Eigentlich ganz banal.... - Sophie Ende - E-Book

Eigentlich ganz banal.... E-Book

Sophie Ende

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Beschreibung

Johanna lebt komfortabel in einer Ménage à Trois in einem Hochhaus. Jeden Morgen holt sie für ihre beiden Männer die Zeitung aus dem Briefkasten und steigt damit die Treppen hinauf. Dabei überfliegt sie die Schlagzeilen, die neuen Grafitti an den Wänden, und hat auch die eine oder andere Begegnung. Vor allem aber denkt sie über ihre Dreiecksbeziehung nach und ist gleichzeitig dankbar, der Hölle ihrer ersten Ehe mit einem gewalttätigen Alkoholiker entronnen zu sein.

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Veröffentlichungsjahr: 2023

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Sophie Ende

Eigentlich ganz banal....

Roman

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Roman

 

 

Jeden Tag läuft sie die Treppe bis ganz hinauf, das gehört zur morgendlichen Routine wie Zähneputzen. Im Lift abwärts rhythmisch Bauch einziehen, Bizeps ballen, ein paar Grimassen schneiden. Dann die Tageszeitung aus dem Briefkasten geholt und die 20 Stockwerke hoch, 300 Stufen, sie hat es gezählt.

Selten muss sie ihre Gymnastik ausfallen lassen, weil sie den Aufzug mit einem anderen Hausbewohner teilt - die arbeitende Bevölkerung ist schon früher aufgebrochen. Da gibt´s dann eben Smalltalk: "Mei, heit ist wieder greislig draussd, gell?" oder " Eahna hob scho lang nimmer gsehn, i hob scho gmoant, Sie wohna nimma do?" "Naa, naa, mir san scho no do."

Noch seltener muss sie jemand erklären, dass sie nicht mit ihm hinauffahren will:

" Danke, ich gehe zu Fuß! Wegen der Fitness!" "Wos? Des kenna Sie? Mei, wia weit miassens denn do? Ganz auffi? Des kannt i ned! Ja um Gods Wuin!"

Aber seit dem Ausbruch der Pandemie will ohnehin jeder den Aufzug für sich alleine und wartet, bis er einen freien bekommt.

Bis zum fünften, sechsten Stock hat sie die Schlagzeilen der ersten Seite der SZ überflogen. " Kriegsangst, Kurse purzeln!" Natürlich. Sie fragt sich dann immer, was besser wäre: Hätte sie mehr Aktien, wäre ihr Ärger momentan noch größer. Sonst macht sie sich Vorwürfe, dass sie nur einen kleineren Teil ihres Erbes in Aktien angelegt hat, weil sie auf den Erbschaftsteuerbescheid wartet. Da muss sie noch eine Menge bezahlen. Aber was wäre, wenn die Aktien so fielen, dass der Erlös beim Verkauf nicht mal mehr dafür reichte? Sie beschließt dann, alles so zu lassen, wie es ist, und möglichst wenig darüber nachzudenken.

Sobald die Krise vorbei ist, werden die Kurse wieder in die Höhe schnellen, und sie wird sich fragen, weshalb sie nicht längst nachgekauft hat.

Überhaupt geht ihr viel durch den Kopf beim Treppensteigen. Regelmäßig, wenigstens in den Wintermonaten, muss sie im 8. Stock zum zweiten Mal das Licht anknipsen. Das leuchtet ihr dann bis zum 15. Stockwerk. Dort oben ist es schon heller, und bei schönem Wetter kann sie jetzt, Ende Januar, den Rest der Treppe ohne Licht begehen. Aber der Stopp im 8. Stock erinnert sie auch regelmäßig an Clemens, denn er wohnt dort. Auch im Sommer, wenn sie kein Licht braucht, denkt sie an ihn, er ist mittlerweile fester Bestandteil ihres Daseins.

 

 

 

Johanna lehnte sich befriedigt an die Innenwand des Aufzugs. Noch eine Umzugskiste und ihren Koffer - dann hätte sie diese Fuhre untergebracht und könnte die letzte aus ihrer alten Wohnung holen. Bernd und die Möbelpacker, denen er von seinem früheren Domizil aus voran fuhr, hätten dann freie Bahn....

Der Lift stoppte abrupt. Durch die sich öffnende Tür trat ein Mann, ein gut aussehender, eher ein Herr, wie man so sagt. Weißes, volles Haar, gebräunte Haut, leger-elegantes Jackett. Hellblaue Augen, die bei ihrem Anblick mit einem Lächeln aufstrahlten.

"Grüß Gott, wohnen Sie hier? Ich hab Sie noch nie gesehen..."

"Das wundert mich nicht, wir sind gerade beim Einzug."

"Ah, des freut mich. Dann seh mer uns jetzt ja vielleicht öfters! Vielleicht trink mer auch amal al Glaserl zusammen, zum Einstand?"

"Schau mer mal..." erwiderte Johanna und winkte ihm noch jovial zu, während sie im Erdgeschoss den Lift verließ und mit großen Schritten aus dem Foyer auf die Straße lief. Sie bemerkte noch, dass er ihr bewundernd nach schaute. Soviel Eindruck hatte sie schon lange nicht mehr auf einen Mann gemacht.

„Sympathisch“, dachte sie, „und deutlich hörbar ein Münchner. Aber das mit dem Glaserl Wein sollten wir lieber lassen.“

Johanna war zu dieser Zeit jung verheiratet, wobei das Attribut "jung" sich lediglich auf die Dauer der Ehe bezog. Sie selbst war nicht mehr jung, sie befand sich kurz vor dem Rentenalter, und Bernd, ihr zweiter Mann, genoss schon lange seine Pension. Auch ihre Beziehung konnte man nicht mehr als jung bezeichnen - sie kannten sich bereits seit sieben Jahren und hatten schon einige Krisen bewältigt, so auch Bernds schwere Krebserkrankung. Nachdem es feststand, dass er sie überlebt hatte, war er es, der darauf drängte, dass sie einen gemeinsamen Haushalt gründeten. Johanna konnte von sich nicht behaupten, dass sie darauf besonders erpicht gewesen wäre. Sie lebte seit einem Jahr ganz allein in einer Vierzimmerwohnung, nachdem auch ihre jüngste Tochter ihr Abitur bestanden und gleich darauf in eine WG gezogen war, und sie fühlte sich, ohne die ständigen Verpflichtungen der Hausfrau und Mutter, so wohl wie noch nie in ihrem Leben.

Sie war auch überzeugt, dass Bernds Vorhaben am Münchner Wohnungsmarkt scheitern würde. Zu ihr in die Mietwohnung wollte er nicht ziehen, obwohl sie reichlich Platz bot, und seine Zweieinhalb-Zimmer-Eigentumswohnung war gar nicht einmal zu klein für zwei Personen, aber ungünstig geschnitten.

Sie besichtigten einige Angebote, fanden aber nicht, dass sie für das viele Geld, das sie hätten hinlegen müssen, eine wesentliche Verbesserung bekommen hätten.

So blieb alles beim Alten.

Bis Johanna eines Samstags in einem der regelmäßig erscheinenden Werbeblättchen gelangweilt über die Immobilienannoncen hin las. "3-Zi.-Whg. im "Weißen Riesen" , 15. Stock, 180.000€ VB". Sie war elektrisiert. Ein Druckfehler? Aber sicher schon vergeben....

Obwohl sie, " in der Furcht des Herrn erzogen", wie ihre frühere Schwiegermutter zu sagen pflegte, im Allgemeinen ihrem Partner Erkundigungen und Verhandlungen dieser Art überließ, griff sie sofort zum Telefonhörer und vergewisserte sich. " Ja, die Wohnung ist noch zu haben... "

Sie ließ sich das Stockwerk und den Eingang nennen, nein, Adresse bräuchte sie nicht, das Haus kennt man ja...

Eine halbe Stunde später saßen Bernd und Johanna den beiden alten Damen gegenüber, die die Wohnung angeboten hatten. Es stellte sich heraus, dass die eine der Alten unter Demenz litt und in ein Pflegeheim sollte, die andere hatte bisher die Pflege gehandhabt und sollte nun – man höre - in ihren Orden zurückkehren. Ja, eigentlich war sie Nonne und nur zur Unterstützung ihrer Schwester freigestellt worden. Und hier übernahm Bernd die Konversation, denn er hatte mehrere Schuljahre als Zögling in einem von Nonnen geführten Internat verbracht. Die beiden unterhielten sich prächtig. Nein, Bernd war auch nicht unglücklich gewesen im Internat. Er konnte sich nur lobend über die gottgefälligen Ordensschwestern äußern, alle waren nett und freundlich zu ihm gewesen. Das durfte man wohl auch erwarten, nachdem sein Vater ein damals bekannter CSU-Politiker und Stammtischbruder vom Abt gewesen ist. „De Akademiker san immer zamm g´sessen, mei Vater, der Abt, der Arzt und der Apotheker. Später ist dann noch der Verleger von der NNN, der Niederbayerischen Neuen Presse, dazua kemma.“

Die beiden Damen wollten die Wohnung natürlich nur in gute Hände geben, und wo wäre sie in besseren Händen gewesen, als bei Bernd, der sich so mühelos als guter Katholik eingeführt hatte. Dass er inzwischen aus der Kirche ausgetreten war, verschwieg er. Voller Begeisterung reduzierte die Ordensschwester gleich den Kaufpreis nochmal, und ein Teil der Gesamtsumme wurde in Ablöse für die 20 Jahre alte Einbauküche umgedeutet.

