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Wer war Hudson Taylor? Was hat ihn geprägt, und warum ging er nach China? China war ein verschlossenes Land – doch genau dahin führt das große Abenteuer. Bereits mit 5 Jahren hatte Hudson den großen Wunsch, den Armen von Jesus zu erzählen. Schon als Kind war er oft krank und hatte ein sehr schlechtes Sehvermögen. Gott aber wählte gerade ihn für eine besondere Aufgabe. Im Alter von 21 Jahren verließ Hudson Taylor England und segelte nach China. Warum nahm er eine fünfmonatige Reise auf sich, um auf die andere Seite des Globus zu gelangen? Er tat es, um den Chinesen die frohe Botschaft von Jesus Christus zu erzählen. Diese Geschichte beschreibt Hudsons Kindheit und seine dramatischen Teenagerjahre, sowie das Leben und Werk dieses großen Missionars. Hudson Taylor war ein Mann des Glaubens, der Gott vertraute, mit einer engen Beziehung zu Jesus Christus, aus dessen Gnade er lebte. Dieses Buch ist der vierte Band der Buchreihe »Glaubensvorbilder« für Kinder und Jugendliche.
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Seitenzahl: 184
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Hudson Taylor
Ein Abenteuer beginnt
Catherine MacKenzie
Originaltitel: An Adventure Begins© 1999 Catherine MacKenzieVeröffentlicht bei Christian Focus PublicationsAlle Rechte vorbehalten© der deutschen Ausgabe by Verlag Voice of Hope, 2019Eckenhagener Str. 4351580 Reichshof-Mittelaggerwww.voh-shop.deÜbersetzung: Hermann GrabeLektorat, Cover und Satz: Voice of HopeCoverbild: Jeff AndersonISBN 978-3-947102-79-2 – E-BookISBN 978-3-947102-34-1 – Hardcover-BuchAlle Bibelstellen sind gemäß der Schlachter-Bibel 2000.
Der Beginn des Abenteuers
Es gibt eine Redensart, die lautet: »Verrückte Hunde und Engländer gehen in der Mittagssonne spazieren.« Die drückende Hitze der Sonne in China jagt die meisten Fremden in den Schatten oder in ein kühles Bad – aber nicht alle.
»Fremder Teufel! Fremder Teufel!« Diese Rufe erschollen überall auf der belebten chinesischen Straße, wo Menschenmengen aus hohen Häusern und verfallenen Hütten strömten. Verwahrloste Kinder hörten zu spielen auf, um herauszufinden, warum die Leute zusammenliefen. Einige starrten den Fremden furchtlos an, wie er da die Straße entlangging. Andere hatten Angst und versteckten sich hinter den Röcken ihrer Mütter oder älteren Schwestern.
Prächtig geschmückte chinesische Tempel und hohe, starke Stadtmauern täuschten über die furchtbare Armut der meisten Bewohner Schanghais hinweg. Armut war für die meisten tägliche Realität.
»Fremder Teufel!« Das Geschrei wurde lauter. »Seht ihn euch an mit seinem komischen gelben Haar und einer Haut, die wie Ziegenmilch aussieht! Schaut doch bloß seine Augen an, die so hell sind wie eine Blume! Es ist seltsam, so viele Farben an einer einzigen Person zu sehen.« Alte Omas und junge Frauen diskutierten mit großem Vergnügen über jeden Quadratzentimeter dieses sonderbaren Fremdlings. »Seht euch doch nur die komischen Knöpfe auf der Vorder- und auf der Rückseite seines Mantels an! Warum hat er sowohl vorne als auch hinten an seiner Kleidung Knöpfe?«
Die Chinesen trugen nur einfache, locker sitzende Kleidung; aber dieser Fremde trug pompöses und aufwendig gemachtes Zeug, was keinen Sinn zu haben schien. Chinesische Männer trugen Zöpfe, die am Rücken herabhingen, und das übrige Haar war geschoren; doch der Fremde hatte überall auf dem Kopf Haare, so hell wie Stroh.
