Ein Dorf voller Geheimnisse - Julia Chapman - E-Book
SONDERANGEBOT

Ein Dorf voller Geheimnisse E-Book

Julia Chapman

0,0
6,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 6,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Gerne würde Samson O’Brien seine Detektivagentur einfach mal zusperren und gemütlich eine Tasse Tee trinken. Doch der Anwalt Matty Thistlethwaite bittet ihn um Hilfe. Um den letzten Willen einer Verstorbenen zu erfüllen, benötigt er die Sterbeurkunde einer jungen Frau aus Bruncliffe, die vor vielen Jahren den Tod gefunden hat. Eigentlich eine einfache Sache. Aber in Bruncliffe ist selten etwas einfach. Vor allem, da der Anwalt darauf besteht, dass Samson seine Nachbarin Delilah Metcalfe zu Rate zieht, die über einen unerschöpflichen Fundus an lokalem Wissen verfügt. Also heißt es für die beiden Streithähne wieder einmal, sich zusammenzuraufen. Schon bald stoßen sie auf ein dunkles Geheimnis, das bisher keiner aufzudecken wagte. Und irgendjemand im Dorf versucht mit allen Mitteln, dass dies auch so bleibt ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 586

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumWidmungProlog1234567891011121314151617181920212223242526272829EpilogDanksagung

Über dieses Buch

Gerne würde Samson O’Brien seine Detektivagentur einfach mal zusperren und gemütlich eine Tasse Tee trinken. Doch der Anwalt Matty Thistlethwaite bittet ihn um Hilfe. Um den letzten Willen einer Verstorbenen zu erfüllen, benötigt er die Sterbeurkunde einer jungen Frau aus Bruncliffe, die vor vielen Jahren den Tod gefunden hat. Eigentlich eine einfache Sache. Aber in Bruncliffe ist selten etwas einfach. Vor allem, da der Anwalt darauf besteht, dass Samson seine Nachbarin Delilah Metcalfe zu Rate zieht, die über einen unerschöpflichen Fundus an lokalem Wissen verfügt. Also heißt es für die beiden Streithähne wieder einmal, sich zusammenzuraufen. Schon bald stoßen sie auf ein dunkles Geheimnis, das bisher keiner aufzudecken wagte. Und irgendjemand im Dorf versucht mit allen Mitteln, dass dies auch so bleibt …

Über die Autorin

Julia Chapman ist das Pseudonym von Julia Stagg. Sie lebt in den wunderschönen Yorkshire Dales im Norden Englands. Wenn sie nicht schreibt, erkundet sie zu Fuß oder mit dem Rad ihre Umgebung, die wichtiger Bestandteil ihrer Krimis ist – allen voran die kleinen Dörfer und Ortschaften mit ihren liebenswerten Einwohnern.

Kriminalroman

Aus dem Englischen übersetzt vonAxel Franken

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Deutsche Erstausgabe

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2018 by Julia Chapman

Titel der englischen Originalausgabe: »Date With Mystery«

First published 2018 by Pan Books,

an imprint of Pan Macmillan, London

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Dr. Frank Weinreich, Bochum

Umschlaggestaltung: Kirstin Osenau unter Verwendungvon Motiven von shutterstock.com

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-2126-4

luebbe.de

lesejury.de

Für Brenda,eine von Yorkshires Besten

Prolog

Der Winter hatte die Yorkshire Dales fest im Griff. Kahle Bäume kratzten am Himmel, das Land war noch von morgendlichem Frost überzogen. Vor dem Fenster schlief der Gemüsegarten, die Erde war hart unter der weißen Schicht, nur ein paar dürre Kohlköpfe hatten überlebt. Der Februar erwies sich als bitterkalter Monat.

Er hoffte, dass die Schafe nicht vernachlässigt wurden. Noch ein paar Nächte wie die letzten und sie hätten ein Problem, jetzt, da das Ablammen bevorstand. Bestimmt hatte doch jemand so viel Verstand, hinzugehen und nachzuschauen, ob es ihnen gut ging? Vielleicht auch nicht. Er würde eine SMS schicken. Sobald er wieder in der Zivilisation war und vernünftigen Empfang hatte.

Wann immer das auch sein mochte.

Jimmy Thornton hob, während er gegen ein vertrautes Gefühl der Beengtheit ankämpfte, den Blick zu der Narbe, die den Hang hinter dem Haus durchzog. Der Steinbruch. Auch wenn er seit vielen Jahren nicht mehr genutzt wurde, war es immer noch ein harscher Eingriff, ein grober Riss im Fjäll, dort, wo Maschinen sich durchs Gestein gefräst hatten. Seltsamerweise sah er im Winter gar nicht so schlimm aus, denn der freigelegte Kalkstein passte in diese raue Jahreszeit besser, als ob er mit dem Grün des Sommers kontrastieren wolle.

Trotzdem fühlte es sich an wie ein Käfig um ihn herum. Eine gewaltsame Störung der Landschaft, die er liebte. Es war schon immer so gewesen. Er, der hier im Haus war und sich wünschte, woanders zu sein, der die Einschränkungen hasste, die ihn an diesen Ort ketteten. Der die Erinnerungen hasste. Vor allem die an diesen Raum.

Sie hätte von hier weggehen sollen, dachte er. Vor langer Zeit, als alles zu Ende ging.

Ein Seufzen kam aus dem verdunkelten Raum hinter ihm. Sein Name, ein bloßes Säuseln in der Luft, fast tonlos.

»Ich bin hier, Mutter.« Er ging über den abgenutzten Teppich zum Bett, in dem ihr Körper nicht mehr war als ein kleines Komma unter der Bettdecke, und nahm sanft ihre Hand. Er spürte die Knochen unter seinen Schwielen so zerbrechlich wie ein neugeborenes Küken. »Du verpasst nicht viel da draußen«, sagte er bewusst herzlich, in der Hoffnung, dass es sie wiederbeleben, dass seine rüde Gesundheit sie anstecken und die Krankheit überwinden würde. »Es hat ordentlich gefroren. Alles ist weiß.«

Sie seufzte erneut, dieses Mal länger, und ihre Finger zuckten unter seinen.

»Was hast du gesagt? Meine Ohren funktionieren heute Morgen nicht so gut.« Er beugte sich dichter über sie, wobei er sich bewusst war, dass seine Masse über ihr aufragte und das Sonnenlicht ausblendete.

»Es tut mir leid …« Sie blickte ihn an, die Augen trüb vor Schmerz, aber sie sah ihn. Sie rang darum, sich Gehör zu verschaffen. »Es tut mir soleid …«

»Es muss dir nicht leidtun, Mutter.« Mit ungeschickten Fingern tätschelte er ihre Hand. Es schnürte ihm den Hals zu. »Hörst du mich?«

Er spürte den kaum wahrnehmbaren Druck, mit dem seine Berührung erwidert wurde. Dann glitt ihr Blick zu dem Foto auf dem Nachttisch, und er wusste, dass er sie verlor.

»Komm schon, Mädchen«, murmelte er, wie er es bei einem kränkelnden Tier getan hätte. »Komm schon! Verlass mich nicht!«

Unten hörte er das Klicken der Klinke. Macmillan, die Krankenschwester. Sie kam zu spät. Er hatte genug mit dem Tod zu tun gehabt, um zu wissen, wie er aussah. Er hörte den festen Tritt auf der Treppe, die Schritte auf dem Treppenabsatz.

Als die Schwester die Schlafzimmertür erreichte, war Jimmy Thornton ganz allein.

1

Delilah Metcalfe brauchte Geld – und zwar eine Menge Geld. Bei allem, was auf sie zukam, würde sie ein wesentlich höheres Einkommen benötigen, als sie normalerweise hatte.

Sie nahm die Stufen, die von ihrem Haus hinunter in die Stadt führten, mit energischen Schritten und versuchte, sich einzureden, dass alles in Ordnung kommen würde. Der Filialleiter ihrer Bank, der zufällig auch ihr Onkel war, würde die Darlehen für ihre beiden Unternehmen schon nicht kündigen. Oder die Hypothek auf ihr Haus. Und ihr Ex-Mann würde seine Forderung nach dem Sorgerecht für ihren Hund bestimmt zurückziehen.

Weiter vorne, am Fuß der Treppe, bog Tolpuddle bereits ab, begierig darauf, an ihre Arbeitsstätte zu kommen. Wie ein grauer Schatten an den Wänden des Gässchens trottete er dahin, bis er vor dem dritten Tor auf der rechten Seite stehenblieb, um zu warten und mit einem unverkennbaren Ausdruck von Ungeduld zu ihr zurückzublicken.

Das Beste, was aus Delilahs kurzlebiger Ehe hervorgegangen war: ein Weimaraner mit Angstzuständen. Sie konnte sich ein Leben ohne ihn nicht vorstellen. Aber wenn es nach Neil Taylor ginge, würde Tolpuddle in den Süden ziehen, um mit Neil und seiner neuen Freundin in London zu leben.

Vorbei mit der Begleitung zur Arbeit. Vorbei mit dem Laufen auf den Fjälls. Vorbei mit der Jagd auf Kaninchen – ein Talent, das dem Hund überraschenderweise abging. Er blieb lieber stehen und zeigte die Richtung an, in der er auf die Häschen gestoßen war, anstatt sie zu hetzen. Die Experten sagten, dass dies typisches Weimaraner-Verhalten sei; Delilah zog es vor, zu glauben, dass Tolpuddle ein weiches Herz hatte.

Wenn sie dieses weiche Herz hier bei sich in Bruncliffe behalten wollte, würde sie Geld auftreiben müssen.

