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Eine Serie rätselhafter Todesfälle sorgt in der Eifel für Aufsehen. Paul David, ehemaliger Militärpolizist, geht der Sache auf den Grund und stößt dabei auf eine neue Designerdroge, die ihre Konsumenten offenbar in den Tod treibt. Die Suche nach den skrupellosen Hintermännern bringt David mehr als einmal in Lebensgefahr – bis er erkennt, dass der Schlüssel in seiner eigenen Vergangenheit liegt …
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Seitenzahl: 359
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Andreas J. Schulte, Schriftsteller, Jahrgang 1965, ist verheiratet und hat zwei Söhne. Geboren und aufgewachsen in Gelsenkirchen, lebt er heute mit seiner Familie in einer ausgebauten ehemaligen Scheune zwischen Andernach und Maria Laach. Neben seinen modernen Krimis und Thrillern schreibt und veröffentlicht er auch Kurzgeschichten und historische Kriminalromane.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
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© 2019 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: iStockphoto.com/franckreporter
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer
Umsetzung: Tobias Doetsch
Lektorat: Lothar Strüh
eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-96041-468-1
Eifel Krimi
Originalausgabe
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Dieser Roman wurde vermittelt durch die
Literaturagentur Lesen&Hören, Berlin.
Für Tine – auf die nächsten 25 Jahre
Kein altes Übel ist so groß, dass es nicht von einem neuen übertroffen werden könnte.
Wilhelm Busch
Die Schmerzen wurden immer unerträglicher. Zuerst waren es nur Spitzen gewesen. Wie Stromstöße. Wie lange war das her? Einen Tag, zwei? Eine Woche? Oder hatte er nur eine Stunde hier gelegen? Er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Alles, was er über Zeit gewusst hatte, war von diesem flammenden Schmerz weggebrannt worden. Ein glühendes Eisen mitten in seinem Verstand.
Jetzt kamen die Wellen. Brandeten auf, schlugen mit ungezähmter Kraft von innen gegen seine Augenlider. Die Krämpfe nahmen ihm den Atem, erstickten seine Schreie, dämpften sie zu einem unablässigen Wimmern.
***
»Wie lange?«
Der Mann löste seinen Blick von dem körnigen Schwarz-Weiß-Bild der Kamera und schaute gelangweilt auf seine Uhr. »Zwei Stunden, elf Minuten. Er hat erstaunlich schnell die zweite Phase erreicht.«
»Wann brechen wir ab?«
Die Frage ließ den anderen aufhorchen. »Abbrechen? Wieso?«
»Unser Projekt wird aufgegeben, die wollen das jetzt so.«
»Im Ernst? Unmöglich, er ist seit Wochen der Erste, der so schnell Phase zwei erreicht hat.«
»Ich weiß das alles, aber …«
»Nichts aber. Wir machen weiter.«
***
Auf seinen Armen entdeckte er sie sofort. Die Schmerzen waren wie weggeblasen. Jetzt, da er wieder klar denken konnte, sah er sie natürlich. Sie waren überall auf seinen Armen, ein paar sogar auf seinen nackten Beinen. Schwarzbraune, glänzende Käfer. Sie krabbelten über seine Haut. Nein, schlimmer noch, sie waren unter seiner Haut. Genau, da überall und nicht nur ein paar. Es … es waren Hunderte. Da und da … und da auch.
Sie wimmelten unter seiner Haut herum.
Mit einem Schrei sprang er auf. Nicht mit ihm! Nicht, solange er bei klarem Verstand war. Denen würde er es zeigen. Mit zwei schnellen Schritten war er an seinem Waschbecken, riss hektisch sein Rasierzeug aus dem Beutel. Die Drecksviecher hatten sich in seine Haut gebohrt, eingebrannt, reingefressen. Mit ihm nicht, nicht heute. Heute würde er die Käfer besiegen. In dem schalen Licht der Neonröhre funkelte sein Rasiermesser.
***
Die Schreie ließen den Mann vor dem Monitor zusammenzucken. Mit zitternder Hand notierte er gewissenhaft die Zeit: zwei Stunden, achtzehn Minuten. Hundertachtunddreißig Minuten, achttausendzweihundertachtzig qualvolle, nicht enden wollende Sekunden.
Neuer Rekord im Jahr 1975!
Zu unserem Campingplatz führen verschiedene Straßen. Am Ende aber landen Sie immer auf einem kleinen einspurigen Feldweg, der zum Schluss nicht einmal richtig asphaltiert ist.
Man trifft hier grob gesagt zwei Sorten Menschen: Die einen steigen aus dem Auto, schauen sich um und fragen sich dann, wie zum Teufel man an einem Ort leben kann, wo es nicht einmal Handyempfang gibt und die nächste Karaokebühne verdammt weit weg ist. Die anderen dagegen steigen aus dem Auto, schauen sich um und verlieben sich in dieses Tal mit seinen alten Apfelbäumen und den sanft geschwungenen Wiesen, umgeben von Eichenwäldern.
Ich bin kein Einsiedler, Gott bewahre, aber ich habe genug große Städte erlebt, um mir ein Bild machen zu können. Und ich gehöre eindeutig zur zweiten Sorte.
Meine Mutter kam aus der Eifel. Mein Vater, bevor er uns sitzen ließ, war bei den US-Marines, weshalb mein Nachname englisch ausgesprochen wird: David. Solange ich denken kann, habe ich auf Militärstützpunkten gelebt, also in der Zeit vor dem Pöntertal. Ich war nicht nur eines dieser typischen Soldatenkinder, ich blieb auch beim Militär. Als Feldjäger und später als Sonderermittler einer NATO-Spezialeinheit. Keine schlechten Jobs, ich konnte mich nicht beschweren. Im Gegenteil, ich habe die Ermittlungsarbeit immer geliebt, die Herausforderung, ein Rätsel zu lösen. Bis auf einen Schlag Schluss war damit, genauer gesagt, mit einer Explosion mitten im Einsatz, die mich meinen linken Unterarm kostete. Immerhin konnte ich aber drei Menschenleben retten und kam selbst mit dem Leben davon. Vier Leben gegen einen Unterarm – in meinen Augen habe ich nicht das Recht, zu jammern.
Danach hat mir mein Arbeitgeber einen Deal angeboten. Statt Ermittlungen und Außeneinsätzen hätte ich einen Bürojob haben können. Wollte ich aber nicht. Ich wollte kein Getuschel hinter meinem Rücken, was für ein armer Kerl ich sei, keine mitleidigen Blicke, keine Schreibtischarbeit. Stattdessen trat ich das Erbe meines Onkels an und landete hier im Pöntertal als Mitinhaber eines Campingplatzes. Ich manage das Ganze zusammen mit meiner Tante Helga.
