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Kennst du ihn, den Reformator, Familienvater und Liederdichter, den Bibelübersetzer und redegewandten Prediger? Wer war er? Warum wurde er verfolgt? Was hatte er entdeckt? Warum nennt man ihn Reformator, und was geschah vor 500 Jahren? Die bekannte Autorin schildert in diesem Buch das eindrückliche Leben von Martin Luther, seine Suche nach Gott, seine Gefangennahme und Entführung zur Wartburg, die Übersetzung der Bibel und vor allem die Entdeckung der Wahrheit im Evangelium – einer Wahrheit, die sich wie ein Lauffeuer in der ganzen Welt verbreitete. Martin Luthers Hingabe im Kampf für die Wahrheit ist es wert, nachgeahmt zu werden. Diese Geschichte lässt sein Lebensbild vor den Augen der Kinder und Jugendlichen lebendig werden. Dieses Buch ist der zweite Band der Buchreihe »Glaubensvorbilder« für Kinder und Jugendliche.
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Seitenzahl: 161
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Martin Luther
Das Feuer der Reformation
Catherine MacKenzie
Originaltitel: Reformation Fire© 2016 Catherine MacKenzieVeröffentlicht bei Christian Focus PublicationsAlle Rechte vorbehalten© der deutschen Ausgabe by Verlag Voice of Hope, 2018Eckenhagener Str. 4351580 Reichshof-Mittelaggerwww.voh-shop.deÜbersetzung: Bettina BräulLektorat, Cover und Satz: Voice of HopeZeichnungen: Neil ReedISBN 978-3-947102-77-8 – E-BookISBN 978-3-947102-32-7 – Hardcover-BuchAlle Bibelstellen sind gemäß der Schlachter-Bibel 2000.
Wir bedanken uns für die finanzielle Unterstützung bei der Stiftung:Stichting Vrienden van Heidelberg en [email protected] | www.svvhed.org
Das Sommergewitter
Ein kleiner, robuster sechsjähriger Junge saß an einem schmalen Fenster. Seine Mutter hatte die Fensterläden geöffnet, um zu lüften. Alles schien an diesem Tag feucht und stickig zu sein. In der Ferne sah man Berge, Wälder und einen heraufziehenden Regen. Das waren die perfekten Vorbedingungen für ein Sommergewitter.
Als der Himmel zu dunkeln begann, meinte Martin, in der Ferne ein Rumpeln zu vernehmen. Nervös versuchte er diesen Lärm den örtlichen Minen und Schmelzöfen zuzuordnen, die Wolken dem Rauch, der von den Arbeitsplätzen der Ortsansässigen aufstieg, die Metall und Eisen aus der Erde gruben. Diesen Lärm war er gewohnt; er konnte ihn ignorieren – konnte ihn als normal abtun, als alltägliches Geräusch … Doch Martin wusste, dass das, was er jetzt aus der Ferne hörte, nichts mit der drückend heißen Arbeit zu tun hatte, die sein Vater ausübte; eher war es der mysteriöse Lärm, der jeden Juli und August zusammen mit der Schwüle aufkam.
Martin erschauderte. Er begann, seine Nerven zu verlieren. Er wusste, dass ein Unwetter losbrach. Mansfeld könnte bald sehr gut im Zentrum desselben stehen. Sobald das Gewitter über das benachbarte Tal herübergezogen sei, würde er gleich den ersten Blitz sehen, bevor drohend der Donner rollen würde.
Aus seinem Fenster hatte Martin einen guten Ausblick auf den kleinen Bergwerksort, den er seine Heimat nannte. Man sah leuchtend rote Dächer und Fachwerkhäuser. In einiger Entfernung umgab eine starke Mauer die Stadt, um sie zu schützen, da Martin in einem Land lebte, das zum Kampf bereit sein musste. Städte und Dörfer mussten sich vor Räubern und den Feinden schützen. Das Land, in dem Martin lebte, war Deutschland; doch es war nicht das, was man heute unter Deutschland versteht, mit einem politischen Oberhaupt und einer Regierung. Stattdessen bestand es aus mehreren Gebieten, die jeweils von einem eigenen Fürsten und seiner Streitmacht regiert wurden. Deutschland wird ein brisanter Ort gewesen sein, in dem jede Stadt und jedes Dorf tat, was irgend möglich war, um sich gegen Feinde auszurüsten. Allerdings war Martin sich nicht sicher, ob eine Stadtmauer wie die ihrige irgendeinen Schutz vor Donner und Blitz bieten konnte.