Wenn Johanna heute daran zurückdenkt, kann sie gar nicht fassen, dass sie damals nicht in Jubel ausgebrochen war über diese Fügung. 100.000,00 € mehr wären für die Wohnung angemessen gewesen, und heute hat sich ihr Wert mehr als verdoppelt. Für solche Glücksfälle empfand sie immer zu wenig Dankbarkeit, meinte sie.

Jeder hätte den Verkäuferinnen unter diesen Umständen die Wohnung aus den Händen gerissen, aber sie wollten sie nur Bernd geben, weil er als einziger der potentiellen Käufer eine Erziehung im Kloster genossen hatte. Und während er sich mit der 90jährigen Nonne über das Ordensleben austauschte, genoss Johanna den atemberaubenden Blick über die Stadt. Wir oft hatte sie davon geträumt, hier zu wohnen, hoch über den Dächern der Stadt, mit Blick auf die Alpen und Schwimmbad auf dem Dach. Schon in den 70er Jahren, als das Haus fertiggestellt worden war, hatte sich ihre damalige Schwiegermutter für eine Wohnung in dem Hochhaus interessiert. Sie hatte sie damals als zu teuer empfunden.

Der Rest war Formsache - Notar, Renovierung, Umzug und zwischendurch auch kurz entschlossen die Hochzeit, ohne Zeugen und Feier. Obwohl Johanna lange getönt hatte, sie wolle nicht mehr heiraten, ihrer Unabhängigkeit zuliebe, war sie nun doch schnell überzeugt: Wer hätte denn auch die schmucke Wohnung, das Schnäppchen, die sie schließlich erben und vom Wertzuwachs profitieren sollte, verschmäht, ganz abgesehen von Bernds schöner Pension? Etwas unheimlich war ihr trotzdem zumute. Was, wenn Bernd sich ebenso entwickelte, wie Andreas, ihr erster Mann? Hätte sie von ihm damals geglaubt, dass er sie wahlweise ein- oder aussperren, beschimpfen, bedrohen, prügeln und endlos quälen würde? Sie ging lang in sich und stellte tatsächlich fest, dass sie die über die Jahre sich mehrenden Anzeichen seiner Persönlichkeitsstörung unbeachtet gelassen, die zunehmende Trunksucht zwar gesehen und als bedrohlich empfunden hatte, aber hilflos geschehen ließ. Irgendwann war sie so tief in Abhängigkeit geraten, zunächst psychisch, dann auch wirtschaftlich, dass sie nur noch wie das Kaninchen vor der Schlange in Angststarre verharrte. Und nicht zuletzt der Kinder wegen zog sie eine Trennung nur als allerletzte Möglichkeit in Erwägung. Schließlich war es fast zu spät. Nicht nur, dass Andreas sie fast umgebracht hätte - ohne die Hilfe ihrer Mutter wäre sie aus dieser Scheidung vermutlich als Sozialfall heraus gegangen.

Obwohl Bernd noch nie Anwandlungen von Eifersucht gezeigt hatte, wollte sie doch durch einen Flirt mit ihrer Liftbekanntschaft kein unnötiges Risiko eingehen. Zu sehr hatte sie unter ihrem ersten Mann gelitten. Aus purer Gewohnheit ging sie in Abwehrstellung und bekam ein schlechtes Gewissen, sobald sich jemand für sie interessierte, und da war es fast schon egal, ob Mann oder Frau. Selbst auf Johannas Eltern und seine eigenen Kinder war Andreas eifersüchtig gewesen. Sobald sie sich etwas anderem als ihm widmete, hatte er mit schlechter Laune und Vorwürfen reagiert.

 

 

 

Ihr größter Fehler war es wohl gewesen, zu denken, sie könne ihn durch Entgegenkommen und Rücksichtnahme auf diese für sie ja nicht unschmeichelhafte Eigenschaft besänftigen - nichts konnte seinen Argwohn dämpfen. Zuletzt verfolgte er sie in die Waschküche ihres Einfamilienhauses, befürchtend, dass sie sich dort, bepackt mit den schmutzigen Socken und Unterhosen ihrer fünfköpfigen Familie, auf einen schnellen Quickie mit einem Liebhaber traf. Offenbar fühlte er sich ihrer nur sicher wenn er mit ihr im Bett lag und sie begattete. Diese Tätigkeit unterbrach er nur noch notgedrungen, um seinen Alkoholpegel auf Stand zu halten. Johanna schauderte noch heute, wenn sie an die Peinlichkeiten dachte, die sich vor den halbwüchsigen Kindern abgespielt hatten.

Folgende Szene: Johanna saß mit den Kindern im Wohnzimmer, hörte die Älteste lateinische Vokabeln ab. Andreas betrat mit schwerem Schritt den Raum und ließ sich in einem Sessel fallen. "Wo warst du heute?" lallte er bedeutungsschwanger und in drohendem Ton.

Johanna: "Hier, wir lernen, morgen ist Schulaufgabe "

Andreas: "Wo warst du???"

Johanna, gereizt: "Was ist jetzt schon wieder?"

A.: " Man hat dich gesehen!!! "

J.: " Wer hat mich gesehen? "

A.: " Man hat dich gesehen, auf der Bahnhofstraße! "

J.: " Kann nicht sein, ich war die ganze Zeit hier. "

A.: " Man hat dich gesehen, in Pasing! "

J.: " Wo denn nun? Ich soll an drei Orten gleichzeitig gewesen sein? Geklont, ja? "

A.: "Was hast du da gemacht?"

J.: " Ich war hier. „Man“ hat sich getäuscht."

Kind: " Die Mama war die ganze Zeit hier bei uns, die ist nicht weg gewesen. "

A.: "Wo warst du heute?" ......und immer so weiter....

Irgendwie verlief das ganze dann im Sande, er schlief ein, und als er wieder aufwachte war er aus anderen Gründen aggressiv.

Oder: Johanna hatte ihre Jüngste aus dem Kindergarten abgeholt. An der Gartentüre gesellte sich ein kleines Mädchen aus der Nachbarschaft zu ihnen, es wollte zum Spielen kommen. Als Johanna die Haustür aufschloss, hörte sie seltsame Geräusche aus dem Wohnzimmer. Sie öffnete die Tür – da stand Andreas splitterfasernackt auf dem antiken Tisch und strich einen Wasserfleck an der Decke mit Isoliergrund.

Schnell schloss sie die Tür und schickte die beiden verwirrten Kinder nach oben.

Als sich schließlich Andreas mit einer Bierflasche in die Badewanne zurückgezogen hatte, begann sie, die verkleckerte Farbe vom Tisch und vom Parkett zu putzen…..

 

Oder: Andreas war - wie immer - spät nach Hause gekommen. Johanna war - wie immer - jäh erwacht, als er mit dem Schlüssel an der Haustür herumstocherte, und wartete dann - wie immer - angespannt auf den Moment, wo sich seine gegenwärtige Laune zeigte. Aber er verweilte lange im Bad. Sie hörte Wasser rauschen. „Was macht der denn da so lange?“

Endlich tapste er herein und legte sich neben sie. Sie stellte sich schlafend – jetzt nur keine Diskussionen, das könnte ihn unnötig reizen….

Es roch eigenartig. Und weshalb war er schon nackt hereingekommen? Er wird doch nicht!? Als er endlich schnarchte, stand Johanna vorsichtig auf, schlich ins Bad und schloss schnell wieder die Tür, bevor sie gerade noch vermied sich zu übergeben: Alles, Fußboden, Fliesen, WC, Badewanne, war mit Kot beschmiert. Andreas´ verdreckte, stinkende Kleider lagen kreuz und quer…..

 

Oder: Nach einem kurzen, gereizten Wortwechsel waren beide verstummt. Plötzlich näherte er sich langsam und bedächtig, mit ausgestreckter Hand. Sie blickte auf. Wollte er sich entschuldigen? Er machte den Eindruck, als wolle er ihr über die Wange streichen. So gemessen, wie er gekommen war, nahm er ihre Nase locker zwischen Zeige- und Mittelfinger seiner zur Faust gekrümmten rechten Hand, sie wunderte sich noch, „Was wird das denn?“ und dann drehte er ruckartig die Faust nach rechts. Ein blutroter Flash von Schmerz und Entsetzen überschwemmte Johanna…

 

Johanna fühlte sich Tag für Tag mehr bewegungsunfähig, versteinert vor Angst, voller Horror vor der Zukunft in der sie diesem zunehmend Wahnsinnigen ausgeliefert sein würde und ihre drei Kinder vor ihm schützen müsste. Die Angst hatte sie so in den Klauen, dass sie nicht auf der Toilette sitzen konnte ohne im Geiste die Quadrate des Fliesenbodens mit den Worten HILFE und HELP auszufüllen, wie beim Kreuzworträtsel. Das war geradezu zwanghaft. Mehr fiel ihr nicht mehr ein. Sie schlief - beziehungsweise sie lag meistens wach- mit einem Fleischmesser zwischen Matratze und Bettrahmen, immer griffbereit.