Mein Freund Kalle drängt mich schon seit Monaten, sozusagen freiberuflich meinen alten Job wiederaufzunehmen. Private Ermittlungen würden boomen, sagt er. Er muss es wissen, er ist Polizist. Ich weiß, dass ich es immer noch draufhabe. Aber private Ermittlungen? Bin ich schon so weit, all das hier ins Tal zu holen? Noch versteckt sich die Antwort im Frühnebel, der langsam die Hänge heruntergleitet. Aber wer weiß schon, wann der Nebel sich lichtet.
Basti und Dennis hielten sich im Schatten der alten Mauer, schlichen vorwärts. War eigentlich nicht nötig, niemand würde sie entdecken. Sie waren Ninja-Krieger in der Nacht, Kämpfer, die niemand fassen konnte. Das Zeug ist echt der Hammer, ich hätte nie gedacht, dass ich dermaßen schnell sein würde, dachte Basti zufrieden.
»He, Basti, da vorne ist es. Geil, oder? Ich hab dir doch gesagt, das wird eine voll krasse Nummer.« Dennis bemerkte selbst im Halbdunkel, wie Basti ärgerlich das Gesicht verzog. »Sorry, Digger, wollte natürlich ›Devil‹ sagen.«
»Dann sag es auch, du Spast«, zischte Basti wütend. Mann ey, er hatte sich doch nicht einen coolen Nickname für seine tags ausgesucht, um dann immer wieder mit diesem Scheiß-Namen »Basti« angeredet zu werden. Wer hieß schon so? War allerhöchstens ein Name für ’nen Dackel, aber ganz sicher nicht für den All-City-King von Andernach. Seine Tags waren überall. Sogar in der Rhein-Zeitung hatten sie schon über den geheimnisvollen »Dead-Man« berichtet. Okay, es war nur ein kurzer Text gewesen, aber was wussten diese Gruftis von der Zeitung auch schon? In seiner Gang hatte das trotzdem irgendwie Eindruck gemacht. Und heute Abend würde er es allen endgültig beweisen. An so viel fame konnte keiner mehr kommen. All-City-King.
»Los, Dead-Man, ich will hier nicht Wurzeln schlagen.«
Natürlich hatte Dennis die Hosen voll, der Schisser. War ja auch keine Kleinigkeit, die jetzt anstand. Die beiden rannten los, und noch im Laufen ließ Basti den Rucksack von seinen Schultern rutschen. Sie knieten vor den Steinen, das laute Klappern der Metallkugel in der Spraydose hallte über den Platz.
»Digger, mach mal leise«, zischte Dennis nervös. Basti hätte am liebsten laut gelacht. Warum sollte er leise sein? Sie waren doch unsichtbar, niemand konnte sie sehen oder hören, hatte Dennis das echt vergessen? Zufrieden sah er, wie die rote Farbe langsam den schwarzen Basalt überdeckte. Absolut irre. Er konnte sogar die kleinen Poren im Stein sehen, krass, das war supernatural, fast wie Röntgenblick. Die Farbe lief in die Löcher und dann ganz langsam wieder heraus. Scheiße, der Stein blutete. Basti schüttelte verwirrt den Kopf. Konnte ein Stein bluten? Klar konnte er, er sah es ja gerade vor sich. Neben ihm schrie jemand erschrocken auf.
War er nicht allein? Kacke, Dennis, den hatte er ja ganz vergessen. Dennis hatte geschrien. Oder vielleicht auch nur gestöhnt? Er folgte mit seinem Blick dem ausgestreckten Zeigefinger seines Kumpels. Oben auf dem Brunnen, da, wo sonst diese megadämlichen Steinfiguren hockten, diese Bäckerjungen-Loser, regte sich ein glänzendes schwarzes Etwas. Spitze Zähne leuchteten im trüben Licht der Laterne. Feuerrote, tote Augen starrten ihn an. Kein Wunder, dass der Stein blutete. Das Ding da oben war zum Sprung bereit. Basti ließ die Spraydose fallen, strauchelte, fiel nach hinten und robbte auf dem Rücken weiter. Nur weg von hier, egal wie.
»Dead-Man, Scheiße, siehst du das auch? Die haben den Stein ausgetauscht. Das ist kein Stein, das ist Haut. Gott, ich glaube, es lebt.« Dennis rannte an ihm vorbei, trat mit voller Wucht auf seine Hand. Basti brüllte, ein sehr lautes Knacken in seiner Hand und ein heftiger, stechender Schmerz lenkten ihn für einen Moment ab. Das Ding oben auf dem Brunnen wandte sich zischend zu ihm um. Gott, es kann mich sehen. Shit, es hat die Macht, mich zu sehen. Hätte ich doch nur nicht geschrien.
Basti wusste, dass er tot war. Vor diesen Zähnen gab es kein Entkommen. Dennis, der Loser, war weg. Basti rollte sich auf den Bauch. Heißer, stinkender Atem traf ihn von hinten. Irgendetwas Spitzes grub sich dabei in seine Schultern. Basti verkrampfte sich, legte die Hände schützend über seinen Kopf und weinte.
»Paul? Junge, was machst du denn hier draußen? Weißt du eigentlich, wie früh es noch ist?«
»Guten Morgen, Helga. Ich wollte dich nicht erschrecken, ich konnte nur nicht mehr schlafen. Da dachte ich, es gibt Schlimmeres, als mit einem Becher Kaffee in der Hand den Sonnenaufgang im Pöntertal mitzuerleben. Und du bist ja schließlich auch schon auf den Beinen.«
»Vielleicht komme ich ja mit wenig Schlaf aus.« Helga lächelte verschmitzt. »Oder vielleicht wollte ich meinem Neffen anlässlich seines Geburtstags Frühstück machen, wurde dann aber von einer lauten Espressomaschine darauf hingewiesen, dass er schon auf den Beinen ist.«
Ich hatte keine Ahnung gehabt, dass meine Kaffeemaschine einen solchen Krach verursachte. Das hätte mir Helga auch mal früher verraten können. Schuldbewusst dachte ich an all die Nächte, in denen ich mir noch einen späten Espresso gegönnt hatte, von den Tassen Milchkaffee vor dem Morgentraining um sechs Uhr früh ganz zu schweigen.
Helga sah meine Verlegenheit und tätschelte lächelnd meinen gesunden rechten Unterarm. »Schon gut, Paul, du musst dir keine Gedanken machen. Normalerweise habe ich einen tiefen und gesunden Schlaf, da könntest du in deiner Wohnung Stepptanz üben, und ich würde oben nichts hören. Nur heute war es eben anders. Vielleicht liegt es ja daran, dass wir Vollmond haben.«
Helga setzte sich zu mir auf die Bank. Sie lehnte ihren Kopf leicht gegen meine Schulter und schaute schweigend dabei zu, wie die Frühlingssonne den Morgennebel von den taunassen Wiesen vertrieb. Ohne Zweifel war das Pöntertal … na ja, ich würde sagen, ruhig, ein Ort zum Durchatmen.
»Wie friedlich so ein Tag beginnen kann«, murmelte sie, hob den Kopf und küsste mich auf die Wange. »Alles Gute zum Geburtstag, Paul.« Helga lehnte sich wieder an meine Schulter und schwieg. Mit Helga konnte man gut zusammen schweigen. Etwas, was ich sehr an ihr schätzte.
