Armbanduhr.

Sechs Minuten vor acht – das war akzeptabel.

Sein Erscheinen würde keine höhnischen Kommentare seiner Kollegen hervorrufen.

Aber sobald er sich in den großzügigen Arbeitsräumen im ersten Stock zeigte, hagelten die sarkastischen Sprüche nur so auf ihn nieder:

»Weg mit dem Kartenspiel, der Chef ist gekommen!«

»Versteck das Pornoheft, verdammt noch mal!«

»Wer packt den Karton mit den Schmiergeldern weg?«

»Wann ist Wall eigentlich von Bornholm zurück, damit wir endlich wieder anfangen können, ordentlich zu arbeiten?« »Mach dein Hemd richtig zu, Otto! Glaubst du etwa, das ist ein Kindergarten hier?«

»Was müssen wir normalen Sterblichen tun, um auch irgendwann einmal auf dem Chefsessel zu landen?«

Jan Carlsson lachte.

Jungs bleiben doch ihr Leben lang Jungs.

»Okay«, sagte er. »Ich habe kapiert. Jetzt möchte ich ...«

»Habt Acht!«, schnarrte jemand.

Alle richteten sich kerzengerade auf und salutierten ihm, sodass Jan Carlsson wohl oder übel die Rolle spielen musste, die ihm zugedacht war.

»Guten Morgen, Kameraden!«, schrie er mit gespielter Unteroffiziersstimme.

»Guten Morgen, Chef!«, dröhnte es zurück.

»Rühren!«

Als die kleine Gruppe vor ihm gerade gleichsam in sich zusammensank, war lautes Räuspern vom Flur her zu hören. Alle wandten sich gleichzeitig dem Geräusch zu, und im nächsten Moment trat ein hoch gewachsener, hagerer Mann in einem schlecht sitzenden braunen Anzug durch die Tür. Er hatte schneeweißes, nach vorn gekämmtes Haar und ein großes, lilafarbenes Feuermal auf einer Wange. »Was macht ihr denn hier?«, fragte der Distriktspolizeileiter Helge Boström.

»Ach, gar nichts.«

»Dafür war es aber reichlich laut. Man konnte es im ganzen Haus hören. Wall braucht nur seine krankhaften Fettmassen mal von seinem Arbeitsplatz fortzubewegen, und schon benehmt ihr euch wie Kleinkinder.«

»Einen unschuldigen Spaß darf man sich doch wohl noch mal erlauben«, erklärte Carl-Henrik Dalman, gestandener Veteran, bekannt für seine reaktionäre Haltung und seinen fast vollkommenen Mangel an Humor.

Und der jüngste Mann der Abteilung, Terje Andersson, ging mit naivem Trotz zum Gegenangriff über.

»Wir haben doch niemandem geschadet, oder?«

Dalman blies sich noch mehr auf:

»Seit wann ist es denn verboten, sich in seiner Freizeit zu entspannen? Darf ich daran erinnern, dass wir alle schon früher an unserem Platz waren, als wir eigentlich müssen. Da! Jetzt schlägt es erst acht.«

Der Distriktspolizeileiter winkte ungeduldig mit seinen langen, nikotingelben Fingern ab.

»Jaja. Ich bin auch nicht hergekommen, um euch zu inspizieren. Ich habe wichtigere Sachen zu tun. Aber ich würde gern mit dir reden, Jan.«

»Jetzt?«

Boström nickte.

»Komme schon«, sagte Carlsson und folgte dem Vorgesetzten auf den Flur.

Jemand flüsterte theatralisch hinter seinem Rücken:

»Zur Seite, liebe Leute, damit der Boss durchkommt.«

Der Besuch bei Boström stahl Jan Carlsson eine halbe Stunde seines Arbeitstages. Während dieser dreißig Minuten gelang es dem Distriktsleiter, zwei Zigaretten zu rauchen, einen Urlaubsplan für den Herbst zu präsentieren und die übliche Litanei von zu schlechten ökonomischen und personellen Ressourcen von sich zu geben.

Wieder zurück in seinem eigenen Zimmer, nahm sich Carlsson die Berichte vom Wochenende vor.

Es war nicht gerade eine aufmunternde Lektüre.