Es ist der erste Arbeitstag einer brandneuen Woche, sagte sie sich, als sie das Tor öffnete und den Hinterhof des Bürogebäudes betrat, bestimmt wird das Kunden an die Tür führen? Leute, die ihre IT-Kenntnisse suchten, die auf der Suche nach einer Website-Designerin waren. Oder noch besser, wo doch Valentinstag war, Leute auf der Suche nach der Liebe. Als Betreiberin der einzigen Partnervermittlung der Stadt hätte sie den Markt eigentlich in der Tasche haben sollen. Aber in der Vorweihnachtszeit hatte diese Seite ihres Geschäfts einen Rückgang zu verzeichnen gehabt, da viele Bestandskunden ihre Mitgliedschaft bei der Dales-Dating-Agentur nicht hatten verlängern wollen, während sich keine neuen Kunden anmeldeten. Die Wochen nach dem Jahreswechsel waren genauso mager gewesen, und Amor hatte seinen Bogen im ganzen Januar kaum spannen müssen. Und während das Speeddating-Event der Agentur zu Ehren des Schutzpatrons der Liebe am Freitag zuvor zwar ein Erfolg gewesen war, hatte es dennoch nicht den Ansturm von Singles gebracht, auf den sie gehofft hatte.

Sie konnte nur hoffen, dass es sich um eine kurzlebige Winterflaute handelte – um ihretwillen und um Tolpuddles willen. Denn wenn sie einen Sorgerechtsprozess für ihren Hund finanzieren wollte, mussten weitaus mehr nach Liebe schmachtende Seelen ihre Hilfe suchen.

Delilah folgte dem Weimaraner über den Pfad zur Hintertür des alten dreistöckigen Hauses, das jetzt ihr Büro beherbergte, und registrierte dabei das Fehlen der verchromten scharlachroten Royal Enfield auf dem Beton des Hofs. Samson war also noch nicht wieder zurück.

Sie unterdrückte das Gefühl der Enttäuschung, das ihr seit seiner abrupten Abreise die Tage vermiest hatte. Bruncliffe hatte sich ohne ihn langweiliger angefühlt. Und das nicht nur für sie: Tolpuddle war den ganzen Freitag über niedergeschlagen gewesen, weil sich niemand mit ihm beschäftigt hatte. Und sie hätte gelogen, wenn sie gesagt hätte, dass ihr nicht in den Sinn gekommen war, dass ihr lästiger Mieter vielleicht gar nicht mehr zurückkam. Die Art und Weise, wie er abgedüst war – wenn sie ihm nicht am Donnerstagabend zufällig begegnet wäre, hätte sie nicht einmal gewusst, wo er hinwollte. Als sie vorbeigekommen war, um Papierkram abzuholen, den sie auf ihrem Schreibtisch vergessen hatte, war sie auf Samson getroffen, der gerade aus der Hintertür trat, einen Rucksack in der Hand und sichtlich erschrocken, ihr zu begegnen. Als sie ihn gefragt hatte, wo er so spät noch hinwolle, hatte er irgendwas von einem langen Wochenende in York bei einem Freund gebrummt. Und dass er eine Pause bräuchte.

»Er ist ein freier Mann«, murmelte sie, als sie die Tür öffnete und die Veranda betrat, während Tolpuddle sich in seiner Eile, in das Büro im Erdgeschoss zu kommen, an ihr vorbeidrängte.

Aber Delilah Metcalfe konnte nicht anders, als sich verletzt zu fühlen, angesichts allem, was sie seit Oktober durchgemacht hatten – Samsons unwillkommene Rückkehr nach Bruncliffe; die Art und Weise, wie die Ereignisse, die das Städtchen erschüttert hatten, beide ungewollt miteinander verbunden hatten; und die Tatsache, dass sie Weihnachten im Kreis ihrer Familie auf Ellershaw Farm gefeiert hatten. Nach all dem war es wie ein Schlag in die Magengrube gewesen, ins Büro zu kommen und Samson auf der Flucht zu erwischen. Sie hatte geglaubt, die letzten vier Monate hätten sie einander nähergebracht, hätten die Brüche in ihrer Beziehung gekittet, die durch Ereignisse vor vierzehn Jahren verursacht worden waren. Doch nun suchte er wieder einmal das Weite.

Es ist sein Werdegang, sagte sie sich. All die Jahre undercover bei der Polizei in London. Es war ihm zur zweiten Natur geworden, sich zu verstellen. Geheimniskrämerisch zu sein. Warum regte sie sich also auf?

Weil sie zu wissen glaubte, was hinter seinem plötzlichen Besuch in York steckte. Was sonst wäre eine Motorradfahrt bei Nacht und Nebel im Februar wert?

Es musste die geheimnisvolle Frau sein, deren Anruf Delilah vor Weihnachten auf Samsons Handy abgefangen hatte. Ein Wort von ihr und er war zu ihr geeilt. Um den Valentinstag mit ihr zu verbringen.

Weniger optimistisch für die Zukunft gestimmt als zuvor, ging Delilah durch die kleine Küche und in den Flur. Wie erwartet, stand die Tür auf der rechten Seite offen und zeigte einen Tolpuddle, der mit verzweifelter Miene in der Mitte von Samsons leerem Büro saß.

»Er ist nicht da, Junge.« Sie ging über das zerschlissene Linoleum und streichelte den Kopf des Hundes; ein leises Winseln erwiderte ihre Zuneigung.

Tolpuddle und Samson O’Brien. Außer diesen beiden hatte Delilah seit Weihnachten nur wenig anderes im Kopf. Jetzt hatte sie das Gefühl, sie würde beide verlieren, bevor das Jahr zu Ende war. Den einen an ihren Ex-Mann. Und den anderen an die mysteriöse Frau mit der Stimme wie Samt, die Samson zweifellos in diesem Moment in einem luxuriösen Hotelzimmer in York Zärtlichkeiten ins Ohr flüsterte.

»Verdammter Valentinstag!«, fluchte Delilah und stapfte schlechtgelaunt zur Treppe.

»Haben Sie mich vermisst?«

Samson O’Brien riss den Blick vom grauen Meer jenseits des regenverschmierten Fensters des Wohnwagens los und sah über den Resopaltisch, der ihn von seinem Gast trennte.

»Mehr, als ich für möglich gehalten hätte!« Er lachte.

Der kahle Kopf gegenüber neigte sich verstehend, und ein Grinsen legte sich auf das wettergegerbte Gesicht. »Dachte ich mir.«

DI Dave Warren – bei seinen Untergebenen besser bekannt als »Chef« – ließ das Grinsen ein paar Momente verweilen, bevor er wieder ernst wurde. »Ihnen ist doch niemand gefolgt?«

Samson hob überrascht eine Augenbraue. »Sie halten das für möglich? Selbst hier oben?«

»Bei dem, was gerade abgeht, ist alles möglich. Sie haben es mit skrupellosen Leuten zu tun, mein Sohn, vergessen Sie das nicht.«

Samson wandte sich wieder dem trostlosen Meerespanorama der Saltwick-Bucht zu und fragte sich, wie er das wohl vergessen könnte. Sein ganzes Leben war durch die Ereignisse in London auf den Kopf gestellt worden – Ereignisse, die er nicht wirklich verstand.

»Wie ist das Leben in der Provinz?« Sein Chef warf einen abschätzigen Blick auf das Innere des Wohnwagens, der schon bessere Tage gesehen hatte. »Behandeln die Einheimischen Sie gut?«

Samson stieß ein trockenes Lachen aus. »So kann man es auch ausdrücken. Nicht jeder hat mich mit offenen Armen empfangen.«

»Aber es geht Ihnen gut? Sie wissen schon … hier oben?« Ein kräftiger Finger tippte auf eine faltige Stirn. »Sie werden doch keine Dummheit machen?«

Selbstmord. Nicht ungewöhnlich für Polizeibeamte, die in die Kälte verstoßen worden waren. Aber so etwas war Samson nicht in den Sinn gekommen. Nicht einmal am Anfang, als alles so verwirrend gewesen war; als sein Chef ihn aufgefordert hatte, aus der Stadt zu fliehen. Auch nicht, als drei Männer in Sturmhauben, die ihn als Punchingball benutzt hatten, ermunterten, dies schnell zu tun.

Und jetzt? Er dachte an Bruncliffe und verspürte eine plötzliche Sehnsucht nach den Fjälls und den Dales. Nach seinem Büro in dem Gebäude in der Back Street. Und nach der Gesellschaft von Delilah Metcalfe und ihrem Hund Tolpuddle.

Er hatte nicht vor, in nächster Zeit zu sterben.

»Sie werden der Erste sein, der es erfährt«, antwortete er.

»Gut … gut.« DI Warren rutschte auf der Sitzbank hin und her, denn das tatenlose Herumsitzen behagte ihm genauso wenig wie Samson. »Und Sie halten sich bedeckt? Halten sich von Ärger fern?«

Bilder eines brennenden Wohnwagens liefen in Samsons Kopf ab, dicht gefolgt von dem entzückenden Anblick von Delilah im Pyjama, die ihm bei einer Überwachung Gesellschaft leistete.

»Ja«, log er. Die Dramen, die sich infolge der Neugründung seiner Dales Detective Agency abgespielt hatten, blieben besser unerwähnt, denn er war sich nicht sicher, wie die höheren Chargen der Polizei auf sein neues Unternehmen reagieren würden.