Schon früher in den Sommerferien hatten wir oft schweigend nebeneinandergesessen, jeder für sich mit seinen Dingen und Gedanken beschäftigt. Die Stille dabei war nie bedrückend oder unangenehm gewesen. Bei meiner Mutter hatte ich immer das ungute Gefühl gehabt, dass sie verärgert sei, wenn sie einmal schwieg. Und Vater fraß jeden Ärger schweigend in sich hinein.
Schon als Teenager war ich lieber hier im Pöntertal gewesen als bei meinen Eltern. Helga hatte es geschafft, wie sie selbst sagte, nie die Tante heraushängen zu lassen. Trotzdem war es Helga und ihrem Mann, meinem Onkel Hans, gelungen, mich mehr zu erziehen, mir mehr Maßstäbe für mein eigenes Handeln mit auf den Weg zu geben, als beispielsweise mein Vater es je geschafft hatte.
Ohne Helga und Hans wäre ich nicht der geworden, der ich bin. Was für seltsame Gedanken einem frühmorgens durch den Kopf schießen. Mit Vorliebe am eigenen Geburtstag.
Ich schaute zur Seite. Helga hatte im letzten Jahr schon ihren siebenundfünfzigsten Geburtstag gefeiert, aber diese kleine Frau mit ihren grauen kurzen Haaren war ein wahres Energiebündel.
»Hast du schon Pläne für heute?«, fragte sie leise.
»Du meinst, außer den Rasen der Zeltwiese zu mähen?« Statt einer Erwiderung boxte sie mich in die Seite.
»Autsch, du musst mit deinem Neffen behutsam umgehen, liebste Tante.«
»Nenn mich noch einmal Tante, und ich zeige dir, zu welchem rechten Haken ich noch fähig bin, Paul David.« Ein leises Kichern folgte dieser wahrhaft furchteinflößenden Drohung.
»Wahrscheinlich wolltest du wissen, welche Festlichkeiten geplant sind? Also: Offiziell ist gar nichts geplant, aber inoffiziell weiß ich, dass Kalle, Steffen und Bonzo nebst Gattin hier auftauchen werden. Und weil ich das weiß, werde ich heute Nachmittag Salat schneiden und einen großen Nudelauflauf vorbereiten. Zum Nachtisch kann es dann noch Eis geben, davon haben wir genug im Lagerraum.«
»Ihr könntet auch den Grill im Blockhaus anmachen, dann sind wir auch für Freitag sicher, dass er funktioniert.«
»Ach, Helga, stimmt. Das hab ich ja ganz vergessen.«
Im vergangenen Herbst hatten Kalle und ich das alte Blockhaus des Campingplatzes renoviert. Das große Holzhaus, in dem ein breiter gemauerter Grill stand, bot Platz für gut dreißig Gäste. Wir hatten den Abzug neu gebaut und eine elektrische Lüftung installiert, damit die Grillkohle schneller durchglühte.
Der Campingplatz war das ganze Jahr über gut belegt, und Helga hatte vor, nun im Blockhaus regelmäßig Programm anzubieten. Für Freitagabend war der Start in die Grillsaison geplant.
»Wenn ihr den Grill nicht heute Abend testen wollt, dann musst du ihn eben morgen oder übermorgen ausprobieren. Ich möchte nur nicht, dass wir mitsamt unseren Gästen geräuchert werden, weil der Kamin nicht zieht. Um den Rest kümmere ich mich schon. Wurst, Fleisch und Brötchen hole ich am Freitag früh beim Metzger in Eich ab, und die Getränke werden schon morgen geliefert.«
»Ja, die Kästen können in den Kühlraum, da habe ich einen Platz freigeräumt«, bestätigte ich.
»Na bitte, dann haben wir doch alles. Ich werde noch eine große Schüssel Kartoffelsalat machen, und Koslowskis haben zugesagt, ebenfalls zwei Salate mitzubringen.«
Rosa und Klaus Koslowski waren mit ihrem großen Wohnmobil mittlerweile so etwas wie Stammgäste. Sie hatten mir im letzten Jahr bei einem Fall sehr geholfen und waren dafür mit einem freien Stellplatz auf Lebenszeit belohnt worden. Jetzt im Frühling hielt die beiden nichts mehr im Ruhrgebiet.
»Wenn Rosa und Klaus dabei sind, kann ja nichts schiefgehen«, sagte ich grinsend.
»Wir haben sogar schon fünfzehn weitere Anmeldungen.«
Sie tätschelte wieder meinen Arm. »Ich gehe mal rein und mach uns Frühstück, magst du Rührei?«
Wäre mir an normalen Tagen zu viel gewesen, aber heute war ja kein normaler Tag.
»Gern, Helga.«
»Dann solltest du in spätestens zehn Minuten oben sein.«
Polizeikommissarin Tanja Dievenbach stieg aus ihrem Yeti und streckte sich. Sie war heute früh schon ihre Fünf-Kilometer-Runde gelaufen, hatte kurz im elterlichen Pferdestall ihre Lieblingsstute gefüttert und sich dann auf den Weg zum Dienst gemacht. Der Rücken tat ihr immer noch weh. Dieser Idiot.
Musst du halt beim nächsten Mal besser aufpassen, ermahnte sie sich selbst.
»Morgen, Ralf, na, alles klar?«
Im Flur kam ihr Polizeioberkommissar Ralf Welter-Drohmke entgegen. Tanja hatte in den letzten Monaten gelernt, bei ihm auf äußerliche Zeichen zu achten: schlechte Rasur, Ringe unter den Augen, missmutiger Zug um den Mund. Das alles waren Warnsignale, dass Kollege Ralf a) schlecht gelaunt und b) total unausgeschlafen war. Meistens ging beides Hand in Hand. Im Grunde war Ralf ein herzensguter Mensch und ein engagierter Polizist, aber seit er und seine Frau Zwillinge bekommen hatten, hinterließen Schlafmangel und Dauerstress mit diversen Kinderkrankheiten ihre Spuren.
Heute war offenbar ein guter Tag, bemerkte Tanja, denn Ralf lächelte ihr fröhlich entgegen.
»Hallo, Tanni, du bist aber früh dran.«
Tanja hatte nicht darum gebeten, »Tanni« genannt zu werden. Zum Glück war es bislang auch nur Ralfs Idee, sie so zu nennen. Sollte das in der Dienststelle einreißen, würde sie wohl ein Machtwort sprechen müssen.