In einer Mietswohnung im Stadtteil Grönland versuchte ein Sechsjähriger in der Nacht zum Sonntag, seinen berauschten Vater daran zu hindern, seine Ehefrau mit den bloßen Fäusten totzuschlagen. Der Junge bekam ordentlich eins gewischt, was seinem tapferen Versuch, den Streit zu schlichten, ein jähes Ende bereitete. Der Vater kam jedoch zur Besinnung, als der Kleine weinend auf den Küchenfußboden fiel. Die große Versöhnung senkte sich über die ganze Familie, und als die von den Nachbarn alarmierte Polizei eintraf, herrschte das reine Idyll. Der Junge wurde mit Eis verwöhnt, und es war unschwer zu bemerken, wie die Eltern sich trösten würden, sobald sie in Ruhe gelassen würden. Der polizeiliche Einsatz erwies sich als überflüssig, da die Frau keine Anzeige erstatten wollte.

»Sind Sie sich sicher, dass nichts passiert ist?«, fragte einer der Polizisten misstrauisch.

»Absolut«, beteuerte der Papa. »Hier ist es doch friedlich, friedlicher geht’s gar nicht.«

»Aber die Nachbarn ...«

»Ach, mir ist ein Stuhl umgefallen«, sagte die Mama.

»Und der Stuhl sprang wieder hoch und traf Sie mitten im Gesicht?«

Sie presste die Lippen zusammen, und der Polizist bohrte stattdessen seinen Blick in das vom Weinen angeschwollene Gesicht des Jungen.

»Stimmt das?«

Bevor dieser antworten konnte, griff der Vater ein:

»Willst du noch mehr Eis, Marcus?«

Kurz darauf zogen die Polizisten unverrichteter Dinge ab. Jan Carlsson fuhr sich über seinen spärlich behaarten Kopf und wühlte sich weiter durch den Papierstapel.

Natürlich stieß er dabei auf die üblichen Wochenendvergnügungen: verwüstete Blumenrabatten im Park, Prügeleien zwischen Rockerbanden im Gewerbegebiet, drei Autodiebstähle, vier Einbrüche, eine Misshandlung im Gasthaus Baronen, Tierquälerei auf einem Bauernhof in Slätthult und ein Vergewaltigungsversuch im Süden.

Mit anderen Worten: ein ziemlich normales Wochenende. Carlsson seufzte.

Und plötzlich beneidete er Sten Wall.

Urlaub – das Wort schmeckte nach Luxus und Spaß.

Er selbst kam erst Mitte August in diesen Genuss, dann wollten Gun und er sich eine Autoreise durch England und Schottland gönnen. Er freute sich jetzt schon darauf, obwohl er noch nie im Linksverkehr gefahren war, abgesehen von ein paar Monaten kurz bevor Schweden am 3. September 1967 von Links- auf Rechtsverkehr umgestellt hatte.

Mitte August: Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor.

Sten Wall

Früher hatte sich Sten Wall unbeschwerter auf seinen Urlaub gefreut.

Zwar spürte er immer noch ein herrlich prickelndes Gefühl der Erwartung, wenn die Urlaubszeit in greifbare Nähe rückte. Aber die Vorfreude war mit einer immer deutlicher wahrnehmbaren Wehmut kombiniert. Er hatte die sechzig überschritten (sogar mit einem gewissen Abstand) und war sich bewusst, dass er sich in Riesenschritten der Pensionierung näherte. Und wenn er diese magische Grenze passiert hatte, konnte er sich so viel Urlaub gönnen, wie er wollte. Für viele mochte das erstrebenswert sein, aber für Wall bedeutete es nicht nur Vorteile.

Er war zu der Überzeugung gelangt, dass er weiterarbeiten wollte. So lange wie möglich. Er war seinen Beruf noch lange nicht leid und fürchtete eine Zukunft, in der seine Dienste und seine Kompetenz nicht länger gefragt waren.

Realist, der er war, sah er ein, dass dies der unausweichliche Lauf des Lebens war: In ein paar Jahren war es Zeit, jüngeren Kräften den Weg frei zu machen. Er konnte doch nicht bis in alle Ewigkeit auf seinem Platz kleben und damit das Weiterkommen der anderen blockieren. Aber das war ja auch gar nicht seine Absicht. Er wünschte sich, auf irgendeine für ihn maßgeschneiderte Art weitermachen zu können und zur Verfügung zu stehen, ohne damit den Jungen den Weg zu versperren. Aber die Gleichung ging nicht auf, das war ihm schon klar.