Einige Wochen und viele solche Auftritte später kam er wieder, wie inzwischen mehrmals täglich, volltrunken nach Hause. Johanna beschäftigte sich mit dem Abwasch in der Küche, als er lautstark die Tür aufstieß, so dass die Glasscheibe klirrte, sich ohne ein weiteres Wort auf sie stürzte und auf sie einschlug. Instinktiv kauerte sie sich auf dem Boden zusammen und versuchte, mit beiden Händen ihren Kopf zu schützen. Da spürte sie plötzlich seine Hände um ihren Hals. Verzweifelt versuchte sie, seinen Griff zu lockern, und dann merkte sie, wie er sie auf die Ecke des Küchenschranks zu schob. Sie hatten solide Holzunterschränke. Mit aller Kraft versuchte sie sich zu widersetzen, den Aufprall abzuschwächen... Sie hörte sein angestrengtes Schnaufen, ihr Gurgeln, und dann hörte sie es krachen. Innen in ihrem Kopf.

Es ist ja so, dass man die Art einer Verletzung auch am Klang erkennt. Sehnen schnalzen, wenn sie reißen, Knochen krachen wie Holz und stumpfe Verletzungen der Weichteile verursachen auch den passenden dumpfen Ton, Schläge aufs Auge zusätzlich Sternchen. Ja, man sieht tatsächlich Sterne, das ist nicht nur ein dummer Spruch oder ein netter Einfall von Comic-Illustratoren.

Die nächsten Wochen verlebte sie in einem Nebel. Irgendwie war sie ins Bett gekrochen. Von Ferne nahm sie die Schreie ihrer Töchter wahr, die Ankündigung, jetzt einen Arzt rufen zu wollen..

" Nein, nein, nicht nötig, alles nicht so schlimm.." brachte sie heraus, nicht, weil sie das selbst glaubte, sondern weil sie sich vor den Folgen fürchtete: Was passiert mit den Kindern, wenn ich ins Krankenhaus gebracht werde? Bleiben sie mit diesem unberechenbaren Wahnsinnigen allein? Droht den jüngeren gar das Heim? Wie soll das weitergehen? Was kommt noch alles?

Darum kreisten ihre Gedanken, unterbrochen von Entsetzen, als sie nach Tagen in den Spiegel blickte und feststellte, dass ihr Gesicht fast vollständig schwarz angelaufen war, am schlimmsten um die Augen herum. Jäh unterbrochen von heller Angst, als Andreas sie beschuldigte, sich selbst diese Verletzungen beigebracht zu haben.

"Ich hab dich nicht auf die Augen geschlagen, so kann ich dich nicht zugerichtet haben. Hast du dich so schwarz geschminkt? Nur um mir zu Schaden!" klagte er sie an.

"Bitte tu mir nichts, ich kann nicht mehr!" wimmerte sie nur noch.

Sie nahm all ihre Kraft zusammen und versuchte, den Haushalt so gut es ging zu versorgen. Dass sie sich draußen sehen ließ, erwartete niemand.

Als sie sich nach etwa vier Wochen wieder in der Öffentlichkeit zeigen konnte, sperrte sie Andreas aus.

Wieder kam er volltrunken nach Hause, wieder beschuldigte er sie irgendwelcher eingebildeter Vergehen, wieder spürte sie, wie die Panik sie überfiel, ihr Herz raste, der Atem stockte......

Kurz entschlossen ging sie ins Obergeschoss, wo ihre beiden älteren Kinder noch in ihrem Wohnzimmer vor dem Fernseher saßen. " Bitte helft mir ihn raus zu schmeißen, er fängt schon wieder an. Ich kann nicht mehr!"

Beide begleiteten sie wortlos, hakten ihren Vater rechts und links unter und führten ihn zur Haustüre. Er war so überrascht, dass er sich nicht wehrte. Johanna zog ihm noch von hinten den Schlüsselbund aus der Hosentasche, die älteste Tochter öffnete die Tür und warf sie ins Schloss, nachdem ihr Bruder den Vater hinausgeschoben hatte.

Sie hörte damals oft den Spruch "Besser ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende." Dem stimmte sie zunächst vorbehaltlos zu. Aber nach mehreren Jahren, in denen sich die Schrecken und Unbilden aneinander reihten und kein Ende nehmen wollten, fragte sie sich, welche der beiden Alternativen sie eigentlich gewählt hatte. Das Ende mit Schrecken hätte sie wohl eher doch dergestalt ereilt, dass Andreas sie erschlagen hätte. Wie er sie noch im Anschluss an die Trennung gequält hatte, lag vorher außerhalb ihrer Vorstellungskraft, sowohl was die Perfidie anging, als auch seine angesichts seiner Alkoholkrankheit überraschende geistige Präsenz und sein Durchhaltevermögen. Er hatte rechtzeitig Bundesgenossen gefunden in Form einer sogenannten „Immobilienfirma“ - sie bestand aus einigen Zuhältern und deren trickreichen Anwälten - die ihr eine Falle nach der anderen stellten. Sie bewunderte sich noch heute dafür, wie sie die verwickelten und verwinkelten Fakten zusammenstellen und ihrem eigenen Rechtsanwalt verständlich machen konnte. Sie gewann jeden Prozess, sie bekam immer Recht. Leider nur auf dem Papier. Mit dem Hinweis auf seine Alkoholkrankheit konnte sich Andreas allen Verpflichtungen entziehen. Er entblödete sich nicht, zu behaupten, er habe ihr 150.000 DM in bar überbringen wollen und dann einfach in der U-Bahn vergessen. Keiner konnte ihm das Gegenteil beweisen. Sie sah von ihm keinen Pfennig. Er hatte nichts mehr zu verlieren, wurde obdachloser Sozialhilfeempfänger, der zweimal jährlich nach Österreich fuhr, um von seinem dortigen Konto Bargeldnachschub abzuheben. Johanna wusste das - aber der Nachweis gelang ihr erst, als auch auf diesem Konto nur noch kümmerliche Reste zu pfänden waren.

 

 

 

Im sechsten Stock stellt jemand immer mal Müll auf den Treppenabsatz, Sperrmüll. Am folgenden Tag ist er regelmäßig wieder verschwunden. Johanna fühlt sich immer versucht, ihn auf Gebrauchstauglichkeit zu untersuchen, denn auf den ersten Blick sieht man nicht, dass dem Teil etwas fehlt. Aber die Aufbewahrungsbox aus Plastik hat einen Sprung, an der Kühltasche funktioniert der Reißverschluss nicht mehr – sie gibt es schließlich auf, die Gegenstände genauer anzusehen. Als sie auf dem Stapel von Spielen ein Puzzle entdeckt, das sie selbst vor kurzem auf den Briefkästen am Eingang abgelegt hat, verzichtet sie darauf, die anderen Kartons zu inspizieren. Bei dem Puzzle, nur einmal gelegt, fehlte ein einziger Stein von 1000. Sie hat es daher nicht bei Ebay angeboten, denn sie wollte sich die endlosen E-Mail-Schreibereien, die dann meist mit den Käufern auftreten, ersparen. Auf den Briefkastenblock stellen die Hausbewohner gewöhnlich noch gebrauchsfähige Dinge. Johanna platziert dort ihre ausgelesenen Bücher, meistens am Sonntagmorgen, da kann sie davon ausgehen, dass dann kein Hausmeister einen Finger rührt, um sie sofort im Altpapier zu entsorgen. Sie hat schon eine regelrechte Fangemeinde. „ Da sind manchmal so gute Sachen dabei!“ flötete Frau Rettigmeier, als sie kürzlich mit Johanna im Aufzug stand. „Die neue Biographie von Joachim Gauck! Und noch eine, die mag ich ja nicht so gerne, von der, na, wie heißt sie noch mal, diese Linke…..?“ „Wagenknecht“ ergänzte Johanna lakonisch, „Die Bücher sind von mir, ich stell da öfters was hin.“ „Ach!“ Frau Rettigmeier staunte großäugig und wäre sehr an einem Gespräch über die Hintergründe dieses Vorgangs interessiert gewesen, aber Johanna war in ihrem Stockwerk und musste leider aussteigen. „Wiedersehen!“ Von nun an hat Johanna das Gefühl, von Frau Rettigmeier mit deutlich mehr Hochachtung als bisher behandelt zu werden, wie eine Persönlichkeit mit Niveau eben.