»Du bist aber gut gelaunt.«
»Ja, Franziska und Meike sind für drei Tage bei ihrer Oma an der Mosel. Ich sag dir, das ist der Hammer. Ich glaube, ich habe eine gefühlte Ewigkeit nicht mehr so viele Stunden am Stück durchgeschlafen. Gestern haben Anne und ich etwas total Verrücktes getan –«
»Aus, aus, aus«, lachte Tanja, »ich will keine pikanten Details deines Liebeslebens wissen. Das kannst du dir für das Männergespräch mit Kalle und Sascha aufheben.«
»Pikante Details? Bist du bekloppt? Anne und ich haben um acht die Tagesschau geguckt, zusammen und ohne Unterbrechung, dann ein Glas Sekt getrunken und dann … um genau neun Uhr das Licht ausgemacht und sind eingeschlafen. Bis um sechs Uhr heute Morgen, neun lange Stunden. War das schön!«
Tanja verdrehte die Augen. »Okay, solche schlüpfrigen Details darfst du mir auch künftig erzählen.«
»Mach ich, Tanni. Siehst übrigens gut aus, neues Make-up, andere Ohrringe?«
»Mensch, Ralf, ich habe die Haare abgeschnitten.«
»Echt? Stimmt! Die waren sonst eher so …« Ralf machte mit der flachen Hand eine unbestimmte Bewegung zwischen Schulter und dem oberen Rand der Ohrmuschel.
»Ja genau, Ralf, so lang waren die ungefähr.« Tanja schüttelte immer noch lächelnd den Kopf, als sie ihren Kollegen auf dem Flur stehen ließ, um sich einen Kaffee zu holen. Polizisten sollten doch angeblich ein geschultes Auge für Äußerlichkeiten haben, aber im Kollegenkreis waren nur Männer wie Ralf, für die ein Haarschnitt wie der andere aussah. Anderes Make-up, neue Ohrringe – pah. Sie streckte sich wieder. Wenn das nicht besser würde, musste sie doch noch zum Arzt.
»Guten Morgen, Tanja. Mensch, ich hätte dich von hinten ja fast nicht wiedererkannt.«
Karl-Günther Seelbach, von allen nur Kalle genannt, lehnte im Türrahmen und schaute sie bewundernd an.
Immerhin hat er was gesehen, dachte Tanja, eins zu null für Kalle.
»Du, das sieht aber mal richtig gut aus. Ich meine, die schulterlangen Haare waren auch okay, aber der Pixie-Cut mit dem langen Deckhaar und den kurz geschnittenen Seiten … cool. Da kommt das Blond auch ganz anders zur Geltung. Ich mag ja dieses ganz helle Blond, das passt zu deinen Sommersprossen. Da war aber ein Profi am Werk. Jetzt musst du nur daran denken, Spezialshampoo und Conditioner zu verwenden.«
Tanja starrte ihren Kollegen mit offenem Mund an. Hatte Kalle das gerade wirklich alles gesagt, oder hatte sie Halluzinationen?
»Was denn? Hast du noch nie einen Mann gesehen, der eine Frisur erkennt?«
»Äh, ehrlich jetzt? Nein! Frag mal Ralf. Der würde nicht mal zusammenzucken, wenn ich eine Papiertüte auf dem Kopf tragen würde.«
Kalle grinste von einem Ohr zum anderen. »Geschenkt! Kollege Ralf ist ein bedauerlicher Sonderfall. Nein, du darfst nicht vergessen, dass meine Schwester als Stylistin in Köln arbeitet. Ich hab mit ihr für ihre Prüfung geübt. Da bleibt natürlich einiges an profundem Halbwissen hängen, mit dem man nette Kolleginnen frühmorgens aus der Fassung bringen kann.«
»Kalle Seelbach, du überraschst mich doch immer wieder.«
Tanja öffnete die Tür eines Hängeschranks, um nach der Vorratspackung Würfelzucker zu angeln, und stöhnte auf.
»Tanja, was ist los? Ach, ich weiß schon, der Idiot vorgestern.«
Tanja rieb sich die Nieren und nickte. »Ich hätte halt aufpassen müssen.«
Kalle wiegte den Kopf. »Ich würde mal sagen, unser lieber Sascha hätte auch aufpassen können.«
Tanja und Sascha waren zu einem Einsatz gefahren. Jemand hatte die Polizei angerufen, ein paar Jugendliche seien dabei, den Runden Turm vollzuschmieren. Der mittelalterliche Wehrturm war ein Wahrzeichen der Stadt, da waren Graffitis nicht gern gesehen.
»Ich hätte halt auf Sascha warten müssen, aber ich wollte den Kerl unbedingt erwischen«, erklärte Tanja.
»Von wegen – ich kenn doch die Story von Sascha. Ihr seid angekommen, ein Typ ist weggelaufen. Sascha hatte keine Lust auf einen Spurt und ist in aller Seelenruhe neben den beiden Knaben stehen geblieben, die zu blöd waren, wegzurennen.«
»Na ja, ich hab mich ja auch nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Als ich durch den Torbogen der Stadtmauer gerannt bin, habe ich einen Schlag von der Seite abbekommen. Ich bin gestolpert und hingeknallt. Vom Boden aus konnte ich nur noch sehen, wie zwei Gestalten quer über den Parkplatz im Dunkel verschwanden.«
»Wenn du meine Meinung hören willst, dann hätte Sascha deinen Part übernehmen müssen. Wer gibt denn immer damit an, dass er Halbmarathon läuft? Tut es sehr weh?«
»Der hat mit einem Rucksack voller Spraydosen zugeschlagen. Am meisten schmerzt aber mein Ego, das kannst du mir glauben.«
Kalle griff an Tanja vorbei, holte den Zucker oben aus dem Schrank und hielt ihr die Packung hin. »Da, bitte schön.«
»Danke, Kalle. Ich werde –« Tanja wurde von Ralf unterbrochen, der in die Kaffeeküche platzte.
»Da bist du ja noch, Tanni. Oh, hi, Kalle. Hört mal, ich hatte gerade einen aufgeregten Arzt aus dem Krankenhaus am Telefon. Der hat einen jungen Sprayer mit merkwürdigen Symptomen und einer gebrochenen Hand in Behandlung.«
Tanja und Kalle wechselten einen kurzen Blick.
»Wie hoch stehen die Chancen, dass in einer so kleinen Stadt verschiedene Gruppen von Sprayern unterwegs sind?«, fragte Kalle grinsend.
»Wenn er nicht dabei war, weiß er vielleicht immerhin, wer ansonsten dazugehört. Das kriegen wir raus, so viel bin ich dem blauen Fleck auf meinem Rücken schuldig. Ralf: Kalle und ich übernehmen das.«
In den letzten beiden Jahren hatte ich hier auf dem Campingplatz keinen großen Bedarf an ausgefeilter Technik gehabt. Mir reichte Onkel Hans’ alter Laptop. Meinem Kumpel Steffen trieb dieser Computer immer die Tränen der Verzweiflung in die Augen. Nun muss ich zu meiner Verteidigung sagen, dass das mit Steffen oft so war. Meistens konnte er, der im Computer-Olymp zu Hause war, gar nicht fassen, mit was für veralteten Geräten wir Normalsterblichen unsere Zeit verschwendeten.
Aber meinen Ansprüchen genügte der Rechner.