Vielleicht fand er ja auch eine sinnvolle Beschäftigung außerhalb der Polizei, wenn er die fünfundsechzig erreicht hatte.Vielleicht gab es jemanden, dem seine Erfahrung und seine unbestreitbaren Kenntnisse von Nutzen sein konnten und der ihm zumindest einen Teilzeitjob anbot.

Der Gedanke munterte ihn für eine Weile auf, aber dann hüllte ihn doch wieder der Trübsinn ein. Es war natürlich auch sehr gut möglich, dass sich alles von selbst löste. Wer hatte noch nicht davon gehört, wie oft Leute direkt nach Erreichen des Pensionsalters schwer krank wurden oder starben? Das war leider keine Seltenheit.

Es gelang ihm nur unter größter Kraftanstrengung, diese demoralisierenden Überlegungen abzuschütteln.

Mein Gott: Er war doch nun wirklich kein geborener Pessimist – warum dann diese trüben Gedanken? Hatte er nicht Urlaub? Natürlich. Und da gab es dann doch wohl keinen Grund, hier auf einem der schönsten Marktplätze Schwedens über die Zukunft zu brüten und trüben Phantasien nachzuhängen.

Reiß dich zusammen, Kerl!

Er ging zu dem Kiosk auf der anderen Straßenseite und kaufte sich ein Eis, mit dem er zurück zu seiner Bank schlenderte. Er saß mit dem Gesicht der brausenden Fontäne des Springbrunnens zugewandt und ließ sich Eis und Freiheit schmecken.

So hatte er schon oft den Sommerurlaub eingeläutet: mit einem Eis auf dem Stortorget (wenn es das Wetter zuließ, was meistens Anfang Juni der Fall war).

Wenn er sich, so wie jetzt, einfach treiben ließ, kam die Urlaubsstimmung jedes Mal von ganz allein so langsam über ihn. Manchmal kam es vor, dass sich jemand neben ihn setzte, um sich eine Weile mit ihm zu unterhalten: Sten Wall war ein bekanntes Gesicht in der alten südschwedischen Stadt, in der er geboren und aufgewachsen war und in der er fast alle seine Berufsjahre verbracht hatte.

Obwohl er Polizist war – und sich dadurch automatisch und unweigerlich Feinde verschaffte –, war er in weiten Kreisen äußerst angesehen. Von den Gesetzestreuen wurde er als ein rechtschaffener Vertreter von Recht und Ordnung angesehen. Und von vielen Kriminellen wurde er zwar nicht direkt geliebt, aber jedenfalls einigermaßen respektiert, denn er spielte ein ehrliches Spiel.

Der korpulente, glatzköpfige, gemütliche Kommissar war in der Stadt wohl bekannt. Er gehörte dazu, war geradezu Teil des Inventars.

Heute schien es so, als sollte er mutterseelenallein auf seiner Bank sitzen bleiben. Während er sein Eis genoss, studierte er mit gedankenverlorener Miene das Haus hinter dem Springbrunnen. Das schwarzweiße Rathaus war immer schon sein Lieblingsgebäude gewesen, und er war nicht der Einzige, dem die stilvolle Schöpfung des ausgehenden 18. Jahrhunderts so gut gefiel. Touristen drückten oft ihre Bewunderung über das gut erhaltene Gebäude aus, das noch attraktiver geworden war, als es das einzige echte Zeichenmuseum Schwedens aufnahm.

Durch das zarte Grün der vier Linden hinter den Wasserkaskaden des Granitbrunnens konnte Wall das Gartencafé erkennen, das zu einem der beiden Restaurants auf dem Marktplatz gehörte. Dort unter dem großen Sonnenschirmdach schien es keinen einzigen freien Platz mehr zu geben, aber schließlich war ja auch gerade Mittagszeit. Links von dem Restaurant lagen ein Friseursalon (der sich mittlerweile Studio nannte) und eine Buchhandlung.