Seine Mutter sagte, dass er beten solle, wenn er Angst habe. Doch Martin war sich nicht ganz sicher, zu wem er beten solle. Die Priester beteten zu der »Jungfrau Maria« und zu den »Heiligen« – und es gab viele derselben. Doch seine Mutter und sein Vater beteten zu Gott – einfache Gebete in Deutsch, anders als die Gebete, die er von den Mönchen und Priestern in der Kapelle hörte. Jene schienen immer nur in Latein zu beten. Fieberhaft versuchte der kleine Martin Luther nun, zu der »Jungfrau« und allen »Heiligen« und gleichzeitig zu Gott zu beten, als das Gewitter sich näherte. Verwirrt und angsterfüllt hoffte er, dass jemand ihn hören und ihm helfen würde.
Das Gewitter zog immer näher heran. Martin versuchte sich abzulenken, indem er die vertrauten Düfte einsog, die in der Luft schwebten – der metallische Geruch der Kupfer- und Silberminen, das frische, fast heilkräftige Aroma des Kiefernwaldes in der Ferne, die nahegelegenen blumigen Duftnoten von Mohnblumen und Apfelblüten aus einem gut erhaltenen Familiengarten.
Allerdings konnte nichts davon ihn von dem aufziehenden Unwetter ablenken. »Jeden Moment kann es losgehen …«, flüsterte er sich zu. Der süd-westliche Teil von Sachsen war im Sommer schon gut an die plötzlich hereinbrechenden Gewitter gewöhnt – doch Martin war es nicht. Es gab etwas am Gewitter, das ihn immer an seine Grenzen brachte.
»Sei mutig!«, sprach er laut zu sich selbst. Doch Martin war nicht mutig, und angesichts des Gewitters konnte er es auch nicht sein.
Plötzlich zuckte ein schlangenähnlicher Feuerstreifen über den pechschwarzen Himmel und erleuchtete alles ringsum. Martin sprang auf und rang nach Luft. Genau in diesem Moment brachte ihn eine sanfte Stimme zu seiner Linken zurück auf den Boden der Wirklichkeit. »Du weißt doch, mein Liebling, was du an Sommertagen wie diesen zu erwarten hast.« Indem er sich vom Fenster und den schreckenerregenden Geschehnissen draußen abwandte, schaute Martin in das ernste, ehrliche Gesicht seiner jungen Mutter. Ihre hohen Wangenknochen waren ein Zeichen guter Erziehung, zumindest sagte sie es so. Der Schweiß, der ihre Haut glänzen ließ, war ein Hinweis auf ihre harte Arbeit. Ihr warmer, voller Mund war, was Martin am meisten an ihr schätzte. Wenn sie ihn auch dazu gebrauchte, ihren ältesten Sohn zu erziehen, dann war es dennoch derselbe Mund, der ihm erzählte, dass sie ihn liebte, und der ihn, solange er sich erinnern konnte, zum Gute-Nacht-Sagen küsste, bevor er einschlief.
»Warum ist es so, Martin«, fragte sie, »dass du dich immer so fürchtest vor diesen Gewittern?«
Martin unterbrach sie: »Ich erschrecke mich zu Tode bei diesem Anblick und diesen Geräuschen …«
Seine Mutter lachte in ihrer gutmütigen, natürlichen Art. Sie erkannte etwas von sich selbst in den besorgten, poetischen Augen ihres kleinen Sohnes. Sie konnten beide in ihrer Phantasie einen Sprung machen und augenblicklich irgendwo jenseits der Wälder sein, in einem Land oder einer Welt, in der sie nie zuvor gewesen sind. Martins Vorstellungskraft war allerdings nicht immer von Vorteil, insbesondere heute nicht, wenn sie ihn unnötigerweise über etwas beunruhigte, was in ihrer thüringischen Heimat so häufig geschah.