Steffen hatte für mich Skype installiert. Unter Protest. Der Preis für seine Hilfe waren ein paar Witze auf meine Kosten. So was wie: »Denk immer daran, Kohlen bei dieser Möhre nachzulegen, sonst wird das Bild schwächer.«
Ich hatte also Skype, und es gab nur einen einzigen Menschen, der mich darüber kontaktierte: meine Freundin Susanne Winkler. Oder Ex-Freundin? Wenn ich das nur so genau wüsste. Unser Beziehungsstatus war … unklar.
Das lag nicht an mir. Falsch. Es lag schon auch an mir – und daran, dass Susanne endlich ihren Traumjob hatte. Susanne lebte und arbeitete als freie Journalistin in Frankfurt. Nun wollte ich nicht nach Frankfurt ziehen, und sie konnte es sich beruflich nicht erlauben, hier in der Osteifel zu wohnen. Susanne hatte ein paar wirklich gute Storys geschrieben, die bundesweit für Aufsehen gesorgt hatten. Jetzt arbeitete sie für die Großen der Branche. Sie trat damit in die Fußstapfen ihres verstorbenen Bruders, der zwei Pulitzer-Preise gewonnen hatte. Susannes Karriere-Rakete zündete gerade die nächste Hauptstufe.
Also lebte jeder von uns sein Leben. Und irgendwann vor ein paar Monaten war der Punkt gekommen, da war das gegenseitige Besuchen mehr zum Pflichtprogramm geworden. Wir waren eine Zeit lang unseren Weg zusammen gegangen, bevor Susanne einen Sprint eingelegt hatte, nur dass ich nicht mitrennen wollte.
Ende letzten Jahres hatte sie von der UN-Klimakonferenz in Lima berichtet. Sie blieb in Südamerika. Wo sie zurzeit steckte, wusste ich nicht genau. Was ich wusste, war, dass ein gewisser Steve von der New York Times auffällig häufig in ihren Nachrichten vorkam. Hey, man musste kein Genie sein, um zu erkennen, was sich da anbahnte.
Beziehungsfrust am Geburtstag, das lag mir nicht. Also versuchte ich, nicht über Dinge zu grübeln, die ich sowieso nicht ändern konnte. Klappte ganz gut, bis zu dem Moment, wo Susannes schmales Gesicht auf meinem Laptop auftauchte. Sie hatte schon vorher geschrieben, dass sie sich um zehn Uhr deutscher Zeit via Skype melden wollte, und sie war pünktlich.
Selbst in dieser pixeligen Auflösung sah sie umwerfend aus. Susanne erinnerte mich immer an die junge Sandra Bullock, nur dass sie mittlerweile ihre Haare kürzer trug.
»Hi, Paul! Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag. Wie geht es dir? Schmeißt du heute Abend eine Party und lässt das Pöntertal beben?«
»Hi, Susanne, ich glaube kaum, dass es mir gelingen wird, die Bude hier zu rocken. Wo steckst du denn gerade?«
»Ich? Ich bin jetzt in Mexiko, ich bleibe noch drei Tage in Mexiko-City und fliege dann nach New York. Ich soll für den SPIEGEL von der UNO berichten.«
»Dann sind die Aussichten ja nicht sehr groß, dass wir uns in den nächsten Wochen sehen werden.«
Ich hatte mir wirklich vorgenommen, keine Verbitterung zu zeigen. Susanne hatte ein Recht auf ihr eigenes Leben und ihren Erfolg. Sie besaß aber ein sehr feines Gespür für Stimmungen.
»Ach, Paul, du weißt doch auch … ich meine, wir hatten eine wirklich tolle Zeit zusammen, aber …«
Wir hatten eine tolle Zeit – für sie war unser Beziehungsstatus also klar, dachte ich.
»Wir sollten uns beide besser an den Gedanken gewöhnen, dass wir gute Freunde sind, aber nicht mehr. Ist es das, was du sagen wolltest?«
In Susannes Augen schimmerte es feucht, und ich selbst hatte einen Kloß im Hals. So ein Gespräch sollte man von Angesicht zu Angesicht führen, wenn man den anderen dabei in den Arm nehmen kann, und nicht über eine Internetleitung. Aber jetzt war das Thema auf dem Tisch. Wir waren lange genug um eine Entscheidung herumgeschlichen.
»Gute Freunde – das wäre das Ziel. Ich könnte mir ein Leben ohne dich schwer vorstellen. Will ich auch gar nicht, nicht nach allem, was wir durchgemacht haben. Aber es ist nicht mehr das, was es mal war.«
»Nein, wohl nicht.«
»Paul, ich weiß, dass das jetzt völlig unpassend ist, aber … ich … ich habe nicht viel Zeit. Ich wollte dir eigentlich nur schnell gratulieren.« Sie lächelte wehmütig. »Hier ist es drei Uhr früh, und ich werde in knapp zwei Stunden von einem Fahrer abgeholt. Ich muss unbedingt noch ein bisschen schlafen.«
»Schon gut, es war schön, dass du dich gemeldet hast.«
»Richte Helga bitte Grüße aus. Natürlich auch Kalle und den anderen. Ich … ich umarme dich.«
Susannes Bild fror ein, und die Verbindung wurde getrennt. »Ich umarme dich auch«, murmelte ich. Entschlossen klappte ich den Laptop zu.
»Paul? Paul, könntest du mir gerade –«
Helga stand in der Tür meiner Wohnung. Sie sah den Laptop, mein Gesicht, und sie wusste von dem angekündigten Anruf. Das genügte ihr, um die richtigen Schlüsse zu ziehen.
»Ach, Paul, es tut mir leid. Im Grunde deines Herzens wusstest du es schon länger, nicht wahr?«
Ich nickte nachdenklich. »Ja, Helga, und jetzt ist es ausgesprochen.«
»Etwas auszusprechen ist immer besser.«
Ich gab mir einen Ruck. Jackie Chan hatte einmal gesagt: »Das Leben zwingt uns oft auf den Boden, aber du kannst entscheiden, ob du liegen bleibst oder wieder aufstehst.« Ich war einfach nicht der Typ fürs Liegenbleiben.
»Und nun zu den Meldungen aus Ihrer Region.
Mayen. Die mutwillige Zerstörung des Marktbrunnens sorgt immer noch für Aufregung in der Bevölkerung. Unbekannte hatten in der Nacht von Samstag auf Sonntag die Ausläufer des Brunnens mit Bauschaum verschlossen, Metallteile verbogen und die Mauern mit Graffiti versehen. Wie ein Sprecher der Stadt in einer ersten Stellungnahme bestätigte, belaufen sich die Kosten für die Beseitigung der Schäden auf mehrere tausend Euro. Der Marktbrunnen in Mayen wurde 1813 errichtet und nach dem Zweiten Weltkrieg mehrfach aufwendig restauriert. Von den Tätern fehlt bislang jede Spur.