Früher hatte sich dort an Stelle der Buchhandlung eine Apotheke befunden, und mit einem Lächeln im Gesicht erinnerte Wall sich an den Tag, als er dort seine ersten Kondome gekauft hatte. Er hatte es so eingerichtet, dass er nicht vom Apotheker selbst oder einer der älteren, verbiesterten Apothekenhelferinnen bedient wurde, sondern genau in dem Moment zum Verkaufstresen vorschoss, als die jüngste Mitarbeiterin des Geschäfts – eine äußerst süße Blondine – frei war. Er hatte schon lange ein Auge auf sie geworden. Natürlich nur heimlich. In seinen pubertären Träumen hatte das blonde Mädchen schon seit langem die Hauptrolle inne, und jetzt war es Zeit für einen mutigen Vorstoß.

Überlegen, fast nonchalant, hatte er mit männlich rauer Stimme seinen Wunsch vorgetragen, wobei er der jungen Frau frech und herausfordernd in die Augen schaute. Er wollte ihr mit seinem unbeschwerten, weltgewandten Verhalten imponieren (er war noch nie außer Landes gewesen – abgesehen von einem kurzen Besuch in Kopenhagen), und seine heimlichsten Gedanken liefen auf die Hoffnung hinaus, das Gekaufte mit der schönen Verkäuferin auszuprobieren. Aber sie hatte ihn eiskalt als den Grünschnabel angesehen, der er ja auch war, und ihm das Gewünschte gereicht, ohne eine Miene zu verziehen.

Es war sehr ernüchternd gewesen.

Heute konnte er sich nicht mehr daran erinnern, ob er diese Kondome überhaupt jemals benutzt hatte. Vermutlich war es eine vollkommen überflüssige Investition gewesen. Das Eis war aufgegessen und die Apothekenerinnerung verschwunden.

Sten Wall stand auf, um diverse praktische Dinge zu erledigen. Als Polizist war er immer offen für neue Ideen. Er besaß eine lebhafte Phantasie und scheute sich nie, zu improvisieren und neue Wege auszuprobieren, wenn seine Ermittlungen in Sackgassen geführt hatten. Sein dahin gehendes Geschick hatte große Triumphe gefeiert und mehrere Male sogar nationale Aufmerksamkeit geweckt.

Gierig sog er nach getaner Arbeit das Lob ein. Das Alter hatte seine Eitelkeit ganz und gar nicht vertrieben. Im Gegenteil: Sie hatte mit der Zeit sogar noch zugenommen.

Als Kriminalkommissar war er also einfallsreich und in vielerlei Hinsicht modern. Privat gehörte er dagegen eher zu den Anhängern von Traditionen. Er fühlte sich in konservativen Routinen am sichersten. Deshalb verbrachte er auch seit mehr als zwanzig Jahren seinen Sommerurlaub in Allinge auf Bornholm. Und so gut wie jedes Mal läutete er den Urlaub mit einem Tag in Stad ein, um notwendige Dinge zu erledigen.

Er musterte seine Liste, auf der bereits der erste Punkt abgehakt war: Ablieferung eines Teils der Wintergarderobe bei der chemischen Reinigung.

Aber bis er sich durch die Liste durchgekämpft haben würde, war noch einiges zu tun.

Er musste zur Post, zur Bank (unter anderem, um dänisches Geld einzuwechseln) und zu seiner Leib- und Magenzeitung Bladet (die Zeitungen sollten wie üblich für ihn gesammelt werden, damit er sie nach seiner Rückkehr abholen konnte).

Und dann waren da all diese Kleinigkeiten, die bei ihm zu Hause erledigt werden mussten. Er wollte alles erledigt haben, damit er auch wirklich abschalten konnte, wenn er dann losfuhr.

Er würde das Mittagessen ausfallen lassen und sich mit einer Banane begnügen. Weil er deutliches Übergewicht mit sich herumtrug, quälte er sich ab und zu mit psychisch niederschmetternden Diäten. Aber die Ferien ließ er sich niemals durch dieses Elend trüben. Auf der Märcheninsel in der Ostsee nahm er sich die Freiheit, nach Herzenslust zu essen und zu trinken. Wenn man Urlaub hat, dann auch richtig.

Mit der Aussicht auf die bevorstehenden Gaumenfreuden – er liebte die dänische Küche – konnte er sich heute problemlos zurückhalten. Auf jeden Fall war es gut für den Charakter, sich selbst zu beweisen, dass man sich beherrschen konnte, auch wenn sich die Gelegenheit zum Sündigen bot. Natürlich ging er das Risiko ein, Kopfweh zu bekommen, aber den Hieb musste er schlimmstenfalls eben ertragen.