Junge Männer folgten dem gelbhaarigen Fremden mit einigen Schritten Abstand. Sie trugen große Körbe, die an langen Bambusstangen hingen. In den Körben lagen die unterschiedlichsten Dinge, die auf einem der vielen Märkte in Schanghai verkauft werden sollten. Ein Mann trug die Stange an einem Ende und ein anderer am anderen, und daran hing der große, schwere Korb, der in der Mitte hin und her schaukelte. Sie kicherten über den fremden Mann, und der fühlte sich verlegen und höchst unwohl. Er besah sich seine Kleidung und die der anderen Leute rings um ihn herum. Er stellte auch fest, dass sie ihn alle anstarrten. In der Hand trug er ein großes Buch und einige Blätter Papier. »Er will sicher zum großen Platz, wo man sich gewöhnlich versammelt«, sagte eine alte Großmutter. »Er muss uns etwas Wichtiges zu sagen haben.«
Magere alte Hühner jagte man mit einem Tritt aus dem Weg, und Babys band man sich mit Tragetüchern auf den Rücken, während man dem bleichgesichtigen Fremden folgte.
Die Frauen konnten auf ihren winzigen, gebundenen Füßen nur sehr schlecht gehen. Überall in China hatten die Eltern ihren Töchtern schon in sehr frühem Alter die Zehen mit festen Bandagen unter ihren Füßen festgebunden. Das behinderte das Wachstum der Füße. Man wollte damit erreichen, dass sie später winzige, zierliche Füße hätten, was die Chinesen sehr schätzten. Keine Frau mit großen Füßen durfte damit rechnen, einen Mann zu bekommen. Männer mochten große Füße nicht. Große Füße galten als unattraktiv. Außerdem war man sich sicher, dass einem eine Frau mit solch kleinen Füßen nicht davonlaufen konnte. Man holte sie ganz leicht wieder ein.
Immer mehr Stimmen mischten sich in das allgemeine Gewirr.
»Da kommt er, da kommt er, der ›fremde Teufel‹ mit seinen komischen Kleidern!« Männer, Frauen, Kinder, Hunde und auch ein oder zwei schreiende Esel trugen zum Chaos bei. Der junge Fremde räusperte sich verlegen. Er begriff sehr wohl, dass vor allem seine Kleidung die Menge so sehr belustigte. Die jungen Männer und Frauen, die Bauern und Kaufleute, die kleinen Kinder, ja selbst die Babys starrten ihn an. Ein Schweißtropfen fiel von seiner Nasenspitze. Mit einem weißen Taschentuch wischte er sich den Schweiß ab, was noch mehr Heiterkeit hervorrief.
»Haha! Seht ihn nur an, er wischt sein Gesicht mit einer großen weißen Fahne ab! Die noch weißer ist als sein Gesicht!« Wieder hüstelte er und betete flehentlich darum, dass die Leute doch nicht ihre Zeit damit verschwendeten, ihn auszulachen, sondern dass sie zuhörten, was Gott ihnen zu sagen hat.
Als er zu sprechen begann, war die Menge überrascht: Diese schmalen rosafarbenen Lippen sprachen ein richtig gutes Chinesisch!
»Mein Name ist Hudson Taylor, und ich habe eine sehr lange Reise gemacht, um euch von dem einen wahren Gott zu erzählen. Er ist es, der Himmel und Erde und auch euch gemacht hat! Und Er hat allen Menschen geboten, Ihn zu lieben und Ihm zu dienen; denn Er ist ein heiliger Gott, der die Sünde hasst. Ich sage euch die Wahrheit.«
Ein chinesischer Kaufmann stand am Rand der Volksmenge. Auch er war neugierig, zu erfahren, was hier vor sich ging. »Er sagt, dass er uns die Wahrheit sagen will? Ich habe von diesen fremden Barbaren gehört. Sie kommen von weit her, weit entfernt vom Reich der Mitte; sie kommen von dort, wo die Wilden hausen. Sie haben nichts gelernt und kennen keine Manieren. Darum verstehe ich nicht, warum ihm hier all die Leute zuhören.« Der junge chinesische Kaufmann legte die Baumwolltücher nieder, die er an diesem Tag auf dem Markt verkaufen wollte, und hörte zu, was der Fremde zu sagen habe.