Gibt es hier möglicherweise einen Zusammenhang mit den Graffitis am sogenannten Erlenbrunnen? Diese Quelle zwischen Bell und Mendig wurde vor gut zwei Wochen verunstaltet. Auch hier waren Unbekannte mit Bauschaum und Farbdosen am Werk.
Ein Polizeisprecher bestätigte uns auf Anfrage, dass man beide Fälle im Blick habe, es sich aber wahrscheinlich bei dem Marktbrunnen in Mayen um Nachahmungstäter handele. In beiden Fällen wurde Strafanzeige wegen Sachbeschädigung und Vandalismus gegen unbekannt erstattet.«
Tanja und Kalle warteten am Informationsschalter des Krankenhauses. Neugierig wurden sie von etlichen Patienten gemustert, die in Bademantel, Sporthosen und Hausschuhen durch den Haupteingang nach draußen strebten, um dort eine schnelle Zigarette zu rauchen oder einfach nur auf einer der Bänke in der Frühlingssonne zu dösen. Tanja stieß Kalle an. »Schau mal, ich glaube, da kommt unser Doc.«
Von den Aufzügen kam ihnen ein Arzt entgegen, suchte den Blickkontakt und lächelte sie an.
»Entschuldigen Sie bitte, dass Sie warten mussten. Ich bin noch aufgehalten worden. Zunder. Dr. Jakob Zunder.«
»Meine Kollegin Polizeikommissarin Dievenbach. Und ich bin Polizeioberkommissar Seelbach«, sagte Kalle.
»Hätten Sie beide etwas dagegen, wenn wir uns draußen in die Sonne setzen? Ich bin jetzt schon seit einer kleinen Ewigkeit auf den Beinen und würde mich wirklich über ein wenig Sonnenlicht freuen.«
Kalle musterte Zunder. Der Arzt trug seine langen braunen Haare zurückgekämmt, was die Geheimratsecken deutlich hervorhob. Eine schmale Lesebrille mit hellrotem Gestell baumelte an einem Band um seinen Hals. Sie war der einzige Farbfleck an dem ansonsten in Weiß gekleideten Mediziner.
Kalle wechselte einen kurzen Seitenblick mit Tanja, die zuckte nur kurz mit den Schultern, was Kalle als Zustimmung auslegte.
»Natürlich. Vorausgesetzt, dass wir draußen auch ungestört miteinander sprechen können«, sagte er.
»Ich glaube kaum, dass es bei mir um sensible Patientendaten geht.« Zunder deutete eine kleine Verbeugung gegenüber Tanja an und wies mit der flachen Hand zum Haupteingang. »Bitte, Frau Kommissarin, nach Ihnen.«
Tanja bedankte sich mit einem Lächeln und steuerte draußen eine der leeren Bänke an, die möglichst weit von den übrigen Patienten entfernt stand.
Zunder setzte sich und streckte die Beine mit einem leisen Seufzen aus.
»Ah, ja. Ob Sie es glauben oder nicht, aber als ich so alt war wie Sie beide, haben mir die Nachtschichten noch nichts ausgemacht. Heute dagegen fühle ich mich nach so einer Nacht wie ein alter Mann.«
Kalle schätzte den Arzt auf höchstens zehn Jahre älter, allerdings fielen ihm hier in der Morgensonne auch die fahle Hautfarbe und die dunklen Ringe unter den Augen auf. Zunder war also tatsächlich erschöpft und kokettierte nicht gegenüber Tanja mit seinem Alter.
»Herr Dr. Zunder, Sie haben bei uns angerufen, weil Sie einen verdächtigen Patienten haben«, begann Kalle.
»Nein, da muss ich Sie korrigieren. Der Patient ist nicht verdächtig, nur die Begleitumstände seiner Einlieferung.« Zunder lächelte schief.
»Dann erzählen Sie doch am besten einfach von vorne«, bat Tanja.
»Also heute früh so gegen vier haben ein paar Frühaufsteher den Notruf angerufen. Die Kollegen sind zum Marktplatz gefahren und haben dort neben dem Bäckerjungenbrunnen einen jungen Mann gefunden, der lag der Länge nach auf dem Bauch, hielt sich die Ohren zu und weinte hemmungslos. Er war nicht ansprechbar, Ringfinger und Mittelfinger der rechten Hand waren gebrochen, also brachten sie ihn zu mir in die Notaufnahme.«
»Sie sagten gerade, der Mann sei nicht ansprechbar gewesen? Auch nicht, nachdem er bei Ihnen eingeliefert worden war?«
»Also das Weinen ging recht schnell in einen Wutausbruch über, und zwar so heftig, dass wir uns gezwungen sahen, ihm ein Beruhigungsmittel zu spritzen. Er hätte sonst sich selbst und andere verletzt.«
»Waren da Alkohol oder Drogen im Spiel?« Kalle hatte sich ein paar Notizen gemacht und schaute jetzt von seinem Block hoch.
»Sehen Sie, deshalb habe ich bei Ihnen angerufen. Normal ist das ja nicht, dass ein junger Mann auf dem Boden liegt und wie ein Schlosshund heult. Und bei seinem Tobsuchtsanfall hatte ich auch nicht das Gefühl, dass er gezielt mich oder die Schwestern angriff. Ich habe genug Drogenfälle erlebt. Für mich wirkte es so, als wüsste er nicht einmal, wo er war. Ja, das alles sah nach Drogenmissbrauch aus. Doch jetzt kommt das ganz große Aber. Wir haben einen Drogenschnelltest mit Speichel durchgeführt. Der Mann ist absolut clean. Keine Drogen, kein Alkohol, der hat nicht mal ein Pfefferminzbonbon gelutscht. Den Laborbefund des Bluttests werde ich natürlich erst in vierundzwanzig Stunden haben, aber das Ergebnis des Schnelltests in Kombination mit diesem Verhalten hat mich dann doch sehr überrascht.«
»Können wir mit ihm sprechen?«, fragte Tanja.
»Nein, im Moment schläft er. Aber sobald er wach ist, werde ich oder ein Kollege Sie informieren.«
»Hatten Sie in der letzten Zeit schon einmal einen vergleichbaren Fall?«
»Nein, Herr Seelbach. Aber wie gesagt, ich dachte, die Umstände sind ausreichend merkwürdig, um Sie zu verständigen.«
»Gut, herzlichen Dank.« Kalle steckte den Block ein und stand auf. Tanja folgte seinem Beispiel.
»Ach ja, eines habe ich noch vergessen, auch wenn das mit der aktuellen Situation meines Patienten nichts zu tun hat.«
»Ja, Herr Doktor?«
»Der Mann hat auf beiden Beinen schmale Schnitte, ich schätze, ein gutes Dutzend oder mehr. Alle nicht länger als drei, vier Zentimeter. Ich schätze, die sind bestimmt schon zwei, drei Wochen alt.«
»Irgendeine Erklärung für die Schnitte, ein Arbeitsunfall oder etwas Ähnliches?«, fragte Tanja.