Die Mutter schloss ihren kleinen Jungen sanft in die Arme. Sie zog ihn auf ihren Schoß, während sie sich völlig dessen bewusst war, dass ihr dies nicht mehr viel länger möglich war. Junge Knaben mussten in Deutschland schnell erwachsen werden, ob sie nun für die Grubenarbeit verpflichtet wurden, wie die meisten jungen Männer in Mansfeld, oder für das akademische Leben, wie Martin.
Frau Luther wollte diese Art von Leben für ihren ältesten Sohn. »Sein klarer Verstand und Wissensdurst heben ihn von den anderen Burschen ab«, dachte sie. Ihr Ehemann Hans hatte sein Leben damit verbracht, sich in verstaubten, schmutzigen Minen abzurackern und Silber und Kupfer aus der unerbittlich harten Erde zu bohren und zu graben. Beide wünschten sich etwas Besseres für Martin.
Ein weiterer Blitz zuckte direkt über ihnen. Der darauffolgende Donner veranlasste Martin, sich noch fester an seine Mutter zu klammern. Sie küsste ihn noch einmal sanft auf die Stirn und versuchte ihn mit einem Lächeln zu beruhigen.
»Keine Angst, Martin. Das wird bald nur noch eine weitere Erinnerung an den Sommer sein. Ich werde Papa nicht erzählen, was du für ein ›Baby‹ warst. Denk nur mal an die Energie in dem Blitz, wenn er über den Himmel zuckt! Und denk an die Kraft des Schöpfers! Denke daran, was unser Gott mit dem Wetter zu tun vermag und was Er aus einem einzigen Leben, wie dem deinen, machen könnte!«
Martin war sich nicht sicher, was Gott aus einem Angsthasen wie ihm wohl machen könnte. Doch der nächste Donner krachte, und die darauf folgenden nahmen immer mehr an Intensität ab; jeder klang von weiter weg als der vorherige. Endlich war es nur noch ein entferntes Rumpeln, ohne dass ein Blitz zu sehen war.
»Da haben wir’s. Alles ist wieder in Ordnung«, verkündete Martins Mutter, schob den Jungen sanft von ihrem Schoß herunter und stellte ihn fest auf den Boden. Sie nahm eine kleine Tasche aus dem Schrank und füllte sie mit zwei Portionen Brot und Äpfeln. »Sicher wirst du noch vor dem Abendbrot Hunger bekommen«, stellte sie fest. »Und dein Vater wird auch hungrig sein. Alle Luther-Männer haben großen Appetit.«
Martins blasses Gesicht begann wieder etwas Farbe anzunehmen, als er sich eine Kappe überzog, um seinen Kopf vor den letzten Regentropfen zu schützen. Der Gedanke an eine Zwischenmahlzeit vor dem Abendbrot verschaffte ihm ein weitaus besseres Gefühl, während er seiner Mutter zum Abschied zuwinkte.
Als er um die Ecke auf die Hauptstraße einbog, zeigte es sich, dass dieser Bergwerksort einer der belebtesten des gesamten Bezirks war.
»Und Vater ist einer der eifrigsten Bergwerksarbeiter in Mansfeld«, dachte Martin bei sich selbst. Seine Mutter hatte ihm das viele Male erzählt. Martins Mutter war stolz auf Hans Luther, ihren Mann. Martin und sein jüngerer Bruder bewunderten voller Staunen die starken Schultern, die durchdringenden Augen und die dunkle Hautfarbe ihres Vaters. Er hatte sich die Finger schon wund gearbeitet, um sein Leben und das seiner Kinder zu verbessern. Es war ein gefährlicher Beruf, tief unten im Bergbau zu arbeiten, wo eine Verschiebung im Felsen oder Erdreich einen Menschen lebendig begraben konnte! Finanziell ging in jener Zeit bei ihnen alles ebenso mühselig zu, denn Martins Vater hatte Schulden; die Minen, in welchen er arbeitete, gehörten ihm nicht, sondern er hatte sie nur gepachtet. Das bedeutete, dass die Familie sich Geld geliehen hatte, um wiederum Geld verdienen und sich ernähren zu können.