Der erhob nun laut seine Stimme, damit man ihn trotz des Lärms ringsumher verstehen könne:
»Der Gott, der Himmel und Erde erschaffen hat und auch den riesigen Jangtse-Fluss, der bei uns vorbeifließt, will nicht, dass wir ohne Hoffnung seien. Er liebt uns und will uns unsere Sünden vergeben. Er will, dass wir zu Ihm zurückkehren und mit Ihm leben. Aber Gott muss die Sünden mit dem Tod bestrafen! Daher sandte Er Seinen Sohn, Jesus Christus. Der lebte bei uns auf der Erde; aber Er tat nie eine Sünde. Er war vollkommen. Er kam als kleines Kind auf die Erde. Er heilte die Kranken, machte, dass die Lahmen wieder gehen konnten, und erweckte Tote wieder zum Leben. Er führte ein vollkommenes Leben, anders als wir es tun; und dann starb Er an Stelle der Sünder, die an Ihn glauben. Unsere Bosheit fordert Gottes Zorn heraus, und wegen unserer Sünden haben wir den Tod verdient. Aber Jesus Christus starb, damit wir leben können, und nach drei Tagen kehrte Er ins Leben zurück! Der Tod hatte Ihn nicht besiegt.«
Laute des Erstaunens und des Unglaubens waren überall zu hören. Der chinesische Kaufmann stand nachdenklich da und hielt die Hand ans Kinn. Da war etwas Wahres dran. Das merkte er ganz deutlich. Keine andere Botschaft hatte ihn so ergriffen, wie es die Geschichte von Jesus tat. Der Kaufmann hatte es schon mit etlichen Religionen versucht, auch mit dem Buddhismus. Dieser Jesus Christus war anders.
Der Fremde übertönte das allgemeine Gerede. »Wenn ihr Buße tut, Christus glaubt und vertraut, werdet ihr für immer bei Ihm leben. Wenn ihr aber nicht an Christus glaubt, werdet ihr nach eurem Tod dem ewigen Gericht entgegengehen!«
Die Menge verwunderte sich über diese erstaunliche Rede. Einige lachten über diesen »eigenartigen Fremden« und über seine »törichte Geschichte«.
Der chinesische Kaufmann nahm seine Baumwolltücher wieder auf und ging fort, ohne ein Wort zu sagen.
Der junge Missionar Hudson Taylor seufzte, als er den Mann um die Ecke verschwinden sah. Der Kaufmann blickte noch einmal auf den schweren schwarzen Anzug zurück und auf das sandfarbene Haar und fragte sich dabei: »Wer mag dieser Hudson Taylor sein, und weshalb kommt er zu uns in diese Stadt?«
Der Beginn in Barnsley
Hudson Taylors Reise nach China begann eigentlich an dem Tag, als er geboren wurde, wenn nicht sogar noch früher. Seine tatsächliche Reise nach China fing im September 1853 an. In jener Nacht heulte der Sturm um das Haus, rüttelte an den Schornsteinrohren und jagte die trockenen Blätter rund um die alte Apotheke in Barnsley, in der Grafschaft Yorkshire. Dort wohnte nämlich die Familie Taylor.
Hudson schlief ruhig in seinem eigenen Bett und schnarchte unter der dicken, wattierten Decke. Ein friedliches, sanftes Gesicht blickte mit blauen Augen durch die Tür. Hudsons Mutter flüsterte: »Schlaf gut, mein Kind!« Dann schloss sie die Tür leise und schlurfte den Flur entlang zu ihrem Zimmer. »Ich sage immer noch ›Kind‹ zu ihm, obwohl er längst lange Hosen trägt und drauf und dran ist, um die halbe Welt zu reisen.«
Mrs. Taylor erschauerte, weil der Zugwind um ihre nackten Füße strich. »Wenigstens habe ich ihn zu Hause; aber für wie lange noch?« Sie widerstand der Versuchung, noch einmal in sein Zimmer zurückzukehren, um ihm seine wirren blonden Locken von der Stirn zu streichen. Es fiel ihr schwer, daran zu denken, dass jemand, den sie so sehr liebte, sie verlassen würde. Diesmal ging es nicht um eine Reise nach Hull oder nach London – in nur noch wenigen Wochen würde ihr Sohn auf einem Schiff sein, das nach China unterwegs war. Obwohl ihr Mann ihr immer wieder versicherte, dass China ein hoch zivilisiertes Land sei, mit vielen intelligenten Menschen, bekam sie doch jedes Mal einen Kloß in den Hals bei dem Gedanken, ihr junger Sohn sollte dort ganz auf sich selbst gestellt leben.