 

 

 

Sie hatte endlich begriffen, dass es den Adonis mit dem etwas spröden Charme, in den sie sich als Fünfzehnjährige unsterblich verliebt hatte, nicht mehr gab - nur noch ein spirituös stinkendes Scheusal, unberechenbar und durch fortgesetzte Trunksucht geistesgestört. Nicht mehr das Wunderkind am Klavier, das einen Preis nach dem anderen gewann und um das ihre Freundinnen sie beneideten. Sie hatte lange gebraucht, um ihn zu erobern, und sich selbst gewundert, welche Hartnäckigkeit sie dabei aufbieten konnte. Geduld war im allgemeinen nicht ihre Stärke. Hätte sie damals einen der netten, in ihren Augen etwas langweiligen jungen Männer erhört, die sich um sie bemühten, wäre ihr vieles erspart geblieben - so sagte sie sich später. Aber sie musste sich natürlich auf den progressiven Rockmusiker versteifen und damit alle Begleiterscheinungen dieses Milieus in Kauf nehmen. Aber damals hatte sie sich nichts Schöneres vorstellen können.Wobei es mit Andreas' großer Karriere dann nichts wurde.

Sie dachte gestern wieder daran, als sie im Fernsehen diesen bewussten bekannten Schlager hörte, mit dem eigentlich Andreas seinen ersten großen Erfolg hätte feiern sollen. Inzwischen gefiel ihr das Lied einigermaßen. Von dem Zeug in den Schlagersendungen, mit denen sich Bernd Samstag abends immer berieseln ließ, war es noch eines der besseren, d.h. melodischeren Lieder. Den Interpreten hatte sie aber in ihrer ersten Ehe zutiefst verachten gelernt, denn für Andreas war er ein Feindbild, nachdem er entdeckt, aufgebaut und berühmt gemacht wurde von demselben Mann, der auch Andreas groß und berühmt machen wollte. Andreas hätte es nur zulassen müssen. Dieser Mann, Musikproduzent, war verheiratet mit der besten Freundin von Andreas' Schwester. Die Familien verkehrten miteinander, und dem angehenden Musikproduzenten entging nicht der Schüler und angehende Rockmusiker.

Andreas hatte den üblichen klassischen Klavierunterricht genossen, der damals in bildungsbürgerlichen Kreisen üblich war, und sich als begabt und fleißig erwiesen. Er bettelte bei seiner Klavierlehrerin (die angeblich immer nach Durchfall roch) bis sie ihm Harmonielehre beibrachte und tat sich dann mit einigen anderen begeisterten Musikern aus seiner Schule zusammen. Mit einer Eigenkomposition aus Rock und klassischen Elementen nahm die Gruppe an einem Musikwettbewerb der Abendzeitung teil - und gewann.

Johanna, frisch verliebt, sie hatte ihn kurz vorher kennengelernt, war sehr stolz auf ihn. Die Abendzeitung brachte natürlich einen langen Artikel über die Nachwuchshoffnung, und Andreas lief nur noch mit einem schwarzen Hut seines Vaters herum, den er auch bei dem entscheidenden Auftritt getragen hatte, wegen des künstlerischen Flairs.

Der Hut war das einzige, was blieb. Er lag noch Jahre später auf der Ablage im Autorückfenster, verschossen vom Sonnenlicht, wo er dann vom ursprünglichen Eigentümer, der schon lange von der Familie getrennt bei seiner Freundin lebte, entdeckt wurde: " Den Hut musst du mir ersetzen! " "Ich hab dich noch nie mit einem Hut gesehen, wozu brauchst du den denn?" "Wenn ich mal auf ne Beerdigung muss....."

Die Gruppe hatte sich nur für den Wettbewerb gegründet und war dann wieder aufgelöst worden.

Aber viele neue Bands folgten. Alle probten nächtelang, wollten Perfektion erreichen, tauschten Bandmitglieder aus ".... der ist zu schlecht..." , verkrachten sich und redeten sich übel nach.

Andreas jedoch ließ nicht locker, komponierte, verbrachte zu Bildungszwecken die Nächte im PN in der Leopoldstrasse, wo er die damals noch unbekannte Band Supertramp kennenlernte und Ihnen eine seiner Kompositionen schenkte. Sie wurde später, als die Gruppe weltweit Erfolg hatte, tatsächlich auf einer LP veröffentlicht - natürlich ohne Würdigung des künstlerischen Urhebers.

Obwohl der große Durchbruch als Rockstar auf sich warten ließ, fiel soviel Engagement natürlich innerhalb der Familie auf - schon allein aufgrund der Lautstärke. Er spielte inzwischen nicht nur Klavier, sondern auch Schlagzeug, und nahm seine Kompositionen, sich selbst mehrspurig begleitend, auf Tonband auf. So war es nur eine Frage der Zeit, bis auch die Gattin des Produzenten anlässlich eines Besuchs bei ihrer Freundin auf das vielversprechende Talent aufmerksam wurde und an ihren ambitionierten Gatten weiter empfahl.

Bald ging Andreas bei der Familie des Produzenten ein und aus und wurde gerne als Babysitter für den dreijährigen Sohn engagiert. Zum einen, weil der kleine ein ziemlich lebhaftes, sprich lästiges Kind war, zum anderen, weil Andreas durch heftiges Üben – Klavier und Schlagzeug - plus ausuferndes Tennisspielen sich eine beidseitige Epicondylitis zugezogen hatte, die ihn zwang, stillzuhalten. Zeitweise trug er die Arme abwechselnd eingegipst, er verbrachte viel Zeit bei Masseuren und Physiotherapeuten - er ist die Schmerzen nie mehr ganz losgeworden.

Für ihn und zunächst auch für Johanna war es ein Anlass zur Freude, als der Produzent samt Ehefrau für drei Tage nach Japan flog, und Andreas mit Johanna dessen Villa bewohnen sollte um - bedient und bekocht von der Haushälterin - sich ganz der Betreuung des Kleinkindes zu widmen. Endlich sturmfreie Bude!

Erfahrung mit Kindern hatten beide bisher nur mit Johannas kleinem Bruder sammeln können, einem außerordentlich ruhigen und vernünftigem Buben. Wie er allerdings reagiert hätte, wenn seine ständigen Bezugspersonen plötzlich verschwunden und durch zwei langhaarige, unaufhörlich knutschende Jugendliche ersetzt worden wären? Johanna wäre in dieser Situation als Kind konstant schluchzend in der Ecke gesessen. Der kleine Jonny entschied sich für Durchfall.

Das kuschelige Komfortwochenende mutierte zum Alptraum, denn wer außer Johanna hätte das Kind sauber machen sollen? Ein Gipsarmträger? Und die Haushälterin hatte augenscheinlich fest umrissene Aufgaben. Sie hielt sich in der Küche auf und zog sich nach Dienstschluss in ihre Einliegerwohnung zurück.

Schließlich zog Johanna dem widerstrebenden Buben "...Brauch ich nicht!" Windeln an, aber auch das brachte nicht viel . Jonny schiss sich stündlich bis zum Halskragen voll. Johanna war froh, als sie Montag früh um halb sieben bei knackiger Kälte auf dem Bahnsteig stand um den Vorortzug Richtung Starnberg zu besteigen und zur Schule zu fahren.

Der Freundschaft Andreas' mit dem Produzenten tat das allerdings keinen Abbruch - seine Karriere wurde durchgeplant. Am künftigen Erfolg durfte man kaum zweifeln, denn den hatte der Produzent schon bewiesen, indem er weniger hübsche und weniger musikalische junge Männer zu erfolgreichen Schlagerstars gemacht hatte. Und auch Andreas' Epicondylitis stellte kein echtes Hindernis dar.

"Warum singst du nicht. Wir suchen immer gutaussehende Sänger, und deine Stimme reicht auch." Der Produzent gab sich wirklich alle Mühe. Er bot Andreas, der inzwischen auf Wunsch seines Vaters ein Jurastudium begonnen hatte, sogar an, ihm das Musikstudium zu finanzieren. Er hätte sich mit seinen Darbietungen nur den Wünschen des Produzenten fügen müssen. Aber dazu konnte er sich nicht entschließen, er fand Schlagersänger zu peinlich. So mühte er sich weiter mit der Jurisprudenz, betäubte die Schmerzen in Armen und Rücken, den Frust über den Aufstieg seiner Konkurrenten und die verpassten Chancen mit Alkohol.

Vermutlich war dies der Beginn seiner Unzufriedenheit und Depressionen: Zusehen zu müssen, wie ein"... halbwegs ansehnlicher Ostblockflüchtling, der ein paar Töne auf der Gitarre klampfen konnte..." den für ihn vorgesehenen Platz in der Produktionsfirma einnahm und ein großer Star wurde, während Andreas weiter im Übungskeller große Kunst schuf.

Sein häufig vorgetragener Spruch „Ich bin Künstler, ich brauche eine Frau, die mich ernährt!“ gewann für Johanna allmählich an Glaubwürdigkeit. Gegen so ein Arrangement hätte sie auch nichts einzuwenden gehabt, allerdings sah sie sich dabei als arbeitende, sprich im Erwerbsleben integrierte Frau.