Doch die jungen Lutherburschen wussten noch nicht über alle Einzelheiten des Bergbaubetriebs Bescheid. Die härteren Aspekte eines Lebens in der Kupfermine waren ihnen vorenthalten. Dennoch erinnerte die Mutter ihre Knaben immer wieder daran, was für einen angesehenen Vater sie hatten.
Nachdem er eine Abkürzung genommen und einen geeigneten Stein gefunden hatte, auf dem er stehen konnte, starrte Martin auf die hohen Schornsteine am Berghang, die Rauch ausstießen und herausquellen ließen. Schutthaufen umringten alle Gruben. Denn überall, wo eine Schicht von Kupfer oder Silber gefunden worden war, hatte man tiefe Löcher und Schächte ins Erdreich gegraben.
Während Martin seinen Apfel und sein Brot mampfte, suchte er den Horizont nach seinem Vater ab. Aus der Entfernung sahen alle Bergarbeiter gleich aus: klein, aber stämmig, robust in der Statur, und mit breitbeinigem Gang. Dennoch konnte Martin jedes Mal in der Menschenmenge seinen Vater ausfindig machen.
Dieser Nachmittag war keine Ausnahme. Beinahe sofort erspähte Martin einen Mann mit einem bestimmten Schulterbau, der ihn als Hans Luther auswies.
Während dieser ihm zuwinkte, rannte Martin ihm entgegen, und sobald er einen Sprung machte, fing ihn sein Vater im Flug auf und schwang ihn wie ein Pendel von der einen Seite zur anderen.
»Da ist ja mein Junge!«, rief Hans Luther und stellte ihn wieder auf den Boden. Es war nur ein flüchtiger Moment der Vertrautheit zwischen Vater und Sohn. Sobald dieser vorbei war, wurde Hans wieder zum strengen Vater und Martin zu seinem pflichtgetreuen Sohn. Doch dieser Moment war ihm trotzdem kostbar, wenn er auch nur von kurzer Dauer war.
Hans und Margarethe waren in der Tat streng in ihrer Erziehung. Margarethe strafte ihre Kinder in Wort und Tat, und Hans hatte Martin einmal mit der Rute dafür gezüchtigt, dass er sich eine Nuss genommen hatte, als er es nicht sollte. Doch an diesem Nachmittag waren alle Gedanken an Bestrafung verschwunden, als sich die beiden Luther-»Männer« auf den Heimweg machten.
Der ältere Luther sah mit Stolz auf den jüngeren, und der jüngere schaute mit Bewunderung zum älteren auf. Der Ältere konnte an seinem Sohn einen hellen Verstand erkennen und eine noch hellere Zukunft für ihn wünschen, und der Jüngere konnte im Vater den besten und stärksten Mann von Mansfeld, wenn nicht sogar von der ganzen Welt sehen.
»Oh Vater! Mutter hat auch für dich Essen eingepackt«, sagte Martin lächelnd und reichte ihm den Apfel und das Brot.
»Mmh!« Sein Vater leckte sich die Lippen, nachdem er einen großen Bissen von der selbstgezogenen Frucht nahm. »Knackig und süß, genau so, wie ich es mag!«
Martin nickte. »Mutter wusste, dass du hungrig sein würdest …«
»Deine Mutter ist eine gute Frau«, brachte Hans kauend hervor. »Sie kennt meinen Magen beinahe so gut wie mein Gesicht.«
Martin aß seinen eigenen Apfel fertig und fuhr fort, den ganzen Heimweg über zu plaudern. Sein Vater konnte kaum glauben, wie schnell die sechs Jahre vergangen waren, seit Margarethe, seine Frau, diesen kleinen Krümel zur Welt gebracht hatte. Als die Uhr am St. Martinstag gerade Mitternacht geschlagen hatte, stieß sein erstgeborener Sohn seinen ersten krächzenden Schrei aus – nicht in Mansfeld, wo sie jetzt lebten, sondern noch in Eisleben.
Nun starrte Hans hinauf auf den Schatten der großen Festung über ihnen. Jeden Pfennig, den er verdiente, bekam er nur mit der Einwilligung oder dem Segen der dort wohnenden Familie.