Auf Zehenspitzen schlich sie ins Schlafzimmer, wo ihr Mann leise schnarchte. Anstatt ins Bett zu gehen, setzte Mrs. Taylor sich, mit einem Schal um die Schultern, in einen Sessel am Fenster.
Mr. Taylor schnarchte weiter. Seine Frau seufzte. »Er kann immer so leicht einschlafen!« Ein plötzlicher Windstoß löschte die Kerze. Schnell stand sie auf, um sie wieder anzuzünden. Sogleich kuschelte sich Mrs. Taylor in eine warme Decke und begann zu schreiben.
Sie erinnerte sich an die strikten Regeln, die sie ihren Kindern in der Vergangenheit beigebracht hatte; eine derselben lautete: Niemals im Bett lesen! Allein der Gedanke, sie könnten ihre Bettdecken in Brand setzen, wenn die Kerze umkippen sollte, reichte aus, um das Lesen im Bett zu verbieten. Darum setzte sie sich jetzt in den Sessel, um etwas in ihr Tagebuch einzutragen. Es sah zwar alt und verschlissen aus; aber es berichtete von ihren Gedanken, Gebeten, Hoffnungen und Träumen. Natürlich braucht man für eine dankbare Verbindung mit Gott weder Feder noch Papier; aber wenn sie alles aufschrieb, was sie bekümmerte und was sie erlebt hatte, dann hatte sie später etwas, auf das sie zurückschauen konnte.
»Es ist erstaunlich«, dachte sie, »wieviel Grund ich habe, um Gott dankbar zu sein. Allein wenn ich all diese alten Tagebucheinträge durchlese, wird mir klar, wie oft Gott über uns allen gewacht hat.« Ein Strahl des Mondlichts traf ihre Augen. »Damals schien auch der Mond, als James zum ersten Mal den Mut fasste, mich nach Hause zu begleiten.«
Sie blickte zu dem »alten« James Taylor hinüber. Während er ein- und ausatmete, bewegte sich sein langer Backenbart auf und ab. Mrs. Taylor musste unwillkürlich lächeln. Dann sah sie zum Mond hinauf, der durchs Schlafzimmerfenster leuchtete, und das erinnerte sie an jenen Abend, als ihr damals zukünftiger Bräutigam sie das erste Mal nach Hause brachte. Sie lächelte, während sie schrieb:
Ich war ganz begeistert von dem jungen James Taylor, ohne auch nur daran zu denken, er könnte Ähnliches empfinden. Doch dann kam er plötzlich auf mich zu und sagte: »Miss Hudson, Sie haben heute Abend wunderschön gesungen.«
Ich war erst 16 Jahre alt und die Tochter des Methodistenpfarrers und besaß eine so schöne Stimme, dass man mich überall nur »die Nachtigall« nannte. An diesem Abend hatte ich eine Reihe Choräle und geistlicher Lieder für eine Gruppe von Freunden gesungen. Mein Vater war der örtliche Pfarrer, und alle mochten es, seine junge Tochter singen zu hören.
»Man nennt Sie ›die Nachtigall‹, nicht wahr? Und ich begreife auch, warum.« James errötete hinter seinem Schnurrbart, den er seit Kurzem trug. Er war erst 17 Jahre alt, und es hatte ihn Monate gekostet, Mut zu fassen und mich anzusprechen. Nun fürchtete ich, er werde alles zerstören, weil er gleich vor übergroßer Schüchternheit hektisch aus dem Zimmer rennen würde. Aber nein! Ich lächelte ihn herzlich an, und er lächelte zurück.