 

 

 

Sobald sie die ersten Stufen nimmt merkt sie, wie sie heute drauf ist. Manchmal spürt sie ihr linkes Knie, ein alter Skiunfall, Meniskus. Dann überlegt sie, ob die gestrige Laufstrecke zu weit, der Schuh ungeeignet war, ob sie zugenommen hat? Oder hat sie schwer getragen? Dieselben Punkte geht sie durch, wenn' in der Hüfte zwickt. Gerät sie schon auf den unteren Stockwerken außer Atem, findet sie das bedenklich. Schlecht geschlafen? Das macht sich stark bemerkbar. Eine Erkältung? Fällt als solche schon vorher auf. Selten bricht sie den Aufstieg in ihrem Stockwerk, dem 15., ab, wenn sie meint, sich vernünftigerweise schonen zu müssen.

Es ist tägliche Routine, und sie ist stolz auf ihre Fitness. Sie ist weiß Gott nicht mehr die Jüngste, und die wenigsten in ihrem Alter würden diesen Aufstieg so reibungslos absolvieren. Viele Jüngere auch nicht. Sie hat Falten, aber ihre Figur ist besser als mit 20 - angezogen wenigstens. Das kommt ihrer Vorstellung von Eleganz nahe. Nichts ist schlimmer, als eine fette ungepflegte Alte.

 

 

 

Wann hatte Andreas sich eigentlich so verändert? Johanna denkt nach: gab es da ein auslösendes Ereignis? Oder war es ein schleichender Prozess? Kam eines zum andern?

Wie verliebt sie doch in den ersten Jahren waren! Und wie fürsorglich, wie verantwortungsbewusst sich Andreas zeigen konnte. Sie erinnert sich an die ersten Jahre ihrer Bekanntschaft.

Zunächst pflegten sie eine eher lockere Verbindung, trafen sich ab und zu in der Stadt. Johanna hatte es sich in den Kopf gesetzt, mit 17 nicht mehr Jungfrau sein zu wollen. Und das klappte. Aber nicht mit Andreas. Einen Tag vor ihrem 17. Geburtstag lernte sie im Schwimmbad einen Psychologie-Studenten kennen, der ihr nicht nur nicht mehr von der Seite wich, sondern auch unablässig linke Theorien von freier Liebe verbreitete. Der erschien ihr der Richtige. Noch am selben Abend traf sie sich mit ihm, nach einem kurzen Lokalbesuch unternahmen sie einen Spaziergang und unter der kleinen Garmischer Skisprungschanze - sie verbrachte in dem Kurort als Gast einer Freundin ihre Pfingstferien - war es dann soweit. Ein angenehmes Arrangement, reibungsloser Ablauf. Sie fuhr am nächsten Tag nach Hause, Kurt wieder an seinen Studienort. Ein paar Tage danach bekam sie von ihm noch einen sehr lieben Brief, den sie ebenso lieb beantwortete und nicht unerwähnt ließ, dass sie es nun mit ihrem Freund auch "angreifen" wolle. Was auch bald in die Tat umgesetzt wurde, als Andreas Mutter einmal nicht zu Hause war. Johanna führte ihn, der zu ihrer Überraschung noch ahnungslos schien, in die Geheimnisse körperlicher Beziehungen ein und danach "gingen" sie endlich fest zusammen, ganz, wie von Johanna beabsichtigt. Und schon ein paar Wochen später blieb ihre Regel aus.

Andreas war über Allerheiligen gerade für eine Woche verreist. Heute würde man sich in so einem Fall Nachrichten schreiben, aber Ende der 60er Jahre? Sie konnte ihn nicht erreichen.

Von Tag zu Tag wurde sie nervöser, die Angst nahm sie auch damals schon zügig in ihre Umklammerung. Bald bemerkte man in ihrer Umgebung, dass Johanna sich wie versteinert durch den Tag schleppte, nur noch flach atmete...

"Was hast du denn?" fragten manche Klassenkameraden, und ihre Mutter warf ihr besorgte Blicke zu, wenn sie beim Essen kaum ein paar Bissen herunter brachte. Nicht wegen Schwangerschaftsübelkeit, sondern weil ihr die Furcht davor und vor anderen Folgen die Kehle zuschnürte.

Endlich wurde Andreas wieder zurück erwartet - mit zweitägiger Verspätung. Sie hatte schon mehrmals mit seiner Mutter, der sie noch gar nicht vorgestellt war, telefoniert und sich nach ihm erkundigt. Mit jedem "Tut mir leid, mehr weiß ich auch nicht!" wurde ihr schwerer ums Herz. Was, wenn er jemanden anderen kennengelernt hatte und gar nichts mehr von ihr wissen wollte? Oh Gott, oh Gott, was tu ich nur? Nur mühsam unterdrückte sie die aufsteigende Panik.

Endlich rief er an. Aber nun stand ihre Mutter in der Küche, quasi neben Johanna. Telefone befanden sich damals mit Vorliebe an einem zentralen Platz im Haus, meist in der Diele. Aus allen Zimmern konnte man den Gesprächen mühelos folgen. Es gelang ihr, ihm zu verstehen zu geben, dass sie gerade nicht reden könne. Er hatte schon gehört, dass sie ihn dringend sprechen wollte, und schlug geistesgegenwärtig vor, noch einmal zu telefonieren, wenn ihre Mutter zum Bahnhof fuhr, um ihren Vater abzuholen. Andreas kannte schon die Zeit und wartete auf den Rückruf. Und dann überraschte er Johanna mit seinem Verständnis, Umsicht und Tatkraft. Kaum hatte sie ihm die Lage geschildert, versprach er umgehend, sich kundig zu machen, was man tun könne. Schon das hat sie beruhigt. Und als er am nächsten Tag berichtete, er habe mit seiner Schwester, einer Medizinstudentin, gesprochen, diese wiederum habe ihn an einen ihrer Kommilitonen verwiesen, und der habe ihm minutiös beschrieben, was zu tun sei, um in den nächsten Schulferien eine legale Abtreibung in Holland durchzuführen, entspannte sie sich so sehr und so plötzlich, dass ihre Regel einsetzte. Ob dies mit Verspätung geschah, oder ob es sich um einen frühen Abgang handelte, interessierte niemand mehr. Johannas frohe Stimmung erfreute ihr Umfeld, und ihre Beziehung erwies sich als gefestigt. War in ihr bisher immer noch ein Rest Zweifel gewesen, ob sie Andreas vertrauen konnte - jetzt glaubte sie zu wissen: sie konnte sich auf ihn verlassen.

 

 

 

Im sechsten Stock erschrickt sie heute: Ein Mann mittleren Alters in heller Kleidung hockt auf dem Treppenabsatz vor der untersten Stufe, hat dort etwas ausgebreitet mit dem er hantiert. Einer der Maler, die öfters im Treppenhaus beschäftigt sind? " Grüß Gott!" Der Typ murmelt etwas und schnieft. So was hat sie schon bei manchen Abgestürzten aus Andreas´ Umkreis beobachtet.

Im Vorbeigehen sieht sie, dass die Treppe über die ganze Breite belegt ist, sie kommt nicht vorbei. Aber es sind keine Malerutensilien, sondern Fixerbesteck, Löffel, Kerze, ein gefüllter Einmal-Kaffeebecher.

Johanna entflieht auf den Balkon und nimmt den Lift nach oben. So ist das also. Hinterlässt der den Müll? Oder sind das immer andere. Gesehen hat sie den Mann noch nie. Ob er im Haus wohnt? Oder kommt er nur um hier ungestört seinen Schuss zu setzen?

 

 

 

Natürlich war Johanna klar, dass Andreas krank war. Der Alkohol war Schuld. Aber nachdem mehrere Entzüge in Haar nur kurzfristige Besserung gebracht hatten, gab sie auf. Sie hatte einfach keine Kraft mehr. Die nächsten Jahre wurden noch aufreibend genug, und als sie endlich geschieden war, fand sie sich mit ihren drei Kindern in einer Sozialwohnung wieder.

Nach weiteren fünf Jahren saß sie allein in der Vierzimmerwohnung. Ihre Jüngste, eben von einer ausgedehnten Backpackertour durch Südamerika zurückgekehrt, hatte das nötigste eingepackt und war in eine WG gezogen, näher an ihren Studienort.

Johanna wunderte sich über die mitleidsvollen Fragen, wie es ihr denn nun ginge, so allein? Jeder in ihrer Umgebung schien zu glauben, dass sie endgültig in Einsamkeit versunken sein müsse. Aber sie fühlte sich endlich frei.

Zu dieser Zeit dachte sie schon nicht mehr an Andreas.

Seitdem er im Pflegeheim untergebracht war, hatte sie keine Nachstellungen mehr zu befürchten, wie in den Jahren nach der Trennung. Andreas wohnte damals im Obdachlosenheim der Gemeinde, nicht weit entfernt von der Sozialwohnung, die ihr nach der Scheidung zugewiesen worden war. Und solange er sich einigermaßen bewegen konnte, erschien er häufig vor ihrer Tür, läutete, warf Briefe ein, in denen er sie beschuldigte, ihm Millionen gestohlen zu haben, schrie unflätige Beleidigungen....