Das war der Grund, weshalb er etwas Besseres für Martin wünschte. Er wollte, dass sein Sohn sein eigenes Leben führte und sich nicht vor Grafen und Adeligen beugen und katzbuckeln musste. »Er soll Professor oder Anwalt werden«, murmelte er vor sich hin.
Martin hatte das gehört und fragte verdutzt: »Was ist ein Anwalt?«
Hans seufzte. »Mein kleiner Bursche«, sagte er, während er seinem Söhnchen durch die Haare strich. »Deine Mutter hat Recht. Wenn du Anwalt werden sollst – oder wenn irgendwas aus dir werden soll –, dann brauchst du eine Ausbildung.«
Martin starrte seinen Vater erstaunt an. Wenn er das sagte und seine Mutter das sagte, dann musste es wahr sein.
Bildung, Bildung, Bildung
» Wir sind zuhause!«, rief Martin, als er und sein Vater
durch die knorrige, alte Holztür rauschten, die von der Straße aus direkt in die warme, leicht dunstige Küche führte.
Margarethe Luther rührte den Eintopf mit enthusiastischem Eifer. Sie war bemüht, das Abendessen für ihren hungrigen Ehemann und die Familie fertigzustellen. »Hol einige weitere Kiefernäste unter dem Vordach, Martin. Die werden bis morgen früh reichen.«
Martin rannte hinaus, während sein Vater seine Arbeitsschuhe auszog und sich erschöpft auf einen der Küchenstühle sinken ließ. »Brauchst du wirklich mehr Zündholz? Oder möchtest du die so dringend erforderliche Bildung unseres Sohnes besprechen?«
Hans Luther war durch die Küchentür gekommen und las auf dem Gesicht seiner Frau, wie ein Schüler in seinem Buch; er erkannte, dass sie unter vier Augen mit ihm sprechen wollte.
Margarethe kostete ein wenig vom Eintopf und beschloss, ein bisschen mehr Gewürz hinzuzufügen. »Es ist dringend notwendig, Hans«, stimmte seine Frau ihm zu. »Aber – haben wir die finanziellen Mittel dafür?«
Ihr Mann antwortete nicht sofort, sondern machte sich seine Gedanken. Ein besorgter Ausdruck lag auf seinem Gesicht, als er in die Flammen des Küchenfeuers starrte.
»Ich habe gezählt, was wir in der Geldschatulle haben. Wir müssen mehr sparen, wo immer wir können.«
Margarethe nickte. Beide, Mann und Frau, wussten wohl, was in dieser Box war, oder vielmehr: was nicht darin war. Es waren noch andere Kinder da, für die gespart werden musste. Die jüngeren Knaben waren zwar akademisch nicht vielversprechend, aber sie würden trotzdem auch etwas für ihre Zukunft brauchen – um in einem Gewerbe oder Betrieb untergebracht zu werden. Margarethe war außerdem wieder schwanger – es könnte noch ein Junge unterwegs sein; doch dieses Mal könnte es vielleicht auch ein Mädchen werden. Und Mädchen brauchten Männer und eine Mitgift bei der Heirat. Es begann sich alles aufzuhäufen.
Hans wiederholte, was beide schon ein- oder mehrmals gesagt hatten: »Martin ist besonders vielversprechend. Er ist intelligent. Er braucht Bildung!«
Der Vater streckte seine Hand aus und umfasste die Hand seiner Frau, während sie mit der anderen im Topf rührte. »Gott wird für ihn sorgen«, flüsterte er, als der junge Martin mit neuen Holzscheiten zurück in die Küche stolperte.