»Sorgen Sie dafür, dass es so bleibt. Sie wollen keine Aufmerksamkeit erregen.«

Zwischen die beiden Männer legte sich ein Schweigen, das durch die Vorahnung schlechter Neuigkeiten umso unbehaglicher für Samson war. Er ging nicht davon aus, dass sein Chef dieses Treffen arrangiert und eigens die Notwendigkeit der Geheimhaltung betont hatte, nur um sich nach seinem Wohlbefinden zu erkundigen. Also beschloss er, in den sauren Apfel zu beißen.

»Hat es irgendwelche Fortschritte gegeben? Bei der Untersuchung?«

DI Warren trommelte mit den Fingern auf den Tisch, denn die Zigaretten, die seine unruhigen Hände früher beschäftigt hatten, waren vor einigen Jahren im Zuge seiner Entscheidung, mit dem Rauchen aufzuhören, verschwunden; die Gewohnheit, mit einer imaginären Schachtel zu spielen, erwies sich als schwieriger abzuschütteln. »Das ist der Grund, weshalb ich hier bin«, sagte er. »Dachte, Sie würden es gerne persönlich erfahren.« Seine Hände wurden still und er fixierte Samson mit dem grauen Blick, der eine der wenigen Konstanten in den sechs turbulenten Jahren gewesen war, die Samson undercover zugebracht hatte. »Man wird Sie suspendieren. Formell.«

Samson lehnte sich mit dem Rücken an die Wand des Wohnwagens. Endlich. Es war so weit. In den letzten vier Monaten hatte er gehofft, sein Chef wäre paranoid; dass die Gefahr einer Untersuchung nichts als ein Gerücht war in einem Metier, das von Geflüster und Spekulationen lebte.

Aber da hatte er es. Er stand kurz davor, auf die Trümmer seiner Karriere zu blicken. Denn egal wie unschuldig, niemand kam aus einer Suspendierung ohne Stigma heraus.

»Wann?«, fragte er.

»Bald. Eine Woche. Vielleicht vier Wochen. Aber eher früher als später. Und Sie müssen wissen«, fügte sein Chef mit einer Grimasse hinzu, »dass eine Gefängnisstrafe im Gespräch ist.«

Samson O’Brien starrte wieder aufs Meer hinaus und fragte sich, ob es zu spät war, seine Meinung übers Sterben zu ändern.

Jimmy Thornton hatte seine gesamte Familie verloren. In einem Zeitraum von etwas mehr als zwei Jahrzehnten war er zum einzigen lebenden Thornton geworden.

Unruhig trat er auf dem Plüschteppich der Anwaltskanzlei von einem Fuß auf den anderen und war froh, dass er die Stiefel gewechselt hatte, bevor er hergekommen war. Warum die Sache allerdings nicht warten konnte, wusste er nicht. Mutter war erst wenige Tage tot, die Beerdigung erst in ein paar weiteren. Aber Matty Thistlethwaite war hartnäckig gewesen und hatte ihn gebeten, vorbeizuschauen, wenn er das nächste Mal in der Stadt war.

Nun war er also hier und fühlte sich fehl am Platz zwischen dem Glastisch und den Eschenregalen. Das Zimmer vermittelte eher den Eindruck eines trendigen Cafés als den eines Orts des Gesetzes. Der alte Mr Turpin, dessen Name immer noch die Praxis schmückte, hatte ein deutlich traditionelleres Büro mit viel Eiche und schweren Möbeln und alten Büchern in dunklen Regalen bewohnt. Das war eine richtige Anwaltskanzlei gewesen.

»Jimmy, danke, dass du vorbeigekommen bist.« Matty stand an der Tür und streckte die Hand aus. »Es tut mir so leid wegen deines Verlustes. Deine Mutter war eine gute Frau.«

»Aye«, sagte Jimmy, schüttelte die dargebotene Hand und setzte sich wieder. »Das war sie. Zu gut für das, was sie ertragen musste.«

Der Anwalt nickte und nahm auf der anderen Seite des Schreibtischs Platz. »Genau genommen ist das der Grund, warum ich dich gebeten habe, vorbeizukommen.«

Jimmy fixierte ihn mit dem unerschütterlichen Blick eines Mannes, der den größten Teil seines Lebens im Freien verbracht hatte. Er wartete, denn er hatte es nicht eilig, das Leben mit Worten zu füllen, wenn es an anderen war, zu reden.

»Es geht um deine Mutter. War sie in letzter Zeit bei klarem Verstand?«

»Nicht am letzten Tag oder so, nicht mit all dem Morphium. Aber davor, aye. Sie war voll auf Draht.« Er lachte trocken. »Genug, um mich mehr als einmal daran zu erinnern, nach dem Garten zu sehen. Warum?«

Matty legte die Fingerspitzen aneinander und schaute auf den Schreibtisch. Dann sah er zu Jimmy auf. »Die Sache ist die … es geht um ihr Testament.«

»Mutters Testament?«

Der Anwalt nickte erneut. »Da gibt es ein kleines Problem. Deine Mutter hat dir die Hälfte ihres Besitzes vermacht.«

»Die Hälfte?« Jimmy kratzte sich am Kopf und fragte sich, wohin diese bizarre Unterhaltung führen würde. »Wer bekommt die andere Hälfte? Die Kirche?«

»Nein, nicht die Kirche. Deine Schwester.«

»Livvy?« Der Schock riss den großen Mann vom Stuhl. »Unsere Livvy? Du machst Witze, oder?«

»Das ist kein Witz. In einem Testament, das letzten Monat bei uns hinterlegt wurde, hat deine Mutter, Mrs Marian Thornton, die Hälfte ihres Besitzes Miss Olivia Thornton hinterlassen.«

»Aber … aber …« Jimmy drehte sich verwirrt zum Fenster um. »Aber unsere Livvy …«

Und er deutete auf den grauen Glockenturm von St. Oswald’s, der auf der anderen Seite des Marktplatzes zu sehen war; die Kirche, in der des kurzen Lebens seiner Schwester ganze vierundzwanzig Jahre zuvor gedacht worden war.

»Ich bedaure, der Überbringer solcher Nachrichten zu sein«, sagte DI Warren, der an der Tür des Wohnwagens stand und sich anschickte zu gehen. »Aber es ist das Beste, wenn Sie vorgewarnt sind.«

Samson nickte, immer noch bemüht, das Ausmaß dessen zu begreifen, was eine formelle Suspendierung bedeutete.

»Und glauben Sie nicht, das hieße, dass sich die Leute, die hinter all dem stecken, deswegen zurückhalten werden. An Ihrer Stelle wäre ich jetzt sogar noch mehr auf der Hut.«

»Sie glauben, die werden immer noch hinter mir her sein? Selbst jetzt, wo ich eine Untersuchung am Hals habe?«

Der ältere Polizist runzelte die Stirn und fixierte Samson mit dem Blick, den er für dämliche Fragen aufsparte. »Sind Sie unschuldig?«

»Selbstverständlich bin ich das!«

»Da haben Sie Ihre Antwort. Die werden alles in ihrer Macht Stehende tun, um sicherzustellen, dass es nicht so aussieht. Also seien Sie lieber doppelt wachsam! Und vertrauen Sie niemandem!«

»Ganz wie in alten Zeiten«, murmelte Samson, denn Vertrauen war nichts, was er vielen seiner Bekannten entgegengebracht hatte, als er noch in London gelebt und undercover gearbeitet hatte.

Sein Chef drehte den Türknauf und zögerte; dann drehte er sich wieder um, um Samson anzuschauen.

»Die Sache ist ernst, mein Sohn. Wirklich ernst. Unterschätzen Sie nicht den Schlamassel, in dem Sie stecken!«

Der Korruption beschuldigt zu sein. Des Diebstahls. Einer kriminellen Aktivität, bei der es sich darum handelte, Drogen aus Beweismaterial gestohlen und auf dem freien Markt verkauft zu haben. Samson wusste sehr wohl, in welch misslicher Lage er sich befand.

»Glauben Sie mir, es fällt mir im Traum nicht ein, meine Lage zu verkennen.«

Ein fester Klaps landete auf Samsons Rücken. »Ich werde alles tun, was ich kann, um zu helfen. Ich werde die Ohren aufsperren, und wenn bei den Ermittlungen irgendetwas rauskommt, lasse ich es Sie wissen. Bis dahin bleiben Sie einfach auf Tauchstation und fügen sich den Formalitäten. Und was dieses Gespräch angeht …«

»Es hat nie stattgefunden.«

DI Warren nickte. »Besser, wenn niemand davon erfährt.« Er öffnete die Wohnwagentür und drehte sich dann noch einmal um, um Samson den Plastikbeutel, den er bei sich gehabt hatte, zu geben. »Hier. Fast vergessen. Die sind für Sie.«

Samson öffnete den Beutel und holte eine Schachtel mit teuren Pralinen heraus.

»Valentinstag«, sagte sein Chef und lachte. »Bin damit demonstrativ ins Büro gegangen und jetzt denken die Jungs, ich wäre bei meiner Geliebten.«

»Ich bin froh, dass Sie sich nicht für Spitzenunterwäsche entschieden haben«, sagte Samson mit einem schiefen Lächeln, als sie sich die Hände schüttelten.

»Passen Sie auf sich auf, mein Sohn.« Mit einem letzten Nicken ging DI Warren die Stufen hinunter und vom Wohnwagen weg.

Samson stand in der Tür und sah zu, wie die einzige Person auf dem Planeten, die ihn wirklich kannte, in der Ferne verschwand. Er hatte das beunruhigende Gefühl, dass seine Chancen, den bevorstehenden Ärger zu überleben, ebenso schnell schwanden.