»Nein, dafür waren sie zu regelmäßig. Es gibt ja Patienten, die sich selber ritzen, aber in der Menge an den Beinen … hmm, ich kann mir darauf keinen Reim machen. Ich würde auf jeden Fall unsere Psychologin bitten, mit dem Mann zu sprechen, sobald er wieder wach ist.«
***
»Was hältst du davon?«, fragte Kalle Tanja, als sie durch den kleinen Park an der Ruine der kurfürstlichen Burg zurück zur Polizeiinspektion gingen.
»Für mich klingt das schwer nach Drogen, auch wenn der Speicheltest etwas anderes sagt. Wir sollten noch kurz zum Marktplatz rübergehen. Vielleicht haben die Notfallsanitäter ja etwas übersehen, was uns weiterhelfen kann.«
»Gute Idee«, sagte Kalle.
***
Fünf Minuten später inspizierte er den Bäckerjungenbrunnen. »Na, weit ist er ja nicht gekommen, unser kleiner Künstler.«
Tanja trat näher und musterte den angefangenen Schriftzug. »Der Farbton passt zu den Graffitis am Friedhof. Warte mal.« Tanja zog ihr Smartphone aus einer Tasche ihrer Cargohose und öffnete die Bildergalerie. »Hier, schau mal.« Sie hielt das Smartphone neben den Basaltstein des Brunnens.
»Wo ist das?«, fragte Kalle.
»Das ist eine der Schmierereien auf dem Friedhof. Hier unten«, sie vergrößerte mit zwei Fingern die Aufnahme, »siehst du, dass der Spiralbogen an dem tag ›Dead-Man‹ mit dem Anfangsbogen auf dem Stein nahezu identisch ist. Ich würde mal sagen, wir haben unseren Sprayer gefunden.«
»Meinst du, unser Freund ist auch für deinen blauen Fleck auf dem Rücken verantwortlich?«
»Ich befürchte, das werden wir ihm nur schwer nachweisen können. Ich hab ihn ja nicht einmal richtig gesehen. Aber sollte er dahinterstecken, kann er sich auf was gefasst machen.«
***
Zur selben Zeit schenkte sich Jakob Zunder einen großen Becher Kaffee ein. Mit einem leichten Schaudern sah er die öligen Schlieren auf der Oberfläche. Was gäbe er jetzt für einen Cappuccino mit geschäumter Milch und einer Prise Zartbitterkakao. Zunder schaute auf die Uhr. Noch zwei Stunden Schreibarbeit in seinem Büro, dann hatte er frei. So lange musste diese gut durchgezogene Plörre hier im Becher reichen. Er trank einen Schluck und schüttelte sich kurz. Egal, besser als nichts.
»Dr. Zunder!« Ein junger Pfleger stand heftig atmend in der Tür. Zunder kannte ihn nur vom Sehen, weil er erst seit einer Woche im Krankenhaus arbeitete. »Ja, was gibt es denn?«
»Schwester Katrin schickt mich, es geht um den Patienten in 317.«
Zunder wunderte sich, dass die Stationsschwester ihn nicht einfach über das interne Pager-System informiert hatte.
Zunder goss den Kaffee in den Ausguss. Er hätte ihn ja gern mitgenommen, aber ein Arzt mit einem Kaffeebecher in der Hand, der über die Flure läuft und sich womöglich noch mit Kaffee bekleckerte … nee, besser nicht.
»Ich komme direkt mit.«
Vor der Tür des Zimmers 317 standen zwei weitere Schwestern und tuschelten aufgeregt miteinander. Respektvoll traten sie zur Seite und gaben Zunder die Tür frei. Der junge Mann mit den gebrochenen Fingern war der einzige Patient im Zimmer 317. Die beiden Betten rechts und links von ihm waren derzeit nicht belegt.
Katrin Plauer war eine erfahrene Krankenschwester, und Zunder schätzte ihre Besonnenheit und ihren Humor, doch jetzt sah sie todernst und schreckensbleich aus.
»Was ist denn los, Katrin? Er sieht doch ganz ruhig aus.«
»Jakob, er ist tot.«
Die Krankenschwester trat zur Seite und gab jetzt den Blick auf den Patienten frei. Jakob Zunder traute seinen Augen nicht. Blut, überall war Blut. Es war aus der Nase gelaufen, aus dem Mund, sogar aus den beiden Augen hatte der Patient geblutet. Lange, dünne Rinnsale zogen sich wie makabre Tränenspuren die Wangen entlang. Zunder räusperte sich. »Ruf bitte die Kriminalpolizei in Koblenz an und informiere bitte auch Polizeioberkommissar Seelbach bei der Andernacher Polizei. Ich möchte, dass dieses Zimmer sofort versiegelt wird. Hast du den Patienten angefasst?«
»Ja, aber nur kurz, er war schon tot, aber ich habe natürlich den Puls kontrolliert.« Zunder wollte schon etwas sagen, als sie nachschob: »Und ich habe Handschuhe getragen.« Katrin warf einen nervösen Seitenblick auf den Mülleimer in der Ecke.
»Gut, der Mülleimer darf dieses Zimmer nicht verlassen.«
»Aber warum?« Zunder hörte die Panik in Katrins Stimme. Eine Panik, die er selbst gerade in sich aufsteigen spürte. Das hier war Andernach, Andernach am Rhein, nicht Westafrika. Verdammt, der Kerl hatte nicht einmal erhöhte Temperatur gehabt, geschweige denn Fieber. Aber was wusste er schon über eine Krankheit, die bislang Tausende von Kilometern vom Rhein entfernt wütete? Er war auf so etwas nicht vorbereitet. Dennoch hatte er nun einmal die Verantwortung, zumindest vorerst.
»Gut, niemand fasst diesen Patienten an.«
»Aber Jakob …«
»Niemand, habe ich gesagt. Mir fallen nicht viele Erkrankungen ein, bei denen Patienten aus allen Körperöffnungen bluten. Bitte informiere die Krankenhausleitung, das Büro soll auch das Gesundheitsamt anrufen.«
So ein Scheiß, dachte Zunder, ich habe überhaupt keine Ahnung, wen man noch ansprechen oder warnen muss. Darüber sollten sich andere den Kopf zerbrechen. Himmel, die Blutprobe. Er atmete einmal tief durch. Hoffentlich hatte er nichts vergessen. Für so etwas war er einfach nicht ausgebildet.
»Katrin, ruf auch das Labor an, die sollen die Blutprobe, die wir geschickt haben, nicht anrühren. Versiegeln und sichern. Und was Polizei und Verwaltung betrifft, die sollen sich verdammt noch mal beeilen. Sag ihnen, wir haben hier möglicherweise einen akuten Fall von Ebola.«
»Ebola? Im Ernst jetzt, in Andernach? Ich glaub’s ja nicht.« Steffen schaute Kalle zweifelnd an.
Meine beiden Freunde saßen an meiner Küchentheke, während ich noch das Salatdressing rührte. Sie waren zu früh gekommen, aber es machte ihnen nichts aus, wenn ich ihnen nicht meine volle Aufmerksamkeit als Gastgeber schenkte, dafür kannten wir uns zu gut.