Sie war ständig auf der Hut, auch die Kinder erschraken, wenn sie ihm begegneten und ergriffen eilends die Flucht.

Sie erinnerte sich an einen Abend, an dem sie sich in der Buchhandlung in der sie damals arbeitete, verschanzt hatte. Es war ein schwüler Tag gewesen, und als sie nach Ladenschluss nach Hause gehen wollte brach ein Gewitter los. Sie zog ihren Schirm aus der Tasche, da bemerkte sie ihn. Er hatte sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite unter einer Markise vor einem Ladeneingang untergestellt und rauchte gemütlich eine Zigarette.

Johanna floh in den Keller der Buchhandlung, wartete dort, im Dunkeln aus dem Fenster spähend, eine volle Stunde, bis der Regen nachgelassen hatte und Andreas endlich in die Kneipe weiterging.

 

 

 

Diesen Fixer hat sie nicht mehr gesehen. Aber sie weiß jetzt, wo die Blutspritzer auf den zweituntersten Stufen nach einem Treppenabsatz herkommen. Da sind öfter mal welche, und meistens in den höheren Stockwerken. Etwas unheimlich ist ihr schon zumute, wenn sie bedenkt, wem sie da im Treppenhaus begegnen könnte. Eine Zeitlang achtet sie jetzt immer auf Geräusche und Gerüche und versucht, Fremde möglichst frühzeitig wahrzunehmen. Sie erinnert sich, wie sie vor einigen Jahren einer brenzligen Situation um Haaresbreite entgangen ist: Sie hörte schon in den oberen Stockwerken laute Stimmen und dachte an ein geselliges Beisammensein mehrerer Hausangestellter, die dort auf der obersten Etage ihren Aufenthaltsraum haben. Um dem unvermeidlich scheinenden Smalltalk zu entgehen, verließ sie das Treppenhaus schon früher und ließ den geliebten Blick vom höchsten Balkon sausen. Noch am selben Tag war aber auf einem Aushang zu lesen, dass Fremde, "verdächtige Subjekte", sich dort mit geistigen Getränken berauscht und den von sich gestört fühlenden Hausbewohnerin herbeigerufenen Hausmeister nach Strich und Faden vermöbelt haben. Der Ärmste musste sich in ärztliche Behandlung begeben und leidet seitdem an Ängsten, die ihn an der Ausübung seiner Pflichten, wenigstens soweit sie in den oberen Stockwerken auszuführen sind, empfindlich behindern.

 

 

 

Ein Saufkumpan von Andreas, den sie auf der Straße getroffen hatte, hatte es ihr erzählt: Sie wäre ihm ausgewichen, wenn sie ihn erkannt hätte, aber der Mann sah völlig anders aus, als sie in Erinnerung hatte. Bleich, dünn, viel kleiner. Hatte er sie früher nicht weit überragt?

" Das war doch mal ein Hüne," dachte sie. "Lässt Alkohol die Leute schrumpfen?"

"Hast es scho g`hört von deim Mann?" "Nein, was denn?"

" Zsammgschlagen hat in einer, der Tommy, vorn beim Bürgerhaus. Auf´d`Treppn is er gfallen und die Hüfte brochen. Der wird nimmer, der is a Grippl..."

Johanna wusste nicht recht, was sie darauf entgegnen sollte. Sicherlich wurde Betroffenheit von ihr erwartet, und sie bemühte sich solche zu zeigen, so gut es ging. Aber eigentlich spürte sie nur Erleichterung. Die hielt lange an, so lange, bis sie ein paar Monate danach beim Tengelmann vor einem Regal stehend einen heftigen Stoß in die Kniekehlen verspürte und nur durch die Soßenpulverpackungen am Sturz gehindert wurde. Sie blickte sich um, und was sie sah, veranlasste sie, ihren halb gefüllten Einkaufswagen im Stich lassend, fluchtartig an der Kassenschlange vorbei den Laden zu verlassen. Andreas, schadenfroh grinsend im Rollstuhl!

 

 

 

Die heutigen Schlagzeilen deprimieren sie. Eine Krise jagt die nächste: Truppenaufmarsch an den Grenzen der Ukraine, Impfpflicht für Pflegepersonal ist beschlossen, aber Söder will sie nicht umsetzen. Der Kanzler findet dazu klare Worte, der wiedergewählte Bundespräsident spricht sich für eine klare Haltung in der Ukrainefrage aus, Lauterbach fördert klare Regeln im Umgang mit Corona....

Eines der meist gebrauchten Wörter scheint momentan "klar"zu sein, gefolgt von "uuund ja...." als Schluss einer Aufzählung. Hier sind es oft junge Frauen, die über ihr Befinden Auskunft geben. Und der Rest ist "Geschwurbel". An solchen Tagen findet sie es tröstlich, dass jedem, der sich noch über das Balkongeländer im 20. Stock hieven kann, ein klarer Ausweg geboten wird.

 

 

 

Besagter Saufkumpan war derselbe, den sie einst Mörder Mödl genannt hatten, frei nach Klausurtexten für Jurastudenten. Das war keineswegs scherzhaft gemeint. Mödl verbreitete freimütig, dass er im zarten Alter von 20 Jahren, nachdem er bei der Bundeswehr eine Nahkampfausbildung genossen hatte, einen Nebenbuhler mit bloßen Händen erschlagen hatte. Er war daraufhin wegen Mordes zu einer neunjährigen Jugendstrafe verurteilt worden. Nach deren Verbüßung hatte er noch ein paar Jahre Fremdenlegion daran gehängt. Wie es ihn im Anschluss daran in den beschaulichen Vorort im Münchener Speckgürtel verschlagen hat, wurde nicht bekannt. Andreas hatte ihn in einem der Lokale kennengelernt, wo die Stammgäste immer am Tresen schluckten, und eines Tages waren sie zufällig aufeinander getroffen, als sie mit ihren Familien im Biergarten saßen. Dabei lernte Johanna Maria, seine freundliche, hübsche, noch recht junge Frau und die kleine Tochter kennen.

Mörder Mödls Vergangenheit erfüllte Johanna von Anfang an mit Unbehagen, und als einige Jahre später bekannt wurde, dass er sich von Frau und Kind getrennt hatte, und die Frau kurz darauf tot in ihrer Wohnung aufgefunden wurde, schrillten bei ihr die Alarmglocken. Aber Mödl blieb auf freiem Fuß. Dennoch wechselte sie die Straßenseite, als sie 1999 - Andreas war zu dieser Zeit schon völlig von Sinnen - Mörder Mödl auf der Bahnhofstraße begegnete. Er winkte ihr schon von weitem zu, und obwohl sie ihre Schritte beschleunigte, um noch schnell zum Tengelmann einzubiegen, holte er sie ein und hatte ihr tatsächlich Dringendes mitzuteilen: Andreas habe ihm 10000.- Mark angeboten, wenn er sie umbringe. Natürlich habe er dieses Ansinnen empört abgelehnt. Vielleicht hat sie nur Andreas' Geiz gerettet, 10000 DM waren ja wirklich lächerlich wenig.

Johanna, höchst alarmiert, verfiel in Hyperventilation.

Mörder Mödl gab ihr den Rat, etwas zu unternehmen, und empfahl einen Besuch bei seiner Sozialberaterin. Da hatte ein „Problembürger“ wie er natürlich seine Kontakte.

Bei dieser telefonisch einen Termin auszumachen und dann mit dem Rad hinzufahren, ohne dass Andreas etwas mitbekam und schon im Vorfeld durchdrehte, stellte schon ein erstes Hindernis dar.

„Fliehen Sie, rötten sie sich und ihre Künder!“ schallte es ihr theatralisch entgegen, kaum dass sie in zwei Sätzen ihr Problem umrissen hatte. „Aber wohin soll ich denn?“ Und dann wusste die Ausdrucksstarke keinen besseren Rat, als ins Frauenhaus zu fliehen. Mit drei schulpflichtigen Kindern!

Im Frauenhaus hatte Johanna schon öfters vorgesprochen - dort hatten sie nie Platz, nicht einmal für Johanna alleine.

Damals war die Gesetzeslage noch anders. Prügelnde Männer wurden nicht, wie heute, kurzerhand von der Polizei aus der Wohnung gewiesen - diese Regelung kam für Johanna einige Monate zu spät. Hingegen war Anfang der 90er Jahre das Vormundschaftsgesetz erneuert worden. Jetzt konnten nicht mehr die engsten Angehörigen einen Antrag auf Entmündigung von Geistesgestörten stellen, und Alkoholiker kamen nicht mehr zwangsweise in einen Entzug: " Das muss er schon selbst wollen, sonst hat das gar keinen Sinn! " hörte sie wiederholt. Welcher Alkoholkranke in fortgeschrittenen Stadium verfügt schon über diese Einsicht? Für Andreas waren alle anderen verrückt, er hielt sich für den einzig Vernünftigen.