Jimmy Thornton starrte auf das Dokument auf dem Glastisch vor ihm. »Da muss ein Fehler vorliegen«, sagte er. »Das hier muss eins sein, das sie vor Jahren gemacht hat, bevor Livvy …«

Matty Thistlethwaite schüttelte den Kopf, beugte sich vor und zeigte auf das Datum. »Es wurde vor etwas über einem Jahr aufgesetzt, Jimmy«, sagte er sanft. »Deine Mutter wusste, was sie tat.«

Vor einem Jahr. Jimmy brauchte die Monate nicht zurück zu zählen. Er war Bauer, für ihn verging die Zeit nach Jahreszeiten und folgte dem Kreislauf des Lebens. Er wusste mit Sicherheit, dass der Tag, an dem er herausgefunden hatte, dass seine Mutter Krebs im Endstadium hatte, mitten in die Deckzeit gefallen war. Nach einem Tag in den Hügeln, wo er die Schafe kontrolliert hatte – froh, die farbigen Hinterteile zu sehen, die ihm verrieten, dass seine Schafböcke schwer arbeiteten –, war er zu dem Haus im Schatten des Steinbruchs zurückgekehrt. Weil er erwartet hatte, seine Mutter wie immer mit Kochen oder Gartenarbeit beschäftigt vorzufinden, war er überrascht gewesen, sie am Küchentisch sitzend anzutreffen, der Ofen aus, das Haus kalt.

Sie hatte die Diagnose an jenem Morgen bekommen. Hatte kein Wort über die Tests fallen lassen, bis sie die endgültige Nachricht hatte. Es hätte keinen Sinn gehabt, ihn zu beunruhigen – so lautete ihre Entschuldigung dafür, dass sie es ihm nicht früher gesagt hatte. Jetzt, wo es sich nicht mehr vermeiden ließ, hatte sie es ihm unverblümt berichtet. Ohne jedes Drama.

Hiervon hatte sie ihm allerdings nichts erzählt.

»Ich verstehe das nicht«, sagte er und tippte mit einem breiten Finger auf das Testament. »Warum hätte sie das tun sollen?«

Die Mischung aus Verwirrung und Schmerz in der Stimme seines Mandanten bewegte Matty Thistlethwaite. In Bruncliffe geboren und aufgewachsen, wusste er alles über die Familie Thornton und die Tragödien, die sie heimgesucht hatten, denn Jimmy war in der Schule ein Jahr über ihm gewesen. Der letzte verbliebene Thornton brauchte nicht noch mehr seelische Erschütterungen zu denen, die er bereits durchgemacht hatte.

»Das kann ich nicht beantworten«, sagte der Anwalt. »Und es tut mir sehr leid, dass ich dich damit so kurz nach deinem schmerzlichen Verlust konfrontiere. Aber ich wollte dich nicht im Unklaren lassen.«

»Aye, das weiß ich alles zu schätzen.« Jimmy hob den aufgewühlten Blick. »Aber was bedeutet es?«

»Ein bisschen mehr Papierkram, leider«, erwiderte Matty. »Wir brauchen eine Kopie von Livvys Sterbeurkunde, bevor wir weitermachen und den Nachlass regeln können.«

Jimmy nickte geistesabwesend. »Gut, gut«, sagte er. »Das überlasse ich dir.« Er stand auf, denn er brannte darauf, raus auf die Fjälls zu kommen, wo er in Ruhe über diese seltsame Wendung der Ereignisse nachdenken konnte.

»Ich halte dich auf dem Laufenden«, sagte Matty und kam mit ausgestreckter Hand um den Schreibtisch herum. »Das ist nur eine Formalität. Das haben wir im Handumdrehen erledigt.«

2

»Wie war es in York?«

Samson, der gerade Tolpuddle streichelte, schaute auf und sah Delilah in der Tür stehen, eine Hand in der Hüfte. Er hatte die Küste früh am Morgen verlassen, nachdem er nach dem Treffen mit dem Chef beschlossen hatte, den Wohnwagen noch eine Nacht zu nutzen. Im Dunkeln hatte seine Royal Enfield auf ruhigen Straßen die Kilometer gefressen, und kurz nach halb neun war er im Büro angekommen. Zu spät für seine übliche morgendliche Tasse Tee mit der Putzfrau Ida Capstick; aber entscheidend war, dass er früh genug da gewesen war, um seinen Rucksack in den zweiten Stock zu bringen, bevor Delilah für den Tag eintraf – Delilah, die keine Ahnung hatte, dass er nicht nur die Büroräume im Erdgeschoss gemietet hatte, sondern aufgrund eines Cashflow-Problems auch seine Nächte heimlich im Gästezimmer oben im Haus inmitten ihrer eingelagerten Möbel verbrachte. In ihrem alten Bett schlief. Es war eine Situation, die viel Heimlichkeit und Täuschung erforderte, daher war es ein Luxus gewesen, ohne Schuldgefühle in Whitby zu schlafen. Und ohne die Gefahr, entdeckt zu werden.

Aber es war besser, wieder in Bruncliffe zu sein. Als er sein Büro mit dem abblätternden Linoleum, dem alten Aktenschrank und der roten Mustertapete betreten hatte, wo ein schwacher Sonnenstrahl durchs Fenster fiel und die goldenen Buchstaben D D A auf dem Glas hervorhob, hatte er sich wie zu Hause gefühlt. Und hatte laut über die Ironie des Ganzen lachen müssen. Darüber, dass er sich freute, wieder in Bruncliffe zu sein, einer Stadt, die er nicht schnell genug hatte verlassen können, als er jünger war. Nie wäre ihm in den Sinn gekommen, dass er den Ort so sehr vermissen könnte, obwohl er nur vier Tage unterwegs gewesen war. Er wurde allmählich genauso schlimm wie die Einheimischen. Als Nächstes würde er noch davon sprechen, nach Skipton zu fahren – dreißig Minuten die Straße hinunter –, als ob das eine große Sache wäre. Aber er ertappte sich dabei, dass er sich nach den Fjälls und den Dales sehnte. Nach den Schafen, die auf den Hügeln weideten. Und den Steinmauern, die die Landschaft auf und ab zogen. Sogar das unberechenbare Wetter hatte er vermisst.

Mehr als alles andere hatte Samson die Frau vermisst, die jetzt vor ihm stand: Delilah Metcalfe, die jüngere Schwester seines besten Freundes. Und ihren Hund, der in sein Büro gestürmt gekommen war, um ihn mit unbändiger Freude zu Hause zu begrüßen.

»York war großartig«, sagte er und rieb Tolpuddles Bauch, was der Weimaraner mit ekstatischen Zuckungen auf dem Linoleum quittierte. »Es war schön, mal wegzukommen.«

»Und deine Freundin?«

Er unterdrückte ein Grinsen, denn er wusste, dass Delilah vor Neugier platzte. »Toll. Es war wie in alten Zeiten.«

»Wann hast du sie zuletzt gesehen?«

Mit Interesse nahm er die beiläufige Vermutung über die Art seines Kurzurlaubs zur Kenntnis. Als Delilah ihn am Donnerstagabend bei seiner Abreise überrascht hatte, hatte er ihr das erste Ziel genannt, das ihm in den Sinn kam: York. Obwohl, um ehrlich zu sein, viele Details hätte er ohnehin nicht preisgeben können. Der Anruf war kurz gewesen; sein Chef hatte ihm lediglich gesagt, er solle einen sicheren Ort für ein Treffen in den nächsten vier Tagen finden. Samson hatte sich für Whitby entschieden. Weit genug von Bruncliffe entfernt, um nicht zufällig jemandem über den Weg zu laufen, der ihn kannte. Und nicht nahe genug an London, um sich möglichen Auswirkungen des Ärgers auszusetzen, der sich dort anbahnte.

Trotz jeglichen Mangels an Informationen hatte Delilah sein improvisiertes langes Wochenende in ein romantisches Stelldichein verwandelt. Da er ihre unbegründeten Mutmaßungen genoss, verspürte Samson kein Bedürfnis, das Missverständnis aufzuklären, zumal es ihm half, seine Tarnung aufrechtzuerhalten. Aber lügen wollte er auch nicht. »Nicht, seit ich nach Hause gekommen bin.«

Delilah legte den Kopf leicht schief, und ihre geschürzten Lippen waren das einzige Anzeichen dafür, dass seine knappen Antworten sie so frustrierten, wie er es beabsichtigte. »Werden wir sie demnächst kennenlernen?«

»Vielleicht«, antwortete er achselzuckend. »Und du? Wie war deine Valentinsveranstaltung?«

Sie strich sich die Haare hinter die Ohren und ein strahlendes Lächeln erhellte ihr Gesicht. »Sehr erfolgreich. Ein volles Haus und jede Menge zufriedene Kunden. Und dann hat Rick am Samstagabend eine Party in seinem Restaurant in Low Mill gegeben. Es war super!«

Und einfach so verschlechterte sich Samsons Laune.

Rick Procter. Bruncliffes erfolgreicher Bauunternehmer. Ein Mann, der von vielen in der Stadt für seine Arbeitsauffassung, seine Menschenfreundlichkeit, sogar sein klassisch gutes Aussehen verehrt wurde.

Samson hasste ihn.

Er konnte sich nicht helfen. Rick war schon in der Schule ein Tyrann gewesen, und nichts, was Samson seit seiner Rückkehr in die Stadt erlebt hatte, hatte ihn dazu gebracht, diese Meinung zu revidieren. Die Tatsache, dass sein eigener Vater während Samsons Abwesenheit von Procter Properties um den Familienhof betrogen worden war, half auch nicht gerade, selbst wenn die Alkoholsucht von Joseph O’Brien diesen speziellen Deal begünstigt hatte.