James flüsterte: »Darf ich Sie nach Hause begleiten?« Dann räusperte er sich verlegen und sagte noch leiser: »Es wäre mir ein Vergnügen!«
Ganz verdattert konnte ich mein Glück kaum fassen. Ich nickte sittsam. Ich war eine Erzieherin in einer örtlichen Familie; er war Lehrling in Rotherham und ein fleißiger Arbeiter. Unsere beiden Familien hielten unsere Verbindung für gut. So kam eins zum anderen, und sieben Jahre später, im April 1831, heirateten wir. Ja, und jetzt wohnen wir hier in 21 Cheapside, Barnsley. Ich bin sehr viel älter geworden und habe etliche Fältchen um die Augen. Auch bin ich nicht mehr so hübsch und schlank wie damals, und niemand nennt mich mehr »die Nachtigall«.
Mrs. Taylor seufzte und stand auf, um sich noch ein Glas Wasser zu holen.
Ich bin sehr dankbar, dass Gott James und mich errettet hat und wir uns im Glauben einig sind. Gott steht überall an erster Stelle.
Ich hätte niemals einen Mann heiraten können, der Christus nicht liebt. Herr, ich danke Dir, dass Du mir einen Mann gegeben hast, der Dich liebt. Deine Liebe ist die beste Liebe. Und sie ist so viel stärker als jede andere.
Ich erinnere mich an diese ersten gemeinsamen Monate, in denen es uns immer wieder als etwas Neues vorkam, einfach zusammen zu sein. Welch kostbare Zeiten hatten wir beide mit dem Herrn und mit Seinem Wort! Jeden Morgen nahmen wir uns Zeit, die Bibel zu studieren, denn wir wollten in der Gnade und Erkenntnis unseres Herrn wachsen. Gottes Wort wurde uns immer kostbarer – wir haben erfahren, dass es sich immer direkt an unsere Herzen richtet. Einmal zeigte der Herr uns, dass wir völlig abhängig von Ihm sind und nichts ohne Ihn tun können; ein anderes Mal, wie viel Sünde und Eigenliebe in uns ist, und dass wir täglich aus Vergebung leben.
Ich erinnere mich noch ganz besonders an einen Morgen. Die Bibel lag vor uns, aufgeschlagen im zweiten Buch Mose, und James sprach mit mir über eine Bibelstelle, die ihn besonders beeindruckte. Es handelte sich um einen Teil des 13. Kapitels aus dem 2. Buch Mose und einige ähnliche Verse aus dem 4. Buch Mose.
»Lies hier: ›Heilige Mir alle Erstgeburt‹, und: ›Alle Erstgeburt gehört Mir.‹«
Ich folgte seinem Finger, während wir lasen. Was wollte James mir klarmachen?
Ich zog mich in meinem Stuhl hoch, um es mir etwas bequemer zu machen. Diese erste Schwangerschaft machte mir wirklich viel zu schaffen. Ich konnte nicht lange auf einer Stelle sitzen und wurde fast immer von irgendwelchen Leiden geplagt.
Lang und ernst war das Gepräch, das mein Liebster und ich nun in freudiger Erwartung auf unser Kind führten.
Plötzlich fühlte ich eine kleine Ferse oder Faust, die sich ausstreckte und mir in die Seite boxte.
James sah mir ins Gesicht. »Unser Kleines wartet darauf, in diese Welt einzutreten, und wir werden vor einer bisher unbekannten Herausforderung stehen. Welches bessere Willkommen könnten wir dem Baby bereiten, als es unserem treuen Vater anzubefehlen und Ihn um Weisheit und Rat bei der Erziehung zu bitten?!