Das Wetter war schön, und er hoffte auf ein wenig kleidsame Farbe für seinen allzu blassen Körper. Ansonsten kokettierte er nicht besonders mit seinem Aussehen, seine Eitelkeiten lagen auf einem anderen Feld, beispielsweise bei Komplimenten für gut ausgeführte Arbeit. Allerdings war eine bleiche, fette irdische Hülle ja nicht gerade etwas, womit man prahlen konnte oder was man gern unnötigerweise zur Schau trug.

Gegen Nachmittag war er wieder in seiner Junggesellenhöhle in der Bergsgatan zurück, in der er schon jahrzehntelang wohnte. Die Wohnung war so langsam auf dem Weg zum Verfall gewesen, doch im letzten Winter hatte er einige notwendige Verbesserungen durchführen lassen. Einem der Zimmer hatte er ein wohlverdientes Gesichtslifting gewährt, und sämtliche Fenster hatten neue Rahmen bekommen. Die alten waren kurz davor gewesen, völlig zu verrotten, als er sie endlich austauschen ließ.

Es wäre noch mehr erforderlich gewesen, um es wirklich so zu haben, wie er wollte, aber den Rest des Projekts hatte Wall lieber in die Zukunft verschoben. Ihm fehlte jedes praktische Geschick, er war auf fremde Hilfe angewiesen. Aber im Augenblick ertrug er es einfach nicht, Handwerker um sich zu haben. Es war eine Plage gewesen, diese ehrenwerten Arbeiter in seinem eigenen Heim herumspringen zu haben, deshalb würde es sicher noch eine Weile dauern, bis er sich wieder bei Kräften sah, um den nächsten Schwung an Tischlern, Maurern, Elektrikern und Malern in seinen vier Wänden zu empfangen.

Umständlich und gewissenhaft füllte er seine beiden Reisetaschen. Die eine barg in erster Linie Bücher. Während seiner Aufenthalte in Allinge las er im Schnitt fast ein Buch am Tag. Jetzt verstaute er ein Dutzend Titel – eine muntere Mischung aus Fachliteratur und Belletristik –, die den Bedarf für die kommenden vierzehn Tage wohl decken würden.

Er inspizierte Kühlschrank und Vorratskammer. Nachdem er das wenige, was für ein kärgliches Frühstück am nächsten Morgen erforderlich war, zur Seite gestellt hatte, blieben noch eine frisch geöffnete Packung fettarmer Milch, sechs Eier, ein halber Laib Schwarzbrot, acht Scheiben Knäckebrot, eine fast ausgequetschte Tube Kalles Kaviar, zwei Tomaten und eine Frikadelle.

Wall beschloss, die Reste zu seinen Freunden Gun und Jan Carlsson rüberzubringen. Es war ja nicht nötig, dass während seiner Abwesenheit alles verdarb.

Zwei Flaschen Bier (die konnten bei seiner Rückkehr von Nutzen sein), eine gut zur Hälfte geleerte Dose Kaffee und einen Karton mit Haferflocken ließ er allerdings stehen. Er schaute auf die Uhr. Wahrscheinlich war Gun bereits zu Hause. Sie hatte eine Teilzeitstelle in einer Zahnklinik und war normalerweise um diese Uhrzeit fertig mit ihrer Arbeit. Er packte die Essenssachen in eine Plastiktüte und ging dann wieder hinaus in den strahlenden Junitag. Auf dem Weg kam ihm der Gedanke, Jan zu überreden, mit ihm in die Kneipe zu kommen, aber er beschloss, den leicht zu überredenden Kollegen nicht in Versuchung zu führen. Allerdings war meistens nur eine Andeutung nötig, damit Jan die Gelegenheit wahrnahm, einen Abend von seiner fürsorglichen und wohlmeinenden Ehefrau freizunehmen. Wall rief sich zur Ordnung. Es war unfair, den so kurz gehaltenen Freund unnötigerweise zu locken, und außerdem wollte er selbst lieber frisch und munter sein, wenn er sich am nächsten Morgen hinters Steuer setzte. Pils würde er auf Bornholm noch reichlich bekommen. Er trank gern Bier, hatte aber – nach unaufhörlichen Zurechtweisungen des moralisierenden Distriktspolizeileiters Helge Boström – seinen Konsum um einiges reduziert. Aber im Urlaub war das ja wohl etwas anderes. Er dachte gar nicht daran, sich von dem weltberühmten, kräftigen dänischen Bier fern zu halten, nur weil es dem Nörgler Boström so passte.