Kalle hatte von seinem Tag erzählt. Bei dem Wort »Ebola« horchte ich allerdings auf. »Steffen hat recht, ist das nicht ausgesprochen unwahrscheinlich? Der Tote war doch, wie du erzählt hast, Andernacher.«
Kalle zuckte nur mit den Schultern. »Ich hab es auch nicht geglaubt, aber dieser Dr. Zunder, den Tanja und ich – also meine Kollegin und ich – kurz vorher vernommen haben, wollte auf Nummer sicher gehen. Tatsächlich hat der Tote kein Fieber gehabt, und seine Eltern haben uns versichert, dass er mit ihnen in den letzten Jahren nicht weiter als bis Mallorca gekommen ist. Morgen werden wir uns darum kümmern, den Freundeskreis des Jungen zu durchleuchten. Der arme Kerl war gerade mal siebzehn Jahre alt und sollte im kommenden Jahr Abitur machen. Die Mutter des Jungen hat einen Nervenzusammenbruch, und der Vater weiß nichts über mögliche Freunde oder die nächtlichen Aktivitäten seines Sohnes.«
Mir fiel auf, dass sich mein Freund Kalle bei der Erwähnung seiner Kollegin Tanja körperlich unwohl zu fühlen schien. Bei meiner NATO-Spezialeinheit gab es mal einen Crashkurs in Sachen Körpersprache. Das konnte sehr nützlich sein, wenn man einen Verdächtigen verhörte. Meiner Meinung nach war Tanja mehr als nur eine Kollegin für Kalle. Seine Stimme hatte bei der Erwähnung ihres Namens eine andere Tonhöhe bekommen, und die Betonung von Tanjas Status als Kollegin kam eine Spur zu hastig und zu bestimmt. Außerdem hatte Kalle dabei unwillkürlich mit dem Zeigefinger seinen Mund berührt. Wahrscheinlich hatte er diese kleine Geste nicht einmal selbst bemerkt. Kinder schlagen die Hand vor den Mund, wenn sie die Unwahrheit sagen. Wir Erwachsenen sind da viel beherrschter, aber so ganz können wir unsere Hände doch nicht kontrollieren. Tanja also, dachte ich amüsiert. Warum nicht, ich hatte sie ein-, zweimal getroffen. Sie war hübsch, vor allem aber hatte sie die Art von Humor, die Kalle und mir gefiel, und sie schien mir eine wirklich gute Polizistin zu sein.
»Ob Ebola oder nicht, gruselig sah das schon aus, ihr macht euch ja kein Bild.«
Steffen rutschte unruhig hin und her. Er hatte mal für Kalle Tatortfotos aus einer Datenbank geklaut, was ihm damals ziemlich den Appetit verdorben hatte.
»Ich glaube, wir verzichten ausnahmsweise mal auf die blutigen Details, Kalle«, bat ich. Schließlich wollte ich nicht die nächsten Tage Reste des Nudelauflaufs essen, nur weil Steffen keinen Hunger mehr hatte.
»Schon klar, Paul. Also kurzum, der Kerl ist tot, und es war kein schöner Tod. Dr. Zunder schwört übrigens Stein und Bein, dass keine Drogen im Spiel waren.«
»Howdy-hoh – was hör ich da, es gibt heute keine Drogen? Das ist aber jammerschade.«
Bonzos große, breite Gestalt füllte den Türrahmen. »Sorry, Männer, hier stand alles offen, da habe ich mal auf die Formalitäten verzichtet.«
Bonzo, mit bürgerlichem Namen Hans-Jürgen Bermel, war mit Kalle und Steffen zusammen in die Schule gegangen. Damals hatte ich ihn ab und zu mal beim Fußballspielen getroffen, aber seit einem halben Jahr gehörte dieser Bär von einem Kerl zu meinen besten Freunden. Bonzo war bekennender Westernfan. Die Haare trug er lang und zurückgekämmt. Sein ganzer Stolz war ein mächtiger Sichelschnäuzer – Marke Wyatt Earp. Zur Feier des Tages hatte er zum Jeanshemd, Lederweste und enger Jeans seine Schlangenlederstiefel mit Silberspitze angezogen, dazu trug er den obligatorischen Stetson. Den Cowboyhut nahm er nur im Bett, unter der Dusche und – zwangsweise – bei seiner Arbeit im Baumarkt ab. Wenn er als Abteilungsleiter des OBI in Mayen durch die Gänge streifte, sah es wahrscheinlich trotzdem so aus, als würde der Marshall von Dodge City seine Runde machen.
»Ihr habt doch wohl nicht ohne uns angefangen?«
»Wo denkst du hin? Natürlich nicht«, antwortete Kalle. »Steffen war nur in seiner Computerfirma früher fertig und hat mich freundlicherweise in Kell abgeholt und mitgenommen.«
»Mach Platz, du Grizzly, du hättest ja auch mal die Torte nehmen können«, ertönte eine Frauenstimme hinter Bonzo. Der beeilte sich, die Tür freizugeben. »Sorry, Schatz.«
Andrea Bermel, Bonzos bessere Hälfte, betrat den Raum, in den Händen eine große Torte mit brennenden Kerzen. »Happy Birthday, Paul. Während Bonzo sich hier in der Tür festgequatscht hat, musste ich ganz allein die Kerzen anzünden. So, bitte schön, alle brennen noch. Wenn du alle in einem Zug ausbläst, darfst du dir was wünschen. Aber nicht laut sagen!« Andrea stellte die Torte auf die Theke, und ich holte tief Luft, um die Kerzen auszublasen. Ein Wunsch. Ich schloss kurz die Augen. Dieser Abend hier mit meinen Freunden war genau das, was ich brauchte. Ich schaffte alle Kerzen mit einem Atemzug.
***
»Sag mal, Paul, brauchst du eigentlich noch Hilfe?«
»Ja, Kalle, du könntest gleich den Auflauf aus dem Ofen holen. Ich habe immer Sorge mit der Prothese.«
»Lass mal, Kalle, den hole ich raus«, sagte Andrea. »Ihr Männer könnt euch um die Getränke kümmern.«
Andrea kam zu mir hinter die Theke und zwinkerte mir zu. »Na, wie klappt es mit der neuen Hand?«
Ich öffnete und schloss die Finger meiner bionischen Hand. Im letzten Jahr hatte ich das erste Modell bekommen, mittlerweile trug ich sozusagen ein Upgrade. »Die ist unglaublich, vor allem, was die Akkuzeit betrifft. Ich mach mir keine Sorgen mehr, dass der Prothese mal der Saft ausgehen könnte. Außerdem hat mir meine Ärztin in Frankfurt versichert, dass das neue Modell noch stabiler ist. Nur bei einem zweihundert Grad heißen Ofen bin ich vorsichtig. Wer weiß, ob die Elektronik das aushält.«