Also knieten wir uns nieder und flehten Gott um Hilfe an. Unser Wunsch war, dass dieses Kind Ihm dienen und brauchbar in Gottes Hand werden möge. Wir brauchten Ihn, um als »gute Hirten« unser Kind zu führen und zu versorgen. Nur Er kann neues Leben schenken, damit unser Sohn oder unsere Tochter Ihm in Hingabe und Liebe dient. »Unser Vater im Himmel, bitte nimm Du dieses Kind, diese Familie, unsere ganze Zukunft, unser aller Leben in Deine Hände. Dein Wille geschehe und Dein Name sei verherrlicht!«
Der Morgen brach an, und die Geräusche im Mädchenzimmer nebenan weckten Mrs. Taylor sachte auf. Sie streckte sich und lächelte über die Erinnerungen und Träume der vergangenen Nacht.
Der Traum, eine junge, erwartungsfrohe Mutter zu sein, war verflogen – auch der Traum, einen neugeborenen Sohn im Arm zu halten. Der 21. Mai 1832 war eine schöne, aber ferne Erinnerung geworden. Hudson Taylor war jetzt ein junger Mann und nicht mehr der kleine Junge. Andere Erinnerungen kamen ebenfalls in ihr Gedächtnis, Erinnerungen an ihren kleinen Sohn William, der starb, bevor er acht Jahre alt geworden war. Es waren Erinnerungen an viel Wachen und Beten wegen all ihrer kleinen Kinder. William und Hudson waren als Kinder sehr eng miteinander verbunden, und Hudson vermisste ihn immer noch sehr. Immerhin fühlte er sich jetzt eng mit Amelia, seiner Schwester, verbunden. So eng sogar, dass dadurch alle anderen fast ausgeschlossen waren. Mrs. Taylor hatte ihre älteste Tochter, während sie aufwuchs, beobachtet. Amelia hatte täglich etwas Neues in der Welt um sie herum und bei sich selbst entdeckt. Auch Hudson hatte in letzter Zeit sprunghafte Fortschritte gemacht. Alle ihre Kinder breiteten ihre Flügel aus. Louisa, der Jüngsten in der Familie, ging es vor allem darum, unabhängig zu sein. Sie äußerte stets ihre Ansichten und bestand darauf, ihren Willen durchzusetzen. Hartnäckig verweigerte sie es, etwas zu tun, was ihr nicht passte. Sie war die Einzige in der Familie, die nicht gläubig war. Mrs. Taylor und die anderen machten sich Sorgen um Louisa; aber sie bedrängten sie nicht. Die Mutter betete, Gott möge Seine Hand über alles halten und diesen jungen Freigeist bald zu Sich führen.
Dass ihre älteste Tochter, Amelia, schon sehr früh zu Christus gekommen war, freute die Mutter sehr. Es war so schön, dass sie jetzt nicht nur Mutter und Tochter waren, sondern auch Schwestern in dem Herrn Jesus Christus und darum auch wirklich gute Freunde. Keines ihrer Kinder war perfekt. Alle hatten sie ihre Fehler und Unvollkommenheiten. Louisa war eigensinnig. Hudson konnte das auch sein. Amelia war vereinnahmend, besonders in Bezug auf Hudson, und Mrs. Taylor sah manchmal, wie dieses vereinnahmende Wesen Probleme zwischen Amelia und Louisa heraufbeschwor. Solche Probleme waren nicht schwerwiegend und sicher ganz normal in einer Familie, die so eng zusammenhielt wie die ihrige.
Als die Familie erwachte, musste Mrs. Taylor ihre Memoiren zur Seite legen und anfangen, sich auf den neuen Tag vorzubereiten. Da musste Frühstück gemacht werden! Sie ging mit schnellen Schritten den Flur entlang, hielt kurz an, um die wirren Locken aus Hudsons verschlafenem Gesicht zu streichen. »Hudson Taylor«, flüsterte sie ihm ins Ohr, »es ist Frühstückszeit!«
»Mmh«, murmelte Hudson. »Würstchen?«
Bald war das Frühstück vorbei, und Mrs. Taylor setzte sich, um einige Zeit der Ruhe und Stille zu genießen. Mr. Taylor war ins Vorderhaus gegangen, in dem sich die Apotheke befand. Hudson und seine Schwester Amelia liefen die Straße hinunter und unterhielten sich angeregt. Hudson hatte auch Louisa gefragt, ob sie mitkäme; aber sie war zu Hause geblieben und stand nun oben in ihrem Zimmer, wo sie einen Schrank aufräumte und ihre Sachen wieder in Ordnung brachte. Ob Amelia und Louisa Streit miteinander hatten? Mrs. Taylor machte sich Sorgen um ihre Kinder, besonders um Amelia und Louisa. In letzter Zeit schien es, als ob sie sich ein bisschen zu viel zankten.