Und es war ein Hass, der auf Gegenseitigkeit beruhte.

In den vier Monaten, seit Samson wieder da war, hatte Rick Procter seine Gefühle mehrmals deutlich zum Ausdruck gebracht. Samson solle die Stadt verlassen. Und zwar schnell. Und Delilah Metcalfe sei tabu.

Während Samson die betreffende Frau beobachtete, fragte er sich, wie sie wohl reagieren würde, wenn sie wüsste, dass der Immobilienmagnat von Bruncliffe so selbstherrlich in Bezug auf sie war, dass er sie als sein Eigentum betrachtete. Samson vermutete, dass es zu einem ihrer berühmten Temperamentsausbrüche kommen würde und möglicherweise auch zu dem ein oder anderen Faustschlag – denen er an seinem ersten Tag zurück in Bruncliffe selbst als Ziel gedient hatte. Delilah Metcalfe verfügte über einen rechten Haken, den man fürchten musste.

Aber Samson hatte nicht vor, sie darüber aufzuklären, wie der Bauunternehmer sie sah. Noch nicht. Er hatte noch eine Rechnung mit Rick Procter zu begleichen, also wartete er auf den richtigen Zeitpunkt. Außerdem war das wenige, was er in den letzten Monaten von dem Mann mitbekommen hatte, genug, um sein Misstrauen zu erregen. Nachdem er vierzehn Jahre bei der Polizei und davon sechs Jahre als verdeckter Ermittler gearbeitet hatte, war Samsons Instinkt für Verfehlungen äußerst fein ausgeprägt. Der Haufen Geld, mit dem er Rick in Fellside Court gesehen hatte, der Seniorenwohnanlage, die Procter Properties gehörte, hatte diesen Instinkt ausgelöst. Worum war es da gegangen? Es war etwas Zwielichtiges an dem Bauunternehmer, etwas, das Samson gerne weiter ergründet hätte, vor allem, wenn ihm dadurch die Mittel in die Hände fallen würden, mit denen er Ricks Untergang herbeiführen konnte. Dann würde er es Delilah erzählen.

Die Vorstellung, wie Miss Metcalfe Rick Procter einen Kinnhaken versetzte, hob Samsons Stimmung wieder, und er hörte sich ihren Bericht über die Valentinstagsfeierlichkeiten zu Ende an.

»Wie auch immer«, schloss sie, »du hast einen wirklich guten Abend verpasst.«

»Hört sich ganz danach an«, log er, denn ihm fielen ihre erzwungene Heiterkeit und übertrieben gute Laune auf. Als verdeckte Ermittlerin wäre Delilah eine Niete. Ihr Valentinstagswochenende war genauso miserabel gewesen wie seins. »Hier«, sagte er und griff in seinen Schreibtisch und holte einen Plastikbeutel heraus. »Ich hab dir ein Souvenir mitgebracht.«

»Aus York?«, fragte sie lächelnd und nahm auch schon die Schachtel heraus. Ein Stück weißes Papier schwebte zu Boden.

Der Kassenzettel! Samson hätte sich in den Hintern treten können! Ein Malheur der schlimmsten Sorte! Er hatte den Beutel, den ihm der Chef gegeben hatte, nicht überprüft. Beiläufig bückte er sich und hob das Stück Papier auf, das ausgereicht hätte, um seinen Schwindel zu entlarven, denn eine Adresse in Covent Garden prangte darauf. Er zerknüllte es in der Faust und steckte es ein; Delilah war zu sehr in die Freude über ihr unerwartetes Geschenk vertieft, um es zu bemerken.

»Wow – Hotel Chocolat!« Sie lachte, als sie die aufwendige Schachtel betrachtete. »Die Geschäfte müssen gut gehen!«

Samson zuckte lässig mit den Schultern, überrascht darüber, wie schludrig er geworden war. Gerade mal vier Monate in den Yorkshire Dales und er hatte sein Gespür verloren und machte jene Art von Fehlern, die ihn undercover umbringen würden. Diese Wirkung hatte Delilah Metcalfe auf ihn.

»Die Geschäfte laufen großartig«, sagte er.

Noch eine Lüge. Als er im Oktober wieder nach Bruncliffe gekommen war, hatte er die einzige Detektei der Stadt gegründet, um sich selbst zu beschäftigen, während er seine Zeit der Verbannung aus London absaß. Er hatte auch die Hoffnung gehabt, damit zu dringend benötigten finanziellen Mitteln zu kommen. Da ihm in naher Zukunft durchaus ein Gerichtsverfahren drohen mochte, zögerte Samson, das Geld anzurühren, das er immer noch vom Metropolitan Police Service bezahlt bekam. In den kommenden Monaten würde er vielleicht jeden Penny brauchen, um Anwälte zu bezahlen. Deshalb brauchte er jetzt, wo sein Bankguthaben aufgrund seiner unerwarteten Reise an die Küste aufgebraucht war, einen Fall. Einen, der auch tatsächlich etwas abwerfen würde. Leider rannten ihm die guten Leute von Bruncliffe nicht gerade die Bude ein. »Und bei dir?«, fragte er.

»Ich werde förmlich überrannt.« Ihre Augen huschten zu dem Hund hinunter. »Bin total gestresst.«

»Schön.«

»Na ja, ich mache mich besser mal an die Arbeit. Danke für die hier.« Sie tippte auf die Pralinenschachtel und stand kurz zögernd da, dann drehte sie sich um, um zu gehen. Und in diesem Moment ging die Türklingel.

»Ich mach auf!«, sagte sie eifrig.

»Nicht nötig. Das wird für mich sein«, sagte er und erhob sich hoffnungsvoll von seinem Stuhl.

Aber sie war schon im Flur und öffnete die Haustür. »Matty!«, hörte er sie rufen. »Guten Morgen! Ich nehme nicht an, dass du auf der Suche nach Liebe herkommst?«

Matty Thistlethwaite lachte. »Nein. Heute nicht.«

»Na, komm trotzdem rein.«

Samson sah die Enttäuschung auf Delilahs Gesicht, als sie sich umdrehte, um die Tür zu schließen. Sie war genauso verzweifelt auf ein Geschäft aus wie er selbst.

»Hi Samson.« Matty streckte die Hand aus. »Wie war es in York?«

Nach der Anonymität von London, die durch sein geheimes Leben noch verstärkt worden war, überraschte die Effizienz von Bruncliffes Buschtrommeln und die Tatsache, dass die Leute über all seine Bewegungen Bescheid wussten, ihn jedes Mal.

»Großartig«, sagte er. »Wie läuft es bei dir? Viel zu tun?«

»Zu viel! Weihnachten scheint schon eine Ewigkeit her zu sein«, lachte der Anwalt.

»Irgendwas Interessantes?«

»Deshalb bin ich hier. Ich bin gekommen, um um Hilfe zu bitten.«

»Meine Hilfe, nehme ich an?«, fragte Samson, was ihm einen finsteren Blick von Delilah einbrachte.

Matty nickte, ohne sich der unterschwelligen Spannungen bewusst zu werden. »Genau. Hast du Zeit, die Sache zu besprechen?«

»Natürlich.« Samson deutete auf sein Büro, aber nicht bevor Delilah sich einmischen konnte.

»Eine Tasse Tee, Matty?«, fragte sie mit einem süßen Lächeln. »Ich wollte Samson gerade eine aufbrühen.«

Mattys Augenbrauen, dick und buschig, wie es sich für einen Thistlethwaite gehörte, hoben sich dramatisch. »Aber ja! Danke. Das wäre großartig!«

Er sah zu, wie Delilah die Treppe zur Küche im ersten Stock hinaufging, und drehte sich dann zu Samson um, als sie das Büro betraten. »Du lässt Delilah Metcalfe den Tee für dich kochen?«, fragte er ungläubig.

Samson zwang sich zu einem Lächeln. »Sie ist eine wunderbare Sekretärin«, sagte er in einer Lautstärke, die so gewählt war, dass man ihn in der Küche oben hören konnte, wo Delilah in diesem Moment einen Tee aufbrühte, der, wie er wusste, stark genug sein würde, um einen Elefanten umzuhauen. Er wusste auch, dass sie mit drei Bechern und ihrem Notizbuch zurückkommen würde, um an der Besprechung mit dem Anwalt teilzunehmen. Und es gab nichts, was Samson dagegen hätte tun können.

»Damit ich das richtig verstehe«, fasste Samson zusammen, als die drei eine Viertelstunde später um seinen Schreibtisch saßen, Becher mit Tee in der Hand, während Tolpuddle in seinem Körbchen in der Ecke döste. »Mrs Thornton hat ein Testament gemacht, in dem sie Livvy die Hälfte ihres Vermögens hinterlässt, obwohl sie weiß, dass ihre Tochter schon vor Jahren gestorben ist?«

Matty nickte. »Kurz zusammengefasst ist es das, ja.«

»Und warum brauchst du dann Hilfe?«, fragte Delilah. »Der Fall ist doch glasklar?«

»Das sollte er eigentlich sein«, stimmte der Anwalt zu. »Normalerweise gehen in einer Situation, in der es nur zwei Begünstigte gibt und von beiden Nachkommen des Erblassers einer vor dem Testator verstorben ist, alle Vermögenswerte an den verbleibenden Begünstigten über, solange es keine Substitutionsklauseln im Testament gibt. Was, ohne juristische Fachsprache, bedeutet, dass, da Livvy ohne Kinder zu hinterlassen gestorben ist, der gesamte Besitz von Mrs Thornton einfach auf Jimmy übergehen müsste.«

»Aber ganz so einfach ist es nicht?«, fragte Samson.