 

 

 

Der 15. Stock - ein Kapitel für sich. Hier hat ein Jugendlicher seine private Raucherecke. Das wäre niemandem aufgefallen. Keiner außer Johanna und dem Putzdienst kommt dort regelmäßig vorbei. Aber der (un)heimliche Raucher kann es anscheinend nicht ertragen, unbeobachtet zu bleiben. Er hinterlässt regelmäßig Kippen, Papierfragmente, Asche, geleerte Getränke-Tetrapacks ( nur Limos und Fruchtsäfte, keinen Alkohol) und, seltsamerweise, immer eine unberührte Filterzigarette. Für wen? Sie kann sich nur ein Arrangement zwischen dem Raucher und dem albanischen Putzmann vorstellen. Eine Entschädigung für den vielen Dreck? Andererseits wird der Müll eindeutig mit viel Phantasie drapiert. Nicht etwa nur auf der einen Treppenstufe, die der Raucher zum Sitzen benötigt. Er macht sich die Mühe, seine Hinterlassenschaften über zwei Stockwerke zu verteilen.

Nur selten ist es im Treppenhaus sauber, meistens Dienstags, da ist der Putzmann routinemäßig durch. Aber schon am Mittwoch kann sie wieder ein sorgsam arrangiertes Stilleben bewundern.

Einmal hat sie den jungen Mann überrascht - ein Hoodieträger, vielleicht 15, 16 Jahre alt. Die dazugehörige Freundin war kreischend im Gang verschwunden, der Jüngling grüßte freundlich.

Sie beschließt, sich nicht weiter dafür zu interessieren. Die Aufforderungen der Hausmeister am Schwarzen Brett, Verschmutzungen zu melden, ignoriert sie verstockt. Sie wäre sonst ständig am Melden. Sie steigt einfach über den Schmutz hinweg, ärgert sich nur, wenn sie eingetrocknete Limo übersieht, hineinsteigt und anschließend mit ihren Crocs festpappt.

Der Putzmann denkt offenbar genau so.

Und er scheint die schmuddelige Umgebung gerne selbst für eine Raucherpause zu nutzen. Johanna kann ihn riechen. Er hinterlässt eine Mischung aus Zigarettenqualm, Schweiß und Parfüm, das unterscheidet sich sehr von dem dezenten Tabakaroma des Jungen.

Sie riecht es wenn sich jemand kurz vor ihr im Treppenhaus aufgehalten hat.

 

 

 

"Was verspricht denn da den meisten Erfolg?" wurde Johanna kürzlich von einer Bekannten gefragt, die gerade frisch von ihrem Partner getrennt war und von Johannas Erfahrungen mit Partnersuche per Annonce oder online profitieren wollte. " Ich meine, was wollen die Männer denn alles wissen? Meinen Sie, ich soll gleich ein Foto mitschicken?"

"Nur ein Foto reicht völlig, ausschließlich ein Foto!" entgegnete Johanna voller Überzeugung und verkniff sich den Zusatz: Männer sind leider so einfach gestrickt.

"Ich hab das vor 20 Jahren gemacht, und damals antwortete man noch auf Zeitungsannoncen mit Chiffre. Was hab ich für lange Briefe verfasst, mühevoll in Schönschrift meinen Lebenslauf und meine derzeitige Situation geschildert - keine Antwort. Schließlich hab ich Computerausdrucke versandt und ein Foto beigelegt, irgend einen Schnappschuss. Zu dieser Zeit gab es niemand, der mich öfters fotografiert hätte, und erst recht niemand, der darauf geachtet hätte mich vorteilhaft abzulichten. Von den Kontaktierten kam trotzdem wenig Resonanz, entmutigend wenig. Damals fing ich an zu glauben, was mir irgend jemand als statistische Wahrheit erzählt hatte: Eine Frau von fünfzig Jahren hat größere Chancen, im Straßenverkehr überfahren zu werden, als sich nochmal zu verheiraten – völliger Blödsinn natürlich. Ich fühlte mich alt und hässlich. Aber ich gab trotzdem nicht auf, sondern setzte auf Rationalisierung: Meine Tochter hat ein paar schöne Aufnahmen von mir gemacht, auf denen ich auch mal lachend zu sehen war, die besten ließ ich vervielfältigen und hab hinten drauf nur meine Maße und die Telefonnummer geschrieben. Anschließend hatte ich Schwierigkeiten, die vielen Dates zu managen. Das Foto ist der Dreh- und Angelpunkt, so oberflächlich uns das auch erscheint."

"Ihre Kinder haben Sie dabei unterstützt? Ich weiß gar nicht, ob ich meinen Söhnen davon erzählen soll..."

"O ja, vor allem meine Älteste, sie war ja damals auch schon 20, hat mich sehr ermutigt. Als ich mich dann endlich dazu durchgerungen habe, einen internetfähigen Computer anzuschaffen, hat sie mich sogar bei einem Partner-Chat angemeldet. Den hab ich aber nur einmal benutzt."

"Wie das?"

"Das übliche. Billige Anmache, aber ohne jedes Resultat. Nach den gängigen Präliminarien - wie alt, wie groß, welche Haarfarbe - kam bald irgendeine Schweinerei, und als ich darauf nicht geantwortet habe, die bange Frage: Hallo, bist du noch da?

Naja, ich wollte höflich bleiben -überflüssigerweise, aber ich bin halt so erzogen - und meinte, ich muss mich jetzt verabschieden, ich hätte noch eine Verabredung. Dann hieß es gleich "Bleib doch noch" und als ich nach wie vor aufhören wollte: „Bitte, warte noch!“

Und das immer dringlicher im Ton. Keine Ahnung, was der Typ/ die Typin, man weiß ja gar nicht, mit wem man da chattet, damit bezweckt hat. Man kann sich da alles mögliche vorstellen. Ich fand den Austausch jedenfalls nicht sehr prickelnd, und habe weiter keine Kontakte mehr online gesucht. Das war und ist mir doch zu theoretisch. Aber so was passiert immer wieder. Auch wenn man online Spiele mit einer Chatmöglichkeit spielt, kommen ab und zu solche Nachrichten von Leuten, die offenbar ihre Phantasien an irgendeinem Anhaltspunkt festmachen müssen. Da genügt wohl schon ein weiblich klingender Name. Inzwischen haben aber alle Plattformen eine Sperrfunktion für solche Fälle. Das ist inzwischen Vorschrift“

Mit ihrem massenhaften Fotoversand hatte Johanna plötzlich große Auswahl ,und nach einigen Enttäuschungen hatte sie Bernd kennengelernt, der liebevoll, zuverlässig und dazu gutaussehend und nicht unvermögend war. Mit ihm traf sie sich an den Wochenenden, er vertrug sich gut mit ihren studierenden Kindern, auch der Kontakt mit ihrer Mutter, den Andreas erfolgreich hintertrieben hatte, war wieder hergestellt, ihre Arbeit gefiel ihr - sie fühlte sich seit Jahrzehnten erstmals wieder lebendig und im Einklang mit der Welt.

 

 

 

Bernds Verwandschaft reagierte auf die Nachricht von seiner Heirat eher gelassen. Er stammte aus einem weitverzweigten bäuerlichen Geschlecht in Niederbayern, seine hochbetagte Mutter hatte von Johannas Existenz noch nie gehört - jedenfalls nicht von Bernd - da sie nicht unnötig aufgeregt werden sollte, und nicht zuletzt hatte er ebenfalls drei Kinder aus früheren Ehen.

Damals übersiedelte Bernds Mutter gerade in ein Pflegeheim und löste ihre Wohnung auf. Zum Ausräumen der angeblich wertvollen Antiquitäten, Bücher und Teppiche kam die ganze Familie zusammen, mit geräumigen Transportfahrzeugen und Anhängern.

Johanna und Bernd logierten in dem riesigen Hof, der einer von Bernds Kusinen gehörte. Sie hatten dort schon öfter verlängerte Wochenenden verbracht.

"1791" stand am Giebel des alten Bauernhauses, und es war in großen Teilen offenbar noch original erhalten. Zentralheizung gab es jedenfalls keine, aber wenigstens Badewanne und WC (im ehemaligen Stall). Das Leben spielte sich fast ausschließlich in dem einzigen beheizbaren Raum ab, der stark vergilbten Küche.

"Da gratulier i eich" quäkte Base Rosina mit ihrer durchdringenden Stimme und schüttelte Bernd und Johanna umständlich und lange nacheinander die Hand, schwenkte aber dann übergangslos und ohne auf die Nachricht von der Eheschließung ihres Vetters weiter einzugehen auf ein anderes, nichtsdestoweniger verwandtes Thema um: " Die Monika hat jetz aa an Hochzeiter, de san do gwen, beide, letzte Woch sans do gwen, dei Muatta hams bsuacht, und nacha sans zu mir aussa kemma."

Bernd horchte auf. Dass Monika, seine geschiedene zweite Frau, die seit zwanzig Jahren allein in dem ihr nach der Scheidung überlassenen Zweifamilienhaus lebte, doch noch eine Verbindung einging, konnte ihm nur recht sein. "Das freut mich für sie!"