Als er das arkadische Viertel in Gamleby erreichte, sah er schon von weitem, dass Gun Carlsson mit den Weinranken beschäftigt war, die an beiden Seiten der Haustür hochwuchsen.

Als sie ihn entdeckte, schien ihr Mienenspiel gleichzeitig Freude und Beunruhigung auszudrücken.

Sie mochte Sten Wall schrecklich gern, fürchtete aber, dass er ihren Mann mit in eine Kneipe schleppen würde, was inzwischen gleichbedeutend mit einer Katastrophe war. Sobald Jan auch nur eine Spur zu viel trank, benahm er sich am folgenden Tag wie ein verirrtes Zebra, das von einer Herde hungriger Löwinnen umkreist wird.

Er wollte einfach nur verschwinden und jammerte ununterbrochen. Dann folgten pathetische Reden darüber, dass er nie wieder in seinem Leben auch nur einen einzigen Tropfen Alkohol anrühren würde – falls er diese enorme Prüfung überhaupt überleben sollte (was er, hingegeben an Reue und Kater, oft als vollkommen unmöglich ansah). Selbstverständlich war Jan eigentlich klar, dass Gun ihm nur dieses Leiden ersparen wollte.

Menschenkenner, der er war, begriff Sten Wall sofort, dass Gun Gefahr witterte und das Schlimmste fürchtete.

Er betrachtete sie voller Zuneigung. Ihre ausdrucksvollen Augen hatten einen warmen, schönen Glanz, aber ihr Gesicht war eigentlich nichts sagend. Das kurz geschnittene Haar erschien auf irgendeine Weise leblos, selbst wenn es frisch gewaschen war. Für seinen Geschmack war sie außerdem viel zu mager und eckig. Aber was machte das alles, wenn sie ein so wunderbarer und warmherziger Kamerad war?

»Hallo, Gun. Ich fahre ja morgen in Urlaub und bin heute Abend beschäftigt, deshalb wollte ich das hier jetzt schon vorbeibringen«, sagte er und reichte ihr die Plastiktüte. »Lasst es euch schmecken.«

Sie warf ihm ein großzügiges Lächeln zu und steckte dann die Nase in die Tüte, um den Inhalt zu kontrollieren.

»Wie lieb von dir, Sten. Aber vieles davon würde sich doch in der Tiefkühltruhe halten. Das Schwarzbrot ...«

Er schnitt ihre Worte mit einer Handbewegung ab.

»Quatsch. Wenn es euch schmeckt, dann ist das nur gut so. Und sonst kannst du es einfach wegschmeißen.«

»Na gut. Dann vielen Dank. Jan ist noch nicht gekommen. Und es wird wohl auch noch eine Weile dauern, bis er fertig ist mit seiner Arbeit. Er vertritt nämlich einen richtigen Workaholic. Kann ja sein, dass du ihn kennst?«

»Wer kann das denn sein?«

»Nein, ehrlich gesagt: Ich weiß nicht, wann er auftaucht.« Offenbar war sie sich immer noch nicht ganz sicher, wie der Abend wohl verlaufen würde. Wall beschloss, ihr auch die letzten Zweifel zu nehmen.

»Ich würde ihn ja schrecklich gern heute Abend treffen, aber ich habe keine Zeit. Muss noch packen und alles für die Reise morgen fertig machen«, log er.

Gun Carlsson besaß ein beeindruckendes schauspielerisches Talent. Es gelang ihr voll und ganz, die Erleichterung zu verbergen, die sie zweifellos verspürte.

»Wie schade. Jan hatte gehofft, mit dir ein paar Abschiedsbiere bei Sture Hansson zu trinken. Das hat er heute Morgen noch gesagt«, heuchelte sie.

Für den Bruchteil einer Sekunde spielte Wall mit dem Gedanken, etwas in dem Stil zu sagen, wie: »Na, wenn das so ist, dann muss ich wohl meine Pläne ändern und mich ihm eine Weile widmen.«

Aber das wäre doch zu boshaft gewesen.