»Ich wünschte, das wäre es.« Matty schnitt eine Grimasse. »Als Vollstrecker des Testaments muss ich ordnungsgemäß vorgehen und den Tod der Begünstigten nachweisen, bevor ich fortfahren kann.«

»Na ja, das kann ja nicht so schwer sein«, meinte Delilah. »Wir alle können uns an Livvys Tod erinnern.«

Samson nickte; der Vorfall war schockierend genug gewesen, dass er vor all den Jahren den Nebel seiner eigenen Trauer durchdrungen hatte. »Schwer zu vergessen. Sie war so ein prächtiges Mädchen.«

Für eine Sekunde sah er sie wieder. Rotbraunes Haar, ein umwerfendes Lächeln, vor der Kulisse des vernarbten Kalksteins hinter ihrem Haus – es war ihm als Kind immer seltsam vorgekommen, dass jemand so Lebhaftes in der Trostlosigkeit dieses Steinbruchs leben konnte. Er war elf gewesen, als sie starb. Weil er schon damals alle Hände voll damit zu tun hatte, Twistleton Farm über Wasser und seinen Vater nüchtern zu halten, war er ein seltenerer Gast in der Schule geworden, sodass er die Neuigkeit nicht sofort erfuhr. Es war seine Nachbarin, Ida Capstick, von der er es erfahren hatte.

»Dat Thornton-Mädchen is jestorben«, hatte sie in ihrer typischen unverblümten Art gesagt und den Verlust mit einem Kopfschütteln bedauert. »Wieder eene, die zu jut für diesen Ort war.«

Sie hatte Samson demonstrativ angesehen und ihn so wissen lassen, dass seine Mutter nicht vergessen war. Auch wenn sein Vater sich größte Mühe gab, alle seine Erinnerungen an sie in Alkohol zu ertränken.

Am nächsten Tag war Samson wider seine Gewohnheit in der Schule erschienen. Und am darauffolgenden. Und jeden Tag danach, bis der junge Jimmy Thornton den Unterricht wieder besuchte. In der ersten Pause war Samson zu ihm hingegangen und hatte die hochgezogenen Schultern und den trotzigen Blick eines Jungen wiedererkannt, der seinen Kummer zu verbergen suchte. Er erkannte auch die Abwesenheit von anderen Kindern um den Jungen herum wieder, dessen Freunde nicht wussten, wie sie mit dem Ausmaß seines Verlustes umgehen sollten.

»Geht’s dir gut?«, hatte er gefragt.

Mit der Unterlippe zwischen den Zähnen hatte der achtjährige Jimmy genickt.

»Dann lass uns Fußball spielen!«, sagte Samson und ging zum Schulhof voran, wo eine Gruppe von Jungs in seinem Alter einen Ball herumkickten, darunter auch ein paar der Metcalfe-Jungen.

Jimmy war ihm wie hypnotisiert gefolgt. Er war eingeladen worden, mit den großen Jungs zu spielen!

Während des nächsten Monats war Samson jeden Tag in der Schule gewesen und Jimmy Thornton bei jeder Schulhofaktivität dabei. Er lachte immer noch nicht viel, und die Aura der Traurigkeit verließ ihn nie. Aber wenigstens war er nicht allein.

Im folgenden September war Samson auf die große Schule gewechselt, wo seine Anwesenheit noch sporadischer ausfiel. Deshalb wusste er nicht wirklich viel von Jimmy, was über diese kurze Zeit nach Livvys Tod hinausging. Aber er kannte den Schmerz des Jungen.

Und er wusste, dass seine Schwester ein besonderer Mensch gewesen war. Denn bei Samsons eigener Rückkehr in die Schule nach dem Tod seiner Mutter – als er acht gewesen war – war es Livvy Thornton gewesen, die den Mut gehabt hatte, diese unsichtbare Linie der Trauer zu überschreiten. Sie war gerade fünfzehn geworden und zeigte bereits all die Merkmale, die sie schon bald so schön werden ließen; am Schultor war sie auf ihn zugegangen und hatte die Arme um ihn geschlungen. Er war verzaubert gewesen. Von ihrem leuchtenden Haar. Von ihrer Sanftheit. Von ihrem Lächeln. Sie hatte ihn auf die Stirn geküsst, hatte ihm gesagt, wie wunderbar seine Mutter gewesen sei, und setzte den jungen O’Brien damit auf die Liste von Jungs in Bruncliffe, die den Boden verehrten, auf dem Livvy Thornton wandelte.

»Was für eine Frau wäre sie gewesen!«, murmelte Samson, dessen Gefühl des Verlustes trotz der dazwischenliegenden Jahre intensiv war.

»Ich kann mich gerade so noch an sie erinnern«, sagte Delilah und grinste die anderen beiden frech an. »Weil ich nicht so alt bin wie ihr. Aber ich weiß noch, dass Will am Boden zerstört war, als er an diesem Tag von der Schule nach Hause kam.«

»Er und der größte Teil von Bruncliffe«, sagte Matty. »Da war etwas Außergewöhnliches an Livvy. Sie war einer von jenen Menschen, bei denen man einfach wusste, dass sie es zu Erstaunlichem bringen würde. Stattdessen kommt sie bei einem Verkehrsunfall ums Leben! Es ist, als ob uns allen etwas gewaltsam genommen worden wäre, als sie starb.«

»Wie alt war sie?«, fragte Delilah.

»Siebzehn.«

»Armer Jimmy. Man stelle sich nur vor, seine Schwester auf diese Weise zu verlieren!«

»Und dann, nicht lange danach, seinen Vater«, fügte Matty hinzu. »Das Leben kann grausam sein.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob sein Vater auch so sehr betrauert worden ist«, meinte Samson.

»Du hast Carl Thornton gekannt?«

»Nicht, dass ich es mir ausgesucht hätte. Jedes Mal, wenn ich versucht habe, Papa aus dem Fleece zu zerren, war Thornton auch da, hat sich betrunken und Tränen wegen seiner heißgeliebten Livvy vergossen. Bis ihn jemand versehentlich anstieß und seinen Drink verschüttete – dann wurde er plötzlich gewalttätig.«

»Auf jeden Fall hat er sich einen gewalttätigen Weg ausgesucht, um abzutreten«, sagte Delilah schaudernd. »Eine Schrotflinte auf sich selbst zu richten ist nicht die einfachste Wahl, um diese Welt zu verlassen!«

»Die Trauer zerreißt die Menschen auf unterschiedliche Weise«, sagte Samson und dachte an den Tod seiner Mutter und die Entscheidung seines Vaters, seinen Schmerz in Alkohol zu ertränken. »Weshalb sich mir die Frage stellt, ob es sich in diesem Fall nicht genau darum handelt: um eine Manifestation von Mrs Thorntons Trauer.«

»Du meinst, sie hat Livvys Namen absichtlich ins Testament geschrieben, um sie irgendwie zu ehren?«, fragte Matty.

»Ja. Ein letztes Bekenntnis zu ihrer Tochter von einer Frau, die wusste, dass sie im Sterben lag.«

»Das ergibt Sinn. Und normalerweise dürfte diese Geste an sich die Dinge auch nicht übermäßig verkomplizieren, wenn es darum geht, das Testament zu vollstrecken. Was die Dinge jedoch verkompliziert,« fuhr Matty mit erneutem Stirnrunzeln fort, »ist, dass ich nicht beweisen kann, dass Livvy tot ist.«

»Was?« Delilah blickte den Anwalt an. »Wie meinst du das, du kannst es nicht beweisen?«

»Ich kann keine Sterbeurkunde finden. Und ich habe überall gesucht. Ich habe auf die nationale Datenbank zugegriffen. Ich habe es auf dem örtlichen Standesamt versucht. Es gibt keine Papiere, die ihren Tod bescheinigen.« Matty zuckte mit den Schultern. »Soweit es den Staat betrifft, ist Olivia Thornton nicht verstorben.«

»Weshalb du Hilfe brauchst«, sagte Samson.

»Genau. Ich brauche jemanden, der ein bisschen Laufarbeit für mich erledigt. Obwohl«, fügte der Anwalt hinzu und wandte sich an Delilah, »je mehr ich darüber nachdenke, könnte dieser Fall auch ein paar Ortskenntnisse erfordern. Du kennst Jimmy Thornton doch ganz gut?«

»Das stimmt«, bestätigte sie. »Er war mit meinem Bruder Chris befreundet, als er jünger war. Sie waren im selben Jahrgang in der Schule, und Jimmy war oft auf der Farm. Er war auch Kunde der Partnervermittlung.«

»War?«

Sie grinste. »Ja. Leider verliere ich meine Kunden, sobald ich erfolgreich bin. Er ist mit einer jungen Frau verlobt, die er über meine Website kennengelernt hat.«

Matty nickte. »In diesem Fall«, sagte er und schaute von Delilah zu Samson und wieder zurück, »würde ich euch beide gerne engagieren.«

Delilahs Freude war deutlich zu sehen, während Samson ein Stöhnen unterdrückte. Er war sich nicht sicher, ob er eine erneute Zusammenarbeit mit Delilah Metcalfe überleben könnte.

Gründlich, wie man es von einem gewissenhaften Anwalt erwarten konnte, brauchte Matty ganze fünfzehn Minuten, um sich davon zu überzeugen, dass seine angeheuerten Helfer ihre Aufgabe auch verstanden hatten: Samson und Delilah waren damit beauftragt, die notwendigen Papiere zu finden. Unterlagen, die den Tod von Olivia Thornton bezeugen würden. Oder, falls sich das als unmöglich erwies, herauszufinden, warum es keine offizielle Bestätigung gab.