Martin hatte das Wort »Bildung« aufgeschnappt und fragte: »Heißt das, dass ich mit Günther zur Schule gehen werde? Er sagt, dass der Lehrer die Knaben schlägt, und dass die anderen Jungen sein Mittagessen stehlen.«
»Hm.« Martins Mutter war nicht begeistert. »Dieser Günther erzählt immer Märchen. Beachte sein Gerede nicht. Seine Mutter schickt ihn nur zur Schule, um wenigstens einmal für fünf Minuten ihre Ruhe zu haben. Er ist sicherlich nicht der gescheiteste von jener Sippschaft.«
»Aber Margarethe«, mahnte Hans seine Frau leise. »Du weißt …«
»Ich weiß«, murmelte sie flüsternd. Wie viele Male musste ihr Mann sie davor warnen, ihre Meinung über die Nachbarn zum Ausdruck zu bringen?! »Aber es ist wirklich so! Hast du gesehen, was diese Kinder anstellen?«
Hans zuckte die Achseln und setze sich an den Küchentisch, während Margarethe die Kinder um sich sammelte. »Kennt Günther die Zehn Gebote, so wie unser Martin? Ich denke, nicht. Erst letzte Woche habe ich ihn dabei ertappt, wie er meine Erbsen im Garten verschlang. Unser Junge weiß, dass er nicht stehlen soll, weil wir ihn gelehrt haben: ›Du sollst nicht stehlen‹.«
»Ich kenne auch das Vaterunser und das Glaubensbekenntnis«, fügte Martin hinzu. Doch ein kurzer strenger Blick beider Eltern erinnerte den kleinen Jungen daran, dass sich Kinder nicht in die Gespräche von Erwachsenen einmischen sollten.
»Lasst uns Dank sagen«, sprach Hans Luther nachdrücklich, neigte dann seinen Kopf und dankte für das Essen. Hiermit endeten auch alle Bemerkungen bezüglich Günther, zumindest vorerst.
Doch Martin dachte immer noch darüber nach, was sein junger Freund ihm über die Bestrafungen in der Schule gesagt hatte. Mutter betonte, dass das nicht wahr sei; aber die Wunde auf Günthers Hand deutete etwas anderes an. Günther hatte behauptet, dass er nichts falsch gemacht habe – was möglicherweise nicht stimmte. Er war immer unartig. Aber eine Wunde – das war schon ziemlich ernst, gerade für so einen frechen Jungen wie Günther.
Martins Mutter war sich sicher, dass Günthers Familie die ortsansässigen Priester viel zu beschäftigt hielt. »Dieses Ausmaß an Zeit, die sie in der Beichte verbringen müssen! Es ist erstaunlich, dass die Priester noch für sich selbst beten oder überhaupt noch essen können!«
Frau Luther hatte an diesem Abend eine beträchtliche Portion Eintopf gekocht, sodass genug da war, um Nachschub auf Martins Teller zu schöpfen. Er leckte sich die Lippen, während sie dies tat. Als die Familie ihr Mahl beendet hatte, begann Martin, sich an all die Tage zu erinnern, an denen er Mutter und Vater zur Beichte gehen sah. Er selbst war bisher noch nicht hingegangen, und er wusste nicht genau, was es alles damit auf sich hatte. Alles, was er wusste, war, dass Menschen zur Beichte gingen, um den Priestern zu erzählen, was sie falsch gemacht hatten. Wenn sie das nicht täten, so würden ihnen die Sünden nicht vergeben werden.
»Ich bin lieber vorsichtig«, dachte Martin bei sich selbst; »damit ich nicht zu viele Sünden habe, die vergeben werden müssten, wenn ich alt genug bin, zur Beichte zu gehen.«
Er begann, alle schlechten Dinge zu zählen, die er diese Woche bereits getan hatte; doch er kam nur halbwegs bis zum Montag, bevor er verstand, dass er nicht in der Lage sei, all seine Übertretungen aufzuzählen.
»Die Priester müssen sehr gute Männer sein. Sie sündigen wahrscheinlich überhaupt nicht«, dachte Martin weiter, als er seinen Teller bis auf den letzten Rest leerte. »Vater sagt, dass Gott uns die Sünden vergibt, weil Er gnädig ist. Wird Gott gnädig zu mir sein?«, fragte sich der Junge. »Wenn ich zu schlecht bin, dann werden mich die Priester vielleicht überhaupt nicht zur Beichte gehen lassen. Vielleicht werfen sie mich hinaus?!«
Der kleine Martin hatte viele Gedanken und Fragen. Obwohl seine Eltern versuchten, ihm das Richtige beizubringen, fehlte es ihnen an Wissen und Erkenntnis, weil sie keine Möglichkeit hatten, die Bibel zu lesen. Hinzu kam, dass in jener Zeit in der Kirche viel Verkehrtes gelehrt wurde.