»Amelia will Hudson immer für sich haben, Herr! Er scheint die Spannungen zwischen den beiden Schwestern nicht zu bemerken. Ich sehe sie aber sehr deutlich. Sie wollen das verbergen; aber sie vergessen, wie gut ich sie kenne. Ich rieche Probleme meilenweit gegen den Wind, besonders wenn es um meine Kinder geht. Amelia und Louisa merken vielleicht, wie die Spannung steigt; denn beiden tut es immer mehr leid, dass Hudson fortgeht.«
Weil sie die Freude, ein wenig Ruhe zu haben, sehr genoss, nahm sie ihr Tagebuch noch einmal auf.
An diesem Morgen erinnere ich mich, wie ich sah, dass sich ein sandfarbiger Haarschopf über Amelias Bett auf und ab bewegte. Es war später Abend eines herrlichen Sommertages, und Amelia konnte einfach nicht einschlafen. Da hatte Hudson die großartige Idee, ihr eine Geschichte zu erzählen. Allerdings stellte sich bald heraus, dass dies keine Geschichte war, wie man sie zum Einschlafen braucht. Hudson schrie aufgeregt: »… Der alte Bandit kam angeritten und knallte mit der Peitsche durch die Luft, weil sein altes Pferd es nicht mehr schaffte, vor den Soldaten zu fliehen. Er schlug und schlug das Tier, während sie in die Nacht hinausflohen. Dann sprangen sie über den Zaun (Hudson sprang ebenfalls und schleuderte die Bettdecke durch die Luft).
Jetzt sprangen sie über die Steinmauer! (Ein Kissen flog auf den Fußboden).
Ein breiter, schäumender Fluss lag vor ihnen (Hudson wedelte mit dem Betttuch, um das anzudeuten).
Aber der Fluss war für das alte Pferd zu breit zum Durchschwimmen. Was sollten sie nun machen? Der Bandit knallte nochmal mit der Peitsche. Gerade in diesem Augenblick stieg das Pferd, und der böse alte Räuber flog platschend in die dunkle, schäumende Tiefe. Mit einem Tritt eines seiner Hinterbeine und mit einem Schlag seines langen Schweifes verschwand das Pferd in der Dunkelheit – endlich frei!«
Es war ja nur eine Geschichte. Trotzdem fühlte ich mich erleichtert, dass das arme alte Pferd die Chance für seine Befreiung wahrgenommen hatte.
Hudson hat viele erstaunliche Gaben von Dir, o Herr, bekommen. Deshalb spielte er am nächsten Abend, bei dem familiären Musikabend, die Flöte, und man fühlte sich durch seine Musik an einen Ort des Friedens und der Ruhe fortgetragen.
Mrs. Taylor überlegte ein wenig, bevor sie weiterschrieb.
Immer wieder habe ich in diesem Raum gesessen und mich gewundert, wie gut ich meine Familie kenne. Wie gut kenne ich aber meinen Sohn? – Es vergeht kein Jahr, in dem ich nicht etwas Neues an einem jeden von ihnen entdecke. Aber, himmlischer Vater, unsere Zeiten stehen in Deinen Händen, und Du kennst jeden verborgenen Winkel unserer Herzen. Es gibt nichts, was wir vor Dir verbergen könnten. Du kennst mich besser als ich selbst, und Deine Liebe ist größer als alles, was aus meinem winzigen, beengten Herzen kommt. Du liebst meine Kinder ebenfalls. Ich weiß nicht, warum Du den kleinen William hast sterben lassen. Ich verstehe auch nicht immer, warum Hudson nach China gehen muss. O Gott, es tut mir leid, dass ich Dir nicht so vertraue, wie ich es tun sollte.