»Ausgezeichnet!«, sagte Matty und stand auf. »Wie schnell könnt ihr loslegen?«

Samson konsultierte mit viel Brimborium seinen Laptop, während Delilah auf ihre Smartwatch tippte und durch ihren Terminkalender scrollte.

»Wenn ich ein paar Termine verschiebe, könnte ich morgen anfangen«, sagte Delilah. »Würde dir das passen, Samson?«

»Ja. Ich kann ein paar Sachen zusammenlegen, dann klappt das schon«, meinte er, während er auf einen leeren Bildschirm blickte.

»Ich weiß das wirklich zu schätzen«, sagte Matty und bückte sich, um Tolpuddle die Ohren zu kraulen, während der Hund sich in seinem Körbchen streckte. »Es ist aber auch toll, zu wissen, dass ihr beide so beschäftigt seid. Da brauche ich mir ja keine Sorgen zu machen, dass dem Burschen hier die Hundekuchen ausgehen!«

Tolpuddle schloss die Augen und ließ den Kopf wieder auf die Pfoten plumpsen, und Matty lachte. Dann warf er einen Blick auf Delilah. Das Schütteln ihres Kopfes war so schwach, dass Samson es fast übersehen hätte. Aber es war unmöglich, nicht zu bemerken, mit welcher Intensität sie den Anwalt betrachtete.

»Ich bringe dich raus, Matty«, sagte sie, führte ihn aus dem Zimmer und schloss die Tür hinter ihnen.

In der Sekunde, in der sie sein Büro verlassen hatten, eilte Samson zur Tür. Und legte sein Ohr daran.

»Tut mir leid«, hörte er Delilah murmeln. »Ich wollte nicht unhöflich sein.«

»Du hast es ihm immer noch nicht gesagt, oder?« fragte Matty.

»Nein. Und das habe ich auch nicht vor.«

»Du machst einen Fehler. Das Gesetz kann dir bei der Sache nicht helfen, aber Samson vielleicht schon.«

»Ich wüsste nicht wie.«

Eine Pause. Und dann das Geräusch der sich öffnenden Haustür, die Stimmen jetzt schwerer zu hören.

Samson hastete zurück zum Schreibtisch, stellte die Becher auf das Tablett und ging mit dieser perfekten Entschuldigung hinaus in den Flur. Er kam gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie Delilah die Haustür schloss und sich umdrehte, eine Hand vor dem Mund, das Gesicht vor Sorge verzerrt.

»Alles in Ordnung?«, fragte er.

Sie blickte auf, und ein strahlendes Lächeln verscheuchte das Stirnrunzeln. »Ja. Alles gut. Ich denke nur darüber nach, wieweit ich meinen Zeitplan umgestalten muss.«

Sie rauschte an ihm vorbei ins Büro, wo er sie viel Aufhebens um Tolpuddle machen hörte.

Ihren Zeitplan umgestalten, ja sicher, dachte Samson, der sich nicht einen Moment von den Lügen blenden ließ, als er mit dem Tablett nach oben in die Küche ging. Er hätte um alles gewettet, was er hatte – was nicht viel war –, dass ihr Kalender so leer wie sein eigener war. Also was bedrückte Miss Metcalfe? Und wieso wusste Matty Thistlethwaite davon und er nicht?

Und was noch wichtiger war: Wenn es sich um etwas handelte, von dem Matty glaubte, dass Samson es regeln könnte, wieso hatte sie dann nicht um Hilfe gebeten?

»Was denkst du, Junge? Sollte ich ihn fragen?«

Tolpuddle betrachtete Delilah mit schiefgelegtem Kopf, ein Ohr leicht gespitzt, erfreut über das Getue, das sie um ihn machte. Es war nicht wirklich eine Antwort.

Das Problem war, dass Delilah die Antwort bereits kannte. Matty hatte recht. Sie war vor Weihnachten bei ihm gewesen, um ihm die Situation zu erklären, und Matty hatte sich klar ausgedrückt – das Gesetz konnte ihr nicht helfen, ihren Hund zu behalten. Die Papiere des Zuchtverbands waren auf den Namen ihres Ex-Mannes ausgestellt, also machte sie sich etwas vor, wenn sie glaubte, sie könne einen Prozess gewinnen. Neil würde das Sorgerecht zugesprochen bekommen, sobald diese Dokumente vorgelegt wurden. Auch wenn jeder in Bruncliffe wusste, dass Tolpuddle ihr Hund war, den Neil in einem seltenen Akt der Rücksichtnahme gekauft hatte, um ihren Kummer nach dem Verlust ihres Bruders Ryan zu lindern.

Also war Samson – außer mit Tolpuddle zu fliehen – Delilahs einzige verbleibende Option.

Aber, ihn um Hilfe zu bitten, hieße, ihm sagen zu müssen, dass sie verheiratet gewesen war. Und geschieden. Und sie war sich sicher, dass er davon nichts wusste, denn schließlich hatte er sich in den Jahren, in denen sie ihre leichtsinnige Entscheidung, Neil Taylor zu heiraten, bereut hatte, fern von Bruncliffe aufgehalten. Neil Taylor, Sohn des derzeitigen Bürgermeisters und erfolgreichsten Immobilienmaklers der Stadt. Sie hatte Angst, Samson würde schlecht von ihr denken. Ihr Vorträge über die Gefahren jugendlicher Romanzen halten. So wie Will, ihr ältester Bruder, es jedes Mal tat, wenn ihre gescheiterte Ehe zur Sprache kam.

Außerdem, so sagte sie sich, als sie Schritte die Treppe hinunterkommen hörte, was zum Teufel kann Samson denn schon tun? Es hatte absolut keinen Sinn, es ihm zu sagen.

Mit einem bemühten Lächeln im Gesicht ging sie zur Tür, Tolpuddle im Schlepptau. Ein Lauf über die Fjälls – das würde ihr helfen, den Kopf freizubekommen! Immerhin waren fast zwei Monate vergangen, seit Neil sie kontaktiert hatte, um ihr mitzuteilen, dass er nach Bruncliffe kommen würde, um das zu holen, was er als seinen Hund betrachtete. Seitdem hatte sie nichts mehr von ihm gehört. Angesichts seiner wankelmütigen Natur war es durchaus möglich, dass er es sich anders überlegt und beschlossen hatte, dass er Tolpuddle doch nicht wieder in seinem Leben haben wollte.

Den Kopf tief in den Sand gesteckt, ging Delilah nach oben, um sich umzuziehen.

3

Der Mittwochmorgen dämmerte hell und klar, mit einem strahlenden Himmel über den Dales und einem scharfen Wind, der aus Osten wehte. Doch im Inneren der Dales Detective Agency brauten sich dunkle Wolken zusammen.

»Ich sagte nein! Du kommst nicht mit!«

Delilah blickte finster drein und ihr rechter Fuß war kurz davor, auf dem zerfledderten Linoleum von Samsons Büroboden aufgestampft zu werden. »Und ich komme mit! Matty hat uns beide angeheuert. Oder hast du das schon vergessen?«

Samson erwiderte ihren bösen Blick. »Wie könnte ich das vergessen, wo du seit gestern Morgen von nichts anderem mehr sprichst? Aber das ändert gar nichts. Ich arbeite allein besser!«

»Ha! Davon ist in letzter Zeit nicht viel zu sehen. Wer musste über die Fjälls rennen, um einen Killer zu jagen?«

»Nur weil ich bei einem Kampf mit besagtem Killer verletzt wurde! Und außerdem waren die Opfer alle deine Kunden, also habe in Wirklichkeit ich dir geholfen!«

»Und was war mit Fellside Court?«, fuhr Delilah fort und bezog sich damit auf Ereignisse kurz vor Weihnachten. »Das hättest du ohne meinen Beitrag nicht hinbekommen. Du hast doch keine Ahnung von Überwachungskameras und Spionagesoftware!«

»Technische Spielereien, die nur funktionieren, solange niemand eine Tasse Tee drüber kippt«, erwiderte er spitz.

»Das ist nicht fair! Das war Tolpuddles Schuld!«

»So ist’s recht: Dem Hund die Schuld geben, wenn er nicht hier ist, um sich zu verteidigen! Wo ist übrigens der Hund?«

»Clarissa Ralph kümmert sich um ihn«, sagte Delilah mit einem Anflug von Schuldgefühlen. Normalerweise wich Tolpuddle nie von ihrer Seite, denn seit der Scheidung hatte er Angstzustände und kam nicht gut damit zurecht, wenn er von ihr getrennt war. Oder besser gesagt, die Sachen um ihn herum kamen nicht gut damit zurecht. Schuhe, Turnschuhe, Kissen – wenn Tolpuddle gestresst war, mussten sie es ausbaden. Alles begleitet von einem lauten Heulen, das man auch mit einer Luftschutzsirene verwechseln konnte.

Seit Samsons Ankunft jedoch war der Hund viel ruhiger geworden und verbrachte gerne Zeit allein mit dem zurückgekehrten Detektiv. Das hatte ein Ausmaß angenommen, dass er jetzt in beiden Büros ein Körbchen unterhielt und seine Tage damit zubrachte, dazwischen hin und her zu pendeln. Er hatte auch Clarissa Ralph ins Herz geschlossen, eine der Bewohnerinnen von Fellside Court; der Seniorenresidenz, in der Samsons Vater lebte, und der Schauplatz für die schrecklichen Ereignisse, die vor Weihnachten ans Licht gekommen waren.