"A ganz a feiner Mensch is des, deina Muatta hod a Bleame mitbrocht, und an silbernen Mercedes fahrt er. Und dahoam hod a no an andan Mercedes!" verlieh Rosina ihrer Begeisterung Ausdruck. " In der Reha ham sa se kenna glernt, wo die Monika wega ihre Hüften gwen is. " Sie schöpfte Luft und fuhr fort: "Wie eine Stecknadel im Heuhaufen, ja, wie eine Stecknadel im Heuhaufen hat sie ihn gesucht...." zitierte Rosina in bemühtem Hochdeutsch die glückliche Braut Monika, um anschließend gleich wieder ins Schwärmen zu verfallen über den gut aussehenden, höflichen und eleganten Mann.

"Zwoa Wohnungen hod a!"

Johanna hatte fast den Eindruck, dass hier etwas auswendig Gelerntes an den Mann gebracht wurde. An welchen Mann - Bernd?

Nun ja, Johanna konnte es schon nachvollziehen, dass die verlassene Monika ihrem Ex ihr Glück unter die Nase reiben und ihre Schwägerin zur Übermittlung bestimmt hatte. Ob sich Rosina - Johanna hielt sie für ziemlich beschränkt - dessen bewusst war? Unablässig wiederholte sie ihre Lobeshymne. "Wie eine Stecknadel im Heuhaufen....."

Monika vertrug sich auch nach der Trennung von Bernd sehr gut mit der Familie ihres früheren Mannes und fuhr immer noch gelegentlich mehr als 100 km von München aus, nur um den Verwandten in Niederbayern einen Besuch zum Kaffee abzustatten. Johanna schätzte sich glücklich, dass nicht sie damals der Scheidungsgrund gewesen war.

Sie überlegte, ob sie in Monikas Situation auch einen Antrittsbesuch des neuen Bräutigams bei der gewesenen Schwiegermutter gewagt hätte. Und obwohl sie selbst sich mit der längst verstorbenen Mutter ihres ersten Mannes, Andreas, ausgezeichnet verstanden hatte, kam sie zu dem Schluss, dass sie das unpassend gefunden hätte. Allein schon den künftigen Gatten dazu zu überreden....

"Aber des Kastel, des wo sa se ausgsuacht hod bei deiner Muatta, des war fürn Mercedes z´groß, des hod net neibasst. Jetzt bringt´s der Lars zu mir her, nachad hoins es amoi..." fuhr Rosina fort. "Werd scho no eppas kriagt ham..."setzte sie nachdenklich hinzu um dann unvermittelt wieder in den "Stecknadel im Heuhaufen“ - Singsang zu verfallen. Bernd unterbrach sie abrupt, in heimische Idiom verfallend. " I verguns ihra, der Monika!" Dann stand er auf und ging hinaus, um sich auf dem Hof umzuschauen.

 

"Da schau her, Johanna, des is für di.." mit diesen Worten schubste Rosina ein zweites Stück Himbeertorte von der Tortenschaufel auf Johannas Teller. "Das ist aber jetzt das letzte! Der Kuchen ist sehr gut, aber ich kann nicht mehr."

Das entsprach zwar den Tatsachen, nichtsdestoweniger aß Johanna das Stück mit Genuss. Sie würde wieder zwei Kilo mehr wiegen, wenn sie sich daheim auf die Waage stellte. Das lag weniger an Rosinas Kochkünsten - meistens überließ sie es ohnehin Johanna, das Mittagessen zu bereiten, während sie, Rosina, im Kirchenchor sang - sondern der anscheinend volkseigenen Art der Niederbayern, Besuchern so lange Essen aufzunötigen bis sie endlich den Mut fanden, rigoros abzulehnen, auch auf die Gefahr hin, unhöflich zu erscheinen. Sie hatte gerade den zweiten Bissen mit der Gabel abgeteilt, da fiel es Rosina ein: " Oder mogst an Zwetschgenschniedl?"

"Um Gottes Willen, Rosina, nein, wer soll denn das alles essen? Ich kann schon nicht mehr, bitte, es reicht!“ "Kannts scho oa ham, i hob oa do, miassat an nur aussam Grierschrank aussa doa..." "Auf gar keinen Fall, wirklich, ich hab genug!" "Mogst koan Zwetschgenschniedl, schmeckt er da net?" "Doch, der schmeckt mir sogar sehr gut, aber es ist zuviel jetzt, den essen wir morgen!"

Johanna war sonnenklar, dass sie den Zwetschgenschniedel morgen neben einer neuen Torte serviert bekommen würde, und sie wusste inzwischen auch, dass es das Zwetschgenschniedel und nicht der Zwetschgenschniedel heißen musste, denn es handelte sich dabei um ein deutschlandweit bekanntes Backwerk, das anderswo als "Arme Ritter" und in manchen Haushalten auch als "Powidltatschkerl" bekannt ist, nämlich mit Pflaumenmus bestrichene Weißbrotscheiben, durch verrührtes Ei gezogen und in Fett ausgebacken - ein Schnittchen eben, auf bayerisch, nicht das, woran Johanna zunächst gedacht hatte. Immerhin schmeckten sie – die Schniedel - mit reichlich Zimtzucker bestreut, wirklich vorzüglich.

Rosina schritt weiter im Text: "Wos meggts nacha auf d´Nacht? Meggts a boar Wirschtl, kälberne hätt i do. Oder an Pfannakuacha? An Pressack hätt i aa!"

"Nur Brot und vielleicht etwas Aufschnitt und Käse, bitte. Wir sind doch noch satt von dem Kuchen. Und abends essen wir nie so viel."

Rosina ging hinaus, wühlte in ihrer Kühltruhe und kam mit einem Paket Würste von ca. einem Kilo zurück: "Da schau her Johanna, a Weißwurscht hätt i aa no do. Meggts a boar Weißwürscht?" Johanna erinnerte sich an das Weißwurstfrühstück bei ihrem letzten Besuch. Alle waren geplatzt, denn Rosina stellte den Topf mit den Würsten grundsätzlich auf den Holzherd, feuerte gründlich an und verließ dann die Küche, um noch mehr Feuerholz zu holen, sich umzuziehen oder ähnliches, während das Wurstwasser vor sich hin brodelte. Es hatte dann eine Art Wurstsuppe gegeben...

"Nix warmes mehr. Nur kalte belegte Brote, warme Würstel können wir denn morgen Abend machen. " Johanna war inzwischen aufgestanden, hatte das Geschirr zusammengestellt und räumte die Spülmaschine ein. Allmählich geriet sie in eine gereizte Stimmung, wie jedesmal im Verlauf dieser immer gleichen Dispute. Sie wusste jetzt schon, dass Rosina abends - und das hieß gegen 18 Uhr, also in eineinhalb Stunden - ein Pfund Aufschnitt, mehrere Sorten Käse, hart gekochte Eier, Tomaten, frische und saure Gurken und zusätzlich Weißwurst auftischen würde. Nur Brezen wären keine da, höchstens ein paar alte Semmeln vom Vormittag neben dem trockenen Schwarzbrot...

Johanna und Bernd aßen brav solange sie konnten, was ihnen aufgedrängt wurde. Dann hob Bernd die Tafel auf und ging in den Nebenraum zum Fernsehen, während die Frauen die Tafel abräumten. Es wurde schon dämmrig. Bevor Johanna begann, die Spülmaschine zu befüllen, machte sie Licht, aber die trübe Birne erhellte den Raum nur wenig mehr.

" Der Preuss, der Clemens!"stieß Rosina plötzlich hervor.

"Wie bitte?"

"Der Monika ihr Neuer. So hoasst a."

"Ach so."

Johanna brachte dafür wenig Interesse auf. Sie würde vermutlich mit Monikas Neuem ebenso wenig in Kontakt kommen wie mit Monika selbst, denn Bernd vermied jedes Zusammentreffen mit seiner früheren Familie. Und wenn es einmal dazu käme, wäre immer noch Gelegenheit, sich bekannt zu machen.

 

Vier Jahre darauf starb Bernds Mutter. Sie hatte ihm versprochen, dass er als ihr Alleinerbe den Erlös für die Eigentumswohnung erhalten würde, die sie vor ihrem Umzug ins Altenheim verkauft hatte. Er wusste, dass es sich um eine stattliche Summe handelte. Auf ihren Konten fand sich jedoch nicht einmal ein Viertel davon. Es hatte aber auch keine Kontobewegungen in dieser Größenordnung gegeben, die den Schwund des Kapitals erklärt hätten.

"Sie wird es wohl gleich damals nach dem Verkauf verteilt haben, vermutlich in bar."

Johanna kannte die Vorliebe alter Damen für Bargeld von ihrer eigenen Mutter, die, seitdem sie zur reichen Witwe geworden war, in ihrer Schreibtischschublade Geldbündel aufbewahrte und auf Reisen die Tausender in ihrer Handtasche mit sich führte. In jedem Hotel, in das sie eincheckte, galt ihre erste Frage dem Safe, und sie zeigte sich immer hocherfreut, wenn sie einen Zimmertresor zur Verfügung hatte. Die positive Auskunft wurde dem Personal am Empfang gleich mit einem ordentlichen Antrittstrinkgeld vergolten.