»Leider«, sagte er und schüttelte seinen runden Kopf. »Das müssen wir auf ein andermal verschieben.«

Der Kommissar ließ sich noch zu einer Tasse Kaffee auf der Terrasse überreden und verabschiedete sich dann.

»Mach dir keine Sorgen wegen der Blumen«, rief sie ihm hinterher. »Ich kümmere mich um sie.«

Er antwortete darauf nur mit einem zustimmenden Winken. Das Ehepaar Carlsson besaß einen Schlüssel für seine Wohnung, damit sie sich um sie kümmern konnten, wenn er für längere Zeit fort war. Nach einem »Überfall« an einem Luciamorgen, als sich ein Lichterzug vollkommen unerwartet in seine enge Wohnung gezwängt hatte, hatte Wall lange überlegt, ob er seinen Schlüssel nicht wieder zurückfordern sollte.

Aber schließlich hatte er die Sache doch auf sich beruhen lassen. Inzwischen konnte er die Ereignisse mit humorvoller Distanz betrachten. Aber damals war es äußerst peinlich gewesen, schlaftrunken unter der Bettdecke zu liegen und zu erleben, wie der reizende Zug pflichtschuldigst sein Morgenprogramm in einem Zimmer absolvierte, das gerade einem regelrechten Gasüberfall ausgesetzt worden war. Wie der Zufall es wollte, hatte er nämlich am Abend zuvor gewaltige Mengen Erbsensuppe vertilgt.

Nun, das war Schnee von gestern, und er hatte seinen Freunden einen heiligen Eid abgerungen, ihn niemals wieder derartigen Prüfungen auszusetzen.

Wall war ein leidenschaftlicher Flaneur. Er beschloss, das einladende Wetter für einen stärkenden Spaziergang zu nutzen.

Anderthalb Stunden später war er daheim, wo er sich mit einer armseligen Tasse Kaffee begnügte (Gun hatte ihm noch einen gewaltigen Kopenhagener eingetrichtert).

Nach einer weiteren Kontrolle seines Reisegepäcks machte er es sich für eine Weile vor dem Fernseher gemütlich. Er hatte vor, früher als gewohnt zu Bett zu gehen. Er brauchte den Schlaf, obwohl er ja erst um acht Uhr losfahren musste, und dann auch nur eine recht kurze Strecke nach Süden, bis nach Ystad. Danach ging es mit der Fähre weiter, nach Rönne und anschließend nach Allinge.

Und in einen hoffentlich erquickenden Urlaub.

Der Planer

Die Vorbereitungen waren getroffen.

Er war bereit zuzuschlagen und wusste, dass er es schaffen würde.

Er hatte schon immer starke Nerven gehabt.

Er würde nicht versagen, wenn es darauf ankam.

Selbstverständlich konnte etwas Unvorhergesehenes passieren, etwas, das alles über den Haufen warf, und dann müsste er seine Pläne natürlich ändern. Aber früher oder später würde es dennoch geschehen.

Er glaubte allerdings nicht, dass seinem ersten Opfer ein längerer Aufschub gegönnt sein würde. Im Gegenteil, er war überzeugt, dass alles genauso klappen würde, wie er es sich gedacht hatte.

Den geplanten Tatort hatte er (sicherheitshalber leicht getarnt) bereits gründlich studiert. Er war einfach ideal, ungestört und ruhig. Viele Rückzugsmöglichkeiten. Er konnte sich nichts Besseres wünschen.

Wenn er nicht den Kopf verlor, konnte eigentlich nichts schief gehen.

Und er dachte gar nicht daran, den Kopf zu verlieren.

Ein wirklich gelungener Scherz.

Das Opfer – er nannte ihn in Gedanken nie bei seinem Namen, sah ihn nur als seine zukünftige Beute an – hatte er ziemlich lange heimlich beobachtet. Sein Vorhaben wurde ein wenig dadurch erschwert, dass die Beute ziemlich unregelmäßige Gewohnheiten hatte; es wäre natürlich einfacher gewesen, wenn der Betreffende sich tagein, tagaus strikt an die gleichen Regeln gehalten hätte.

Aber eigentlich beunruhigte ihn das nicht besonders.

Bald würde es passieren.

Sehr bald.