Clarissa und ihre Schwester Edith Hird, die immer noch die Tragödie verarbeiteten, die ihre friedliche Welt heimgesucht hatte, hatten nur zu gern die Möglichkeit wahrgenommen, sich um Tolpuddle zu kümmern. Aber das änderte nichts daran, dass Delilah sich schuldig fühlte: ihn einen halben Tag lang im Stich zu lassen zu einer Zeit, da sie nicht wusste, wie viele Tage sie noch mit ihm verbringen würde!

»Vielleicht hast du recht«, sagte sie zu Samson, denn ihre Begeisterung für die Detektivarbeit war plötzlich geschwunden. »Ich werde hierbleiben. Bei Tolpuddle.«

Samson starrte sie an und wartete auf das Lachen. Aber es kam keins. Delilah Metcalfe hatte gerade einen Rückzieher gemacht! Er konnte sich nicht erinnern, dass sie in all den Jahren, in denen er sie kannte, bei einem Streit einmal einfach so kapituliert hatte.

»Geht es dir gut?«, fragte er.

»Ja! Warum?«, fauchte sie.

»Weil es dir gar nicht ähnlich sieht, so schnell nachzugeben. Ich hatte eigentlich erwartet, dass das den ganzen Weg bis nach Rainsrigg so weitergeht.«

Sie zuckte mit den Schultern und war schon unterwegs zur Treppe und ihrem Büro im ersten Stock. »Ich hab Besseres zu tun, als mich mit dir zu streiten.«

»Aber es ist ein schöner Morgen«, drängte er. »Komm schon! Es wird dir guttun, rauszukommen!«

Sie blieb auf der ersten Stufe stehen, offensichtlich unschlüssig.

»Wir können das Motorrad nehmen. Über die Panoramastraße zurückkommen.« Er hielt ihr den Ersatzhelm hin, denn er wusste, wie stark die Anziehungskraft der Royal Enfield war.

»Ich nehme mal an, es würde nicht schaden«, sagte sie und trat wieder in den Flur.

Zehn Minuten später und nicht sicher, wie er von der Weigerung, sich von ihr begleiten zu lassen, zu der Bitte, mit ihm zu kommen, gelangt war, lenkte Samson O’Brien die Royal Enfield aus dem Gässchen auf der Rückseite des Bürogebäudes, hinter sich eine Sozia. Als sie um den Marktplatz fuhren und die Church Street entlang unter den hohen Bögen des Viadukts hindurch in Richtung Gunnerstang Brow, kam er zu dem Schluss, dass die Zusammenarbeit mit Delilah Metcalfe sich bestimmt niemals unkompliziert gestalten würde.

»Wie kann man nur hier leben?«, fragte Delilah. Mit dem Helm in der Hand blickte sie auf die Straße vor sich und die brutale Landschaft, zu der sie führte.

Sie waren von der Hauptstraße abgebogen, kurz bevor sie die Spitze von Gunnerstang Brow westlich der Stadt erreicht hatten. Samson hatte angehalten, das Motorrad tuckerte im Leerlauf unter ihnen. Wie sie hatte er seinen Helm abgenommen, und der Wind zerrte an seinem schulterlangen Haar.

»Ich nehme an, manche Leute haben keine Wahl«, antwortete er und verspürte erneut das Erstaunen darüber, dass dieser Ort einen so lebensfrohen Menschen wie Livvy Thornton hervorgebracht hatte.

Es war kahl. Eine schmale Straße, die sich in einen verwüsteten Hang wand, nackter Fels, der in Stufen geschnitten worden war von Maschinen, die man lange schon aufgegeben hatte, und die jetzt vor sich hin rosteten. Weiß. Grau. Schwarz. Nicht ein Hauch von Grün. Einen größeren Unterschied zu den umliegenden Dales hätte man sich nicht vorstellen können.

Rainsrigg Quarry, der Rainsrigg-Steinbruch; einst eine blühende Industrie, die vielen Menschen in Bruncliffe Arbeit gegeben hatte. Jetzt war es nur noch ein leeres, aus der Landschaft herausgemeißeltes Loch. Und direkt davor, wie ein trotziger Wachmann, der ein ausgebranntes Lagerhaus bewacht, stand ein Cottage. Das Zuhause der Thorntons. Auch wenn es nun, da Mrs Thornton verstorben war, wahrscheinlich bald den Besitzer wechseln würde.

»Wann hat der Steinbruch dichtgemacht?«, fragte Samson, überrascht von der vor ihm liegenden Trostlosigkeit. Als er die Stadt verlassen hatte, war das hier noch ein profitabler Betrieb gewesen, der etliche seiner Freunde aus der Schule beschäftigte.

»Muss vor zehn Jahren gewesen sein. Vielleicht auch mehr. Jetzt ist er einfach nur noch eine perfekte Kulisse für Trauer«, murmelte Delilah und setzte ihren Helm wieder auf. »Ich bekomme eine Gänsehaut!«

Samson zog seinen eigenen Helm an und sie fuhren die Straße hinunter zum Haus und hielten neben dem Land Rover an, der davor geparkt war. Die große Gestalt von Jimmy Thornton wartete bereits auf sie.

»Ich hab euch kommen sehen«, sagte Jimmy und nickte in Richtung Hauptstraße. »Ein bisschen schwierig, sich hier an jemanden ranzuschleichen.« Er streckte eine große Hand aus. »Schön, dass du wieder zu Hause bist, Samson.«

Samson, der es nicht gewohnt war, in Bruncliffe herzlich empfangen zu werden, spürte, wie der Mann seine Hand mit seiner gewaltigen Pranke umschloss. »Tut mir leid, dass wir uns unter diesen Umständen begegnen«, antwortete er. »Ich nehme an, Matty Thistlethwaite hat dich darüber aufgeklärt, warum wir hier sind.«

Jimmy legte den Kopf schräg. »Aye. Es geht wohl darum, dass Livvys Sterbeurkunde fehlt. Kommt doch rein! Nicht dass ich wüsste, wie ich euch helfen kann, aber wir haben es behaglicher, wenn wir drinnen reden.«

Als er sie durch den Vorgarten führte, bemerkte Delilah den kleinen, aber tadellosen Rasen, die ordentlichen Beete, die mit Schneeglöckchen und den grünen Spitzen von Narzissen gesprenkelt waren, die sich gegen die winterliche Erde abhoben. Das Innere war nicht minder gepflegt. Ein schmaler Flur führte sie am vorderen Zimmer vorbei in eine Küche auf der Rückseite, die sich über die gesamte Breite des Hauses erstreckte. An den Wänden entlang liefen hölzerne Schränke, eine Seite wurde von einem Herd eingenommen und in der hinteren schmiegte sich eine Tischecke ans Fenster. Das Zimmer blickte auf einen Garten mit einem großen Gemüsebeet und einer alten Scheune. Und auf den Steinbruch – ein krasser Gegensatz zu dem Ackerland, das den Hintergrund für die Mahlzeiten der Familie Metcalfe bildete.

»Was für eine ungewöhnliche Aussicht!«, sagte Delilah.

»So kann man es auch ausdrücken«, meinte Jimmy und bedeutete ihnen, sich zu setzen, während er Tee einschenkte.

»Gewöhnt man sich daran?«

»Ich bisher nicht. Hab sie gehasst, als ich ein Knirps war, hasse sie jetzt auch noch.« Er schüttelte angewidert den Kopf über den kahlen Felsen, der in den Fjällhang schnitt. »Mutter mochte den Anblick jedoch. Sagte, es braucht alles Mögliche, um Natur zu schaffen.«

Draußen ging der Wind in Böen und wirbelte weißen Staub auf, der gegen die Scheibe spritzte.

»Hat ihr ganzes Leben damit verbracht, diesen verdammten Dreck draußen zu halten«, brummte Jimmy.

»Und du warst nicht in Versuchung, nach dem Tod deines Vaters wegzuziehen?«

»Doch, schon.« Er stellte drei Tassen auf den Tisch. Delilah, die die Stärke des Gebräus und den Überschuss an Milch schon riechen konnte, wagte es nicht, Samson anzusehen, dessen Londoner Geschmacksknospen sich noch nicht an Tee nach Dales-Art gewöhnt hatten.

»Deine Mutter wollte nicht umziehen?«, fragte Samson, ohne nach einer Tasse zu greifen.

»Wollte nichts davon hören. Auch wenn ich von zu Hause weggegangen wäre, hätte ich sie trotzdem nicht umstimmen können. Und es lag nicht daran, dass ich es nicht versucht hätte. Ich hab versucht, sie zu überreden, eine der Wohnungen zu nehmen, die Rick Procter in der alten Mühle gebaut hat. Aber sie hat immer gesagt, sie würde ihr Gemüsebeet vermissen. Und ihren kostbaren Rhabarber. Selbst auf dem Sterbebett sagte sie mir, ich solle mich um ihn kümmern.« Jimmy zuckte mit den Schultern. »Die Wahrheit ist, dass sie das Haus mit Livvy assoziierte. Trotz der Tatsache, dass Livvy nicht mehr hier wohnte, als sie starb.«

»Sie war in Leeds, nicht wahr?«, fragte Samson. Es war eine Frage, auf die er die Antwort kannte. Als er in jener Nacht vor vierzehn Jahren aus Bruncliffe geflohen war, war er selbst auf dem Weg nach Leeds gewesen. Zum Teil wegen Livvy Thornton. Sie war damals schon eine Weile tot, aber trotzdem hatte ihm die Parallele gefallen. Auch wenn sie nicht die Royal Enfield ihres Vaters gestohlen hatte, um die Reise zu machen.